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Title: Pariser Romanze
Date of first publication: 1920
Author: Franz Hessel (1880-1941)
Date first posted: Sep. 13, 2021
Date last updated: Sep. 13, 2021
Faded Page eBook #20210923
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Franz Hessel
Pariser Romanze
P a p i e r e e i n e s
Verschollenen
Ernst Rowohlt Verlag Berlin
1 9 2 0
Buchausstattung von
E. R. Weiß
Copyright 1920 by Ernst Rowohlt Verlag • Berlin
Januar 1915.
Mein lieber Claude. Gestern habe ich mir im Dorf ein paar Schulhefte gekauft. Dahinein will ich für Dich Briefe schreiben, wenn ich Muße habe und an Paris denke. Ob Du sie je lesen wirst und wann und wo?
Jetzt bin ich mit dreiunddreißig Jahren ein deutscher Rekrut. Auf dem leeren Feld zwischen Kanal und Fort mache ich in Reih und Glied Freiübungen. Nachts liege ich mit zwanzig Kameraden zusammen in Stube Nr. 107. Die ersten Nächte konnte ich nicht recht einschlafen in meinem hohen, heißen Oberbett. Das viele fremde Leben, das mit Atmen, Seufzen und Schnarchen auf mich eindrang, verschob, durchschnitt, übertrieb meine Gedanken. Die wenigen Minuten Schlaf begannen und endeten in heftigen Träumen, die mich beim Erwachen kaum verlassen wollten.
In diesen Träumen bin ich immer in Paris. Ich stehe auf der Plattform des Autobus Opéra-Montsouris. Unterwegs will ich absteigen bei dem Café, in dem die deutschen Freunde sitzen, oder an Deiner Ecke. Da sehe ich an mir herab und finde mich in deutscher Uniform. In der ersten Zeit war es der eng-harte blaue Rock mit den fettgeputzten Knöpfen, später der weitfaltige feldgraue. So darf ich mich doch vor den Kellnern nicht sehen lassen, so kann ich nicht an Deiner Pförtnerin, der guten Madame Thibaut, vorbei, deren Mann jetzt vielleicht gegen Deutschland im Feld steht! Auch habe ich nicht einmal umgeschnallt. Wenn mich ein Vorgesetzter sähe . . . !
Komm ich traumwandelnd tiefer in die Stadt, so wird das sanfte Flußab und Hügelauf der Straßen zu steilen Bergpfaden. Von den rotangelaufenen Erdgeschossen der Seitengassen rinnt es wie Blut am Pflasterrande her. Tausend Gitterbalkons, klein wie Schwalbennester, sind voll Flüstern und Zwitschern. Von Kellern herauf dringt Backofenwärme. Lichtschein fällt auf die nackten Schultern der Bäcker und ihre mehligen Arme, die in dem schwellenden Teige wühlen. In die weißen Massen tauchen Mädchen ihre breiten Puderquasten und umtupfen das Lächeln der rotumrissenen Münder.
Auf buntem Asphalt unter gewittergrauem Himmel gleiten Gummiräder der Fiaker und Autos des Blumenkorsos durch Wellen von welkduftenden Blüten, ohne sie zu zerdrücken. Aber unter den Bäumen der Metroeingang führt schlundtief hinab in einen Bergwerkstollen, aus dem es dauerknattert wie Maschinengewehrfeuer.
Nun steht rings um den holden Park Monceau ein ganzes Stadtviertel in Flammen, und als ich mich einem brennenden Hause nähere, um die schönen, reichgekleideten Kinder zu retten, die sonst im Garten spielen, tritt mir ein Hausmeister in Perücke und altertümlicher Lakaientracht entgegen und ruft: Wo sind die Träger? Wo sind die Sänften?
In den Champs Elysées da, wo sonst eine singende, geigende Musikhalle flimmerte, wo weiße Abendmäntel an roten Tischlampen vorbeifluteten, wächst aus verwildertem Gesträuch einer Schuttstätte ein Riesenbrunnen: Sandsteinerne Tritone mit zerbrochenen Hörnern an Trümmerlippen, bröckelnde Torsen von Nymphen und hoch oben über künstlichem Felsengebirge — wie es in Zoologischen Gärten für die Gemsen und Steinböcke errichtet wird —, in fahlgoldenem Gewande ein Riesenweib, die Augen eingesetzte Wundersteine, das Haar rotgetönt, marmorne Brüste mit bläulichen Spitzen und um den Gürtel die andächtig angeschmiegten Tiere der Diana von Ephesus.
Aber aus dem Gesträuch klettert über den Schutt mit steifen Wackelgliedern der Guignol des Kindertheaters.
Statt Dir zu schreiben, möchte ich lieber von Dir hören. Ich weiß nur, Du bist noch in Paris und hast einen Posten bei einem Stadtkommandanten. Ob Du wirklich meine kleine Wohnung übernommen hast, wie Du mir im letzten Brief versprachst? Es wäre so beruhigend, Dich an meinem Schreibtische zu wissen oder an dem Kamin, an dem wir unsere Pfeifen ausklopften. Dort liesest Du im Lehnstuhl oder auf der Couchette ausgestreckt. Und dann gehst Du in meine kleine Küche und kochst ein Abendbrot, wie wir es uns oft zusammen bereitet haben. Das wird dann auf dem Klapptisch aus rohem Holz in der Stube aufgebaut.
Oder wollen wir gleich in der Küche essen? Das ist so lustig. Und dann hinunter gehen in die befreundete Nacht des stillen Boulevards und die Avenue hinab und am hohen Gitter des Gartens Luxembourg entlang? Später vielleicht in die hellen lauten Cafés des Quartiers. Oder hinüber ans andere Ufer in die andere Stadt. Oder nur immer auf und ab am Gitter in zeitlos langen Gesprächen voll junger Weisheit und erfahrener Torheit.
Ich schreibe bei einem Karbidlämpchen, auf meinem Strohsack sitzend, und denke an mein großes Pariser Bett. Du hast es mit mir ausgedacht, Claude, als ich mir im letzten Jahr endlich ein eigenes Zuhause einrichtete. Nach ganz alten Betten, die Du im Süden gesehen hattest, zeichneten wir uns etwas auf mit runden Holzbögen an Kopf- und Fußende. Damit gingen wir zu dem Schreiner in der Vorstadt hinter dem Invalidendom und besahen auf seinem großen Speicher vielerlei Holz. Der Raum duftete von all den guten Stämmen aus den Pyrenäen, den Vogesen und den Karpathen. Und als wir längst ein helles Eichenholz ausgesucht hatten und zwei Stücke Maserung, die zusammengefügt den Bogen wie mit einem braunen Fittich ausfüllten, besuchten wir immer wieder die anderen Wälder des Speichers. Ja, nun ist es wohl Dein geworden, was Du mitgeschaffen hast. Du warst immer so froh an allem Handwerk und ließest Dir genau zeigen, wie Längseite und Breitseite ineinandergriffen. Als das Bett dann schließlich in meinem Schlafzimmer aufgebaut wurde und wirklich dastand, tat es Dir fast leid, daß wir nicht mehr in den Speicher gehen konnten zu den duftenden Wäldern.
Diese kleine Wohnung, zwei Zimmer, Flur und Küche, in der ich lange bleiben wollte und kaum ein Jahr blieb, sollte der Hafen sein nach mancherlei Irrfahrt. Aus allen früheren Wohnungen vertrieb mich die „Jetztzeit“. Ich hatte mich immer im Alten, Bröckelnden angesiedelt, weshalb? Das ist schwer zu sagen.
Da war zuerst das schmale, sieben Stockwerk hohe Montmartre-Hotel, in dem ich ganz oben eine Mansarde bewohnte, wo gerade Bett und Tisch Platz hatten und mein großer schwarzer Reisekoffer die Bank spielte. Aber das Fenster öffnete sich zu einem Balkon, von dem man weithin die Dächerinseln und schrägen Straßenrinnen fluten sah und die Kuppeln und Türme auftauchen, funkeln und in Dämmerung verschwimmen. Dort wurden alle Stimmen und Schreie von Paris zu einem Chor, fern und laut, der wunderbar einwiegte und weckte. Die Treppe, sehr breit für ein so schmales Haus, hatte müdegetretene Stufen. In ihrem Staube lagen abgefallene Blumenblätter. Denn auf dem schwindsüchtig grünen Platz vor der Türe war Blumenmarkt, und es wohnten viele Frauen im Hotel. Nicht solche, die ihr Glück gemacht haben, zu denen Kavaliere und Lieferanten teure Buketts tragen und auf deren Treppen Seidenpapier liegt. Nein, meine Nachbarinnen kauften ihre Blumen selbst und billig. Es waren Anfängerinnen, die noch nicht wußten, sollten sie ins fleißige Schneideratelier unten in der Stadt oder zum Nachmittags-Tanz-Tee im Moulin-Rouge oder bergauf zu den Malern des „Hügels“. Und so taten sie dies alles durcheinander, und weil sie sehr früh oder sehr spät aufstanden, sahen sie immer ein wenig verschlafen aus. Und von ihren ausgetretenen bürgerlichen Stiefelchen waren wohl die Stufen der Treppe so müde, und auch von den erschöpften, einst niedlichen Stoffschuhen der Älteren, die „das Leben“ mitgemacht, kein Glück gehabt hatten und nun mit ein wenig Elend häuslich geworden waren. Gingen ihre Türen auf und so roch es nach den guten Kräutern des pot-au-feu, nach Kamillen, Lindenblüten und Lawendel. Und Kätzchen schlüpften an ihren Röcken vorbei.
Ich kannte keine von den Nachbarinnen und war doch mit allen vertraut. Ich war viele viele Stunden ganz allein in meiner Kammer und fühlte mich nie verlassen. Der morsche Lehnstuhl hielt mich wie ein Freund umarmt. Der Spiegel überm Kamin gab mir mehr als mein Bild: Da war allerhand um meinen Kopf herum, was er in seinem Glase wie von altersher gesammelt hielt. Die rostigen Stäbe des kleinen Balkons, ein wenig verbogen und vom Regen angebohrt, wurden mir zum köstlichen schmiedeeisernen Gitterwerk eines Grabdenkmals in einem alten Park. Und dazu paßte auch der brüchige Steinboden, der im Wetter zerging wie Sandstein alter Statuen in königlichen Gärten, wie Kathedralenstein, wie Tuffstein antiker Bäderruinen, wie Tropfstein in den Höhlen. All dies Zerfließen, Abtropfen, Rinnen tat mir wohl. Ich wurde nicht traurig, wenn ich ein Buch zu Ende gelesen hatte oder wenn ein Tag versank. Denn in dem beständigen Vergehen hörte nichts auf. Und im Einschlafen fühlte ich noch Licht in der Dunkelheit, und Duft im Geruch meiner ausgelöschten Kerze.
Im Sommer dann war ich auf dem Lande; und als ich im Herbst wiederkam und mein altes Hotel aufsuchte, ging ich erst daran vorbei, dann kehrte ich um und sah: es war nicht mehr da. Da stand ein frischgestrichenes weißes Haus. Und die Pförtnerin sagte: Es sind Verbesserungen gemacht worden, mein Herr. Sie sagte auch, ich könnte das kleine Zimmer oben nicht mehr haben, da würde umgebaut; aber unten gäbe es bessere. — Im Treppenhaus standen Farbtöpfe der Maler. Die Stufen waren entblößt. In der Mitte aber stieg ein noch unfertiges Liftgebäude metallglänzend zwischen Holzgerüsten auf. Da mußte ich fortgehen, und die Concierge sah ein, daß mir die unteren Zimmer zu teuer waren.
Dann fand ich in Passy einen Pavillon. Die Glastür war nur eine Stufe höher als der wilde Garten. Vom Schreibtisch, einem Sekretär mit vielen Fächern und Schiebladen, sah ich in einen Hofwinkel, wo Gipstrümmer eines Bildhauerateliers umherlagen, unter anderen eine kleine Sirene, die seltsam lächelnd auf ihre zerbrochenen Fischschwänze hinabsah. Die liebte ich sehr.
In den Zimmern neben und über mir wohnten bei einer weisen Frau Damen, die sich eine Weile zurückgezogen hatten. Die saßen hier und da im Garten, empfingen Besuch von flüsternden Freundinnen und diskret tröstenden Freunden und gingen schwer und schwank am Arm der Tröster durch das Herbstlaub. Mein Zimmer war ganz schmal; aber in den Wänden waren tiefe Wandschränke eingelassen und das Bett stand in einem Alkoven. Das gab soviel Winkel und heimliche Ecken. In den Fächern des Sekretärs fühlten sich meine Zettel an wie billets-doux und meine Hefte wie alte Pergamentrollen. Und in diesem Zimmer besuchte mich bisweilen eine Frau, die mir oft Vorwürfe machte, sich in den Winkeln umsah und in die Schreibtischfächer schaute. Und ich liebte es sehr, ihr dabei zuzuschauen.
Ein großes Neubaugerüst, das an den Garten stieß, störte mich erst nicht. Es war, da die Arbeit stockte, wie eine verlassene Palissade. Aber mit einmal fing es hinter den Balken an zu lärmen. Das feindliche Zischen der Steinsäge zerschnitt die Luft. Und dann erschienen einzeln, rechtwinklig, ausgeschnitten wie aus Papiermaché die Steinquadern des neuen Hauses. Da wurde es auch im Pavillon laut: Harte Worte fielen, wo sonst geflüsterte glitten; Kochtöpfe klirrten ärgerlich, Türen polterten. Durch das Zischen der Säge schrillte bisweilen ein Schrei. Das Schüttern und Stampfen hieb klaffende Risse in die Tapeten meiner Wandschränke. Eine Ratte fuhr aus dem Alkoven und verschwand in einem Loch an der Gartentür. Statt welken Laubes roch ich Ausgußgerüche. Immer höher wuchsen nebenan die schrecklichen unwahrscheinlichen Quadern grell und neu; und schließlich waren sie das Wirkliche, und mein Pavillon war nur noch eine Baracke. Da zog ich bei erster Gelegenheit aus dieser quälenden Doppelwelt fort.
Die nächste Unterkunft war wohl das Atelier tief im Süden der rue Vercingétorix, das mit der Holzgalerie, wo Du mich zum erstenmal besuchtest und Dich über die Hühner und Bauernblumen im Hof freutest, und das Schönste — die Mönchszelle in dem Klosterbau bei den Invaliden. Sie kam der Erinnerung am nächsten an die kahlen Kammern von San Marco, deren einziger Schmuck die lichte Freske des Angelico ist.
Aber nirgends blieb ich lange und war immer der letzte Mieter des Verfallenden, der Gegenspieler des Trockenwohners. Und als ich vernünftig werden wollte und eine richtige Wohnung in einem neuen Hause bezog, da kam der Krieg und trieb mich fort.
Die letzten Tage vor Kriegsausbruch habe ich gottlob nicht in Paris erlebt, nicht dies ungewisse Warten und Nichtwissen, soll man bleiben, soll man fort, und all die mesquinen Feindseligkeiten, die vielen deutschen Freunden den Abschied von der Stadt vergällten. Ich war um diese Zeit in Flandern, da wo jetzt gekämpft wird. Ich lag tagelang in den Dünen und am Strande mit Büchern, die nach Meersalz rochen und durch die Sand rieselte, und ging Wege durch den niedern, im lockeren Sande krüppelnden Buschwald. Da suchte ich Ruhe nach einem Erlebnis, das mich aus der Pariser Versunkenheit aufgeschreckt, eine kurze Zeit verführt hatte, das Leben der Lebendigen mitzuspielen, und von dem ich Dir erzählen will, Claude. Denn das ist wohl das Einzige gewesen, das Du nicht gegenwärtig oder aus gleichzeitigem Berichte miterlebt hast. Du warst ja schon im Frühjahr aufs Land gegangen zu Deiner Mutter. Und schreiben konnte ich Dir davon nicht, weil ich keine Worte, weder französische noch deutsche, dafür fand.
Schon war von der Strandeinsamkeit — ich sprach fast mit niemandem, kannte nur die Krabbenfischer, deren hüpfenden Netzen ich morgens nachging, und die Kinder, die Sandburgen bauten und bunte Papieraëroplane steigen ließen — schon war das Gleichmaß fast erreicht, ich wurde schon reif, nach Paris zurückzukehren und mit Dir am Kamin von dem Erlebten zu sprechen, wie wir von Bildern, Büchern und Erlebnissen zu reden pflegten. Da kamen die Unheilstage und ich mußte fort nach Deutschland in überfüllten stockenden Zügen.
Von dieser Zeit, die viele andere als groß empfanden, die mich aber nur befremden und entsetzen konnte, will ich nichts aufschreiben. Wenn ich im Kasernenhof oder auf dem Dorfplatz mitten unter den Stehenden und Wartenden stehen und warten mußte, um notiert und zugeteilt und wieder notiert und neu zugeteilt zu werden, dachte ich an all die anderen Kasernenhöfe und Marktplätze Europas, auf denen die Freunde herumstanden und warteten wie ich, statt daß wir beisammem saßen und von dem neuen Abendlande redeten, dem Zukunftslande der besten Europäer, an dem wir bauen wollten, um den ewig unverzeihlichen Fehler der Erben Karls des Großen wiedergutzumachen, wir seligen Toren.
Dann kam die Zeit, wo ich mithalf, ein schönes buntes Dorf im Elsaß feldgrau und häßlich zu machen, Rebstöcke ausriß und Obstbäume absägte, die Erde aufgrub und Eisenstangen und Draht hin- und herschleppte. Manche freuten sich damals über die Siegesnachrichten, aber ich wurde nicht froh davon. Gegen den Herbst zu wurde ich ganz trübselig und gliedermüde und lag krank und steif in der Revierstube. Als es besser wurde, taten sie mich in eine Schreibstube, da schrieb ich Listen und Soldbücher, Pässe und Befehle, bis wir dann hier ins Fort kamen, wo ich wieder Rekrut wurde und nun weiter warten kann, was kommen mag. In diesem Winter hat man ja gelernt, daß dieser Krieg noch lange dauern wird, und der große Tod der ersten Schlachten ist in ein beständiges kleines Sterben zersplittert.
Was ist aus unserer Welt geworden, Claude? Denkst Du manchmal an die schöne Zeit, als alle Nationen vom Montparnasse sich in der Closerie des Lilas versammelten? Da war der mächtige Norweger Lynge, der mit seinem grauen Knebelbart mehr einem Kapitän als einem Maler glich, und erzählte uns in sanfter französischer Frühlingsnacht Wintermärchen von rotnasigen feueräugigen Trollen. Da saß der kleine Moskauer Dmitry mit dem Tatarenkopf, und seine schöne florentinische Dame streichelte zärtlich das helle Haar Deiner wundervollen frechen Pamela aus Chelsea. Der hagere Amerikaner Harold besprach mit unserem breiten Bronner die Kunst des Boxens. Und der rote Holländer Bouts redete eifrig ein auf den zarten Wunderknaben Ephrussi aus dem Balkan, der gelblich und dunkeläugig wie ein fernes Königskind unter den Mannsleuten saß und die holden und wüsten Geschöpfe seiner menschlichen Zoologie auf gelbe Umschläge, karrierte Briefbogen und die Marmorplatte des Tisches zeichnete. — Und bisweilen rückten sie alle zusammen um den Tisch der französischen Dichter, redeten jeder in seiner Sonderart das geliebte gemeinsame Französisch und verstanden einander wie die Auserwählten aller Völker zu Pfingsten.
Einmal wurde von der Möglichkeit eines europäischen Krieges gesprochen. Ich glaube, es war zur Zeit der Diplomatenhändel von Algeciras. Da lachte der ritterliche Barde der Isle de France, der in unserer Mitte saß, warf die tintenschwarze Stirnlocke zurück und sagte: „Europäischer Krieg? — Wir alle haben nur einen Feind — China — la Chine! — Wir sind so winzig. Es wird uns überschlucken. Wir von der Nordsee und Adria sind nur ein paar Tropfen, China ist ein Meer.“ Und er malte mit Absinthtropfen große Weltkarten zum Beweis auf die Tischplatte. Und heute verfaßt derselbe Dichter, an dessen Tisch wir Gastfreunde saßen, Haßgesänge gegen die boches. Ist das zu fassen? Was denkst denn Du, Claude? Hassest Du uns, Du Gerechter, der die Tugenden und Laster der Nationen immer weise gegeneinander abwog und erklärte? Hofften wir doch, das Zeitalter des Geldes, des Verkehrs, des Betriebs, das die Chauvinismen noch einmal übertrieb, würde sich und sie ad absurdum führen, bis die Menschheit wie von einem häßlichen Morgentraume erwachte. Ist das am Ende der Sinn dieses Krieges? Wird doch vielleicht das viele Blut nicht vergeblich fließen?
Das schrieb ich gestern: das Blut, das nicht vergeblich fließt. Und heute habe ich die erste Todesnachricht aus dem Kreise der Nächsten. Unser junger Eberhard ist in den Kämpfen um Ypern gefallen. Im Spätsommer ritt er als junger Husar in das geliebte Land seiner Herzensdame Manon ein. Er schrieb mir von Ritten durch Flußtäler mit Buschwald am Ufer und großen gelben Strohmieten auf den Feldern und von kleinen Provinzcafés, in denen man sich wie in Paris vom Kellner de quoi écrire geben läßt. Im Herbste wurde seine Schwadron von Frankreich nach Belgien verlegt, der Reiter mußte sein Pferd abgeben und kam in den Schützengraben. Ich hörte nichts mehr von ihm, und nun ist er schon lange gestorben. Es war im November, als unsere Erstlinge mit Leidenschaft in den Tod stürmten.
