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Title: Wanda
Date of first publication: 1928
Author: Gerhart Hauptmann (1862-1946)
Date first posted: June 3, 2020
Date last updated: Oct. 9, 2021
Faded Page eBook #20200605
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Gerhart
Hauptmann
Wanda
Roman
Wanda
Paul Haake war bei dem schlesischen Bildhauer Toberentz angestellt und hatte, als der Meister starb, dessen von der Stadt Görlitz bestellten Monumentalbrunnen selbständig vollendet. Haake war achtundzwanzig Jahre alt. Aus dem Stukkateurfach hervorgegangen, fühlte er in sich den Beruf zur Kunst, besuchte Gewerbe- und Kunstschulen und hatte es schließlich so weit gebracht, daß er jetzt in Görlitz den großen Monumentalbrunnen aufstellen konnte, als dessen Vollender von der Stadt geehrt und bezahlt.
Man schrieb den achtundzwanzigsten Mai, als ein Mensch in einem der nahen Dörfchen um Görlitz auf einem Prellsteine saß und sich mit einem Bauernmädchen unterhielt, das nicht über vier Jahre zählte. Er lallte nicht. Seine Trunkenheit war in unaufhaltsame Redseligkeit ausgeartet. Er hatte durchaus nichts Furchtbares; sonst hätte ihm das kleine Mädchen, dem der Rotz aus der Nase lief, nicht so andächtig, mit dem Finger im Munde, zugehört. Er mischte Hochdeutsch mit Dialektbrocken. Sein Anzug war so, daß man glauben konnte, er habe eine lange Wanderung durch Straßenstaub und Straßenkot bei Regen und Sonnenschein, Wärme und Frost hinter sich.
„Gut, Hulda heißt du!“ sagte er zu dem Kinde. „Das freut mich zu hören. Du mußt mir zugeben, Hulda, daß ich im Rechte bin! Du mußt mir unbedingt zugeben, daß ich im Rechte bin! Nein! Nein! Nein! Kein Wort weiter! Ich schweige! Ich schweige auf der Stelle, oder wir müssen darüber einig sein. Das halte fest! Das halte du eisern fest! Das laß dir von keinem Menschen ausreden, Hulda, daß ich im Rechte bin!“
Hulda sah ihren eben aus dem Munde gezogenen Finger an und führte ihn sinnend in die Nase.
„Wenn du einen Augenblick Zeit hast, Hulda, will ich dir erzählen, will ich dir haargenau und Wort für Wort erzählen, wie alles gekommen ist. Beim Grabe meiner Mutter, Hulda, verstehst du mich!“ Er blitzte sie an und hob zwei Finger wie zum Eide: „Ich habe sie von der Straße aufgelesen. Sie hatte erfrorene Hände, Hulda. Sie hatte nichts an außer einem nassen Kattunröckchen, aus einer alten gestohlenen Kaffeedecke oder so was gemacht. Sie war verlaust. Jedes einzelne ihrer langen blauschwarzen Haare sah wie eine Perlenkette aus. Ein Eiergeschäft hätte ich können aufmachen, so viel Läuseeier saßen an einem einzigen Haar, an einem einzigen Haar, bei Gott, Hulda! So sah sie aus, und doch habe ich sie mit nach Hause genommen. Weißt du also nun, was sie war? Weißt du nun, was sie eigentlich und ohne jeden Zweifel nachgewiesen war, Hulda? Weißt du, daß sie eine ganz gemeine, aber auch schon ganz gemeine Schnepfe war? Schnepfe sagen wir oder Schnebbe, wenn wir den echten deutschen Ausdruck, der Hure heißt, nicht gebrauchen wollen. Aber, Hulda, bei Gott! sie war eine. Sie sah wie ein Engel Gottes aus. Du hast ja vielleicht noch keinen gesehen. Ich habe auch noch keinen gesehen. Aber ich will nicht selig werden, oder sie sah wie ein Engel Gottes aus. Ein Engel, der aus Versehen aus dem Himmel heruntergefallen ist, wie ein junger Stieglitz aus dem Nest. Ich habe die Hure ins Bett gelegt. Ich habe ihr heißen Tee, heißen Grog und so weiter eingeflößt. Gewaschen, gelaust, von oben bis unten gereinigt habe ich sie, diesen Engel Gottes, wollte ich sagen. Und dabei habe ich sie nicht berührt: nein, Hulda, zum Donnerwetter nein! und nein, Hulda! Ich habe sie nicht einmal mit einem unsauberen Blick berührt. Sie ist hernach mein Modell geworden. Dann freilich — dann freilich; ich bin kein Unmensch, Hulda! dann habe ich mir die Bezahlung geholt. Aber nicht, ohne daß ich die Bezahlung wiederbezahlt hätte. Ich habe bezahlt, bezahlt und bezahlt! Ich habe für das Luder bezahlt, Hulda, bis mir nur noch ein Buckel voll Schulden übriggeblieben ist! Ich bereue nichts. Ich bereue nichts. Der kleinste Gedanke, der mir etwas von Reue aufreden will, der fliegt in den Dreck wie mein Kalabreser, und ich trample ohne Gnade auf ihm, du siehst’s, wie auf meinem Hute herum!“
Er war aufgestanden und tat, wie er sagte.