Wird die vielverehrte und berühmte Künstlerin und Muse der neuen Dichter von Paris mit einigem Anteil des ungestümen Jungen gedenken, der mit all seinem Zuviel um ihre zarten Seltsamkeiten warb? Sie stand immer etwas fassungslos vor diesem Chaos. Erinnerst Du Dich, wie sie mit uns beiden weise redete über diese Liebe? „Ich möchte ihm sein Flachshaar streicheln, und er will mich besitzen. Ja, wenn er älter wäre! Ich habe ihn von Herzen lieb. Aber bin ich denn schon alt genug, um die Jugend zu lehren? Ihr habt mich doch noch als Schulmädchen gekannt.“
Da dachten wir an die köstliche Werdezeit dieses sonderbaren Wesens mit den exotisch schrägen Augen und den ruhelos welttrinkenden Lippen. Wir sahen wieder die Schulheftblätter, auf denen sie das eben Geschaute, Geträumte und, was wir ihr erzählten, in starre Linien mit Bleistift und Buntstift verwandelte und eine eigene Mythologie von Göttern, Nymphen und Tieren schuf. Und die holzgeschnittenen Gesichter, die sie zu den Balladen des alten Bertrand am Kaminfeuer seines ländlichen Wirtshauses zeichnete. Der Alte beugte den grauen Lockenkopf mit dem Südwester dicht über das Blatt und summte ihr das Lied ins Ohr, das seine Finger auf der Guitarre begleiteten. Wie erlebte sie ihre Kleidchen, Hüte und Gürtel, hegte sie wie Haustiere, bewunderte sie, wenn sie mit der Zeit schöner wurden, und trauerte, wenn sie nicht mehr zu ihr passen wollten! Wie fruchtbar waren ihre Enttäuschungen: Einmal kam sie vom Landaufenthalt der Familie heim und erzählte: „Ich habe mich so gelangweilt im Grünen. Mein einziger Trost waren die Holzpferdchen vom Karussell des Wanderjahrmarkts. Als es regnete, glänzten sie braun und rot.“ Und beim Erzählen zeichnete sie eine nackte Göttin auf einem steifen Roß, das mit schmalen Beinen auf Rädern stand und das Haupt mit einem Auge wie aus Edelstein und mit großgezackter Mähne erhob.
Später bekam sie dann in Ateliers und Salons Kameraden und Verehrer, die sie lanzierten, und wurde ehrgeizig und neugierig auf die große Welt. Ihre Bilder, die immer schöner wurden, durften wir in dem neuen Heim, in dem sie viel Besuch empfing, bewundern.
Da lernte Eberhard sie kennen. Als er herauskam aus diesem reichen Bilderkabinett und mit uns beiden durch die Nacht wanderte, mochte er in kein helles Café, nur immer durch die Laternendämmerung des Vorstadtboulevards und ihrer gedenken. Und er sah sie dann wieder und mußte, um atmen zu können, tagelang umhertreiben draußen am Seine- und Marneufer und nächtelang auf dem Hügel und bei den Hallen. Hatten wir ihn glücklich heimgebracht in das Gartenhaus beim Park Montsouris, so ging er nicht schlafen, sondern stürmte bald wieder los stadteinwärts, drängte sich zwischen Marktweibern in die Morgenmesse von St. Eustache, wo er zwischen Greisinnen und Kindern vor einem Madonnenaltar kniete, oder fuhr mit dem ersten Seineschiffchen irgendwohin. Nachmittags lag er auf Deinem oder meinem Divan müde und schlaflos und getraute sich nicht heim in seine Einsamkeit. Und blieb aus Liebe zu der Verehrten ein Jüngling, trotzdem die freundlichen Mädchen vom Tanzsaale Bullier und auch etliche Damen nach ihm schauten. So ist er gestorben, ehe er das Leben anerkannt hat, und war vielleicht der Glücklichste von uns allen.
Von den anderen deutschen Freunden aus Paris weiß ich nicht viel. Einige sind ins Ausland gegangen, als sie die Stadt, die Heimat der Fremden, verlassen mußten, nach Spanien, nach der Schweiz, nach Amerika. Die meisten sind wohl deutsche Soldaten wie ich. Aber alle sind wir verbannt. Denn nur Paris war unsere Stätte. Das ist seltsam und schwer zu erklären. Paris wurde ein Schicksal, eine Notwendigkeit.
Als ich hinkam, gedachte ich, ein paar Monate zu bleiben, an Menschen und Museen, Straßen und Gärten einiges zu lernen, dann weiter zu reisen und heimzukehren zu Beruf und Alltag. Aber ich verlor die Lust weiterzureisen, verlernte Beruf und Alltag und blieb. Aus diesem Traume konnte ich nicht mehr auftauchen. Doch nie hatte ich den Ehrgeiz vieler „Metöken“ ein Pariser zu werden. Ich verkehrte nicht in wichtigen Salons, war nie in der Kammer, nie in einer Versammlung, in der Jaurès sprach, nie in einer Vorlesung Bergsons noch in Rodins Atelier. Ich war so glücklich, aus der Welt des Erfolges und der Beziehungen fortzusein. Ich kannte ein paar Maler und Malersgenossen, meist auch Fremde, lebte als Fremder am Rande des Lebens und liebte die Stadt. Und vielleicht zum Lohne dafür, daß ich sie ohne Begehr und Anspruch liebte, schenkte sie mir die Freundschaft eines ihrer echten Kinder, Deine Freundschaft, Claude. Da wurde der Fremde ein Gast. Unser Zusammensein wurde bisweilen so reich wie Einsamkeit. Die Pausen unserer Gespräche waren voller verwandter Gedanken. Wir liebten beide den Genuß um der Erkenntnis willen und die Erkenntnis, weil sie unsere höchste Lust war. Ob wir mit einander in Büchern lasen oder in Menschen, die uns begegneten, ob wir gemeinsam erlebten oder einander Erlebtes erzählten, es war in allem dieselbe Nachdenklichkeit und Stille. Und doch warst Du ein Tätiger, Geschäftiger. Du warst ganze Tage unterwegs von den Verlegern zu den Theater- und Filmunternehmern, von amerikanischen Schriftstellern zu italienischen Übersetzern. Und manchmal nahmst Du mich mit, und ich trat ein in die komfortablen Büros von Direktoren und Anwälten, die koketten Boudoirs berühmter Sänger, in die affektierte Stileinheit geschmackvoller Künstlerheime und das Sammelsurium der bric à brac-Liebhaber. Gern ging ich auch mit Dir in die Magazine, besonders in das Sportshaus, wo Du Polostäbe, Schleuderhörner für pelote basque, Boxhandschuhe und training-balls aussuchtest und genau probiertest. Und im Herbst begleitete ich Dich auf die Jagd, aber nicht um mitzujagen, sondern um mit Dir querfeldein durch Dickicht und über Stoppelfeld zu gehen. Ich klopfte die Büsche ab, damit Deine Rebhühner aufflögen, und drehte den Lerchenspiegel in tauiger Frühe, während Du schußbereit standest. — Wir besuchten die alten Kirchen der Provinz, und Vergangenheit floß über uns aus den Nischen der Heiligen und im Dröhnen der Domglocken. — Und, Claude, all unsere gemeinsamen Mahlzeiten im Dorfwirtshaus nahe bei dem mächtigen Herd, über dem der Suppentopf brodelt und duftet, und in der Stadt in kleinen, noch nicht vom Fremdenvolke verdorbenen Pariser Küchen, wo der Kellner ein hilfreicher Freund und der Kellermeister ein weiser Berater ist.
Nun hast Du mich allein gelassen, die Weltgeschichte hat unser Gespräch unterbrochen, und ich muß mein Teil für Dich aufschreiben.
Gestern hatte ich Stadturlaub. Ich freute mich so, ein paar Stunden beim Münster und in alten Gassen zu verbringen. Aber was ist mit mir geschehen? Kann ich den sichtbaren Weg in das Vergangene nicht mehr finden? Sonst wenn ich nur das Pflaster vor den Kathedralen betrat, begann schon die Verwandlung, fing um meine Sinne dies seltsame Surren an, das mich mühelos eintat in die Wölbungen, entlangleitete an Wänden, hob und verjüngte zu Bögen, mein Blut in zackige Umrisse der Zierate mitriß. Dies ganze Aussichherausgleiten und sich als etwas Anderes wiederfinden, während Auge und Geist doch nur Farben und Formen feststellen und Wissen und Erinnerung dazu Nachricht flüstern. Dies Wunder verblieb dann taglang in mir, das Mittagessen in dem altmodischen Kleinstadtrestaurant vor Staubblumenvasen der table d’hôte schmeckte noch nach etwas Anderem als nach Brot und Fleisch. Die Siesta im bräunlichen Sofawinkel geräumiger Provinzcafés empfing aus der dampfenden Tasse vor mir Weihrauch der Vergangenheit.
Gestern aber stand ich fremd mit meinen Soldatenstiefeln auf den Steinen vorm Münster und sah in das Lächeln der klugen Jungfrauen des Portals voll Heimweh hinein. Und als ich endlich mit einem Drachentiere mich emporkrümmte und Anteil bekam an Nische, Mauer, Bau, wurde ich von einem Leutnant angefahren, den ich nicht gegrüßt hatte, obwohl er dicht vor mir aus dem Tore trat. Da mußte ich fortgehen von Engel und Kirchmauer. In den Gassen waren immerzu Feldgraue, deren nägelbeschlagene Sohlen zu laut auf dem Pflaster widerhallten. Im alten Gasthaus saßen auf den Plätzen der verdrängten Bürgersleute fremd und dem Raume feindlich Offiziere. Schließlich traf ich Kameraden und saß mit ihnen irgendwo im dunstigen Halbschlafe beim Bier.
Aber einen kleinen Ertrag habe ich mir doch von dem Urlaubstage mitgebracht, einen blaugebundenen Reiseführer vom Jahre 1852, auf dem mit Goldbuchstaben „Paris“ steht. Darin lese ich den ganzen Abend und sehe die Bilder an: Die Brücken der Seine von oben gesehen mit den Umrissen der beiden Inseln und dem Rücken der Kathedrale, die Gärten des Palais Royal und der Tuillerien, Kirchen, Triumphbögen, und die Fontänen, diese Traumbecken mitten im wilden Treiben. Und dann die normannische Amme mit der Haube, die Alte mit den gebratenen Kartoffeln, den Schuhputzer zu Füßen der karrierten Engländerhosen, den frierenden Bouquinisten am Quai, den garçon im Café de la Rotonde mit den zwei Kannen. Und die berühmten verschwundenen Stätten früherer Generationen, die Maison dorée, den eleganten Saal der Frères Provenceaux, den Jardin Mabille, wo unter Girlanden und Kandelabern Herren in engen Hosen, Damen in weiten Röcken grüßen. Der Text nennt es „das flammenstrahlende Reich der Pomaré und andrer Sylphidenfürstinnen“.
Viel habe ich noch selbst gesehen mitten im heutigen Paris von Spuren alter Zeit. Mein Paris, unser Paris war ganz mit diesem Alten verknüpft. Aber es wurde schon immer mehr in Winkel und Abweg gedrängt von einem neuen, das breite Straßen mit gleichmäßigen Häuserfronten durch die Ruinen alter Gassen brach und immer hellere Lichter in halbdunkle Gärten hing. Manchmal rang sich das Alte mit Zauberkraft wieder durch, verwandelte die Leuchtreklamen der neuen Welt in spielerisches Feuerwerk vor alten Palästen und die fauchenden Autos in Sichelwagen und schimmernde Quadrigen. Aber das war schon Beleuchtungseffekt und wurde nicht mehr so wirklich wie es die Carrefours noch sind zwischen schrägen Häuserkeilen und die Bücherkästen am Quai, die Brücke und die Insel unter der Brücke.
Ob der Krieg Paris sehr verwandelt? Zunächst schleppt er wohl viel modernes Gerät und Gefährt aus der Stadt fort an die Front, und es werden nun wohl lauter solche alten Omnibusse fahren wie der mit den drei Schimmeln, den ich oft am Panthéon bestieg, der vorüberfuhr am Luxembourggitter und an den Arkaden des Odéons und alte Straßen hinab zum Fluß. Ich saß am liebsten oben bei dem Kutscher, der im schwarzen Ledergehäuse wohnt und mit seinen drei dicken Rossen spricht. Und wenn wir über die Brücke kamen, fühlte ich im Aufsteigen und Niedergleiten die Wölbung des Brückenleibes wie den stolzen Bug eines edlen Tieres unter mir.
Seltsam, in der Stadt freiumhergehend und allein, fühlte ich mich bedrängt und unfrei. Hier, wo nur ein Bett und ein Platz am langen Holztische mein ist, bin ich ruhig. Dabei gleicht dies Fort, das unsere Kriegskaserne ist, einem Kerker. Wenn ich im Aufwachen die Wand entlang sehe und ihrer Rundung bis zum Kreuz der Decke folge, muß ich an Verließe der Christen im Kolosseum denken. Die Eisenhebel über den Fenstern, die Sturmlaternen, die im Winkel rosten, die Signalhörner, die über der Tür verstauben: das ist Ritterzeit und hat Schuljungenromantik, das spielt mit mir, damit spiele ich. — Mußt Du immer aus allem Genuß saugen, altes süchtiges Herz?
Auf dem Brett, das über den Betten entlang läuft, stehen jedermanns Krug, Schüssel und Tornister in Reih und Glied. Die Tische sind leergeräumt, nur hinten am Fenster, wo der Stubenälteste haust, ranken aus einer geköpften Bierflasche eng eingehalst Herbstblumen um eine blasse Stadtrose. Vor dem vergitterten Fenster wartet der Hof auf unsern Appell. Dahinter steigt fahlgrün mit Gesträuch und kleinen Kummerbäumchen der Wall auf, durchbrochen von dem Tore, durch das es an Latrinendüster vorbeigeht ins Freie.
Es ist Sonntag heute. Ich könnte ins nächste Dorf gehen oder auch nur ins „Posthorn“ an der Kanalbrücke, wo man trinkt und spielt. Statt dessen bleibe ich hier allein in der Stube. Kann ich nicht in der Welt sein, zu der ich gehöre, so will ich mich hier im Vergitterten einspinnen in Erinnerung. Ich glaube, ich liebe schon den Weg durch die unterirdischen hallenden Gänge zur Küche hin und zurück mit dem dampfenden Kochgeschirr. — Liebe ich die Freiheit nur noch als verschwimmenden Weg in die Ferne? Das Stück Landstraße, wo die Pappel aus Nebelgrund in Nebelhimmel steigt und ihr gegenüber der kahle Weidenbaum krüppelt, auf dem die Ästlein aufsitzen wie Kinder auf einem knieenden Tiere.
Ich versprach Dir die eine bestimmte Geschichte, Claude, aber es wird mir schwer, sie zu erzählen, und ich weiche aus und schreibe von dem und jenem. Wozu rede ich Dir von meiner armseligen Gegenwart, anstatt das eine Erlebnis zu berichten, in dem ich Paris noch einmal neu besaß und fast verlor, noch ehe ich wie alle andern vom allgemeinen Schicksal daraus vertrieben wurde? Es ist, als ob ich noch immer nicht die Worte fände für das, was mir geschah. Es war eine Erscheinung, die auch jetzt noch bisweilen wiederkehrt. Die Wiederkehrende wird eine Liebende. Das ist schmerzlich und verwirrend und erschwert das Erzählen der wirklichen Geschichte, die keine Liebesgeschichte ist.
Die Wiederkehrende ließ ein Flechtlein aus ihrem gelben Haar an meine Lippen fließen, wenn ich in der Mittagshitze am Rand der Erdgrube rastete mitten im Dunst der Suppenkessel und der schwitzenden, keuchenden, schlafenden Soldaten. Und früh, wenn das erste Septemberlicht in den Lachen der Dorfstraßen sich spiegelte, sah sie mich an ganz atemnah. Und im Backstubenwinkel bei warmriechendem Brot und quirlender Milch fühlte ich den kräftigen Erdduft ihrer Schultern und hielt in träumenden Armen das sanfte Gewicht des knabenschlanken Leibes. Jetzt im Winter sehe ich nur bisweilen ihren Blick und das anfangende Lächeln an den Mundwinkeln, und bisweilen kommt die Wut über mich gegen diese zu reiche Jugend. Jetzt, wo alle Leidenschaft freigegeben ist, bereut meine Selbstsucht mitunter, daß ich nicht sultanisch dachte: liebe und töte.
Ich kann nicht weiter schreiben. Wir sollen fort nach dem Osten. Morgen werden wir verladen zu langer Fahrt durch ganz Deutschland. Dann kommt wohl der wirkliche Schützengraben und der tägliche Krieg. Wer weiß, ob ich den Frühling noch erlebe. Oft denke ich, es könnte so gut mit mir zu Ende gehen. Amt und Beruf habe ich in der Welt nicht gefunden, ich habe genug gelernt, um „etwas“ zu werden, aber es lag mir nicht viel daran. Und doch bin ich nun wie einer, der hingehen muß, ohne sein Wort gesprochen zu haben. Rede ich noch wie mit fremden, schon gesprochenen Worten? Denke ich schon die leibhaftigen Gedanken selbst oder nur die nachbarlich begrenzenden, ihre Negative? Mir ist so bang vor dem Absoluten des Gedankens, der dasteht wie ein Befehl. In meiner Schattenbucht wandelten die Bilder ohne Umriß, Farbe in Farbe. Aber nun ist die Welt hell von Entsetzen. Genuß ist unmöglich. Es gilt zu retten, man muß sich entscheiden, man muß für oder wider sein.
Wie darf ich leben und mitansehen, daß Meinesgleichen für Götzen verblutet, die keine Götternamen mehr haben, sondern nur noch mit wissenschaftlichen Fremdworten benennbar sind? Dies Sterben ist Sünde, dies Blut schreit zum Himmel. Götzen sind es, nicht aus Gold oder Stein oder Holz, nein, Maschinen, genaue, tadellos ineinander greifende Stahlgespenster. Alles menschliche Tun ist nur noch Handgriff an Maschinen. Wir sind geschmiedet an das, was wir geschmiedet haben. Bisher hantierten wir für die Errungenschaften und Betriebe. Jetzt, wo Errungenschaften und Betriebe der Nationen miteinander Weltkrieg spielen, jetzt kurbeln, lüften, knipsen und schnellen wir den Tod aus tausend Röhren und Windungen. Und jeder Treffer trifft den Schützen selbst. Was ist denn Mut, was ist denn Heldentum geworden? Ein Unmenschliches, die Fähigkeit, das Menschengefühl zu unterdrücken, nicht zu empfinden, nur sich anzuwenden. Mut ist ein Zwitter aus Wahnsinn und Genauigkeit geworden. Eure Helden sind Dämonen, die gigantisch ausharren gegen alle obere Gewalt. Aber ihr Ende ist immer das Nichts. Sie sterben für den Tod, nicht für das Leben.
Es ist Gefahr, daß der Mensch nicht mehr Gottes Erwählter bleiben kann. Der Mensch war das Wesen, dessen Sinne beim schmecken, tasten, sehen, hören, riechen weiter reichten als bis zum Zwecke. Er mußte die wahrgenommene Welt immer noch einmal selbst bauen. Für ihn war nur wirklich, was er beschwor. Was ist Staat, was ist Gesellschaft? Es gilt den Menschen. Er muß wieder in Einem tun und erkennen. Und sein höchstes Tun muß so sein, daß er nicht weiß, ob er tut oder ob ihm von Gott geschieht. Für die Gemeinschaft gibt es nur ein Gesetz: den Menschen für Gott bereit zu halten.
Ich habe von neuen Propheten der Menschenliebe gehört, die uns aus dem furchtbaren Nichts dieser Zeit retten wollen durch Güte. Ich zweifle, ob Güte uns retten könne. Der Gegenkrieg muß kommen, aber er darf nicht aus dem Mitleid kommen. Der Gott des Mitleids ist gestorben, es wuchs soviel Dämmerung an seinen Umrissen, bis seine Gestalt verloren ging . . .
Januar 1916.
Meine Schulhefte habe ich im Tornister mitgenommen und fast ein Jahr lang vergessen. Wir sind damals noch nicht ins Feld gekommen. Man behielt uns den ganzen Sommer und Herbst in der Festung Thorn. Und als die Kriegstüchtigen ausgesucht wurden, war ich nicht darunter. In dieser Zeit konnte ich nichts für Dich aufschreiben, ich versank in den verzweifelten Stumpfsinn des Garnisonlebens; das gräßliche System machte mich subaltern. Es war, als dürfte ich nicht mehr denken. Kam dann bisweilen im Halbschlafe geballte Fülle verdrängter Gedanken, so konnte ich sie nicht mehr verwalten und hatte nur zu leiden.
Nun sind wir hier in dem polnischen Grenzstädtchen und halten Bahn-, Straßen- und Lazarettwache. Es gibt keinen anderen Dienst mehr. So stehe ich im blassen Wintertageslicht und unter hellem Sternenhimmel bald vor der Baracke mit den kranken Russen, bald am Hofeingang bei der Wäscherei, oder ich gehe auf dem toten Gleise auf und ab, fünfhundert Meter immer hin und zurück vom Lazarettausgange bis zur Rampe Nr. 2 und gebe acht, daß kein Unbefugter hinüber von der Dorfstraße und herüber von Bahn und Lazarett durchkommt.
Vor lauter Stundeneinteilung fühle ich die Zeit selbst nicht mehr, nicht mehr den Tag, der aus Morgen und Abend wird. Nur um die Vesperstunde wird hier die Zeit manchmal etwas Wirkliches: da richten sich die kranken Russen in ihren Betten auf und wenden ihre wildhaarigen, sanftäugigen Häupter zu dem großen goldglänzenden Christusbild in der Saalecke. Und im selben Augenblicke bleiben die Leichtkranken, die im Hof und in der Wäscherei arbeiten, still stehen und singen ein Gebet. Dann gehen sie wieder an ihre Arbeit, tragen mit wiegendem Gange Lasten, rollen wie Kinder, die miteinander spielen, die große Wäschemangel über das Leinen.
Später, nach Feierabend hört man aus ihren Schlafkammern schwermütige Ziehharmonika- und Balalaikatöne. Es sind gutmütige Gesellen. Für ein bißchen Brot und Tabak helfen sie uns, unsere Wachtstube säubern, holen uns Kohlen und Wasser. — Und diese Menschen haben vor ein paar Monaten auf unsere Kameraden geschossen. Und ich werde vielleicht bald auch auf die ihren schießen; das wird dann wahrscheinlich ebenso Dienst sein, wie jetzt das Wachestehen. Mir graust . . .
Aber nun will ich endlich versuchen, das Versprochene zu erzählen, denn ich hoffe nicht mehr, daß wir uns wiedersehen, Claude.
Die Geschichte beginnt am Karnevals-Dienstag und hört bald nach Ostern auf. Es fängt damit an, daß ich in der Nationalbibliothek saß und auf das große Kompendium der dorischen Bauten wartete, aus dessen Worten und Tafeln ich mir langsam und glücklich die Steine der alten Tempel aufbaute als Vorbereitung für unsere Reise durch Süditalien, Sizilien und Griechenland, die wir so schön ausgedacht hatten und aus der nun nichts geworden ist. Aber ich mußte vergeblich warten. Ich war verdrossen, es fehlte etwas an meinem Tage. Ich sehnte mich nach den wunderbar genauen Zeichnungen der Säulen und Quadern und nach den altertümlichen Fachworten für jedes Teilchen des Baues. Und nun kam der Diener und brachte den Zettel zurück. Das Buch war schon in anderen Händen. Ich ging an die Regale und griff eine Stadtgeschichte von Paris heraus, in der ich stehend blätterte. Da waren Pläne und Zeichnungen der alten Viertel am linken Ufer. Und in meiner Erinnerung stieg jener seltsame „Vierzehnte Juli“ auf, den wir vor der Cidre-Wirtschaft in der schmalen uralten rue de l’Hirondelle verbrachten, an einer Tonne sitzend und dem Tanz der bunten Mädchen aus dem benachbarten „Hotel“ zuschauend. Und ich sah wieder zwischen ihnen den rothaarigen Jungen, der auf dem unbekannten flötenähnlichen Instrument spielte. Der Tanz wurde aber lärmender und überdeckte seine dünne Musik. Er hustete schwindsüchtig, und seine Töne wurden schriller und versagten. Da warf er das Instrument zu Boden, zerstampfte es, rief: „Ich will singen,“ und fiel um.
Über diesen Erinnerungen verlor ich meinen Text und sah von den Seiten hinauf zu den Eisenträgern des dämmerhohen Raumes. Da fiel mir ein, daß ich heute früh Kinder gesehen hatte mit Fähnchen und kleinen Trompeten und daß Karnevals-Dienstag war. Und schnell mußte ich das Buch in seine Reihe stellen und den Saal verlassen.
Draußen trieb ich in einem Menschenstrome mit zu den großen Boulevards, fühlte, wie ich Menge wurde, die über Menge hinschaut, und sah über unsichtbar wandernden Wagen die kleinen rotfrierenden Volksköniginnen als Allegorien der Winzer- und Bauernprovinzen Frankreichs lächeln. Auch dies war Lektüre, auch dies blätterte sich wie Chronik. Die Menge, die sich hinter dem Zug der Wagen zusammenballte, drängte mich mit, bis ich in eine nach Norden aufsteigende Seitenstraße geriet. Als wieder Spielraum um mich war, ruhte mein Auge auf der kahlen runden Mauerfläche der Kirche Notre Dame de Lorette, und ich blieb stehen. Die Mauer war voll Atem wie ein Gewand über einem Leibe. Mich drängte es, mich kindlich unter dies Madonnengewand zu bergen und in der freundlichen Pracht drinnen zwischen süßen seidenen Büßerinnen aus der Nachbarschaft dieser Mutter Gottes zu knien. Aber wieder genügte das Gedankenbild, und ich wollte schon umkehren nach Haus aufs linke Ufer zu anderer Lektüre. Da fiel mir ein, daß ich einen dieser Tage den Maler Bilbao in seinem Atelier oben am Montmartreabhang besuchen und seine neuen strengen Bilder sehen wollte, deren Linienschärfe und unmittelbare Farbe mich immer quälend mahnten an etwas Gegenwärtiges, was eigentlich auch ich tun mußte, an etwas, dem ich noch auswich . . .
Ich landete in einer kleinen Crèmerie der Place Blanche. Am anderen Tisch saß noch morgenblaß am Nachmittag eine üppige Frau und fütterte ihren weißen Spitz von ihrem Teller. Während ich eine Omelette aß, fühlte ich mich mitgefüttert von den fetten milchweißen Händen. Es war warm im Raum; aber die Frau und der Hund schüttelten sich von Zeit zu Zeit wie vor Kälte.
„Nachher gehe ich die Kinder sehen,“ sagte die Frau zur Wirtin.
„Die Kinder? Ihre?“
„Ach nein, die süßen Kinder im Tabarin. Da ist doch Kinderball heut Nachmittag. Ach, sie sind so putzig und hold. Und wenn man dort Abend für Abend in der Quadrille arbeiten muß wie ich . . .“
Kinderball! . . . Mir fielen die erregenden Verkleidungsspiele der eigenen Kindheit ein, die Mädchen in abstehendem Flitter vorm Spiegel sich drehend, das eigene Gesicht mit der schwarzen Maske aus dem Glase fremd auftauchend. Und dann Réunion im Seebad; und Angst und Lust des ersten Walzers. Und als die Quadrillendame wegging, folgte ich ihrem Wege.
In der Garderobe hingen die Mäntelchen und Mützchen angeschmiegt an die großen faltigen und leeren Hüllen der Erwachsenen, und auf den Gängen trippelten helle Füßchen zwischen dunklen Gewändern. Aus dem Saale klang das alte Mondscheinlied des Pierrot in breiten Geigentönen. Und dazu drehte sich’s flimmerig und wiegend vor meinen Blicken. Beim Näherzusehen unterschied ich viele Gestalten Altfrankreichs in Miniatur wie aus Porzellan oder aus Puppenstoff. Da war der kleine Chevalier mit Federhut und Degen und schaute seiner Marquise auf das zu große Schönheitspflästerchen ihrer Wange. Da waren Soldatlein der alten Garde mit Bäuerinnen aus Lothringen, der Bretagne und Touraine, eine kleine Griechin mit spärlichem Haarschopfe, kaiserlicher als alles Erwachsene, was je auf Kostümfesten in Empire auftrat, Hirtenknabe und Bergère und viele viele weiße Pierrots mit Spitzengeriesel über Kinderfingern und schwarzen Pompons am Rocke, bunt karrierte Harlekine und huschende gazige Colombinen. In der Mitte aber drehten sich zwei winzige Amoretten mit Zitterflügelchen an den Schultern umeinander behutsam und ernsthaft.
Die Musik hörte auf. Da streckten sich überall den an die Logen und Gänge strömenden Kindern Arme entgegen. Ich hätte auch gern so ein Trippelndes, Hüpfendes empfangen und fühlte ein spitzes Weh im Herzen. Hier war etwas anderes als Lektüre.
Aber die beiden guten, großen Gesellen in Schellenkappe und Heroldskleid ordneten und leiteten die Kinder zu einer Quadrille, in der zwei lange Ketten einander entgegenrückten mit zierlicher Haltung und durchbrechendem Mutwillen, sich in Bewegungen und Komplimente einzelner Gruppen auflösten und dann wieder mit der lauter einsetzenden Hauptmelodie des Orchesters in langer Reihe würdig vor- und rückwärts schritten. Aus dem Finale dieser Quadrille entwickelte sich in drolligem Staccato ein Schottisch, in dem die Kinder eilig durcheinander hüpften und stelzten und die Schar der Erwachsenen zurückdrängten in die Gänge. Da wurde auch ich von Ärmchen und Rücken in Knie und Kniekehlen gestoßen, und rückwärts stapfend kam ich mit einmal in Augenlinie zu der hohen Gestalt der Frau Hertha, deren silbergraue Haare, starr dunkle Augen und zittrig schmaler Mund über der Menge auftauchten.
Neben ihr stand ein schlanker Knabe.
„Also zu den Kindern muß man gehen, um Sie einmal wiederzufinden,“ begrüßte mich Frau Hertha. Sie hatte, wie Du weißt, keinen Grund, mir Vorwürfe zu machen. Ich fühlte aber doch ein wenig schlechtes Gewissen, denn das Erlebnis hatte ich gründlich abgetan und dachte nur noch zuweilen an die Erscheinung.
Und ich sah von ihr fort auf ihren Begleiter, den Knaben. In seinem gelben Tropenkostüm und unter dem breitrandigen Schlapphute sah er gar nicht verkleidet aus. Nur das bunte Tuch um seine Hüften war Karneval. Die weitoffenen hellen Augen blickten den Fremden böse und ruhevoll an. „Mein junger Freund Gaston,“ stellte Frau Hertha vor. Der Knabe machte einen kurzen steifen Diener und lief fort zum Tanze.
Während ich der Frau Hertha Rede und Antwort stand, folgten meine Augen dem Tanze des Knaben Gaston mit einer Zigeunerin, die ihm nur bis an die Brust reichte. An der sicheren Art, wie der Tänzer seine Dame faßte und hielt, stieg mir der erste Verdacht auf. Und als das Paar in unsere Nähe kam, bemerkte ich ein weiblich zartes Handgelenk, an dem ein Armband schimmerte. Aber das Gesicht, das mich einen Augenblick ganz ansah, war mit seinen großen Formen, der festgezeichneten Nase, dem deutlichen und reichen Mund und der länglichen Wange, die in eine hohe Schläfe überging, so jünglingshaft, daß ich meinen Zweifel bezweifelte.
„Es wäre schade,“ sagte ich vor mich hin.
Frau Hertha hatte gehört und fragte: „Was wäre schade?“
„Wenn es doch eine Dame wäre.“
„Merken Sie es?“ sagte sie und schien erfreut. Die Kinder merkten es nicht. „Aber Sie wissen, daß Ihr „Schade“ etwas Verletzendes hat für unser Geschlecht!“
„Ach, Frau Hertha,“ sagte ich offen und ohne Rückhalt, „nun ist es eben doch nur ein Opernpage, eine Hosenrolle.“
Aber jetzt ließ Gaston seine kleine Tänzerin stehen, lief her und faßte Frau Hertha um. Und nun sah ich mitten zwischen den Kindern, die wie kleine Faunisken und Eroten um das Paar flatterten, einen seltsamen Tanz dieser Beiden, der die kindliche Walzerweise ausdehnte, umbog, durchstieß und wiederaufnahm, Herthas Tanz herziehend und einsaugend, Gaston kerzengerade, steil. Seine Wangen röteten sich, und mit einmal erschien auf seinen Lippen das Lächeln, das wir von jenem Marmorkopf aus Chalkis kennen, den uns der Athener Freund geschickt hat, das Lächeln, das die Konvention archaisch nennt; aber es lebte durch die Jahrhunderte weiter: Die Seligen im Relief zu Bamberg und die auf der Paradiesestafel des Angelico haben es wiedergefunden, am Dom zu Chartres lächelt es ein Engel und im Louvre der Täufer oder Bacchus des Lionardo und eigentlich auch die Gioconda. Es ist kein Frauenlächeln, es ist nicht das der lockenden Verführerin, wofür es viele halten. Engel und Heiden haben es, Selige und Heilige und die frühen Griechengötter. Was bedeutet Mann oder Weib, wenn ein Gott lächelt?
Dies Lächeln blieb mir sichtbar, auch, als ich bei der Auflösung des Tanzes das Paar aus dem Gesichte verlor. Ich sah es auf den Girlanden über den Logen, den roten Fräcken der Kapelle, im Glanz des Kronleuchters und der Wandkandelaber. Aber dann fuhr eine Luftschlange an mir vorüber und hinauf zu den Sonnenreifen an der Decke, Konfettiregen bestäubte mich blau und rosa, und mit einmal glitt eine hüpfende, zerrende Kinderkette an mir vorbei, schlang sich über die Treppe, verlor sich hinter den Logen und kam unterm Orchester wieder zum Vorschein mit Kotillongaben: Bändern, Sternen, Orden und Flitterstäben; und am Ende dieser Kette erschien wieder der Knabe Gaston und hielt in der freien Hand einen bunten Pappstab mit drehendem Goldstern. Als er mich wahrnahm, lief er plötzlich loslassend fort und auf mich zu, gab mir den Stab und sagte deutsch und mit Mädchenstimme: „Halt mir meinen Stab, ich muß tanzen.“ Dann war er geschwind bei einer Gruppe von Kindern, die sich im Ringelreihen an den Händen hielten und schnell herumdrehten. Und er riß die Schar zu immer tollerem Wirbel, warf den Kopf weit zurück; der Hut fiel herab, gelbes Haar strahlte durch die Luft und flog in langschießenden Strähnen um das selige Haupt.
Ich langte nach dem Hute. Frau Hertha stand mit einmal wieder neben mir und lächelte etwas spöttisch über meine dienende, wartende Haltung mit dem Hut und dem Stab. Als dann das Gastonmädchen langsam gegangen kam, das Haar mit erhobenen Armen eilig wieder zusammenflechtend, fragte ich aus bösem, sich wehrenden Herzen: „Spielen Sie eigentlich noch oder spielen Sie schon wieder?“ und erhielt die beschämende Antwort: „Ich spiele immer und nie.“
Dann küßte sie die Hertha und sagte: „Ich muß schnell zu meiner Konversationsstunde nach Hause.“ Sie nahm mir den Hut ab; ich hielt ihr den Stab hin. Da faßte sie mich einen Moment ganz in ihren großen Blick: „Den lasse ich Ihnen, damit Sie spielen lernen,“ und damit sprang sie in die schwarze Masse der Wartenden im Gange und verschwand.
Jetzt gab es zwischen den Bürgersleuten schon allerlei Gestalten des Spätnachmittags, da sahen ummalte Augen trauernd auf die Kinder und neidisch auf die Mütter, und ich dachte wieder an die Quadrillendame aus der Crèmerie und wunderte mich, wieviel Seltsames mir in den letzten zwei Stunden geschehen war, ohne daß ich irgendetwas Selbständiges getan hätte. Frau Hertha reichte mir die Hand zum Abschied. Aber ich hatte mit einmal Angst vor dem Alleinsein und fragte, ob ich sie begleiten dürfte.
Wir gingen rasch stadtabwärts und kamen in die Ceylon-Teestube. Als der elastisch stofftretende, mit dem Haarkamm geschmückte Inder unsere Tassen gebracht hatte, erzählte mir Frau Hertha von diesem Gastonmädchen, das Lotte hieß und die neunzehnjährige Tochter einer ihrer Schulfreundinnen war.
„Sie ist auf ein Vierteljahr hier, um sich im Französischen zu vervollkommnen und wohnt in einer Pension nahe bei dem holden Kinderpark Monceau. Diese Pension müßten Sie sehen: Der Empfangssalon vollgepfropft wie ein Antiquitätenladen. Lauter Nippes auf Regalen, Tischchen und in Glasschränken, Falsches und Echtes durcheinander, Teller aus Rouen und Sèvres an den Wänden, überall Deckchen und Stickereien, Porzellanlüster, Porzellanleuchter, ein unbenutzbares Zierspinnrad. Und zwischen alldem in etwas zerknitterter Gesellschaftsrobe die alte Madame de Roulers. Sie hat nicht etwa ein richtiges Pensionat, versichert sie; nur ist ihr, seit der Gatte, der Diplomat war, in russischen Diensten verstarb, die Wohnung zu weit geworden, und sie ladet junge Damen aus guten, ausländischen Familien ein, bei ihr zu wohnen, um sich selbst ein wenig Anregung und Auffrischung zu verschaffen. Und wenn diese jungen Damen durch lebendige Konversation ihr Schulfranzösisch verbessern wollen, so stellt sie ihnen ihre Jugendfreundin Mademoiselle Picard vor, ein schrumpfliches Altjüngferchen, das immer von Luftzug bedroht ist. Beide lieben die Jugend, sie erziehen sie, aber nicht etwa berufsmäßig, sondern mehr aus Liebhaberei, und lassen sich entsprechend bezahlen. Und man kommt nur durch persönliche Empfehlung zu Madame de Roulers.
Lotte bewohnt ein überzierliches Jungmädchenzimmer, in dem Stühle, Tische, Vorhänge und Bilder mit rosa Schleifchen umwunden, angebunden und aufgehangen sind. Da gibt es eine gelbliche Tapete mit verblaßtem rosa Blumenmuster, halbhohe Scheibengardinen aus rosa Seide, geblümte winzige Teppiche. Ein lächerlich kleiner blumenbemalter Paravent verdeckt nur notdürftig den Waschtisch. Von dem steifbeinigen Sofa mit den vielen Kissen kann die Lotte zum Bücherbort hinaufgreifen, das an Seidenschnüren herabhängt. — Als ich über diese Beschreibung glücklich lächelte, fuhr Hertha fort: Ich merke, Sie lieben es immer noch, wenn ich ausführlich erzähle; ich bin auch geschwätzig aufgelegt und rede gern von all dem Kleinkram. Aber die Lotte ist nicht glücklich zwischen diesem vielen zerbrechlichen Hausrat. Nur der große Spiegel gefällt ihr, in dem man sich in ganzer Gestalt betrachten kann. Sie kommt oft zu mir, um der Welt der beiden alten Damen zu entfliehen. Sie bittet: bringt mich doch in das richtige Paris. Aber dazu habe ich keinen rechten Mut, ich fühle mich vor Lottes Mutter, meiner Freundin, verantwortlich. Sie zum Beispiel hätte ich ihr nie vorgestellt, wenn Sie uns nicht in den Weg gelaufen wären.“
Ich sagte: „Ich — Hertha, bin ganz ungefährlich geworden. Ich lebe mönchisch bei Büchern und Bildern.“
Dies Geständnis mag sie wohl gereizt haben, denn nun kam es so, daß wir den ganzen Abend zusammenblieben. Spät waren wir noch in Nonoches Bar und gerieten in große Gesellschaft. An der Bar saß der lange Herr von Schlicht und gab der Nonoche eine gewaltige Havanna-Zigarre zu rauchen, die sie lüstern mit ihren blauroten Lippen umfaßte. Während ihre dickberingten Finger mir eine ihrer berühmten Riesenzigaretten drehten, redete der dicke Dichter Denys Nonoche in altertümelnden Alexandrinern an, die hinter ihm der feine Jacques Fontel ins Moderne parodierte. Der rotbärtige Meurice, von dem man nie wußte, ob er Staatsbeamter, Dichter, Bildhauer oder Börsenspekulant war, kam die Stiege herauf, aus dem Extrazimmer: Wir sollten herunterkommen zu den Freunden. — Ich war wie ohne Gegenwart; Worte und Gestalten glitten streifend vorbei, und die eigenen Worte kamen wie von einem Anderen gesprochen aus meinem Munde. Ich wagte mich nicht von Herthas Seite; sie war die Schützerin, die den Wahnschleier über meinen Augen festhielt. Und immer hörte ich noch die Kinderlieder, zu denen die junge Lotte getanzt hatte, und hielt ihren Sternstab in den Händen. Man fand es putzig und sehr rühmlich, daß ich den auf dem Kinderball geschenkt bekommen hatte.
Mit einmal kam der entsetzliche Ohne-Kragen herein, blieb greulich grinsend in der Türe stehen, tanzte und sang mit Schaumlippen und bekam gönnerhaft Geld von Nonoche hinübergereicht. Man erzählte, er sei ihr erster Liebhaber gewesen. Nonoche sagte: „Das nächste Mal hast Du aber einen Kragen an.“ Er gab noch ein zweites Lied zum Besten, bei dem er Gesicht und Glieder grotesk verzerrte, und dann das Paradis d’Allah. Da sang alles umher den Refrain. Und Gamine erschien, die Kokainfreundin. Sie sah mich groß an und hatte plötzlich eine unheimliche Ähnlichkeit mit der Lotte. Und bei der letzten Strophe veränderte sie das Paradis d’Allah, mir in die Augen blickend, in ein Paradis de Buddha.