Er fuhr fort, indem er den Hut aus dem Drecke nahm und so, wie er war, aufstülpte: „Weißt du, was die Pointe von der ganzen Sache ist, Hulda? Ein Engel Gottes von der Straße hat mich ums Leben gebracht! Das ist die Pointe, der Punkt, der Kneller, das Punctum saliens, Hulda. Das nennt man nämlich den springenden Punkt. Ha, hahaha, der springende Punkt! der springende Punkt!“ lachte der Betrunkene wahnsinnig. „Erst hat sie mich ausgesogen, ausgezehrt wie ein Iltis, ein Marder, ein Puma, mir mit heißen Lefzen das Blut aus den Adern herausgeholt. Sie hat mir das Mark aus den Knochen geleckt. Dann hat sie mir wie einem Hühnchen den Hals umgedreht, wie wenn ich ein kleines Hähnchen wäre, a kleenes Hähnchen, hahaha! Sie hat mich vergiftet, erstochen, erschlagen, Hulda, mich auf hundert verschiedene Arten und Weisen umgebracht, damit ich auch ja recht mausetot wäre. Oder weißt du es besser? Weißt du es besser, Hulda?“
Er stand abermals auf und suchte verschiedene Sachen zusammen, Taschenmesser, Stock und dergleichen, was er achtlos um sich herum verstreut hatte. Dann reckte er sich und ging von dannen. Seine letzten Worte waren: „Sie ist mir mit einem Lausekerl von einem Pferdejungen durchgebrannt!“
Eine Viertelstunde später wurde der singende und torkelnde Mann von einem mit zwei Pferden bespannten geschlossenen Wagen aufgenommen. Der Kaufmann, dem er gehörte und der darin fuhr, erkannte in der schwankenden Gestalt den Bildhauer Haake wieder, jenen Paul Haake, der den Brunnen von Toberentz vollendet hatte. Sein kunstliebendes Haus hatte den Künstler wiederholt zu Gaste gehabt. Er nahm ihn wiederum mit dorthin, damit er nicht zum Gespötte der Stadt würde, und gab ihm Gelegenheit auszuschlafen.
Was der betrunkene Künstler dem Bauernkinde erzählt hatte, beruhte auf Wirklichkeit. Er hatte ein sechzehnjähriges Mädchen, Wanda, von der Straße hereingenommen, benutzte es als Modell und wollte es zu seiner Frau machen. Aber Wanda lief ihm davon.
Sie ging eines Morgens — es war in Breslau — wie immer, um etwas für das Mittagessen einzuholen, aus dem Atelier und war seitdem nicht wieder erschienen.
Er fragte überall nach ihr, er suchte alle Spelunken ab, er legte sogar die Polizei mit Hilfe eines befreundeten Kommissars auf ihre Spur — alles und alles leider vergebens.
Er hatte Aussicht, wenn die Brunnenangelegenheit in Görlitz zu aller Zufriedenheit verlief, an der Breslauer Kunstakademie Professor zu werden. Wenn dies sich verwirklichte, wollte er heiraten. Er hatte himmlische kleine Bronzen nach Wanda gemacht. Das Mädchen war klug und bildungsfähig. Man würde eine Wohnung beziehen, mit der Kleinen ein Hauswesen gründen, man hätte eine entzückende Frau und würde von aller Welt beneidet.
Jetzt aber war der Boden seiner Pläne dem werdenden Meister weggesunken.
Er schlief nicht mehr, konnte nichts mehr arbeiten, ergab sich mehr und mehr dem Trunke und stellte eben noch seinen Mann, bis der Auftrag in Görlitz erledigt war. Dann aber brach er völlig zusammen.
Aus der Villa des Kaufmanns Muscatblut völlig ausgeschlafen am nächsten Morgen hervortretend, begab er sich auf die Wanderschaft. Schon der Gedanke, Wanda zu suchen, erleichterte ihn. Er nahm es als seinen Lebensberuf. Was kümmerte ihn die Professur, oder daß er nur noch etwa dreihundert Mark in der Tasche hatte. Sie gehörten zehn- oder zwölfmal genommen den Gläubigern: nun, so mochten sie denn auch ihn suchen, wie er Wanda zu suchen gezwungen war.
Paul Haake war ein außerordentlich begabtes Proletarierkind. Der Glückswechsel war erst mit der Arbeit am Toberentz-Brunnen eingetreten. Er lag bis dahin bei einer Bahnschaffnersfrau in Schlafstelle. Zwei Betten standen in einem Loch. Er benutzte das leere des Bahnschaffners, der manchmal die dritte, manchmal die vierte Nacht zu Hause zubrachte.
Auf dem leeren Bauplatz, unter den Fenstern der Vorstadtmietskaserne, hatten sich eines Abends fahrende Kunstreiter eingefunden. Am Abend darauf war die Vorstellung.
Die Gesellschaft war in zwei wackeligen Wohnwagen untergebracht. Der Aufzug war äußerst jämmerlich, die Vorstellung weniger jämmerlich. Es wurde ehrliche Arbeit geleistet. Nagelneues Programm natürlich. Der Zirkus Flunkert durfte, ohne unbescheiden zu sein, von sich rühmen, daß er bereit sei, mit Renz und Busch, ja selbst mit dem großen Barnum furchtlos in die Schranke zu treten.
Ein älterer Flunkert, Träger der Tradition, mußte vor kurzem verschieden sein. Seine Witwe, über zwei Zentner schwer, die an der Kasse saß, trug jedenfalls einen Trauerflor, und ein jüngerer Flunkert, ein langer, etwa dreißigjähriger Mann, schien Erbe und Leiter des Ganzen zu sein. Dieser junge Flunkert ... hol ihn der Teufel!
Wie solche Leute zustande kommen?! Im Grunde genommen ein schöner Kerl, eines seiner langen Beine manchmal wie ein angeschossener Panther nachschleppend; gänzlich furchtlos, überaus dreist der Blick. Wenn man mit ihm eine Wette einginge, hoch genug, seine Habgier zu reizen, er würde auf einem Königstiger spazierenreiten. Höchst wahrscheinlich würden seine eigentlichen Vorväter mehr außerhalb als innerhalb der Familie Flunkert zu finden sein. Unter den Offizieren des Leibkürassierregiments hier am Orte gab es solche Erscheinungen.
Von Anfang an war Herr Flunkert dem jungen Bildhauer unangenehm. Seine Abneigung steigerte sich, als der Zirkusdirektor — die Vorstellung fand unter freiem Himmel statt — mit seiner endlos langen Peitsche bis unter die Nase Wandas heraufknallte, die neben Paul Haake im Fenster lag. Wanda machte das förmlich wahnsinnig. Jetzt war es beinahe mit Händen zu greifen, daß sie früher in einem Zirkus gearbeitet hatte. Flunkert führte nicht nur seine abgetrabten Gäule vor, er schwang sich am Ende sogar aufs Trapez und zeigte wahrhaft tollkühne Dinge. Man mußte gestehen, daß Flunkert junior das beste Pferd in seinem eigenen Stalle darstellte. Übrigens hatte auch er schon Nachkommen. Seine Frau war die bereits mit etwas zu spitzen Knien behaftete Drahtseilkünstlerin.
Wanda hatte geschworen, sie habe mit niemand, durchaus mit niemand in der fahrenden Truppe gesprochen. Für Paul Haake aber stand es fest, er werde Wanda gefunden haben, wenn er den Zirkus gefunden hätte.
Was dann mit ihm werden sollte, war ihm gleichgültig, oder er dachte gar nicht daran.
Es war überhaupt ein höllenmäßiger Zustand, in dem er auf der Landstraße vorwärtstorkelte. Nachdem der Halt, den eine unabweisbare Pflicht ihm gegeben hatte, nicht mehr vorhanden war, trat die ganze fürchterliche Verwirrung und Sucht in Kraft, in die ihn die Flucht der Geliebten gestürzt hatte. In seiner Tasche befand sich ein Brief des befreundeten Polizeikommissars, der ihm die Richtung und Route mitteilte, welche die kleine Flunkert-Truppe wahrscheinlich genommen hatte. Es konnten Plätze wie Herrnhut, Muskau, Spremberg, Kottbus, Lübben in Betracht kommen und dazwischenliegende kleinere Ortschaften.
Bei jedem der Flecken, die er erreichte, fing das Fragen an. Weniger um zu trinken als um zu fragen und sich zu betäuben, verweilte er in den Wirtshäusern. O ja, ein solcher Zirkus sei gestern vorbeigekommen. Ein paar Affen, ein Pudel, einige Schecken. Und wenn Haake nur hinreichend Kornschnaps an den Berichterstatter austeilte, so war es der leibhaftige Zirkus Flunkert, mit seinen zwei Wagen und seiner von dem langen Menschen geführten Künstlerschaft, jenem, der das Bein wie ein verwundeter Panther nachschleppte. Er kam dann immer auf Wanda zu sprechen und brauchte nur mit Schnaps nachzuhelfen, um eine genaue, aber auch haargenaue Schilderung seiner durchgebrannten Geliebten zu erhalten.
Am Ende des Dorfes sei ein Zirkus, sagte man ihm nach tagelanger Wanderung, als er, durchnäßt und frierend, in einen sogenannten Kretscham getreten war. Nur das geübte Auge hätte ihn noch von einem wirklichen Stromer unterschieden. Er hatte ihrer viele getroffen und sich gelegentlich, in der Wirrnis eines Fiebernden, ihnen angeschlossen. Ganz fremd war ihm ja schließlich auch ihr Rotwelsch nicht. Er kannte es von seiner Handwerksburschenwanderschaft, zu der ihn der Vater genötigt hatte, weil er der veralteten Meinung war, sie gehöre zum Lehrgang eines Handwerkers.
Paul Haake konnte nicht daran denken, sofort nach dem Ende des Dorfes aufzubrechen. Er mußte sich setzen. Die nassen Hände auf dem Tisch übereinandergelegt, ließ er den Kopf darauf niedersinken; so maßlos stieß ihm das Herz in der Brust. Er dachte: Was wissen die Menschen von so etwas?! Ganz gewiß, ich krepiere dran, ich gehe daran unbedingt zugrunde!
Er sah ein Zelt, als er schließlich am Ausgang des Dorfes war. Er hielt sich wie ein geprügelter Hund hinter einem Baum, gut tausend Schritt entfernt davon. Aber die Leute hatten nicht recht gesehen, oder sie hatten ihn angelogen; denn es war nur ein Karussell.
Drei Tage später war der Zirkus Flunkert in der Nähe von Königs-Wusterhausen wirklich erreicht. Ganz plötzlich tauchte er vor Paul Haake auf, als er fast gar nicht mehr an ihn dachte. Nämlich an den wirklichen Zirkus Flunkert hatte er kaum noch gedacht, nur noch an den in seinem Kopfe. Dieser war ununterbrochen im Gange. Die Schecken galoppierten im Kreise herum, ein kleines Mädchen schwang sich durch Reifen, zwei lumpige Spaßmacher grinsten ihn an, und der verdammte Direktor Flunkert junior hing am Trapez oder knallte mit seiner langen Peitsche. Aber da! da! da! auf dem Drahtseil stand nicht mehr mit spitzen Knien die Direktorin, sondern was da stand, war ein zerbrechliches Geschöpf von sechzehn Jahren, schwarzhaarig und glutäugig, Antlitz und Körper blaß wie der Tod.
Der wirkliche Zirkus Flunkert war nicht im Gang. Auf einem Grasplatz standen die beiden bekannten ausgedienten Wohnwagen: ihren Ofenröhren entqualmte Rauch. Von der ganzen Zirkusgesellschaft schienen die Pferde und eine Bulldogge die einzigen im Freien befindlichen Artisten zu sein.
Es dauerte lange, bevor Paul Haake es sich glaubte, daß auf der Breitseite jedes der Wagen Zirkus Flunkert zu lesen stand. Dann drang eine Klarheit auf ihn ein, wie wenn ein Schlafender von einer stechenden Sommersonne geweckt würde, deren Strahl ihm schmerzend ins geöffnete Auge fällt.
Dieses Erwachen bewirkte, daß er fester auf seinen Füßen stand. Der Instinkt eines Tieres, eines Schakals, einer armen bestaubten Hyäne, die im Müll in der Nähe von Menschenwohnungen Beute machen will, mahnte ihn, auf der Hut zu sein. Wenn er etwas entdecken und die Entdeckung ausnützen wollte, durfte er selbst nicht zur Unzeit entdeckt werden. Er schlich sich also zunächst davon.
Bald aber besann er sich eines anderen.
Er kehrte um, das Äußere eines müden Stromers bewußt verstärkend, in der rührenden Annahme, daß es überhaupt noch nötig sei, und faßte Fuß hinter einem halb abgeladenen Heuwagen. Vielleicht war es auf diese Weise möglich, schon jetzt jene Klarheit zu erhalten, die für sein nächstes Schicksal bestimmend war. Sein Herz begann wieder schrecklich zu arbeiten, als er das Quarren und Greinen eines Säuglings hinter der Verschalung eines der Wohnwagen zur Kenntnis nahm. Und er stand wie vom Donner gerührt, als gleich darauf die nackte Faust eines Mannes durch eines der kleinen Fenster fuhr und einen irdenen Topf von unverkennbarer Form ausleerte.