„Wie wissend Sie sind, Gamine,“ sagte ich.
„Ich komme auch aus der Nervenheilanstalt, wo ich mich vier Wochen erholt habe.“
„Vom Kokain?“
„Ach von mehr, von meiner ganzen alten Tollheit.“
Ich mußte sie immer ansehen: die aufgerissenen Augen und die Lippen, deren feinen Schwung sie zuckend verzerrte.
Aber Hertha nahm mich fort, und bald waren wir in ihrem schönen Gemach über den Wipfeln der Avenue.
Und in tiefer Nacht saß ich aufrecht in dieser altvertrauten und doch fremden Welt und dachte: Wie vergeblich ist all unser Liebeseifer! Wir suchen uns einzureden, daß wir dabei etwas erkennen. Wir verspinnen den seligen Trieb aller Tierheit in immer neue kindliche und mörderische Spiele, wir vertiefen den einfachen Weg der Lust zu immer verzweigteren Labyrinthen. Und dabei ist ein Ehrgeiz in uns wie beim lernen und arbeiten. Wann habe ich zu Ende gelernt? Wann stehe ich leichten Herzens auf wie der Buddha von dem Lager, das die duftenden Öllampen erhellen, aufsteht und wegschreitet über die schlafenden Leiber hinaus in die Einsamkeit? Das dachte ich, aber dann erschien das Bild dieses Mädchens vom Nachmittag: die Knabengestalt, das Strahlenhaar und das große Lächeln, das eine andere Erkenntnis versprach als das Nirwana, in welches mich hier die Nacht verlockt hatte.
Einige Tage später sah ich die Lotte neben Manon Laurier am Teetische der Frau Hertha. Manon sah alle prüfend durch ihre Lorgnette an und sagte: „cher ami“ bei der Begrüßung. Nur mit Lotte war sie herzlich, beschrieb ihr Kleider und Blusen und Hüte, wie sie sie tragen müßte, und versprach ihr, sie in das Privatatelier des großen neumodischen Schneiders mitzunehmen. Und zu ihr sollte sie bald kommen, sie wollte sie für ein Bild: Androklus und der Löwe nach einer alten Ballade. Sie hätte den Bändigerblick und die seltsame Verwandtschaft, welche die wilden Tiere anzieht. Dann sprach man von Liedern und Balladen. Manon sang. Und Frau Hertha sollte sie auf dem Klavier begleiten. Aber es war kaum möglich, zu ihrem nervösen Singen zu spielen. Und so blieb es bei einem quälenden Andeuten und Ergänzen. Neue Leute kamen hinzu, der dicke Dichter Denys, der zu Manons nächstem Gefolge gehörte, und unser Eberhard, der in etwas weiterem Bogen, aber auch unablässig um sie kreiste. Bisweilen suchte ich Lottes Blick, aber sie sah von mir weg, als fühlte sie meine Schwäche und wollte mich schonen. Auch war es mir schwer, französisch zu ihr zu reden.
Als Eberhard aufbrach, schloß ich mich ihm an und war froh, von anderem Schicksal zu hören. Er sprach von Manon und der süßen Qual ihrer Gegenwart. Dabei führte er mich durch den Garten, in dem sie so hold zu ihm gewesen, in das Zimmer, wo sie ihn so gepeinigt hatte. Auf Tisch und Sofa lag schwarzer Lampenblak. Die hat die ganze Nacht geschwelt. Manon war abends hier, und als sie ging, durfte ich sie nicht begleiten. Da fürchtete ich die Dunkelheit und schlief unter der Lampe ein. — Sie läßt sich küssen, streicheln; dazu lächelt sie wie gesättigt. Dann springt sie auf und will etwas anderes spielen. Es ist eine beständige Lockung und keine Gewähr. Alles, was sie verspricht, vergißt sie wieder. Mir wollte sie das kleine Heft geben, in das ihre Mutter die alten Hirten- und Seemannslieder eingeschrieben hat, und heute hat sie es dieser jungen deutschen Dame geschenkt. — Mitten im zärtlichen Nahbeieinander fragt sie: Und dieser Kopf dort an der Wand, ist der griechisch oder römisch? — Und dann vergleicht sie so kennerisch. Als ich ihr einmal den Handschuh abzog, sagte sie: „Bisweilen erinnern Sie mich an einen jungen Mann, der früher mit mir Ausstellungen und Tees besuchte. Ich liebte es sehr, wenn er mir den Mantel umlegte und abnahm. Er küßte mich nie; vielleicht liebte er die Frauen nicht. Das Schönste war, wenn er mir im Vorsaal eines Salons oder tea-rooms meine langen Handschuhe langsam auszog. Da wurde ich ganz glücklich.“ — „Und er, fragte ich. — Aber darüber hatte sie nicht nachgedacht.“
Ich sagte: „Lieber Knabe, sie ist vielleicht noch nicht alt genug, um selbst zu lieben. Sie will noch geliebt werden. Sie hat noch nicht den demütigen Ehrgeiz, den Anderen glücklich zu machen.“
Er darauf: „Aber ich bin doch auch jung und würde sie so gerne glücklich machen. Ich haßte und verachtete immer die Eifersucht, diese häßliche Fratze der Liebe, und nun erlebe ich sie selbst. Wenn Manon zum Beispiel diese junge schöne Lotte anfaßt und anschaut mit einer Zartheit und Eindringlichkeit, mit der sie weder mich noch sonst einen behandelt, das ist zum Verzweifeln.“
Ich hätte ihm eine glückhaftere und einfachere Liebe gewünscht, aber er war so eingetan in sein geliebtes Unglück, und es stand ihm so wohl an, daß ich nicht weiter trösten und raten mochte. Ich ging bald nach Haus und unterwegs verwarf ich alles, was mich aus der ruhigen Zuschauerrolle heraus locken wollte.
Trotzdem fand ich mich ein paar Tage später in dem Empfangssalon der Madame de Roulers zwischen Nippes und Stickereien und wartete auf Lotte. Die hatte zu Frau Hertha gesagt, sie wollte einmal richtiges altes Paris gezeigt bekommen, nicht das elegante der Tees, Rennen und Theater, nicht das der berühmten Sehenswürdigkeiten, sondern das heimliche, von dem sie so im Vorbeigehen an alten Winkeln etwas ahnte. Da hatte Hertha als Führer meinen Namen genannt, und Lotte hatte lebhaft ja gesagt.
Nun erschien sie plötzlich zwischen dem blinkenden, leise von ihrem Schritte klirrenden Glas und Porzellan. Sie hatte einen tellerflachen breiten Hut auf, zeigte auf den und fragte: „Haben Sie auch Lust, mit einem Jesuiten spazieren zu gehen?“
Ich sagte: „Ich sehe keinen Priesterhut, sondern einen Heiligenschein von massivem Stoff, der das Haupt bettet, umrahmt und leuchten macht.“
„Ich danke Ihnen,“ sagte Lotte, und gab mir einen kurzen, festen Händedruck. „Es sind nämlich nicht alle meine Erzieher hier Ihrer Meinung. Meine Freundin Lily zum Beispiel hat mir meinen lieben Teller verboten, läßt mich allerhand Pariser Formen aufprobieren, das Ausgesuchte wieder umarbeiten und dann die Frisur verändern und so weiter. Es ist eine rechte Plage.“
Und während wir aufbrachen, um zum Métro zu gehen, erzählte sie mir von dieser Freundin. Die war hier mit einem bekannten Anwalt verheiratet und sehr mondän und elegant geworden. Sie hatte die schönste Haut der Welt und legte doch auf. Das müsse man. Die Lotte sollte es auch tun.
„Und das mögen Sie nicht?“
„Ach, ich habe einen derben Geschmack: ich möchte entweder naturfarben herumlaufen oder gleich so viel auflegen, daß man sieht: die ist geschminkt. Das ist wohl ein Barbarengeschmack?“
„Durchaus nicht; darin empfinden Sie vielleicht pariserischer als Ihre Freundin.“
„Sie sind freundlich mit mir. Ich werde so gerne gelobt. Darin bin ich wohl noch ein Schulmädchen. Und nun möchte ich das wahre Paris kennen lernen. Alles, was man mir vorsetzt, kommt mir wie für höhere Töchter zurechtgemacht vor. Da schickt man mich in eine Matinee der Comédie Française, damit ich die ganz vollendete Aussprache lerne, oder Lily nimmt mich mit in ein Gesellschaftsstück im Gymnase, wo immer wieder Herren hereinkommen, ihre Zylinderhüte auf den Kamin stellen und vorn zu den Damen sagen, was sie empfinden. Die Damen antworten und setzen die eigenen Empfindungen auseinander. Und plötzlich werden sie mitten aus aller Vernunft heraus leidenschaftlich, daß man erschrickt.“
Ich sagte: „Auch das ist Paris. Aber da darf man nicht mit solcher Herzensandacht zuhören. Das ist eben Konversation, Fortsetzung des Dinergesprächs; es ist hier auch für eine gewisse vornehme Langeweile gesorgt. Aber es gibt noch so viel andere Theater in Paris von den kleinen eleganten Bühnen der Boulevards bis zu den ‚Gaîtés‘ der Vorstädte. Und manchmal ist das Varieté viel wesentlicher zur Erkenntnis der Stadt als das Theater.“ — Und ich erzählte ihr von Mayol und Tramel, von der schluchzenden Damia und der trotzigen Fréhel. Ich wunderte mich selbst, daß ich so leicht mit der Lotte plaudern konnte. Aber heute war sie wie ein aufmerksames Kind, das klug zuhört und einem wißbegierig auf den Mund schaut.
Am Odéon stiegen wir aus und gingen in den Luxembourg-Garten. Sie kannte nur das Museum; aber daran gingen wir vorbei und kamen zu dem Platze, wo die alten Männer Croquet spielen. Lotte blieb stehen und sah den bedächtigen Bewegungen der Alten interessiert zu. Als sich einmal eine Kugel vom Reifen verlief, sprang sie hin und brachte sie dem Spieler zurück. Und obwohl das gegen die Spielregel war, nickten die Alten freundlich, kamen alle zu ihr und schwatzten mit ihr von Croquetspiel, Wetter, Jugend und Alter. Es war schwer loszukommen; aber schließlich gelang es, und wir gingen weiter zu dem Rondell mit den verwitterten Königinnen von Frankreich, die würdig auf ihren Postamenten standen und zierlich ihre halbzerbrochenen Finger ausstreckten.
„Arme Königinnen,“ sagte Lotte, „ihre Zeit ist vorbei.“
„Nein,“ tröstete ich, „es sind Märchen- und Kinderköniginnen geworden.“ — Aber zu diesem Trost runzelte sie die Stirn.
Lange blieben wir bei dem Kinderkarussell, lasen die Aufschriften der vorübergleitenden Wagen und die Namen der Pferdchen, des gelben Hirsches, roter Löwen und weißen Elefanten und liebten die kleinen Reitersleute und Wageninsassen. Besonders drei hilflos Kleine im Wagen, der New York heißt, gefielen uns. Lotte summte die Melodie mit, die stöhnend und pfeifend und von jähen Pausen unterbrochen abrollte. Und wir freuten uns, wenn der schlanke Krauskopf den Ring geschickt von seiner Klammer abstach und als Trophäe auf seinem Stabe klappern ließ, und bedauerten einen kleinen Dicken, der immer wieder mit seinem Stabe daneben in die Luft stach. Und jauchzende Mädchen stiegen auf die Pferde mit zarten Knien und schmalen Schenkeln, die sich reitgierig ansaugten an die hölzernen Gäule wie an lebendige Roßflanken. Aber plötzlich sagte Lotte: „Kommen Sie bitte fort, ich darf nicht mehr mitreiten, bin zu groß, und habe noch kein Kindlein in den Wagen zu setzen.“
Wir trieben zum Tor hinaus auf den Boulevard und gerieten in die stille Rue de la Harpe. Große trübe Fensterscheiben alter Häuser wölbten sich aus den Steinrahmen wie glanzlose Riesenaugen. Ein Fenster stand offen, im Dämmer tauchten bunte Kleider und bemalte Gesichter auf. — „Diese Frauen dort“, sagte Lotte leise, „machen mir bange genau wie Nonnen. Beide schauen einen an, als müßte man gleich zu ihnen in ihr Kloster, dürfte nicht so frech und frei umherlaufen.“ — Ich fühlte ihren Arm, den ich schützend ergriffen hatte, ein wenig zittern. Aber das nächste Fenster tat ihr wohl: da waren Blumen und ein Kanarienvogel im Käfig. „Blumen lieben wir Frauen doch alle.“
Eigentlich wollte ich sie in das Museum Cluny zu den Thermensteinen, dem Holz- und Elfenbeinschnitzwerk, Fayencen und Emaillen, zu den gotischen Goldreifen und Kronen und den schönen Wandteppichen führen. Aber wir gerieten vor die Kirche St. Séverin und durch eine schmale Seitengasse mit einmal auf jenen kleinen runden Platz mit den drei Gasthäusern, der wie das Zentrum einer Provinzstadt wirkt und den Du, Claude, immer den Marktplatz von Paris-sur-Seine nanntest. Da spielten wir Ankunft in der kleinen Stadt, kamen müde aus dem Postwagen geklettert, und Lotte meinte, ich müßte mit dem schwärzlichen Hausknechte sprechen, der in der Tür des einen Hotels stand. Aber wir hatten Furcht vor der Patronin, die aus dem Fenster schaute und uns zunickte, und gingen weiter. Die nächste Gasse führte zu der Bröckelmauer vor dem Hofe von St. Julien le Pauvre. Wir stießen die Kirchentür auf. Drinnen las Lotte die Inschrift, die so rührend bittet, beim Sakristan Ansichtskarten zu kaufen, um beizutragen zum Unterhalte dieser armen Kirche. Gleich lief sie zu dem Schwarzrock an der Tür und kaufte. Der zeigte uns den großen griechischen Ikon mit den hundert Heiligen und ließ uns dann durch eine Seitenpforte in den Garten.
Da wuchs und wucherte es um Trümmersteine und Schutt, frühes Grün, Farrenkraut und Schachtelhalm. Wir setzten uns auf einen Säulenstumpf und sahen übers Wasser. In geisterhafter Nähe unseres Kirchleins lag die große reiche Schwester Notre Dame, ihren gewaltigen Rücken hinlagernd, gestützt auf die ausstrahlenden Pfeiler und kniend mit vielen kleinen Kapellen. Oben ragten, einer den andern halb verdeckend und einander im Zwielicht immer überwachsend, die beiden dicken Glockenturmstümpfe, die ohne Dach und Spitze mit breiter Fläche in den Himmel langen, der aus Wolken und Äther an ihnen weiterbaut und türmt. Da erzählte ich dem versunken schauenden Mädchen von Chartres und Reims und Rouen und reiste mit ihr durch die Isle de France in stille Städte zu Füßen der Kathedralen, kam mit ihr an Vorplatz und Portal und hinein in das Dunkel der Bogen und das fließende Licht der runden Rosen und länglichen Fenster. Ich führte sie auf schmalem Steinsteg zwischen Zacken und Traufen zu den Königen, Heiligen und Untieren der Dächer und tief hinunter in Kryptendunkel und Kerzendunst der Kapellen von Notre-Dame-Sous-Terre. Ich erzählte ihr von dem schönen Verfall, den unheilige Erneuerer hemmen wollen mit Ankleben und Ausbessern, und sprach in den Abend hinaus, beredt und begeistern. Ob sie mir sehr zuhörte, weiß ich nicht; sie saß gebückt, pflückte und wand einen lebendigen Strauß aus Frühlingsblumen und Frühlingsgräsern zwischen dem Unkraut.
Als wir dann aufstanden, weil sie fort mußte, fand ich, daß ich ihr eigentlich noch gar nichts gezeigt hatte. —
„Ich komme bald wieder mit Ihnen,“ versicherte sie, „wenn Sie es mögen. Sie haben mir viel, viel mehr gezeigt, als ich erwartete, mehr vielleicht als Sie selbst denken.“
Und mir war auch, als sähe ich mit diesem lieben jungen Gefährten alles neu und reicher.
Als sie mich am Odéon verließ, war mir seltsam schwach zumute, wie nach einem Blutverlust. Und ich war doch nur neben ihr gegangen, hatte sie gar nicht angesehen. Dann fühlte ich einen Groll, nicht gegen dies Kind, sondern gegen Frau Hertha, die es vor mich hingestellt hatte wie zur Rache, weil ich von ihr selbst und von den Frauen frei sein wollte. Ich erinnerte mich an einen Traum, in dem sie mir eine kleine Statuette aus Silber zu küssen gab; sie hielt sie mir so hin, daß meine Lippen helle Silberbrust und dunklen Silberschoß berührten und ich verging in entnervender Adoration.
Ich blieb unter den Bogengängen des Odéons, ging auf und ab, blätterte in den Büchern der Auslagen, und mir war, als könnte ich nicht aus dem beschützenden Bereiche der Kolonnaden hinaus. Da stand plötzlich die Germaine vor mir mit blassem Oval über hauchbewegter Boa und beweglichen dunklen Augen. Sie legte mir die Hand auf die Schulter: „Hé, mon ami Wächter, Sie starren ja wie ein Besessener, haben Sie gebummelt, getrunken oder zu viel Droge geraucht?“
„Zu wenig von all dem,“ sagte ich, „ich sollte —“
„Dann kommen Sie mit mir, ich bin heut einsam. Ihr Freund, der Musiker, kümmert sich heute nicht um die kleine Germaine, ist in der Stadt mit seinen reichen Landsleuten zum Diner und Souper, und da nimmt er mich nicht gern mit. Ich bin ihm wohl zu sehr Quartier latin. Kommen Sie! Es gibt bei mir zu rauchen, aber nicht der Lucette sagen, daß ich Droge habe. Die gibt mir auch nicht gern ab. Es ist ein ewiger Neid; und die Concierge in der Rue Montmartre, die uns davon verschafft, wird immer schwieriger und geheimnisvoller und auch teurer.“
Ach, indem ich die Worte dieser entzückenden kleinen Germaine aufschreibe — ich müßte sie eigentlich französisch aufschreiben, aber irgendeine Scheu hindert mich, und Du Vielsprachiger liebst es, mein Deutsch zu lesen — sehe ich ihr kleines Appartement vor mir mit dem gelben Bettzimmer und dem winzigen runden Salon, wo rings auf der Erde Kissen, Felle und Decken um das Taburett mit der Fumerie lagern, diesen Raum voll Blumen und Opium, Tee und Zigaretten und schweren Parfüms.
Ob sie da wohl heute noch liegt, die schmale Germaine, zwischen ihren Kissen? Ob sie noch Droge hat? Wer sorgt für sie? Hoffentlich gibt es auch jetzt im Kriege noch brave Engländer oder Amerikaner, die sich um sie bemühen, da die Deutschen fort sind, die sie immer besonders verehrten. Ach, meine Herren, sorgen Sie bitte für die kleine Germaine! Ihr Essen und Trinken kostet nicht viel; sie nährt sich meist von Hors d’œuvre, Salat mit viel Essig und Dessert. Großen Aufwand an Kleidern macht sie nicht: für die Straße das Reisekostüm, das ihr so gut steht, in dem sie sich als fremde Dame unterwegs fühlt, und zu Hause die allerlei Kimonos. Bringen Sie ihr Blumen und kleine japanische Puppen und bunte Ketten aus den billigen Auslagen von Montparnasse. Und sorgen Sie vor allem, daß die Droge nicht ausgeht. Man sagt, in Paris sei Kohlennot. Das macht mir Kummer für Germaine; denn frieren darf sie um Himmelswillen nicht. Aber da ist ja der kleine transportable Gasofen, den wird sie nahe an das Taburett rücken, und bei Lampe und Pfeife in den Zehn-Centimes-Heften der Kollektion Sherlock Holmes oder Nick Carter lesen oder in den Fünfundneunzig-Centimes-Büchern der Sammlung Arsène Lupin. Und als gute Französin hofft sie wohl auf den succès final. Ob sie uns, ihren alten Freunden, böse ist? Ob sie mit Verachtung boche sagt? Eigentlich fand sie immer die amerikanischen Nebenbuhler chicker, sie tänzelte zwischen Sport und Seele. In der Mitte aber war die Lampe mit der erlösenden Droge. China war besser als Deutschland und Amerika zusammen.
Wenn nun einmal eine Zeit käme, in der wir wieder nach Paris könnten, würdest Du wieder mit uns im Garten Montsouris spazieren gehen, Germaine, und zu den „Fortifs“ und den kleinen Vorstadtschenken und mit uns in die Bahn gleich unter Bullier einsteigen und durch die Tunnel fahren und an Krautgärten und kleinen rosa und gelben Landhäusern vorbei nach Robinson und dort auf dem Eselchen reiten bis zu irgendeinem der vrais arbres de Robinson? — Weißt Du noch den kastenartig kleinen Salon, in den uns der höfliche Kellner hereinkomplimentierte, um uns die Freude eines cabinet particulier zu verschaffen? Es war aber vorn im eigentlichen arbre auch ganz leer. Er führte uns gleichwohl in den Extrapavillon. Und während er Hors d’œuvre und Salat mit viel Essig für Dich brachte, und zum Dessert kleine überwinterte Biskuits aus der Büchse, besahen wir die Tapete des Pavillons. Das war eine seltsame Tapete: streifenweise kehrte immer dasselbe Bild wieder: ein paar Zuschauersilhouetten an einem Ufer, im Wasser ein Torpedo, ein Unterseeboot und ein Dampfer, in der Luft ein Aëroplan. Und daran knüpftest Du Deine militärischen Betrachtungen: Was für gute Sousmarins Frankreich hätte, wie ja auch im Matin stand. Und wenn je ein Krieg käme, so würde Frankreich allein mit der Luftflotte siegen. — Ach, wäre doch der ganze Krieg solch ein Pavillongespräch geblieben; dann dürftest Du auch siegen, Germaine!