Damit war nun nichts weiter anzufangen. Es warteten seiner vielleicht hier Aufgaben, zu denen er mehr als gewöhnliche Kraft brauchte. Wenn er sie aber gewinnen wollte, so durfte er sich nicht planlos verhalten und im ersten Zustand der Bestürzung ins Bockshorn jagen lassen.
Er quartierte sich also für die Nacht im Kretscham ein, nachdem er dem Wirt, der ihm sonst mißtraut hätte, eine Banknote vorausbezahlt hatte. Da er den Mann noch andere Scheine sehen ließ, nahm dieser keinen Anstand, den großen Kachelofen im Zimmer des Fremden auf dessen Bestellung in Glut setzen zu lassen. Zum erstenmal, seit er die Wanderung angetreten, bekam Paul Haake die Kleider vom Leibe. Er selbst war verwundert, daß es so lange nicht geschehen war. Aber erst hier, und sonst nirgend in der Welt, lag etwas in der Luft, was ihn wieder zum Menschen machte. Er kroch ins Bett, zog das rotkarierte, schwere Deckbett über sich und schlief ohne Traum bis zum nächsten Morgen.
In dem Rausche und Rauschen seines Innern, in den Illuminationen und Betäubungen durch Alkohol hatte er den Beschluß nicht fahren lassen, eine Summe Geldes als eiserne Ration für den Notfall aufzubehalten. Er vergewisserte sich, daß sie vorhanden war. Mit getrockneten und gereinigten Kleidern ging er ins Gastzimmer. Gegen drei Uhr nachmittags, da es Sonntag war, gab der Zirkus seine erste Vorstellung. In zwei Kreisen hatte man Bretterbänke um die Arena herumgeführt; zwischen ihnen und einer umgebenden Schnur war der Raum für die Stehplätze. In der Arena balgten sich Hunde und Sperlinge, pickten Hühner und Tauben herum. Die Dorfjugend lärmte. Die Landleute waren zahlreich gekommen. Die meisten standen, auch Paul Haake zog das vor: er verschwand so besser unter den Zuschauern. Wie es auch geschehen mag, sprach er zu sich, wir werden, verzweifelt und todesmutig, wie wir sind, auf jede nur irgend erdenkliche Weise versuchen, unser Gut zurückzuerobern! Und ich werde jedenfalls, wenn es nicht möglich sein sollte, aus der Welt nicht eher gehen, als bis ich einen Quartiermacher vorausgeschickt habe. Wer dies sein wird, muß man erst feststellen.
Da sagte plötzlich ein Bauer: „Nanu?!“ und starrte seinen Nachbar Paul Haake an, der ihn wild in den Arm gekniffen hatte. Er war gestört. Er hatte gerade den stieren Blick auf einen langen Menschen gerichtet, der, in einem aus vielen Flicken bestehenden Frack, peitscheknallend in die Manege getreten war. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte nicht derselbe Mann den wütenden Blick des Landmanns von seinem Nachbar ab und abermals auf sich gezogen. Flunkert junior tanzte vor Haakes Augen herum.
Mehrmals hatte er sich schon am Vormittag um die ganze Anlage herumgeschlichen. Aus den Mitteilungen der Dorfleute war für ihn nicht zu entnehmen, ob ein Mädchen, Wanda ähnlich, sich bei der Truppe befand. Es gab eine Drahtseilkünstlerin. Daß es nicht mehr Frau Direktor Flunkert junior, sondern eine andere wäre, schien festzustehen. Die Flunkert war in anderen Umständen, sie konnte derzeit überhaupt nicht mitwirken.
Nach einer für Haake endlosen Kette von Nummern spannte man endlich das Drahtseil auf. Der Künstler, welcher mit hochgezogenem Mantelkragen und ins Gesicht gedrücktem Schlapphut zuschaute, wischte sich mehrmals die Augen aus, als ein schlankes Kindergeschöpf, ganz und gar in schwarzem Trikot, mit purpurroter Schleife am Halse und einer von ebensolcher Farbe im schwarzen, offen fließenden Haar, hereinhüpfte und auf dem bereitgestellten Kreideblock die Sohlen rieb.
Wer es war, konnte Haake zunächst nicht feststellen. Die Frau mit den spitzen Knien, die er in Breslau gesehen, jedenfalls nicht. Auf dem Plakate stand sie als Pipilada, die Mexikanerin.
Pipilada wurde von Flunkert junior, ihrem Dresseur, mehrmals aufs heftigste angeschrien, weil sie unzuverlässig arbeitete. Das Hocken auf dem Seile gelang ihr nicht. Als es ihr abermals nicht gelang, benutzte sie das Drahtseil als Schaukel, überschlug sich und kam so vor der Zeit auf die Erde herab. Er zwang sie, wieder hinaufzusteigen.
Als sie die kleine Plattform zwischen den gekreuzten Stangen, also die Ruhestellung, wieder erreicht hatte, wandte sich das Publikum unter hellem Gelächter einem Menschen zu, den es nach seinem Räuberhut und verwogen umgenommenen Mantel für einen Clown halten konnte. Er näherte sich von rückwärts Flunkert junior und machte, daß dieser infolge eines wohlgezielten Fußtrittes auf eine gewisse Stelle vornüber lang auf den Boden schlug. Nicht gefaßt und doch wieder gefaßt auf dergleichen Zufälle, kam Flunkert mit der Gewandtheit eines Panthers zu Fall und hatte sich fast im gleichen Augenblick mit derselben Gewandtheit wieder erhoben. Er blickte den Angreifer wütend an.
„Wer sind Sie?“ schrie er. „Was wollen Sie?“ — Der Jubel der Menge steigerte sich. Auch der als Dummer August fungierende Clown trat an den fremden Konkurrenten heran: „Wie heißt du, Cousin? Was willst du, Cousin? Wer hat dir erlaubt, hier hereinzukommen?“ — Ein Tritt vor den Bauch, den er sogleich als Antwort erhielt, machte ihn drei- bis viermal Kobolz schießen.
Herrgott im Himmel, das war ja großartig! Die Menge schrie. Und wie um die Heiterkeit noch zu steigern, brach die Bank unter einigen strammen Bauernmägden entzwei, und sie zeigten Dinge, die belacht wurden.
Als Flunkert junior, der gewiegte Artist, sich über den Erfolg dieser im Programm nicht vorgesehenen Nummer klar wurde und sah, wie sich nicht nur die Zaungäste mehrten, sondern auch die trauernde Witwe Flunkert bar Geld einkassierte und wertlose Zettelchen wiedergab, glaubte er es mit einem Clown, der auf Engagement gastierte, zu tun zu haben, — oder aber, er tat wenigstens so: „Was willst du, Cousin? Womit kann ich dir ins Gesicht springen?“
„O well, ich uollen dir lieber mit Geld ins Gesicht springen! Ich sein Zirkusdirektor! Viel money! Viel Geld! In die Vereinigte Staaten von Amerika! Aus die Südstaaten, uo ist noch Sklaverei! Niggers, verstehst du? Schuarz wie das Mädchen auf dem Seil. Und ich bin gekommen aus die United States, um dir schuarzes Seilmädchen abzukaufen!“
Der Direktor wurde sehr ungehalten: „In Europa haben wir keine Sklaverei! Wir handeln hier nicht mit Menschenfleisch. Machen Sie augenblicklich, daß Sie fortkommen! Glauben Sie, daß ich mich mit Mädchenhandel abgebe?! Stören Sie nicht meine Vorstellung, sonst werde ich Mittel und Wege finden! Es gibt ja schließlich noch eine Polizei!“
Jetzt fiel auch der Fremde aus der Rolle. Er schrie: „Ja, die Polizei! Ja, die Polizei! Ja, ja, Sie Schuft! Ja, die Polizei! Sie Dieb! Sie Räuber! Sie Mädchenräuber! Die Polizei! Ja, die Polizei! Dieses Mädchen heißt Wanda Soundso, dieses Mädchen haben Sie mir gestohlen! Wanda, komm her! Ja, die Polizei! Ja, die Polizei!“
Jetzt waren die Zuschauer still geworden: diese Leute spielten ja wirklich, wie wenn’s wirklich wär’! Das war doch beinah, möcht’ man sagen, menschenunmöglich!
Der Skandal nahm zu. Pipilada, die Mexikanerin, war längst in einem der Wagen verschwunden. Nur noch wenig fehlte zu einer blutigen Prügelei. Man glaubte schon Messer blitzen zu sehen. Zwei haßerfüllte, blaugrauentfärbte Gesichter keuchten einander, fast Nase an Nase, rasend an. Beiden stand förmlich der Schaum vor dem Munde.
Da zeigte sich über der Menge, hoch zu Roß, der Landgendarm.
Die Vorstellung wurde zu Ende geführt. Eine halbe Stunde darauf trafen sich die Parteien beim Amtsvorsteher. Paul Haake machte glaubhaft, wer er war. Er behauptete, daß Pipilada eine gewisse Wanda und so weiter sei, die er vom Tode des Verhungerns und Erfrierens gerettet habe, eine noch nicht Volljährige, mit der er verlobt gewesen sei, um sie in wenigen Wochen zu heiraten. Flunkert habe sie entführt und wahrscheinlich verführt und sein und des Mädchens Glück vernichtet, dem er eine angesehene bürgerliche Stellung als Frau eines Professors der Breslauer Kunstakademie zu verschaffen im Begriffe stand; denn seine Ernennung zum Professor stehe nahe bevor. Zum Belege konnte er Briefe vorlegen.
Flunkert leugnete alles das. Pipilada sei die Tochter der Schwester seiner Mutter. Diese sei in Buenos Aires verheiratet. Kurz, er brachte eine lange Geschichte vor, die beweisen sollte, daß Pipilada mit jener Wanda durchaus nicht identisch sein könne.
Das Mädchen wurde herbeigerufen.
Schon auf dem Drahtseil war sie von dem Künstler erkannt worden. Als sie nun eintrat, ähnlich einem Schulmädchen in einem abgetragenen Paletot, war sie Wanda, konnte ebensowenig als auf dem Seil jemand anders sein. Aber sie sagte, sie heiße Godoy, Catalina mit Vornamen, die verwitwete Flunkert sei ihre Tante. Sie bestritt, dem Herrn, den sie vor sich habe, also Paul Haake, jemals im Leben begegnet zu sein.
Dieser kam sich nun vor, als wäre er in einen jener Träume versetzt, wo wir unsere nächsten Anverwandten, Vater, Mutter, sehen, ohne von ihnen erkannt zu werden, wo auf eine mystische Weise das Band, womit wir zutiefst verknüpft waren, zerrissen ist. Prüfend sah er die Kleine an. Unwillkürlich auf sie zutretend, konnte er sehen, wie sie errötete. Er prüfte den dunklen Haarschwall, der ihm so oft durch die Finger geglitten war. Er prüfte die schöne weiße Stirn. Er prüfte die seidig schwarzen Wimpern, das Näschen, dessen unendliche Feinheit er bisher vergebens in nassem Ton nachzubilden versucht hatte. Er prüfte den Mund, an dem er sich wieder und wieder festgesogen, ohne daß sein Nektar und sein eigener Durst sich vermindert hätten. Er kannte diesen feinen, zerbrechlichen Körper Glied für Glied, und es gab keine Stelle seiner blassen, duftenden Haut, die er nicht mit Lippen und Händen zärtlich berührt und gekost hatte. „Wanda, du willst mich nicht kennen?“ fragte er. — „Ich kenne Sie nicht!“ war die klare Antwort.
„Wer ist dieser Mann?“ fragte der Amtsvorsteher das so seltsam umworbene Schulmädchen mit einem Hinweis auf Flunkert junior, der, in einem Ausmaß von beinahe zwei Metern, im dicken Jagdjackett, einen langen Wollschal um den Hals, ein wenig abseits stand. „Vetter Balduin!“ klang es wie aus der Pistole geschossen. Der sagte heiser — er war erkältet und entschuldigte sich —: „Der erste Sohn in unserer Familie heißt seit Jahrhunderten Balduin. Deshalb habe auch ich diesen Namen bekommen.“ — Der Beamte meinte, das wäre hier gleichgültig und schnitt ihm damit die Rede ab.