Noch einmal einen Apéritif mit Dir, mit Dir oder irgendeiner, die ist wie Du — denn Du bist kein Einzelnes — einen Apéritif auf der Terrasse der Closerie, wo dann die vielen Dämmerungsfarben von Paris über Deinen bunten Hut, Dein bräunliches Gesicht und die Hand mit dem Strohhalm im Glase wandern. — Und nachher Dein Müdesein: man mußte Dir die Schuhe ausziehen wie einem Kind. Es waren schmale Stoffschuhe mit etwas zu hohen, schräggetretenen Hacken. Ich werde nachher an sie denken, wenn ich am Brunnen meine groben Soldatenstiefel abkratze, einfette und bürste zu einer Morgenstunde, in der Du noch tief schläfst.
Also ich durfte mit in den kleinen Salon, und während sie das Öllämpchen ansteckte, mit einer Nadel die köstliche goldbraune Droge aus dem Ebenholzkästchen nahm und mir die erste Pfeife bereitete, fragte Germaine: „Und diese Kleine de chez Madame Hertha Hörner, der Sie vorhin am Métro die Hand gaben, ist es eine Liebe?“
Ich sog langsam und süchtig den ersten Prasselrauch ein und wiederholte die Frage: Ist es eine Liebe?
Darauf Germaine: „Ach Eure deutschen Mädchen, sie bieten sich immer an und geben sich nicht.“
„Kennen Sie denn viele?“
„Nein, aber ich urteile. Laßt mich doch urteilen. Was mir so einfällt, ist meistens richtig.“
„Sicherlich,“ sagte ich, „aber was diese junge Dame betrifft . . .“
Germaine: „Lassen wir sie“ — sie nahm einen tiefen Zug — „unsereins ist so vernünftig. Nous autres Parisiennes, wir überlegen immer: wie sollen wir sein, um Euch zu gefallen? Es ist eine Pflicht, eine lästige Pflicht.“
Sie schloß die Augen, und ich hielt eine lange Lobrede: „Ihr seid Trost und Gottesgabe. Ihr blüht hervor aus Straßen, Gärten und Zimmern und werdet eingeschluckt von Zimmern, Gärten und Straßen. Man besitzt Euch nicht, man taucht nur in Euch und Eure Stätte ein. Man wird auch nicht von Euch besessen, nur von der Stadt, der wunderbaren fremden Stadt. Ihr seid alle schön, Ihr wollt auch nur schön sein, seid alle Schwestern, ein Reigen, Eine. Man sollte nie andere Frauen lieben als Euch.“
Trotz der Verallgemeinerung faßte Germaine meine Worte als Schmeichelei auf und sagte: „Aber Sie sind scharmant heute, mein Freund? Was kann man für Sie tun?“
Der Bastteller, auf dem die Zigaretten lagen, breitete sich wie der Hut der Lotte als Heiligenschein um das Eine Lächeln, und ich sagte: „Ach geben Sie mir noch eine Pfeife, Germaine.“
Ja, Claude, von der Germaine und von Paris zu schreiben, wird mir nicht schwer. Aber ich muß Dir weiter von der Lotte erzählen, und ich habe immer das Gefühl: Wenn ich Dir auch berichten kann, wo ich mit ihr war und was sich begab, ihre Holdseligkeit vermag ich nicht wiederzugeben. Aber laß mich nur weiterschreiben, so gut es geht.
Da fällt mir als nächstes eine Mittagsstunde ein, in der ich sie vom Louvre begleitete über die Place Vendôme in die Rue de la Paix. Da strömten gerade die Mädchen aus den großen Modehäusern, die Frühstückspause hatten, manche eilig in die Seitenstraßen, um in einer Crèmerie zu speisen oder in einer Bar Brioches in den Kaffee zu tauchen, andere gingen langsam zu zweit und dritt, aßen Bananen, die sie auf der Straße kauften, blieben bei dem Händler, der bunte Postkarten, billig blitzende Ringe und Kurzwaren feilhielt, stehen und sahen in den vielen Spiegeln der Läden die vorübergehenden jungen Männer an. Alle waren ohne Hut wie Schulmädchen in der Zwischenpause. Wir gingen ihnen langsam nach die Rue des Petits Champs auf und ab.
„Und diese Mädchen redet ihr Männer so auf der Straße an. Ich bin sonst nicht feige, aber das würde mich furchtbar erschrecken, so angesprochen zu werden.“
„Ich fürchte mich auch immer, wenn ich merke, daß ich einem Mädchen nachgehe, und meistens gebe ich auch bald die Absicht auf. Und es ist dann auch viel schöner, nur in dem Strome mitzutreiben und von dieser und jener einen Blick abzubekommen. Mit einmal gehört man dann dazu, wird ein junger Mitbürger der fremden Stadt, hat auch den ganzen Tag in einem Büro oder Laden gearbeitet, und nun ist der Abend da für die Lust des Daseins. Und man sieht in Blicke, die sind so, als habe man schon viele Abendstunden ihnen gegenüber an weißgedeckten Wirtstischen oder der dunklen Platte des Caféhaustisches gesessen. Und Schultern sieht man, die sind einem bekannt von späten Stunden am Kamin, zu dessen Feuer die Arme hinunterlangten, und halboffene Lippen, die man schon oft im Schlaf hat atmen sehen. Und das macht glücklich und müde. Manchmal ist die Verwandlung auch soweit gediehen, daß man unversehens zu einer hübschen Zufallsnachbarin spricht, dann gibt sie auch meistens freundlich Antwort. Wenn sie aber nichts sagt und weitergeht, so ist es auch nicht schlimm, dann treibt man im Strome fort.
„Aber erscheint nicht einmal eine, die anders ist als alle andern, daß es einen coup de foudre gibt wie in den Romanen, daß man durch alle Straßen und Gassen nachlaufen muß und nicht abläßt?“
Ich nickte und lächelte, aber erzählen mochte ich nicht. Ich mußte an Yvonne denken, Du weißt noch die Yvonne jenes heißen Sommers, der noch am Abend glühend war. Die lichte eilige Yvonne, der ich folgte bis zum Métro und mitfuhr, ohne sie anzureden, immer von weitem auf ihre Hände mit dem Band Bahnlektüre sah, manchmal den scharfen, fast grausamen Blitz der grauen Augen auffing, und als sie ausstieg, ihr nach eine ganz fremde Métrostiege hinaufging, in irgendein Ménilmontant oder Belleville und vor einem Bäckerladen endlich ein Veilchensträußchen ganz ermattet hinhielt, Mitleid fand und ein Wiedersehen versprochen bekam — und Claude, indem ich dies in einem vollen Augenblicke nochmals erlebte, nahm diese gegenwärtige und doch ganz andere Lotte das ganze Stück Vergangenheit ahnungslos mit in ihr Spiel auf: sie saß mir gegenüber in dem Gartensaal im Palais Royal, trank cidre mousseux, nahm das goldgelbe Brot vom Tisch und brach es und gab mir eine Hälfte. Sie saß mit mir in der Loge, und als Manon Lescaut sang: »Adieu, notre petite table«, sah sie mich mit Tränen in den Augen an. — Und ich bekam Angst, sie würde mir mit einmal auch so entschwinden wie jene, die mich eines Tages vergebens warten ließ und nicht wieder erschien. Du weißt, ich suchte sie oft am Modehaus, am Métro bei den Tuillerien und einmal sogar in Ménilmontant; ich sah viel Volk die Treppe heraufkommen, auch viele Mädchen mit weißen Strümpfen und schwarzen Schuhen, aber sie kam nicht.
Du tröstetest mich damals milde und weise, Claude. — „Diese Mädchen“, sagtest Du, „schreiben nicht, wenn ihnen etwas Unerwartetes geschieht. Sie nehmen die Ereignisse hin wie die Tiere die Schmerzen. Sie ist vielleicht krank, oder muß die kranke Mutter pflegen.“ Und dann rietest Du: „Frag doch eine der vielen Kleinen, die mittags und abends aus demselben Modehaus kommen, nach Yvonne. Du weißt den Familiennamen nicht? Der Vorname genügt.“ Und als ich meinte, sie miede mich vielleicht absichtlich, ich hätte irgendetwas falsch, nicht nach der Sitte ihrer Welt gemacht, gabst Du Erfahrener neuen Trost: „Diese Kleinen sind alle ein bißchen boshaft und glatt. Sie entschlüpfen. Man muß mehrere auf einmal jagen wie die Rebhühner . . .“
Während dies Vergangene zwischen uns in der bläulich zuckenden Frühlingsluft wob, trat ich mit der Lotte in eine Bar, wo eine Schar Mädchen Milchkaffee trank und mit dem Wirt und einigen jungen Leuten scherzte. Während sie das Glas mit der Rechten vom »zinc« hob, nahm die Linke meinen Arm, und wir waren zwei glückliche junge Wesen, die sich in der Mittagspause getroffen hatten.
An einem Sonntag dann waren wir Bürger und Bürgerin und lagerten im Grase des Parkes La Muette. Wir packten unser Mitgebrachtes aus, kaltes Fleisch vom Charcutier, Brot und Obst. Der Bürger entkorkte die Flasche und die Bürgerin schälte die Orangen. Wir besprachen ausgedachte fröhliche und traurige Familienereignisse. Und zu allem Verdrießlichen sagten wir: Que voulez-vous? C’est le commerce, wie wir es unterwegs von einer alten Frau in der Vorstadt gehört hatten, die es beim Anblick eines am Rinnstein umkippenden Milchwagens seelenruhig vor sich hinsagte.
Beim Weitergehen verirrten wir uns vor lauter Spielgespräch und kamen im Halbdunkel an die leere Rennbahn, auf der Tribüne, Zäune und Verschläge wie gespenstische Gerippe oder Galgen erschienen. Da war ein Baum am Wege, der einen tiefen Ast zum Sitzen darbot, darauf ruhten wir aus. Sie lehnte sich vertrauensvoll an meine Schulter. Ich dachte: Hier an meinem Mantel, an meinem Arm, hier an meinem Herzen berge ich das Wunder, das noch niemand kennt. Du lächelst, Claude. Ich weiß, ich konnte sie vielleicht küssen. Spiel und Dämmerung und alles half dazu. Aber ich kann nur berichten, daß es nicht geschah.
Und es gab neue Streifzüge durch die beiden Seineinseln, durch die Gegend des Temple und der Place des Vosges, zu den Gobelins und den verwilderten Stadtteilen an der Place d’Italie. Und nun brauchte ich sie auch nicht mehr aus dem Salon der Madame de Roulers zu holen. Sie gab mir Stelldichein im Luxembourg bei dem großen Bassin, wo Du, Claude, als Kind Dein Schifflein durchs Wasser zogst und segeln ließest und wo wir den Kindern so oft zusahen, die dort dieselben Spiele spielen. Manchmal gingen wir auch gar nicht fort, sondern blieben bei dem Bassin und den Kindern. Und wenn Lotte mit Kindern sprach, bekam ich bisweilen das Heimwehgefühl nach Weib und Kind, aber ich wollte nichts davon wissen. Ich hatte anderes zu lernen, auch an ihr.
Für einen Ausflug nach Longjumeau bekam ich einen ganzen Sonntag geschenkt. In dem niedrigen blauen Coupé der Vorstadtbahn erzählte sie mir, daß sie nun genug hätte von der Pension. Sie hatte sich ein Atelier gemietet, ja, ein richtiges Atelier in Montparnasse von einer Dame, die nach dem Süden verreist war. Frau Hertha war erst sehr erschrocken; sie mußte es doch vor der Mutter verantworten. Und die Lily fand es schrecklich bohême.
„Ist denn die Freundin Lily so sittenstreng?“
„Oh nein, sie ist oft so, daß ich Angst um sie habe. Aber von vielem findet sie: das kann man in Paris nicht tun. Ich habe es schwer mit Lily. Sie ist so schön, wenn sie still liegt in ihrem bunten zarten Hauskleid. Aber kaum sitze ich eine Weile bei ihr, so wird sie ungeduldig und eifrig. Bald muß der Gatte kommen. Was er wohl denken mag von gestern? Sie achtet ihn doch so sehr, fürchtet, ihn zu verletzen. Und jetzt wird der andere kommen, der Doktor mit dem gesalbten Fußsackbart. Ob er wieder so frech sein wird? — Und schnell muß ich ihr den Spiegel bringen und ein Streichholz abbrennen, mit dem sie ihre hellen, fast unsichtbaren Brauen nachzieht. Bei ihr ist immer eine Luft, als müßte irgendetwas Außerordentliches geschehen. Sie war schon als Mädchen so ehrgeizig und gespannt. Beständig ist sie in Sorge um den Eindruck, den sie auf andere macht; sie kann es nicht ertragen, irgendjemandem zu mißfallen. Alle vom Grafen bis zum Kohlenfuhrmann sollen entzückt von ihr sein. Ach vielleicht ist das auch Güte: Allen will sie schenken, sich oder sonst etwas. Aber manchmal wird es zur blassen Angst. „Ich muß gefallen, sagt sie, ich bin nie allein. Mir ist, als würde mir bei jeder Bewegung zugeschaut; als Kind dachte ich immer: in den Wänden sind die versteckt, die achtgeben, ob ich mich auch merkwürdig und schön benehme; und auch heute noch tue ich das meiste pour le beau geste.“
„Ist sie denn in ihrem Element?“
„Das ist schwer zu sagen. Einmal sagt sie mir, wie froh sie sei, in einem schönen Auto mit einem vornehmen Chauffeur auszufahren und ihre tea gowns von Poiret zu haben. Und daß es jetzt so entzückende Jours gibt, wo nebenan auf kleinen Tischen ganze Diners warten und man kann stehen bleiben und umhergehen, und die Herren bringen einem alles. Und den nächsten Tag finde ich sie in Tränen: „Ach, alle diese Unruhe, diese Besuche und Anproben und Pflichten. Man könnte weinen vor Wut über alles, was verloren geht. Alle Erinnerungen fließen weg.“ Die ganze Vornehmheit möchte sie dann los sein, möchte Tram und Omnibus fahren, in einem möblierten Zimmerchen sitzen und sich selbst rührende, billige Blusen nähen. Wenn sie so spricht, liebe ich sie sehr und erzähle ihr Schulmädchengeschichten, bis sie wieder vergnügt ist. Aber komme ich wieder zu ihr, so empfängt sie mich gleich mit irgendeiner mondänen Bemerkung. „Ach, ma chère, ich war im Théatre Réjane. Die Wände sind dort zu hell, man kommt nicht genug zur Geltung. Frauen wie ich brauchen einen dunkeln Hintergrund.“ — Ich bin doch lieber bei Frau Hertha. Bei der bin ich noch kleines Mädchen. Sie hängt mir bunte Muscheln und gelbe Bernsteinketten um und nennt mich ihr süßes Schaf. — Aber heute lassen Sie mich immerfort sprechen. Und draußen gleitet alles schnell vorbei. Wie bunt es hier ist, die Kohlköpfe so blau, und die Steine am Wege haben so vielerlei Farben in der Sonne.“
„Ja hier steigen wir aus,“ sagte ich, „und jetzt geht es in einer richtigen alten Postkutsche weiter.“ — Da stand er auch schon an der Bahnsperre, der gelbe Postwagen. Zugleich mit uns stieg eine Schar bartloser Männer mit hochgeschlossenen schwarzen Röcken, roten Krawatten und Samthosen ein und blasse Damen mit grellroten Lippen und in etwas fadenscheiniger Seide. Ich erkannte den Direktor eines Montrouge-Kabaretts und seine Truppe. Der graulockige Herr Direktor war sehr erfreut über einige Komplimente, die ich ihm über sein Winterprogramm machte, und erzählte, sie wollten jetzt hier in den Vororten gastieren und sich zugleich ein bißchen erholen, „den pot-au-feu im Wald aufhängen und das ganze neue Familienprogramm im Freien einüben“. Dazu summte die älteste Dame heiser den „grand Frisé“ und die jüngeren rauchten Zigaretten und flüsterten untereinander. An der nächsten Station stiegen die Komödianten aus. Sie winkten von weitem, und Lotte warf ihnen Kußhände zu, bis sie verschwanden.
„Hätte es für Sie etwas Verlockendes, ein solches Leben zu führen?“
„Ach doch nicht,“ wehrte Lotte ab, „dann möchte ich lieber gleich ein richtiger Vagabund sein.“ Und dann dachten wir uns eine Wanderung aus durch ganz Frankreich. Sie würde natürlich in Knabenkleidung sein. Wir wollten betteln und stehlen, und tags nicht wissen, wo wir nachts schlafen. Ich wunderte mich, daß auch diese Wohlbeschaffene die Sehnsucht der Bürgerkinder nach dem losgelösten Dasein hatte. Wir Heimatlosen, dachte ich und machte wohl ein ziemlich trauriges Gesicht, denn mit einmal legte sie mir die Hand auf die Schulter und sah mir ins Auge: „Keine Sorge, mein Freund, Sie sollen nicht auf die Walz’, Sie dürfen bei Ihren Büchern bleiben. Und mich wird auch bald meine Mutter nach Hause zurückholen. Aber einen Frühlingsmonat bin ich noch frei.“
Wir stiegen aus der Kutsche und bekamen in der Laube eines stillen Wirtsgartens unseren Tisch gedeckt. Als Lotte ein zartes weißes Stück Huhn an die Lippen führte, hatte ich ein seltsames Glücksgefühl. Dem Verständigen mag es albern erscheinen, aber Du Claude wirst mich ahnen, wie ich mich ja selbst nur ahne. Ich fühlte mich von ihr zugleich ernährt und gegessen. Es sättigte mich, sie essen zu sehen. Und dabei erschien mir das Bild der Beatrice, die Amor mit dem brennenden Herzen des zuschauenden Liebenden nährt. Das war ein kurzer Augenblick voll Schreck und Lust. Zurück blieb eine sanfte Zärtlichkeit: ich hätte ihr gern die besten Bissen mit der Hand in den Mund geschoben, wie beim antiken Gastmahl der Freund dem Freunde, der ihm zugewandt liegt.
Wir gingen bergan, bergab durch das Städtchen. An dem tiefliegenden Kirchplatze schaute aus einem Haus durchs offene Fenster von seinem Bett ein kranker Alter. Als ihn Lottes Blick traf, rief er: „Ah, wie schön und jung Sie sind!“ Sie legte ihm Blumen aufs Fensterbrett und ging schweigend weiter, ohne seinen Eindruck durch weibliche Zutunlichkeit zu verkleinern, das verehrungswürdige Kind.
Draußen auf freiem Felde wurde sie munter. Sie sprang von mir weg, lief auf einen einzelnstehenden Baum zu und schlang die Arme um den Stamm. Dann suchte sie am Boden. „So vielerlei Kraut,“ sagte sie, „aber kein Moos.“ Endlich fand sich ein moosweicher Fleck. Da kniete sie hin, lockerte das grüne Polster und hielt es mir her, all das holde junge Geblüh und Gewucher. Es war eine ganze Welt darin: ganz kleine Tierlein schienen zu graben zwischen den Halmen eines ins Winzige verwandelten Farrenwaldes. Die grünen Keime zitterten, als wollten sie zergehen oder wachsen. Die ganze Welt hielt mir ihre Kinderhand hin.
Wir kamen auf eine Chaussee und zu einem kleinen Dorfkirchhof, wo sie zwischen Grabsteinen Primeln, Krokus und Veilchen pflückte. Da war sie ganz Mädchen. Mädchen pflücken wie die Tiere grasen. Es bleibt uns Männern immer etwas rätselhaft und ein holdes Schauspiel. Als es dunkelte, saßen wir nahe bei der Bahn in einem Wirtsstübchen, wo nur am Buffet ein Licht brannte. Wir blieben in einem finsteren Winkel schweigend nahe beieinander, aber ohne uns zu berühren.
Dann in der Bahn bat sie: „Darf ich einschlafen?“ und schmiegte sich in die Ecke. Im Schlaf wurde ihr Gesicht streng. Die Rundung über den zarten und sehr kleinen Nüstern war breit und trug mit festem Schwunge den fast antik geraden Nasenrücken. Der Schatten der Wimpern formte die Wangen zu Gestein, und die Linie zwischen den ganz geschlossenen Lippen war ein dunkler Strich wie auf dem Antlitz eines Grabdenkmals. Ich sah ihr marmornes Totengesicht und hatte den seltsamen Wunsch, sie sollte früh sterben, ehe sie sich wandelte. Sie sollte das Andere, das, was zwischen den Menschen ist, nie erfahren. Zu der Erwachenden konnte ich dann kaum sprechen.