Auf alles war Haake gefaßt, doch er war nicht auf diese Wendung gefaßt. Er drohte darüber verrückt zu werden. Allein das gerade durfte er nicht. Und so trat denn auch eine jedermann überraschende Ruhe bei ihm ein, eine Ruhe, welche die tückischen Blitze in Balduin Flunkerts Augen sowohl vermehrte als hastiger machte.
Haake wünschte zu Protokoll zu geben:
Dieses Mädchen sei Wanda Schiebelhut. Ihre Wiege habe in Oppeln gestanden. Der alte Schiebelhut sei dort Stellmacher gewesen, Wandas Mutter, die Witwe, als sie noch fortkonnte, Hebamme. Heut sei sie, völlig kontrakt, in einem Altersheim untergebracht. Sie habe einige Male mit der Polizei zu tun gehabt und Wanda, ihre Tochter, nicht minder. Trotzdem habe er, Paul Haake, demnächst Professor an der Kunstschule, sich die Rettung und Rehabilitierung des Mädchens in den Kopf gesetzt.
Es begann nun die Inquisition.
Sofern dieses Mädchen Wanda war, hatte man in ihr einen Ausbund von Gerissenheit, gleich groß im Erfinden wie im Ableugnen. Sie tat beides mit Lust, mit einem geradezu blendenden Übermut, als ob sie etwa am Trapez turne. Was ihr dabei aus den glimmenden Blicken sprühte, war Tollheit und Eulenspiegelei.
Flunkert meinte, er lasse es darauf ankommen. Diese Frau in Oppeln, diese Hebamme, deren Namen er nicht mehr wisse, möge getrost ihre Ansprüche geltend machen. Vor der Mutter weiche er gern zurück. Aber der Irrtum werde sich dann ganz klar herausstellen. „Im übrigen,“ sagte er, „reiche ich morgen durch meinen Anwalt die Klage gegen diesen Menschen wegen Körperverletzung ein. Sein ungeschickter Fußtritt hätte mir einen Beckenbruch eintragen können. Einen Schaden — ich hinke stark — habe ich unbedingt wegbekommen. Ich kann mindestens acht Tage nicht auftreten, wenn die Sache damit überhaupt zu Ende ist. Das Gericht muß mir Schadenersatz, muß mir Schmerzensgeld zubilligen. Mein nächster Gang ist zum Arzt, der sich ja meinen blutunterlaufenen Hintern — es geht, wie meine Frau sagt, weit nach oben übers Gesäß — ansehen und die ganze Bescherung zu Papier bringen wird!“
Was Flunkert sagte, schien Haake gleichgültig. Er hatte Wanda oder Catalina angestarrt. Man sah, daß ein Gewitter sich sammelte.
„Wanda,“ sagte er, „kennst du mich nicht? Hast du nicht in der Januarkälte Streichhölzer hinter den Buden am Schweidnitzer Keller feilgehalten? Immer in Angst vor der Polizei? Habe ich dir nicht dazumal Wiener Würstel gekauft und dich mit mir in einen warmen Keller genommen?“ — Und so ging es weiter: Habe ich nicht...? und: Hast du nicht...? und: Habe ich nicht...? und: Hast du nicht...?, ohne daß Haake eine andere Antwort erzielt hätte als das gleiche befremdet verneinende Kopfschütteln.
Nun aber trat etwas Neues ein.
Der Mann für alles, Dummer August, Pferdeknecht, Kutscher, Wagenreiniger, Pudelko, erschien, augenscheinlich ein treuer Diener seines Herrn, der Flunkert junior etwas ins Ohr brummte, worauf dieser sich für eine Minute entschuldigte.
Das Verhör wurde fortgesetzt, aber plötzlich durch einen Wortwechsel unten im Hausflur unterbrochen. Als der Streit einer weiblichen und einer männlichen Stimme einen gewissen Grad erreicht hatte, mußte der Wachtmeister nach dem Rechten sehen. Jetzt hörte man Schläge und eine Haustür zukrachen, worauf Pipilada-Catalina-Wanda bis in die Wurzel des Näschens blaß wurde. Das laute Heulen einer weiblichen Stimme entfernte sich. Der Gendarm berichtete, wieder eintretend: „Er hat seine Frau durchgebleut und hinausgeschmissen. Die Sache scheint nicht ganz koscher zu sein.“
Die Aussagen widersprachen einander. Eine Entscheidung war nicht zu treffen. Das Recht einzugreifen hatte der Amtsvorsteher nicht, weil ja schließlich, auch wenn die Angaben Paul Haakes zutreffend gewesen wären, damit ein solches Recht noch nicht gegeben war. Überdies legte Balduin Flunkert, der im Auftrage seiner Mutter den Zirkus leitete, Papiere vor, die auf Catalina Godoy lauteten und ein Engagementsverhältnis Catalinas bewiesen, vertraglich mit den Eltern geregelt, welches Catalina mit dem Zirkus verband.
Paul Haake war wie vor den Kopf geschlagen. Er ging, in das Gasthaus zurückgekehrt, sofort in die Schenkstube, wo er hinter einem Ecktisch, düster brütend und vor sich hinglotzend, Stunde um Stunde ein Seidel Bier nach dem andern, einen Kornschnaps nach dem andern in sich hineinschüttete. Was er mit seinem inneren Auge sah, war immer wieder der Augenblick einer schweren Gewalttat, an ein und demselben Menschen begangen, Befriedigung eines brennenden Rachedurstes, auf alle möglichen Arten und Weisen durchgeführt.
In der entgegengesetzten Ecke der Schenkstube saß ein Mensch, den der stiere Trinker nicht wiedererkannte, obgleich es der Fahrer, Wagenputzer und Dumme August Pudelko war, den er im Zimmer des Amtsvorstehers gesehen hatte. Flunkert hatte ihn abgeordnet, den Bildhauer zu beobachten. Als einige Leute aufstanden, um in den Zirkus zu gehen, erhob sich auch Haake, um das gleiche zu tun. Weder auf der Dorfstraße, noch weniger, als er sich dem dicken Menschenringe annäherte, der diesmal die Manege umgab, wurde er von Pudelko aus den Augen gelassen. Als er, nach vorn und hinten wiegend, seine Eintrittskarte forderte, stand Pudelko neben der Direktorin.
Nun fing der Skandal von neuem an.