Als wir am Port Royal ausstiegen und an die Terrasse des Cafés kamen, wurden wir angerufen. Da saß Frau Hertha zwischen Larsen und Lynge. Gleich unterhielt der schwarze Schwede Lotte von seiner spanischen Reise. Sie hörte aber lieber dem norwegischen Graubart zu, lächelte ihm nahe ins Gesicht, und er mußte ihr immer mehr erzählen von Landschaften, Menschen und Märchen des Nordens. Als Frau Hertha sie einlud, bei ihr zu Abend zu bleiben, bekam ich Sehnsucht, allein zu sein, stand auf und ging.
Februar 1916.
Tauluft weht durch die Tür, Schnee flockt und zergeht am Fenster. Ich liege krank auf meinem Strohsack. Das fing gestern früh an, als ich bei der langen Baracke am Bahnübergange Wache stand. Es war unheimlich still. Die Schuppen waren noch eine dunkle Riesenwand, aber in den Ritzen und Luken floß roter Morgen. Und als ich an die Ecke kam, war lauter Morgenrot am Horizont. Davor aber schob sich ganz schwarz, eine Tintensilhouette, eine Lokomotive langsam hinterm Schuppen vor mit Schornstein, Ventilturm und Kessel. Wie wird der erste Wagen aussehen? dachte ich. Aber da kam wieder Schornstein und Ventilturm und schwarzer Rücken und das ganz langsam malmende Auf und Ab der Kolbenstangen an den Rädern: eine zweite Maschine. Es war beklemmend. Und nun, ich wußte es schon und erstarrte: Hinter den Puffern der steile Hals mit dem Rauchhaupt der dritten; und selbstverständlich noch eine vierte; und, den ganz Erschöpften beinahe beruhigend, die fünfte. Und nichts dahinter, Luft dahinter, Morgenrot. So fuhr es an mir vorbei wie Waffe ohne Menschenhand. —
Ich schreibe etwas zitterig, doch es geht. Aber wird Dich dies alles, was ich da schreibe, noch angehen, Claude? Bist Du nicht am Ende auch eingestellt in das Gegenwärtige, das Zielbewußte, den Sinn der Zeit? Und ich veralte immer mehr mit meinen Gedanken an das vergangene, vergehende Paris und an die Gebärden eines Mädchenkindes, das inzwischen längst aus meinem Leben verschwunden und am Ende auch eingestellt ist in das Jetzt. Vielleicht ist sie inzwischen Braut oder kriegsgetraute Gattin eines Fliegerhelden oder U-Boot-Kommandanten.
Schon damals verlor ich sie immer wieder. Alle wollten sie zum Gespiel. Selbst die düsteren Maler des deutschen Cafés, die am liebsten unter sich blieben, nahmen sie freundlich in ihrer Mitte auf und spielten Domino mit ihr; und sie führten sie in unbekannte Läden und schwerzugängliche Sammlungen. Ephrussi, der sonst nie in seinem Atelier Besuch empfing, bat sie heraufzukommen und seine Bilder anzusehen und schenkte ihr ein paar von seinen kleinen zartangetuschten Blättern. Er soll eine ganze Nacht mit ihr umhergewandert sein, wobei sie einen blauen Anzug von ihm trug und beide aussahen wie Schulknaben, die zum erstenmal abenteuern.
Oft war sie in dem Bilderbudoir der Manon Laurier, sie wohnte den Dialogen der Führer jüngster Kunst bei, sie hörte Bilbao, den Schweigsamen, von seinem Werke reden und Jacques Fontel, den Dichter, kühn und scharf gegen die selbstzufriedenen Großen und liebevoll für die Künftigen, Unbekannten streiten. Und man hörte auf ihr kindliches Wort als auf eine Art Naturorakel; und Denys dichtete Lieder für das „göttliche Kind der Barbaren“.
Nun brauchte sie mich auch nicht mehr als Führer durch die Stadt, die ihr jetzt die richtigen Pariser zeigten. Aber sie nur zu sehen, war mir so wichtig und lehrreich, daß ich mittrieb in der Schar, die sie umgab.
Da gab es Ruderfahrten auf den kleinen künstlichen Seen des Bois und auf den Flüssen der Umgegend. Glitten wir an Wiesen und Buschwerk, an Erlen und Ulmenreihen vorüber, vorbei an anderen Booten und den kleinen Schleppern vor den großen Kähnen, so saß ich am liebsten abseits und sah von fern ihr Gesicht mitten unter den Beweglicheren und Stilleren in seiner lebendigen Ruhe.
Bei einer Landung, während die anderen am Ufer blieben, lief sie uns heimlich davon. Manon vermißte sie zuerst und schaute kurzsichtig umher: „Wo ist Charlotte? Sie war doch eben neben mir.“ Wir sahen landeinwärts über die sanftansteigende Wiese, wir suchten rechts und links in Buschwerk und Gesträuch. Mit einmal sah ich eine ganz niedere Bodenwelle, die nur wie ein Atemholen der Erde war, und erkannte die grüne Jacke der Lotte und die Liegende selbst: Ein seliges Hügelein grünender Erde.
Ein andermal in einer Kirche, wo blaugeschleierte Nonnenschülerinnen einen Umzug hielten, während das Volk die Säule der „schwarzen Jungfrau“ und den Ring des Bischofs küßte, glitt Lotte aus unserer Mitte fort von den nur Zuschauenden und war mitten in der Schar der Nonnenmädchen, die sie ohne Widerstreben, ja fast ohne Verwunderung aufnahmen und singend umgaben.
Da fällt mir auch die lange Gartenmauer eines alten Landschlosses ein, die an einer Stelle von einer kleinen Treppe unterbrochen war. Die Treppe führte zur Pforte eines Wächterhäuschens. Die Stiegen waren von Gras und Moos überwuchert, als hätte sie seit hundert Jahren niemand betreten. Aber die Lotte sprang hinauf, pochte an die Tür und plauderte mit einem alten Weibchen, das wie aus dem Märchen herausschaute.
Des Abends fuhren wir oft die lange Métrotraumfahrt unter der Erde und durch die Tunnel des Flusses bis zum Fuß des Montmartre und dort mit der Drahtseilbahn bis zur Terrasse von Sacré Coeur, von wo herab wir Paris liegen sahen im milchigen Lichte der Frühlingsnächte; und Kuppeln, Dächer und Türme lockten unter uns wie die Herrlichkeit der Welt. Wir gingen an der ländlichen Gartenmauer des Parks der schönen Gabriele entlang bis zur Tür von Bertrands Schenke. Drinnen saßen wir zu Füßen des gipsernen Gekreuzigten, der wie ein Tropfsteingebild auf uns herabhing. Der wackere Wirt sang für Lotte seine schönsten Weisen und sie mußte ihm deutsche Lieder singen, die er rasch erfassend auf seiner Guitarre begleitete. Er ließ uns einmal einen großen Schmaus in einem Nebenzimmer rüsten bei Korkenfeuer und Wachskerzen, die in umgestülpten Blumentöpfen staken. In dem Flackerlichte zeichnete Manon die Lotte groß mit dienenden mythischen Tieren. Larsen, der schwarze Schwede, tanzte auf einem kleinen runden Tische spanische Tänze für sie. Jeder brachte ihr sein Bestes dar. Ohne daß sie etwas dazu tat, war sie der Mittelpunkt, auf dem das Licht wohnte wie auf dem göttlichen Kinde, dem die Könige aus Morgenland im Dämmern kniend ihre Gaben reichen.
Bisweilen besuchten wir auch die seltsame Tafelrunde im grünen Pavillon der Mutter Berthe. Bis die Suppe auf den Tisch kam, schickte die Wirtin alles Volk in den Garten hinterm Hause. Da wurde Ringelreihen getanzt und Blindekuh gespielt. Und die Mädchen küßten die „Lolotte“, machten ihr neue Frisuren und schmückten sie mit Bändern und Ohrringen. Bei Tisch versorgte sie die Mutter Berthe mit den besten Bissen. Und die alte Madame Papa, die sonst derbe Scherze gern hörte, gab acht, daß keiner von den „jungen Fanten und leichtsinnigen Mädchen“ etwas vorbrachte, was etwa das Ohr der Lolotte ärgern könnte. Die ärgerte sich aber an nichts, nahm selbst die schlimmen Worte ruhig in den Mund, und von ihren Lippen wurden alle Kröten und Vipern zu Rosen und Perlen.
Hatten wir ein paar Tänze im Moulin de la Galette getanzt und oben bei der richtigen Mühle ausgeruht, dann wurde bergab gesprungen mit haschen und jagen. Von den großen Soupers des internationalen Montmartre wollte Lotte nichts wissen. Nur eine der hellen Treppen stieg sie gern hinauf, deren mit dürftigem roten Samte bedeckte Stufen in einen niederen Saal voll kümmerlicher Pracht führten. Sie sah mit Interesse dem Kellner zu, der um Mitternacht die bunten Cafédecken von dem grausigen Filzbelage der Tische zog und schmutzig-weiße Souperleinen überbreitete, sie flüsterte mit den geschminkten Knaben im Winkel, die sie mit einer Art Pagenverehrung umgaben, und tanzte mit den ausgelassensten Mädchen die unmöglichsten Tänze und es wurden drollige Kinderbewegungen daraus. In den grellsten und dunkelsten Spelunken bei den Hallen, in die wir in tiefer Nacht auf dem Heimwege gerieten, war sie glücklich und glückbringend; und wenn die Mützenmänner und armseligen Dirnen mit ihr sprachen, so kam es mir vor, als wäre alles, was man Laster und Elend nennt, nur ein buntes Spiel, welches das große Wundertheater Paris vor dem einzigen Kinde aufführte.
Am liebsten aber war sie in der nahen Rue de la Gaîté, jener erstaunlichen Straße, in der für den Bewohner des Montparnasse im Kleinen alle Reize von Paris ins Volkstümlich-Vorstädtische verwandelt billig angeboten werden. Da gab es in einem großen Holzschuppen das Cinéma, wo sich die Liebespaare im Dunkel aneinander drängen und in der erhellten Pause von einem riesigen mageren Individuum aus langer Blumenspritze mit wohlriechendem Wasser besprengt werden. Da war in staubiger rotgoldener Pracht das Theater, in dem jene böse Königin von Frankreich erschien und im Turm von Nesle die armen Studenten empfing, liebte und ins Wasser werfen ließ. Sie hatte dazu ein prächtiges zweiteiliges Gewand an, links Purpur mit Lilien, rechts Hermelin. Und Hamlet der Däne überlebte hier alle seine Feinde. Den Becher, den er leerte, hatte eine glückliche Verwechslung vor Gift bewahrt, und seines Vaters Geist erschien zuguterletzt und hieß den Sohn leben. Hier ging der Krieg von 1870 verloren durch die Schuld eines Herrn von Alvarez, der die Orangenschalen verdiente, die ihm aus den oberen Rängen an den Kopf geworfen wurden. — Und Bobino und vor allem die Gaîté selbst mit Tramels unvergeßlichem Säuglingsgesicht, Cambon, dem gichtbrüchigen Schwerenöter, und dem verdrossenen Bürger Zecca! Lotte liebte besonders die aufgeregten Debutantinnen, die mit jähen Armbewegungen ihre frechen Lieder schüchtern darboten. Und in dem russischen Nihilistendrama hatte sie eine Vorliebe für den erstaunenden Kellner, der in den Saal des Gelages eintretend, den Großfürsten mit dem Handschuh der vermeintlichen Soupeuse erwürgt findet.
In der Wirtschaft zur schönen Polin unterhielt sie sich gern mit einer vielerfahrenen und ganz jungen Céline. Die war vor zwei Jahren noch ein Bauernkind im Limousineschen gewesen und dann nach Paris zu ihrer Tante gekommen, die ein kleines Restaurant hatte, in dem Céline den ganzen Tag Geschirr abwaschen mußte. Das mißfiel ihr und sie trat in ein Exportgeschäft ein, wo sie Käse verpackte in runde Rollen. Ein junger Mann sagte ihr: „Sie sind hübsch. Sie sollten lieber ihren eigenen Weg rollen.“ Auf diesem Wege aber geriet sie ins Elend. Da half der große Maurice. Er ging nachts mit ihr durch die Boulevards und bat all die vielen Freundinnen seiner Kameraden um Geld für seine „kleine Frau, die nichts anzuziehen hatte“, und bald war genug für Hut, Robe und Schuhwerk beisammen. Aber dann mußte sie auch „arbeiten“ und das war oft schwer. Maurice war streng; sie liebte ihn dafür und hob ihm all ihre Hingabe auf. Aber leider war er nicht ganz zufrieden mit ihr. Denn eines Tages besorgte er für sie ein Billet nach Cairo, wo sie dann gut untergebracht war und nicht auf die Straße zu laufen brauchte, um Geld zu verdienen. — Ja, da habe sie dann einem großen Türken gefallen, der sie in sein Landhaus entführte, gerade den Pyramiden gegenüber. Es war eine prächtige Aussicht, aber man bekam Heimweh nach Paris. Und man fand auch den Weg über Tunis nach Marseille. Auf der Weiterfahrt wurde das Heimatsdorf besucht; und der junge Weber, der sie früher auf den Bauerntänzen immer so fest in den Arm genommen und auf dunklen Feldwegen in die Büsche gedrängt hatte, bat den Vater um Célines Hand. Ein halbes Jahr lang war sie ihm eine gute Frau, bis ein Bekannter aus Paris kam, der ihr das Geld zur Reise gab. Und nun war sie wieder hier und war jetzt Modell, aber nur bei reichen Malern. Maurice hatte sie leider noch nicht wiedergesehen. Sie meinte, er wäre im Gefängnis, der Arme. Aber den starken Mann vom Zirkus hatte sie neulich wieder getroffen, den mit der Eisenkinnlade, der ein Fräulein zum Zureichen brauchte. Der versprach ihr ein hübsches Kostüm und guten Verdienst. Aber er war so weinerlich und dann plötzlich brutal. Ach, wenn sie nur den Maurice wieder fände! Und sie erklärte der Lotte, daß eine, die auf sich hielt, solch einen Maurice haben müßte, sonst würde sie schlaff und träge. Freilich ein Liebling wäre daneben auch erlaubt. — Und dabei blickte sie zu Eberhard hinüber, der zwischen Denys und Germaine saß und dessen verlorenes Lächeln die kleine Céline traf. Aber er sah sie gar nicht!
Ich liebte es sehr, wenn Eberhard mit Lotte sprach oder neben ihr ging; sie waren wie Geschwister, diese beiden aufrechten Kinder, waren auch so kühl vertraut miteinander wie Bruder und Schwester.
Einmal kam Lotte unerwartet zu mir, lagerte sich auf die Couchette und sagte: „Heute muß ich still bei Ihnen bleiben. Ich war bei Lily. Es war so quälend. Sie bot mir Konfekt aus der eleganten Boissierschachtel an und sagte: ‚Wir wollen Bonbons essen und banal sein‘.“ Und ihr Schoßhündchen, ein gräßlich kleines Teufelstier, wurde gebracht. Es war frisch mit Eau de Cologne eingerieben. „Sie macht mir viel Sorge, die Affi,“ sagte Lily, „sie hat jetzt einen Liebhaber, der uns bei jedem Ausgang auflauert. Ich muß aufpassen, wie eine ängstliche Mutter. Ich bin schlechter Laune. Ich möchte am liebsten einen neuen Freund haben, einen ganz Unbekannten, den man nicht wiedersieht. Ich bin gräßlich!“ Sie zeigte mir ein Buch, einen berühmten modernen Roman. „Der handelt nur von Tod und Liebe,“ sagte sie. „Es gibt ja auch sonst nichts, alles andere ist wesenlos. Ach, ich war ein paar Tage so glücklich, ich hatte mich an Austern vergiftet und lag herum mit Ohnmachten und Erstickungsanfällen. Das hatte ich so gerne. Liebe ist ja auch wie ein Ersticken, wenn sie schön und vollkommen ist. Oh, angefüllt sein bis in die Schläfen, bis ins Hirn von Liebe. Es ist so selten.“ — Sie wundern sich, daß ich so etwas wiedererzähle. Aber ich denke, Sie sind ein Wissender, können mich lehren, und Lily macht mir Angst vor Leben und Liebe. Ist das recht? Soll ich mich ängstigen? Ist auch für mich Gefahr?
Ich sagte: „Es wäre mir eine namenlose Enttäuschung, wenn diese Gefahr auch für Sie bestünde. Es muß doch etwas Besseres geben, als dies Liebhaber- und Abenteuerwesen. Wenn ich die Macht hätte, möchte ich das von Ihnen fernhalten. Aber ich habe wohl auch wenig Sinn für das, was man Schicksal nennt.“
„Soll ich denn eine Fremde im Leben bleiben? Fremd, wie wir es hier in Paris sind. Alle die Künstler, Kenner und schönen Frauen hier, die mich verwöhnen und so zu mir und von mir reden, daß ich mir selbst wunderbar bin, haben mir eine trügerische Hoffnung gemacht, es könnte sich noch etwas Großes und Herrliches mit mir begeben. Und nachher werde ich abreisen und es ist nichts geschehen; ich war eine Zeitlang in einer schönen Stadt zu Besuch.“
„Es gibt nichts Vollkommeneres, Lotte, als das bloße Dasein, es kann nichts Besseres geben. Und lassen Sie uns doch Fremde in Paris sein. Ich bin schon vier Jahre hier und bleibe ein Fremder. Paris ist die leiblichste Stadt. Darum sind wir hier auch ganz Geist geworden. Wir gehen durch die tausend Verführungen der Wirklichkeit wie durch einen Blumengarten. Was Anderen Sünde heißt, ist uns ein bunter Schmetterling. Wozu den flatternden fassen? Die steinernen Wände, die seidenen Kleider, die Fetzen und Früchte der Märkte sind uns, während wir sie sehen, schon entrückt wie Erinnerung. Unser Gang durch die Straßen ist ein Traumgleiten, als brauchten wir nicht unsere Glieder zu regen. Das Hinauf und Hinab der hellen und düsteren, breitladenden und steilschraubenden Stiegen ist uns Traumwirbel und Traumfall — Nur manchmal werden wir totmüde, wie von zu viel gerochenem Blumendufte, so müde, daß uns jeder Wagen überfahren könnte und alles Untere, Gras, Pflaster, Asphalt, schmutziger Schanktisch, schwersitzender Fuhrknecht, lederner, leinerner Lastträger auf unserer Schwäche wuchtet. Das ist wohl die Strafe, der Ausgleich für unsere Abgelöstheit. Da müssen wir auf dem Bauche kriechen wie die Schlange.“
Sie hörte mir verwundert und mit ängstlich geöffneten Lippen zu. Aber während ich noch redete, wurde draußen heftig geschellt und gepocht; und als ich öffnete, trat Pamela ein, ja, Deine Freundin Pamela, Claude, das Wunder aus Chelsea, vor deren Übermaß Du dieses Jahr schon im Frühling in Deine Landeinsamkeit geflüchtet warst. Sie war sicherlich gekommen, um nach Dir zu forschen. Aber als sie die Lotte sah, kniete sie zu ihr hin und drückte in ihrer kuriosen französisch-englischen Mischsprache ihre Freude aus, endlich diese Bekanntschaft zu machen. Dabei sank der große schwarz und bunte indische Shawl, den sie immer noch wie früher als Mantel trug, von ihren Schultern. Darunter erschien aber nicht das kuttenähnliche Hauskleid, das wir an ihr liebten, sondern eine sehr elegante, aber ganz schief hängende Nachmittagsrobe. Auf meinen verwunderten Blick gab sie gleich Bescheid: „Oh lieber Madman (sie nennt mich nie anders, Du weißt es), Sie sehen mich elegant. Die Elendszeiten sind jetzt vorbei, ich verkehre nur noch mit reichen Russenfürsten und Amerikanern. Ein Freund aus Shanghai hat mir den chinesischen Gott des Reichtums geschenkt.“ — Sie zeigte ein golden-grinsendes Amulett, das sie als Brosche trug. — „Oh nun habe ich meinen petit sac bei Paquin liegen lassen oder im Auto. Ja lachen Sie nicht, Wächter, ich bin jetzt Dame.“
„Ich hoffe, Sie haben deshalb nicht aufgehört, ein Wunder zu sein.“
„Doch, doch, ich bin nur noch praktisch; und ich liebe nicht mehr. Ich mache es genau wie mein Ehemann, der jetzt mit einer reichen Amerikanerin reist. Petersen, mein edler dänischer Freund, will zwar meine Seele retten. Da sehen Sie den Brief, den er mir gestern schrieb: Ich solle ihn vergessen. Besser, daß wie einander nicht bänden zu neuen Leiden, die nutzlos und stupide sind. Ich solle frei werden von den Dingen umher. Er und alle um mich her wären schlecht für meine Seele. Ach er liest eben Tolstoi, und meine Seele habe ich längst weggeworfen.“
„Welche von Ihren Seelen, bitte? Früher sagten Sie einmal, Sie hätten zwölf.“
„Oh, Madman, Sie haben ein zu gutes Gedächtnis, um mit Frauen zu verkehren.“ Und zu Lotte gewandt, fuhr sie fort: „Hüten Sie sich, Mademoiselle, vor diesem da, dem Herrn Wächter und seinem Freunde Claude. Das sind Leute von der Wissenschaft, sie merken sich alles, was man sagt, und jede Gebärde. Und nachher muß man sich lebenslänglich so benehmen, wie es in ihren ersten Notizen steht.“ — Sie streichelte Lottes Haar und sagte: „Sie sind überhaupt viel zu schade für die Männer. Kommen Sie mit mir.“
Als ich ihr eine Tasse Tee gebracht hatte und sie sich ins Kissen zurückgelehnt umsah, vom Kaminfeuer zum Fenster, vom Schreibtisch zu den Büchern, erklärte Pamela: „Bei Ihnen ist es heimisch, Wächter, nicht elegant und gar kein leerer Prachtwinkel wie in den Appartements meiner neuen Freunde. Wenn ich lange hier sitze, werde ich wieder wie früher. Das nächste Mal komme ich im Hauskleidchen zu Ihnen. Diese verdammte Robe sitzt mir auch gar nicht.“ Und dabei arbeitete sie so lange an den Haken und Ösen, bis das ganze Kleid aufsprang und ihre wundervolle milchweiße Schulter aus aufgerissenem Hemd herausragte. „Me voilà,“ rief sie mit blitzenden Augen, und wir lachten alle drei herzlich.