Paul Haake war ein kräftiger und entschlossener Mann. Der göttliche Funke glühte in ihm. Einst ein armer Handwerksgesell, waren ihm heut die Michelangelos, Donatellos, die Schlüters, die Schadows, die Klingers, die Gauls Vettern geworden. Der Tod seines Meisters und die Vollendung seines Werkes hatten seine Tüchtigkeit mit einem Schlage bekanntgemacht, und es warteten seiner große Aufträge. Sein Kopf hatte bereits die Prägung einer höheren Bestimmung angenommen. Das fiel ganz besonders auf, wenn man seine Züge mit denen Flunkerts verglich, dieser Visage, aus der die Gemeinheit hervorleuchtete. Was aber nun geschah, das zeigte den Künstler Paul Haake im Zustand allertiefster Entwürdigung. Weil man ihm den Eintritt verweigerte, fing er zu krakeelen an. Es hieß, er störe die Vorstellung und sei überdies total betrunken. Da meldete sich in Paul Haake, unter lauten Ausbrüchen, ein altes, längst nicht mehr gebrauchtes Wörterverzeichnis an, das seine Herkunft nicht verleugnete. Er brüllte laut und bombardierte damit die Direktorin. Er selbst erschrak über seine Ausdrücke. Gern hätte er jetzt seinen Rückzug genommen, aber ein Dämon peitschte ihn, und so kam es ihm vor — er wußte es nicht —, als ob er mit seinem Stocke nach der Direktorin geschlagen habe. Diese Vorstellung ärgerte ihn, während er, mit dem Rücken in einer Pfütze, alle viere von sich streckte, es aber trotz aller Mühe nicht weiterbrachte, als auf allen vieren durch dieselbe Kotlache hinzukriechen. Pudelko hatte an dem Schwerbetrunkenen auf billige Weise die Tritte gerächt, die sein Direktor hinten, er vorn erhalten hatte.
Am Morgen erwachte Haake mit einem Brummschädel. Er hatte keine Ahnung davon, was an der Zirkuskasse geschehen war. An verschiedenen Körperteilen empfand er Schmerzen. Er war erstaunt, als er eine Anzahl blutunterlaufener Stellen an seinem Leichnam feststellte. Hatte er seine Uhr eingebüßt? Aber nein, er fand sie in seiner Hosentasche. Etwas sehr Übles, etwas sehr Beschämendes mußte ja doch geschehen sein. Bei Wanda konnte ihn das nicht einheben, in seinem Kampfe um sie nicht nützlich sein. Überhaupt: der Tiefpunkt seiner Versumpfung war erreicht. Er sagte zu sich: du bist ein Schwein! In der Tat, um dies sich zu bestätigen, brauchte Haake nur um sich zu blicken. Die Diele, sein Bett, sein Hemd, seine Kleider starrten gleichermaßen von Unflätigkeit. Es stank wie in einem Raubtierzwinger. Es überkam ihn ein Grauen der Scham. Er wußte nicht, wie er die ganze Schmach, den ganzen Unrat, der ihn umgab, vor den Leuten verbergen sollte. Sein Schlund war so trocken, als hätte ihn eine Wüstensonne ausgedörrt. Aber der kleine Wasserkrug, der im Waschbecken stand, erwies sich als leer, als er ihn gierig an den Mund setzte. Was doch die Vergeßlichkeit einer Magd für entsetzliche Folgen haben kann! Schließlich und endlich half ihm die Magd. Er gab ihr Geld; aber auch ohne das hatte sie Mitleid mit ihm: sie wußte von seiner Liebesgeschichte. Auf versteckte Weise setzte sie Bett und Kleider instand, brachte wieder und wieder in Eimern Wasser herein, und Haake faßte gute Vorsätze. Er schwor sich, daß dieser Sturz der tiefste sein sollte, den er getan hätte. Nun müsse es wieder aufwärtsgehen.
Er dachte über den Zustand nach, der ihn auf so unbegreifliche Weise verändert hatte. Während Wanda noch bei ihm war, wußte er eigentlich nichts von seiner schrecklichen Hörigkeit. Es gibt Lemuren, es gibt Vampire. Hatte sie nicht bei ihrer Flucht, außer einer hübschen Summe Geldes, seine ganze Lebenskraft mit sich genommen? Er blieb zurück als ein leerer Schlauch, den er, sollte er eine Gestalt behalten, einen Inhalt bekommen, immer wieder mit Bier, Wein oder Schnaps füllen mußte. Das beste wäre, du ließest sie laufen! denkt er bei sich. Und nun fängt er an, sich dies Luder, dies Laster zu entwerten. Nie und nimmer wird er um ihretwillen vor die Hunde gehn!
Noch immer beträgt seine Barschaft mehrere hundert Mark. Das weiß der Wirt und behält ihn deshalb, obgleich die Skandale, die er anzettelt, ihn geneigt machen, den Gast vor die Tür zu setzen. Nun aber, nach der zweiten Nacht, am dritten Tage seiner Anwesenheit, tritt Ruhe ein. Ich werde mich selbst, hat der Künstler zu sich gesagt, am Schopf fassen und aus der Kloake herausziehen.
Er begibt sich alsbald zu Bett und ist am vierten Morgen, mit neuem Hemd, neuem Kragen, neuen Schuhen, gereinigten und geplätteten Kleidern, beinahe ein Gentleman. Aber er bleibt: er denkt nicht an Abreise.
Paul Haake war Ortsgespräch geworden. Es schwirrten Gerüchte widersprechendster Art über ihn herum. In der Apotheke ließ man ihn einen reichen übergeschnappten Engländer sein. Andere machten ihn gar zum Mädchenhändler. Selbst Frau Direktor Flunkert, die ihn am vierten Tage gebügelt und geschniegelt hatte durch den Ort schreiten sehen, wurde irre an ihm. Schließlich gab es nicht viele, die Zeit und Geld genug hatten, einer Dirne durch dick und dünn nachzusteigen.
Die geprügelte Frau von Flunkert junior, die in Breslau auf dem Drahtseil gestanden hatte und mit Vornamen Elsa hieß, war auf Catalina eifersüchtig, die sie in jeder Beziehung zu ersetzen schien. Schließlich waren ihre Umstände so, daß sie ihrem Manne weder auf dem Seil noch auch sonst mehr genugtun konnte. Weil aber ihre Eifersucht stärker als ihre Klugheit war, so empfing Paul Haake am vierten Morgen einen Brief, den sie geheimzuhalten ersuchte und in dem sie klipp und klar mitteilte, daß Catalina keineswegs eine geborene Catalina Godoy, sondern selbstverständlich Wanda sei.