„Ihr müßt zu mir kommen,“ sagte Pamela, „ich muß Euch meine neuen Kleider zeigen.“
Sie führte uns nicht, wie ich erwartete, in irgendeine elegante Wohnung, sondern in ihr altes Heim in dem Hinterhaus auf der andern Seite des Kirchhofs. Es war noch dasselbe kahle Zimmer. Auf dem Kamin wohnten dieselben Puppen, und in dem trüben Glase des Spiegels erschienen ihre bunten Rückseiten fahl und verschwommen: der Herr und die Kokotte, der Soldat und seine Bäuerin und die kleine ganz Bunte in nicht zu unterscheidender Volkstracht und von unbestimmtem Geschlechte, die Pamela petit homme nannte und nachts in ihr Bett nahm.
Das Bett, eine große Doppelmatratze ohne Untergestell, sah aus wie das liebe Elend und war mit einem Klavier, das sehr ungespielt in einer Ecke stand, alles, was der Gatte ihr hinterlassen hatte.
Ihre vielen neuen Seidenkleider aber hingen in einem kostbaren Schrankkoffer. Den machte sie gleich auf, zog auch die Schubfächer voll Schmuck und Bändern heraus und zeigte schnell auf- und zuschiebend, die ganze neue Pracht.
In einem Winkel standen ein halbes Dutzend holländischer Holzschuhe. Die hatte sie auf einer Reise in einem kleinen Badeorte gekauft. Erst war es ein ganzes Dutzend gewesen. Sie hatte allen Freundinnen und Kindern ihrer Bekanntschaft Klompjes mitbringen wollen. Der Verkäufer wollte sie ihr gern ins Hotel schicken, aber das gefiel ihr nicht, sie mußte sie gleich mitnehmen. Da hatte sie den Gürtel aus ihrem Nonnenkleide gezerrt, die Klompjes drangebunden und die klappernde Schar über die Dorfstraße hinter sich hergezogen. Oh, wir hätten die Gesichter der Holländer sehen sollen, wie sie so des Weges kam!
Als es Abend wurde, bestand sie darauf, daß wir zum Essen blieben. Sie entfachte auf der Kochmaschine ein gewaltiges Holzfeuer, und fing an zu kochen und zu braten. Die hellen Haare gingen ihr auf und flatterten über den Flammen mit roten Schatten. Ich war immer in Angst, daß ihr wehendes Kleid Feuer fangen würde. Aber es geschah ihr nichts. Und mit einmal war ein herrliches Mahl, Hammelkoteletten und Reis mit Tomaten, fertig, das wir an der Erde knieend und lagernd einnahmen. Und hinterher gab es Schaumomeletten, die wir alle drei von einer Schüssel aßen, dazu prasselte und glimmte die Glut, und wir fühlten uns wie Zigeuner, die im Felde um eine Feuerstätte hausen.
An diesem Abend begann die große Freundschaft zwischen Pamela und Lotte. Die schöne Engländerin nahm das erstaunte und staunenerregende Kind auf alle ihre wilden Fahrten mit. Aber sie behütete es eifersüchtig und schickte alle Verehrer fort, wenn sie mit Lotte allein bleiben wollte.
Ich hatte eine traurige Zeit. Ich war nicht mehr mit der geliebten Stadt allein. Alle meine lieben Straßen, Plätze und Winkel, die Sänger an den Ecken, der leiernde Bettler mit seinen singenden Kindern, die Jahrmarktsbuden am Löwen von Belfort, die Ringlein, Elfenbein- und Silberdinge der Läden, die Bücher am Quai, die Brücke, die Insel unter der Brücke und vor allem der tägliche Gang durch den Luxembourggarten, es war alles nicht mehr mein, war nur dazu da, daß ich es der Lotte zeigte und das freudige Nicken ihres Hauptes oder das ablehnende Runzeln ihrer hellen Brauen sah. Es stieg etwas wie Haß in mir auf gegen diese Allzulebendige und Allgeliebte. Ich versuchte immer wieder, sie zu meiden und dabei wartete ich sehnsüchtig, daß es klingelte und sie draußen stand, atemlos von den vielen Treppen im Heiligenschein ihres Sombreros, den sie grüßend abnahm wie ein Junge.
„Sie müssen eine Entscheidung fällen, Wächter. Pamela will mich mitnehmen auf den Ball des Quat’ z’Arts. Sie kommt heute abend zu mir und bringt herrliche Stoffe zum Anprobieren. Frau Hertha aber sagt, das sei ein Ball, den man nur aus sicherer Loge ansehen könne. Die Damen, die im Saal tanzten, ließen meistens ihre Kleider in der Garderobe. Aber Pamela meint: man muß nur mutig hineingehen; wir brauchen nicht in der Loge zu bleiben. Sie will mit mir durch alle Gefahr hindurchtanzen. Und nun komme ich zu Ihnen, Wächter. Sie müssen mitkommen, sonst fürchte ich mich. Wenn Sie aber da sind und mir nur zuschauen, dann ist alles richtig, dann darf ich alles.“
Mit diesen Worten erschien sie eines Tages in meiner Tür und wollte gar nicht ins Zimmer, ehe ich Antwort gegeben. Ich fühlte eine so starke und zugleich erstarrende Zärtlichkeit zu dieser Gestalt, daß ich mit einmal Angst bekam, sie könnte auf dem Fest angetastet werden. Wenn nun irgendein Wissender, Nüchterner nach ihr griff, so ein Maler oder Mediziner? Und ich fühlte bei dem Gedanken einen körperlichen Schmerz.
„Sie wollen nicht,“ rief Lotte laut und böse, als ich noch immer schwieg. „Also hat Pamela doch recht: Sie teilen ein. Auf dem Ball da wollen Sie und Ihre Freunde die Anderen treffen, die richtigen Weiber, die wie Beute daliegen, die Euch keine Mühe machen. Oder ihr wollt in der Loge sitzen mit den richtigen Damen, die ruhig bleiben und mit denen es kein Ärgernis gibt.“
Ich erschrak. Aber schon lächelte sie mitten im Zorn und setzte leise hinzu: „Sie haben doch versprochen, mir alles Paris zu zeigen, und nun, wo eine neue Seite kommt, machen Sie das Bilderbuch zu.“
Ich sagte: „Ja, alles, was Bilderbuch ist, konnte ich Ihnen zeigen. Aber dieses Fest könnte ein unerwartetes, ein ärgerliches Erlebnis bringen.“
„Oh Sie Kleingläubiger, Sie Vorbereiter und Programmacher! An das Unerwartete wagen Sie sich nicht heran, Sie wollen nicht mehr lernen. An alles Seltsame glauben Sie, aber nicht an das Wunder.“
Dies Wort traf. Ich fühlte, daß ich blaß wurde, konnte nichts erwidern. Aber auch Lotte war betroffen von der Wirkung ihrer Worte. Als sie mir zum Abschied die Hand gab, sagte ich leise: „Ich konnte nicht anders. Da sind vielleicht meine Grenzen. Gehen Sie auf das Fest und denken Sie nicht an mich.“
Kaum war sie fort, so machte ich mir die heftigsten Vorwürfe, daß ich nicht einfach ja gesagt hatte und mich freute, auch dies Erlebnis durch ihre Gegenwart anders und neu zu erleben. Warum sollte gerade hier der Schein um ihre Gestalt durchbrochen werden? Wenn sie so steil aufrecht in sich zurückgelehnt zwischen den duckenden schmiegenden Nymphen des Festes ging, konnte sie nicht wie eine kleine unantastbare Göttin wirken gerade auf die Erfahrenen, Blasierten? Warum sollte man ihrem Schritte nicht Gewänder unterbreiten, wie die jungen Cyprioten den Füßen der Psyche? Oder vielleicht konnte es so etwas geben wie Kampf, Brandung und schönen Sieg.
Dies alles suchte ich mir vorzustellen. Aber ich sah immer anderes: ich sah haarige Arme nach ihren Schleiern und unter ihre Schleier tasten. Ich sah sie tanzen mit einem großen mageren Lateiner, der mit kühler Kunst die einzelne Lust, den Reiz, den Kitzel in ihr weckte, der ihr das einflößte, was sie noch nicht kannte, die Wollust ohne Leidenschaft. Ich sah ihren Kopf zurückgeneigt und statt des seligen Lächelns den Krampf an ihren Lippen erscheinen, der die Mundwinkel herabzieht, die Nasenflügel in süßer Angst zittern macht, die Augen bricht.
Wie die anderen Leute es finden würden, wenn sie auf das Fest ging, darum war ich nicht besorgt. Mit der moralischen Verantwortung hatte ich nichts zu tun. Und die Spötter, die in Lottes Freude, zu schauen und angeschaut zu werden, etwa jüngferliche Lüsternheit entdecken mochten, verachtete ich, diese Wirklichkeitskenner, welche die Dinge zurückführen statt weiter und denen auch in den Extasen der Nonne nur das eventuell Hysterische einleuchtet.
War es am Ende einfach Eifersucht, was mir Angst machte vor dem Fest? Wollte der Spießbürger in mir lieber selbst die süße Beute in seine Höhle schaffen und der Erste und Einzige sein, der ihr Erzittern und Sichverwandeln erlebte? — Nein, das durfte nicht sein. Mir war sie Erscheinung. Schein war mir mehr geworden als Sein, seit ich erkannt hatte, daß ich in einer Welt lebte, die durch die frevelhafte Trennung von Schein und Sein aufgelöst war.
Seltsam jetzt von diesen Dingen zu sprechen, diesen Gedanken noch einmal nachzuhängen, während rings umher das Entsetzlichste geschieht. Aber ich muß es bekennen: dieser Weltkampf, an dessen Ende sich die politischen und wirtschaftlichen Kräfte der Erde anders verteilen oder Revolutionen die längst zu Popanzen gewordenen heiligen Mächte zerstören werden, ist mir fremd; und wenn ich dafür sterben müßte, den unfreiwilligen Heldentod der Tausende, er geht mich lange nicht so viel an, wie damals der Anblick eines Mädchens.
Am nächsten Tage kam Frau Hertha zu mir. Sie stand groß und verschleiert und wollte sich nicht setzen. „Ich verreise auf längere Zeit, ich komme auch nicht her, nur um Ihnen auf Wiedersehen zu sagen, ich habe etwas Besonderes auf dem Herzen. Behüten Sie mir die kleine Lotte! Sie ist nur noch kurze Zeit hier in Paris, aber gerade solche letzten Tage sind gefährlich, besonders seit sie die Pamela kennt und durch sie mit den großen Lebemännern zusammenkommt.“
„Aber was soll ich tun, ich habe doch gar keinen Einfluß?“
„Was reden Sie da? Seit wann ist denn die Lotte in das große Treiben hineingeraten? Seit sie den Herrn Wächter kennt. Vorher blieb sie still in ihrer Pension, ging zu Nachmittagstees und Matinéen der gediegenen Theater. Jetzt sieht man sie in der Gaîté Montparnasse und auf der Butte Montmartre. Sie soupiert nächtlicherweile mit den Lilasdichtern in der Belle Polonaise zwischen Frauen ohne Hut und Männern ohne Kragen, sie tanzt bei Baratte bis zum Morgengrauen.“
Darauf ich: — „Und dann findet sie frische Blumen in den Hallen und geht durch tauige Büsche des Luxembourg heim. Das alles kann ihr nichts anhaben. — Warum machen Sie übrigens mir Vorwürfe? Ich habe sie nicht in diese Welt gebracht. Ich wäre am liebsten immer nur mit ihr durch alte Straßen und frische Felder gewandert.“
„Vielleicht. — Aber nur Sie haben ihr den Mut gegeben, das alles mitzumachen und sich ein Atelier zu mieten, auf dem sie leben kann, wie sie will. Was denken Sie sich denn? Wie soll sich denn dies Kind im Elternhause wieder zurechtfinden?“
„Aber Hertha, ich habe ihr weder zum nächtlichen Leben noch zum Atelier geraten. Ich war selbst überrascht.“
„Und sie hat mir doch gesagt, daß dies alles nur seit Ihrer Bekanntschaft möglich wurde. Ich kenne Sie, glaube ich, ein wenig, mein Freund. Sie sind keiner von denen, die man gleich auf drei Schritte als Verführer erkennt. Mit Ihrer Sanftmut, Ihrem Geschehenlassen sind Sie viel gefährlicher. Man kann Ihnen nichts Bestimmtes vorwerfen, aber bedenken Sie, daß Sie eine Verantwortung haben.“
Ich blickte zu Boden, und als ich aufsah, lächelte sie: „Ach, lieber Arnold, was für eine lächerliche Szene! Nun mache ich meinem eigenen Verführer Vorwürfe, daß er Andere . . .“
„Nie war ich ein Verführer. Die Frauen verführen uns; sie locken uns in diese Wirklichkeit hinein. Wir sind die Ahnungslosen.“
„Hm, aber es geziemt Eurer Ritterlichkeit, die Schuld zu übernehmen. Sonst sind wir üble Sünderinnen.“ Dabei lüftete sie den Schleier und gab mir die Lippen zum Kuß.
Das war unser Abschied. Sie ist nach Schweden gereist zu ihren Verwandten. Ich habe nichts mehr von ihr gehört.
Weder diesen noch den folgenden Tag bekam ich die Lotte zu sehen. Dann kam der Tag des Festes. Ich ging in den Luxembourggarten in der vagen Hoffnung, sie zu treffen. Ich suchte beim Karussell, beim Guignol, bei den Königinnen, am Bassin, aber vergebens. Abends entschloß ich mich dann, zu ihr zu gehen. Ich war noch nie allein bei ihr gewesen und fürchtete heute viel Volk dort zu treffen, das sich mit ihr zum Ball rüstete. Vielleicht war sie auch bei Pamela, die sie mit Seide behing und umwand. Mir war seltsam ängstlich zumute. Ich ging durch das Hoftor an dem Schuppen des Bildhauers vorbei. Drüben das zweite Fenster war ihr Atelier. Es war dunkel. Ich konnte also umkehren. Aber mein Gewissen sagte: sie ist vielleicht im Nebenraum. Ich stieg die Holztreppe hinauf, klopfte an die Tür. Es dauerte eine ganze Weile, dann schlichen Schritte. Sie öffnete, eine Kerze in der Hand. Sie stand barfuß im großen blauen Schlafrock.
„Darf ich herein?“ fragte ich zögernd.
„Wie lieb, daß Sie kommen. Ich wollte zu Ihnen. Aber ich hatte keinen Mut.“
„Auch ich —“
„Kommen Sie, Sie müssen sich an mein Bett setzen. Sie müssen sein wie mit einem kranken Kinde.“
Ich saß im Lehnstuhl neben dem Bett. Sie lag blaß, und bei dem flackernden Licht schien es mir, als wären ihre Augen verweint. Dann gab sie mir die Hand und schloß die Augen. Ich hielt die Hand fest und schaute umher. Auf dem Diwan lagen bunte Seidenlappen, darauf die Photographie einer Frau. Ich erriet, daß es die Freundin Lily sei. Lotte sah auf und folgte meinem Blick: „Wie Sie sehen, ich wollte aufs Fest. Aber dann habe ich etwas so Schreckliches erlebt. Dann wollte ich erst recht aus Trotz gegen Tod und Schmach auf das Fest. Und nun habe ich keine Kräfte mehr.“
Ich faßte ihre Hand fester. „Was ist Dir geschehen, Kind?“
„Ach, mir nichts. Aber es ist wohl nicht nur unser eigenes Schicksal, was uns lenkt und bestimmt.“
„Ist es etwas mit Ihrer Freundin Lily?“
„Ja, sie ist tot. — Ich hatte sie einige Zeit nicht gesehen. Ich war lieber mit Pamela und mit Manon und den Andern. Dann war sie verreist zu einer Freundin, die in Scheidung liegt. Sie schrieb mir, sie würde sich auch scheiden lassen, sie schrieb von einem neuen Freunde, der mit ihr fortreisen wollte und von vielen neuen Lebensplänen, und ich las ihren Brief unaufmerksam, ich vergaß immer, wer der war, von dem sie diesmal erzählte. Für ihre Umstände und Intrigen hatte ich keinen Sinn. Ich küßte sie gerne, die süße Lily. Sie gab so kleine eilige Küsse; aber ihre Geschichten konnte ich nicht behalten. — Heute früh bekam ich eine Depesche von eben der Freundin, bei der sie zuletzt war, ich sollte doch schnell zusehen, ob der Lily etwas zugestoßen wäre.
Ich komme zu ihr, frage nach Madame. Das Mädchen, das aufmacht und mich zu melden geht, bleibt eine ganze Weile fort. Dann kommt sie: Monsieur läßt bitten. Und es erscheint schwarz mit Trauerflor der Gatte, der Anwalt, stumm, würdig, nimmt meine Hand, führt mich durch den Speisesaal und öffnet die Tür zu Lilys Boudoir. „Wollen Sie von Ihrer Freundin Abschied nehmen?“ — Da lag, bis zum Hals verdeckt, meine süße Lily, das Gesicht bläulich blaß, die sonst immer offenen Lippen waren fest verschlossen und eine fremde energische Falte war am Mundwinkel eingegraben. — Er ließ mich aber nicht lange bei ihr, führte mich in sein Zimmer und bot mir einen Sessel an, in dem ich wie ein Klient saß und ihm zuhören mußte. Er hielt eine Art Ansprache. Es war schrecklich.“
„Sie sehen hier das Ende einer langen Tragödie,“ sagte er. Und dann erzählte er von Anbeginn, wie er Lily im deutschen Bade kennen gelernt und aus schwieriger Lage gerettet habe. Sie war halb verlobt mit einem jungen Mann, der erfuhr, daß ein Anderer zu ihr Beziehungen hatte. Ich weiß nicht mehr, worin die Gefahr bestand. Er, der Anwalt, war also der Vertraute, der Retter. Und statt sich mit dieser Rolle zu begnügen, bot er ihr in verliebter Torheit, wie er es nannte, seine Hand an. Sie wurde seine Gattin und lebte sich sehr schnell in Paris ein. Sie war von dem gesellschaftlichen Leben entzückt und verstand es ausgezeichnet zu repräsentieren. Aber sie nahm die Galanterien zu ernst. Das bloß Unterhaltsame wurde — er brauchte das deutsche Wort — Ernst des Lebens — „ah, vous autres Allemands avec votre Ernst des Lebens.“
Lotte lächelte unter Tränen.
„Ach, es ist schrecklich, daß es auch komisch ist, so in fremder Sprache diese Dinge erzählt zu bekommen. Es war wie in einer glatten Novelle.
Der Gatte also erhoffte Ablenkung von diesem eitlen Dasein, dadurch, daß sie Mutter wurde. Aber das Kind, das sie erst zärtlich liebte und kaum einen Augenblick von sich lassen wollte, bekam nach einiger Zeit eine bretonische Pflegerin, an der es mehr hing als an der Mutter. Die schmollte ihm wie einem Liebhaber und wurde wieder weltlich. Bald darauf starb das Kind ganz plötzlich an einer Lungenentzündung. Es hat keinen Sinn, sagte Lily, daß ich wieder Kinder bekomme, ich bin schwindsüchtig.
Der Gatte versicherte mir immer wieder, daß er Lily sehr geliebt habe und daß sie eine liebevolle Gattin war. Und dadurch wäre er stets aufs neue der Täuschung verfallen, ihre Intrigen für Gesellschaftsspiel zu halten, bis er untrügliche und unerträgliche Beweise bekam. Sein nächster Freund, vermutlich dieser gräßliche Frauenarzt mit dem gesalbten Bart, gab ihm bei einer Auseinandersetzung alles zu, erklärte sich bereit, ihm mit der Waffe Genugtuung zu geben und versicherte ihn gleichzeitig seiner aufrichtigen Freundschaft.
„Es war unmöglich, sagte er, Madame den Liebesdienst zu verweigern. Sie hatte eine so liebenswürdige Selbstverständlichkeit, daß ein höflicher Mann sich ihr nicht entziehen konnte. Ich suchte sie zu vermeiden, aber die Folge war, daß sie mich und Dich mit meinem jüngeren Bruder betrog, der weniger Skrupel und Verantwortungen hatte.“
Der Gatte schlug Lily die Scheidung vor und erklärte sich zu jedem Opfer bereit. Ich weiß nicht, ob er wirklich hätte opfern müssen. Aus diesen Geldangelegenheiten bin ich nie klug geworden. Um alles ins Werk zu setzen, sollte Lily auf einige Zeit zu ihrer Freundin verreisen. Sie kam aber früher von der Reise zurück, als erwartet. Sie erklärte, sie könne ohne seine, des Gatten Liebe nicht leben. Der Kluge blieb bei der Abmachung. Lily sagte: Es ist mit mir zu Ende.
Den Ernst dieser Worte verstand er aber erst, als er vorgestern Abend heimkam und sie vergiftet ohne das leiseste Lebenszeichen hingestreckt fand. Das Gift besaß sie schon lange und hatte es immer sorgfältig zu verbergen gewußt, während sie sonst all ihre Briefe und Heimlichkeiten umher liegen ließ. Aus den Papieren, die aus den offenen Taschen neben ihr hervorquollen, ersah der Gatte noch allerlei Schreckliches. Indem er dies sagte, tat er die Hände an die Schläfen und machte die Augen zu. Ich fragte nicht, was. Ich haßte diesen verständigen Bürger mit den richtig verteilten Gefühlen, besonders als er noch seufzte: „Aber trotz allem, wenn sie wieder aufstünde und ich ihre Stimme hörte, ich müßte sie wieder lieben.“
Dann setzte er mir noch lange auseinander, daß nicht etwa die Pariser Lebensgewohnheiten Schuld an Lilys Untergange seien. Im Auslande, besonders in Deutschland, sähe man das französische Leben falsch. — „Die Gesellschaft hat strenge Gesetze. Wir sind ihr untertan.“ Ja, dann wünschte er mir alles Gute auf den Lebensweg, versprach mir ein Andenken von Lily — und ich stand wieder draußen auf der Straße in einer fremden Stadt.
Da hatte ich Heimweh, nicht nach Vater und Mutter, nein, ganz dumm nach Lützowstraße und Nollendorfplatz, nach Berliner Milchwagen und Droschkenhaltestellen. Und ich fürchtete mich, hier auf der Straße plötzlich umzufallen und als unbekannte Tote in die Morgue zu kommen. Ich kam auf den Boulevard des Invalides, da wurden Erdarbeiten gemacht. Bei den großen Baggermaschinen und auf den Sandhaufen tummelten sich die Straßenkinder, und an einer Ecke spielte ein Orgeldreher. Das Rufen der Kinder und die Bettelmusik taten mir wohl. Und ich dachte an all die guten Freunde und Freundinnen und sah den Bahnhof Montparnasse und Malzeugläden und dann die vertrauten Cafés. Da war ich wieder wie zu Hause. Ach, hätte ich nur die Lily in unsere Welt herüberretten können, in die Heimat der Fremden, aber sie hat nie gewollt. Das ist nicht das richtige Paris, sagte sie. Sie war so ehrgeizig, die arme süße Lily, so ehrgeizig, daß sie sich vielleicht umgebracht hat für das, was sie le beau geste nannte. Ist das nicht auch ein Heldentum?
Ich habe sie nicht genug geliebt. Und jetzt im Tode hat sie solche Übermacht. Ich fühle nicht mehr die Kraft, auf ein Fest zu gehen. Mir ist bange, ich ginge ins Verderben. Möchte mich in meinem Zimmer zu Hause verkriechen, in einer Lampenecke Häkelarbeiten machen und ein karriertes Hauskleid aus Wolle anhaben. Und Sie, Wächter, Sie werden mich langweilig finden. Welches Leben ist denn nun das richtige, Pamelas oder Lilys oder Frau Herthas oder das meiner Mutter?“
Ich streichelte ihr Haar: „Mein armes Kind, nun erlebst auch Du das Schreckliche, daß die Welt ohne Gesetz ist und jeder in seiner Art recht hat in der leeren Welt. Am sichersten eingetan ist noch Deine Mutter, die Dich nur zur besseren Erlernung des Französischen hergeschickt hat und nachher gut verheiraten will, und der Gatte der Lily, der für jedes seiner Gefühle eine Manier geliefert bekommt, prompt wie den Trauerflor für seinen Hut und Ärmel. Aber wir Anderen müssen uns selbst den Weg suchen. Denn der liebe Gott kümmert sich nicht mehr um die Sitten der Menschen, seit sie so verständig geworden sind. Und seine Lieblinge handeln nach einem anderen Gesetze, das noch nicht aufgeschrieben ist. Es ist vielleicht uralt, aber es muß in neue Worte eingehen. Das Wort muß wieder Fleisch werden und unter uns wohnen. Es ist so schwer zu wissen, ob man noch Gottes liebes Kind ist, wenn die Stimme in uns nicht redet und wir arm dasitzen. — Aber Du bist mir erschienen wie ein rechtes Gotteskind. Wohin Du schaust, wird die Welt schön. Geh Du den Weg, den Dich Dein Herz heißt und kümmere Dich um keinen von uns.“
„Auch nicht um Dich, mein Meister?“
„Auch nicht um mich. Von mir laß Dich verehren, weil Du jung bist und wohlbeschaffen. Aber in eine Welt kann ich Dich nicht führen; ich habe keine, ich hause in Ruinen vergangener Welten. Ich sehe wohl, wie das Alte um mich her verfällt. Aber ich kann nichts Neues aufbauen, ich habe keine Aufgabe. Und die Bausteine, die Andere anschleppen, kommen mir vor wie aus Pappe. — Aber Du bist schön, und das ist ein Verdienst und eine Aufgabe. Vielleicht wirst Du so werden, daß die Menschen, die um Dich leben, schönere Häuser bauen müssen an den Straßen, durch die Du gehst, als die unglücklichen Häuser, die jetzt gebaut werden, und müssen Wege und Gärten für Dich bereiten, die sich regen und atmen voll Seele wie in alter Zeit, und müssen sich anders kleiden, ihren Tag anders aufbauen und neue Feste feiern. Dein Lächeln macht mir Hoffnung auf eine lebendige Zeit. Aber ich werde sie nicht mehr erleben. Ich werde zu denen gehören, die vorher in der Wüste umkommen. Und weil ich selbst schwach bin, habe ich auch erst Angst um Dich gehabt und Dir geraten, nicht auf das Fest zu gehen. Aber jetzt gehe hin. Ich bitte Dich, zieh die bunten Kleider an. Geh und lehre die törichten Menschen Schönheit ansehen. Solange wir die Schönheit schauen, sind wir wie das Volk in der Wüste, dem Mose die eherne Schlange zeigte. Solange das Volk zu ihr emporsah, konnten ihm die giftigen Schlangen der Wüste nichts antun.“
Aber Lotte dehnte die Glieder wie ein schlaftrunkenes Kind und sagte: „Ach, mein guter Wächter, nun habe ich gar keine Lust mehr auf das dumme Fest. Ich bin aber auch nicht mehr so traurig, will an all das nicht denken, an Lilys Gesicht, und daß es nun bald vorbei ist mit meinem Paris. Bleib bei mir und sag mir weiter so süße und geheimnisvolle Worte. Bleib.“
Ich komme von meiner letzten Wache. Von morgen ab sind wir marschbereit. Nun will ich schnell zu Ende schreiben und diese blauen Schulhefte an den Schweizer Freund schicken für Dich. Lebwohl, Claude. Werde ich nun erleben, was sie Krieg nennen? Werde ich vielleicht erfahren, was Tod heißt? Das Wort ist so vertraut und befreundet von altersher. Und in jener Nacht, als ich an Lottes Bett saß, da war es mir ganz nah. Fühlte ich das Gift der toten Freundin in den Adern, seit Lotte frei davon war? Es war, als hätte ich ein dumpf berauschendes, beseligendes Getränk getrunken. Ich saß und sah auf die Schlafende und rührte sie nicht an.
Ich sah seltsame Verwandlungen: Aus dem sanften Bogen ihrer Schultern wurden Wandelgänge, die zum Tempel hinschwellen, in denen die Lernenden gehen mit dem Lehrer: und jedesmal, wenn sie umkehrten, fühlte ich den Schwung des Bogens und den Atem bewegter Worte. Und ich sah durch das offene und durchschimmernde Hemd die beiden runden und hold zugespitzten Kuppeln ihrer kleinen Brüste, die so leicht, kaum sich abhebend, den Rumpf überwuchsen — und ich baute Dächer so sanft gipfelnd auf Mauern, die mit allen Steinen atmeten. Die linke Hand des Mädchens lag offen auf der Decke. Ich sah in die zarten Linien, die sich schnitten, trennten, vereinten wie Musik vieler Stimmen. Ich sah den Arm hinauf bis zu der blauen Ader in der Beuge und empfand den Kreislauf des Blutes vom geheimsten Herzen durch heimliche Adern und sichtbar klopfende Pulse und wieder heimwärts durch zarte Venenäste und war ganz erfüllt von dem so einfach klingenden und unausdenklichen Gedanken: Was für ein Wunder ist der Leib! — Zuletzt nach langem Schauen sank mein Kopf vornüber und war gebettet neben dem zarten Hügel ihres Schoßes wie des Einhorns Haupt in der Legende.
Es war heller Tag, als ich das Atelier verließ. Im Café traf ich Ephrussi, der mit Tinte, Kaffeegrund und abgebrannten Streichhölzern auf die Tischplatte zeichnete. Ich sah ihm zu und erkannte unter seinen Gestalten die eigenwillige Stirn, das längliche Kinn und die schöne Schulter der Pamela.
Als ich ihren Namen nannte, sagte er lächelnd: „Pamelas Auftreten war der Höhepunkt des Festes heute Nacht. Als die Wagen ihren Umzug hielten und die berühmten Modelle sich von vorn und hinten präsentierten, stand sie in einer Gruppe von Freunden mitten im Saale. Der allgemeine Jubel über die herumfahrende rosa gepuderte Augenweide schien sie zu verdrießen. Sie warf plötzlich ihren Shawl dem russischen Fürsten und ihr Hemd dem schwedischen Attaché in die Arme und sprang auf den letzten Wagen. Die römischen Kriegsknechte und Perserknaben wichen bei Seite, ein Ägypter hob sie hoch, drängte die erschrockenen Mädchen fort und stellte Pamela, die schön und wütend stierte, auf das höchste Gestell. Es gab ein lautes Tosen ringsum. Alles drängte nahe heran mit teils begeisterten, teils ironischen Ausrufen, die sie hoffentlich nicht alle verstand. Ein paar Maler liefen gleich zu dem unglücklichen Russen, fragten ihn nach der Adresse dieses fabelhaften Modells und waren sehr enttäuscht zu hören, daß sie nicht posierte. Dann gab es Lärm und Balgerei vor ihrer Karosse, und sie wurde schnell den herbeieilenden Verehrern wieder heruntergereicht.“
Und er zeichnete weiter auf einem Briefbogen: Erst ein Gewimmel von grinsenden, verkniffenen Gesichtern, Greisenfingern und Kupplergesten, magern und fetten Weiberschenkeln; in der Mitte aber blieb ein heller Fleck, in den er zuletzt mit ganz zarten Strichen eine schmale Gestalt aufbaute. Die weichen und steilen Umrisse, obwohl überall berührt, ja durchkreuzt von den eklen Gliedmaßen der Umwelt, blieben wie außer dem Raume und als er nun auf dem hohen Hals, in den er drei feine Linien wie Perlenschnüre grub, den eirunden Kopf sich erheben ließ, rief ich: „Aber das ist ja nicht Pamela, das ist . . .“
„Erkennen Sie sie? Man sagte, sie würde auf den Ball kommen. Ich habe sie aber nicht gesehen.“
„Wie schade, sagte ich, es hätte vielleicht ein schönes Ephrussibild gegeben.“
„Ach, sagte er, das Beste was man sieht, kann man nicht malen,“ und er fing ein neues Blatt an.
Der junge Eberhard setzte sich zu uns. Ephrussi sagte zu ihm: Sie in Ihrem Barbarenfell hatten das beste Kostüm auf dem Feste. Sie hätten auf einen der Karren steigen sollen mit all den Mädchen um sich herum, deren Sie sich erwehren.“
„Ich mich erwehren?“
„Nun, sahen Sie nicht, wie die Céline sich am Boden wand? Germaine suchte Sie überall und selbst Pamela lächelte Ihnen zu.“
Aber Eberhard neigte sich schweigend über seinen Milchkaffee; und bald stand er auf und ging auf die Straße hinaus. Und so sehe ich ihn noch, schräg über den Damm eilend, den Kopf zurückgeworfen in schöner Unrast.
Am Kirchhofstore bot mir eine Blumenhändlerin Narzissen an. Ich nahm einen großen Strauß und ging damit zu Lottes Haus zurück. Die Tür öffnete mir Pamela. Sie hatte einen prächtigen Pelz um, aus dem ihre nackten Beine hervorleuchteten. Sie nahm mir die Blumen aus der Hand und legte sie der noch schlafenden Lotte aufs Bett.
Pamela kniete am Kamin, in dem sie ein kleines Holzfeuer angelegt hatte. Auf den Scheiten lagen bunte Fetzen, welche die Flammen erst nur am Rande knisternd ansengten; dann packten sie prasselnd in die Seide hinein und schlugen empor. Davon erwachte Lotte, stützte sich auf und rief: „Was machst Du, Pamela?“
Pamela sah sich um mit offenem Munde und heruntergezogenem Kinn, Stirnfalten bekam sie wie ein ungezogenes Kind, das weinen will und keine Tränen herausbringt. „Ich verbrenne mein Festhemd, rief sie und blies in die Flammen wie eine Beschwörerin, ich verbrenne das ganze Fest.“
„Warst Du nicht die Königin des Festes?“
„Nein, Du warst die Königin, Du in Deiner Loge.“
Lotte sah verwundert zu mir herüber und sagte: „Aber ich war ja gar nicht da!“
Unbeirrt fuhr Pamela fort: „Du warst die Königin, ich war nur das Weib aus der Apokalypse auf dem rosinfarbenen Tier mit dem Becher voller Greuel.“ — Das sagte sie in altertümlichem Bibelenglisch, ging zu Lotte ans Bett, schlang die Arme um sie und rief, nach mir umschauend: „Sie saßen mit der Lotte in der Loge, Madman, und sahen von weitem auf meine Torheiten. Oh, ich hasse Euch, Ihr Sicheren, Ihr Vorsichtigen. Wann heiratet Ihr denn? Und lacht nachher in Euerm damned Deutschland über die Allerweltspamela, die Ihr noch gekannt habt in Paris, ehe sie nach Buenos Aires verkauft wurde als gute Ware.“ Sie fing an zu weinen, und als Lotte sie streichelte, kroch sie zu ihr ins Bett und schlang unter dem weggleitenden Pelz ihre weißen Arme um Lottes matteren Hals. Dann wurde sie wieder munter und schmeichelte: „Lolotte, willst Du nicht mit mir kommen? Dmitry, der Russe, will mich mit nach Spanien nehmen auf lange Zeit. Ganz im Süden werden wir leben. Ich lerne schon jetzt die Sprache. Es ist nicht so schwer wie Euer gebissenes, gemalmtes Deutsch. Auch die spanischen Tänze habe ich schon ein wenig gelernt. Komm doch mit.“
„Das wird Deinem Russenfürsten aber nicht passen?“
„Wir werden ihn gerade fragen! Er ist so demütig; er hat glücklich zu sein. Er weiß, daß ich ihm nicht treu bin und hat nichts dagegen. Neulich war er mit mir in Chantilly, da wollte er mir, glaube ich, Bilder zeigen. Aber ich wurde Freund mit den kleinen Jockeys von der Rennbahn, die uns durch die Ställe führten. Das gab ein tolles Diner in einem Wirtshaus an der Landstraße. Und einer von den Kleinen kommt jetzt immer nach Paris und schleicht nachts an Dmitrys Hotel. Den küsse ich durch die Eisenstäbe an der Gittertür, schlüpfe heimlich hinunter und küsse ihn durch die staubigen Stäbe. Oh, Dmitry wird schon glücklich sein. Und ich selbst bin nicht froh ohne Dich, Lolotte. Ich küsse Dich viel lieber als die Männer.“
„Aber, Pamela, morgen kommt meine Mutter und in ein paar Tagen reise ich heim nach Deutschland.“
„Und heiratest den Madman.“
„Nein, der bleibt in seinem Paris und ist nicht zu heiraten.“
„So laß uns heute geschwind ausrücken, ehe die Mutter kommt. Kannst meinetwegen Deinen Madman mitnehmen. Ich habe auch in Kent auf dem Lande einen Freund. Der wohnt in einem lieben Häuschen. Da können wir hin und selber Brot backen beim Nachbar Bäcker und rudern, angeln und Hockey spielen. Mein Freund kannte noch meinen Vater, den alten Oberst. Ja, ihr lacht, mein Vater war Oberst in Indien. Ich bin in Indien geboren und meine alte Amme hat immer gesagt, die Sonne dort hätte mir das Hirn verbrannt, sonst wäre ich ein kluges Kind geblieben.“
„Aber Pamela,“ sagte ich, „ich dachte, Ihr Vater wäre Diplomat gewesen und in Amerika herumgereist?“
„Das war später. Sie können Harry, meinen Mann, fragen. Der liebte ihn, er nannte ihn den alten Löwen.“ —
Es klopfte. Eine Depesche wurde gebracht. Lotte las und rief: „Nun kommt die Mutter schon heute. Ich muß schnell in die Pension und zur Bahn.“
Ich stand mit Pamela auf der Straße. Sie fragte nach Dir, Claude, und mit wem Du verreist seiest. „Allein,“ sagte ich. Das wollte sie nicht glauben.
Ich ging in die Nationalbibliothek und bestellte das Buch von den dorischen Tempeln, das ich damals am Karnevalsdienstag nicht bekommen hatte. Diesmal war es frei und ich las weiter.
Zum letztenmal sah ich Lotte am Bassin im Luxembourg. Sie hatte leider nicht mehr einen ihrer großen Hüte auf, sondern eine kleine Kappe, die ihr wohl die Mutter ausgesucht hatte. Sie sah traurig darin aus wie eine Witwe. „Wie meine Witwe,“ sagte ich zu ihr.
„Das bin ich auch. Warum bist Du mir verstorben?“
Ich schwieg. Wir gingen Hand in Hand durch unsern lieben Garten. Vor der Bude des Guignol saßen die Kinder, vorn auf ganz niederen Bänken die Kleinsten, und riefen dem Kasperle Fragen und Antworten zu. In der großen Allee spielten schlanke Mädchen Diabolo. Es war ganz Frühling geworden.
Ich durfte Lotte noch ein Stück begleiten zum Métro. Sie wohnte nun wieder in der Pension am Park Monceau. Das Atelier hatte der Mutter gar nicht gefallen. Auch mit Lottes Französisch war sie nicht recht zufrieden. Lotte brauchte bisweilen Wendungen, die ihre Lehrerin, die feine Mademoiselle Picard, nicht über die Lippen gebracht hätte.
„Lily ist nun auch begraben, berichtete Lotte. Sie wurde in einer tombe provisoire beigesetzt, weil sie in die Heimat überführt werden soll. Es war schaurig vor dieser leeren Grabschublade. Eine Kurbel gab es da, womit der Sarg hinuntergeleiert wurde. Ich war allein mit dem Gatten. Ich hatte einen weißen Rosenkranz. Der Gatte trug künstliche Blumen.“
Wir waren drei Schritte vom Métroschlunde. Ihre letzten Worte hatten mich noch trauriger gemacht; und der Gedanke, daß sie nun gleich fort sein sollte, war unerträglich. Sonst war bei jedem Abschied immer ein Trost und eine Befreiung gewesen, eine Heimkehr in die Einsamkeit, die nur noch reicher wurde durch das neue Stück Vergangenheit. Aber diesmal fürchtete ich mich wie ein Kind vor dem Alleinbleiben.
Ich sagte hastig: „Lotte, ist es denn nicht möglich? Könnten Sie nicht meine Frau werden? Ich will auch nach Deutschland gehen oder wohin Sie wollen, einen Beruf ergreifen, ich habe ja viel studiert, ich könnte . . . Wie sehen Sie mich an? — Mein Gott, bin ich denn solch ein Zigeuner in Ihren Augen? Komme ich denn gar nicht in Betracht?“
„Leb wohl,“ sagte Lotte, „ich will lieber unglücklich sein als mich an Dir versündigen.“
„Versündigen?“
„Behalte das Bild lieb, Deinen Knaben vom Kinderball!“
Das war am Schalter. Dann ging sie auf den Perron zur Rechten und ich hinüber auf den anderen Perron. So hatte sie es gewollt. Und eine schreckliche Minute lang klaffte zwischen uns der Abgrund mit den Schienen. Sie ging immer auf und nieder und sah zu Boden. Ich suchte sie noch so viel wie möglich anzusehen. Aber mir wurde trüb vor den Augen, ihre Gestalt verschwamm, nur das Witwenhäubchen blieb deutlich, bis ihr Zug kam und sie mir ganz verbarg. Und während ich sie unter den Einsteigenden suchte, fuhr mein Zug vor. Und so habe ich sie gar nicht ein allerletztes Mal gesehen.
TRANSKRIBER-NOTIZEN
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[The end of Pariser Romanze by Franz Hessel]