Darüber hegte nun zwar der Künstler keinen Zweifel; aber mit diesem Briefe lag eine nicht zu unterschätzende Tatsache vor, deren Verwertung aufs beste durchdacht sein wollte. Die Frau seines Feindes nahm seine Partei. Sie hatte ihm außerdem ein wichtiges Dokument in die Hand gespielt. Auch das war klar: sie wünschte das Mädchen abzuschieben. Nur wenig später als dieser Brief traf ein Schreiben aus Oppeln ein, worin die Mutter dem Künstler eine Menge Guttaten an ihrer Tochter und die Absicht bestätigte, sie zu heiraten. Mit diesen Belegstücken in der Hand, schien es dem verlassenen und verschmähten Liebhaber das einzig Richtige, den weiblichen Chef dieses fahrenden Lumpengesindels, die verwitwete Flunkert, ins Vertrauen zu ziehn und mit ihr die Sachlage zu beraten.
Die Witwe Flunkert war einverstanden. Sie empfing den Künstler in ihrem Wohnwagen. Haake fand es recht gemütlich darin. — „Es trifft sich gut,“ sagte die mit goldenen Fingerringen und anderem Schmuck überladene Frau, deren Kleid, Gott weiß aus welchem Grunde, tief ausgeschnitten war, „es trifft sich gut, daß mein Sohn nach Kottbus gefahren ist; wir können uns also ganz ungestört unterhalten. Ich sehe, Sie sind ein honetter Mann. Das war am Anfang nicht zu erkennen. Sie wissen ja, auf welch eigentümliche Weise Sie sich in unserem Zirkus bekannt machten. Nun, ich bin alt genug, um zu wissen, was für eine Klaviatur die Liebe aus einem vernünftigen Menschen machen kann!“
„Eine Klaviatur? Was soll das heißen?“
Die Dame fuhr fort, ein wenig nach Luft ringend und einem Kanarienvogel Ruhe gebietend, der die Begleitung zu ihren Worten schmetterte: „Ich sage, Sie sind ein honetter Mann. Wollen Sie nicht lieber von dem Mädchen ablassen, ganz gleichgültig, ob es Wanda ist oder nicht? Ich sage meinem Sohn ganz dasselbe. Für honette Männer, wie Sie und mein Balduin, ist doch eine solche Mistkröte, ein solches Miststück nichts. Sie kann Sie doch nur zur Klaviatur machen! Dazu ist doch Balduin und sind auch Sie zu gut dazu.“
Sie stopfte sich Tabak in die Nase.
„Sehn Sie, mein Herr, Sie werden begreifen, ich rede mütterlich. Vor zwei Monaten ist mir mein Mann gestorben!“ — Dies gesagt, fing sie auf einmal schrecklich zu flennen an. Aber sie sammelte sich sogleich wieder mit Hilfe eines alten, sehr feinen Spitzentaschentuchs, das sie zu diesem Zwecke aus dem Busen nahm, Wimpern und Mund damit betupfend. Es mußte, dachte Haake, als sie es wieder zurücksteckte, unbedingt eine erhebliche Menge Schnupftabak gleichzeitig in dem Tale des Busens begraben worden sein. Er tröstete sich, sie werde ihn im geeigneten Augenblick wieder vorfinden.
Nun aber war sie in eine gewisse Rührung mit sich selbst hineingeraten: „Herr Professor, Sie haben mich da vor einigen Tagen mit einer Reihe abscheulicher Namen benannt!“ — Sie drohte ihm schalkhaft mit dem Finger: „Ja, ja, Sie wissen natürlich von nichts. Aber ein halbes Dutzend davon hat sich mir doch unauslöschlich eingeprägt. Die eine Bezeichnung, glaube ich, hieß Puffmutter. Ich weiß nicht, was eine Puffmutter ist. Glauben Sie mir, mein Herr, daß man doch wohl nicht immer der Schmied seines Schicksals ist. Sie wissen auch nicht, wenn Sie glücklich eine Leitersprosse ersteigen, ob die Leiter nach unten oder nach oben führt. Sie denken vielleicht, sie führt nach oben, und kommen zu Ihrer Verdutzung unten an. Meine Geschichte ist viel zu lang, als daß ich sie Ihnen erzählen könnte, mein werter Herr Bildhauer. Aber glauben Sie mir, es ist mir nicht anders als Ihnen ergangen. Darum habe ich schließlich mit Ihnen und jedermann Mitgefühl. Damit fing es an: auch mich hat die Liebe einmal zur Klaviatur gemacht!“
Nun brach sie ab. Sie wurde auf einmal kühl und hoheitsvoll. Ihr entfuhr ein Seufzer der Resignation, der den Kanarienvogel erschrocken an der Ecke seines Bauers kleben machte. „Wir verlieren viel,“ sagte sie, „wenn wir die Nummer Pipilada absetzen müssen. Aber ich möchte um Ihretwillen, mehr noch um meines Sohnes willen und schließlich um meiner Schwiegertochter willen wünschen, daß die Sache in Ordnung kommt!“
Er gab ihr den Brief von Wandas Mutter.
„Wenn es Wanda ist, wenn sie mit Ihnen geht, versäumen Sie keinen Augenblick! Bei Balduin will ich die Sache verantworten. Aber trauen Sie einer alten Frau: ein solches Mistvieh heiratet man nicht, oder höchstens im Alter von fünfzig Jahren.“
Pipilada kam, mit einer gelblichschwarzen, fürchterlichen Bulldogge spielend, die ihr immer wieder bis an die Nase sprang, als man sie zur Chefin gerufen hatte. Die Dogge hieß im Zivilleben Grunz, weil sie fortwährend schnaufen und grunzen mußte. Auf den Plakaten zeichnete sie als Fingal, der kamtschadalische Löwenhund. Wanda wußte nicht, wie ihr Handel stand; deshalb blieb sie beim Anblick Haakes gleichgültig. Dann blieb sie eigensinnig dabei, sie sei weder Wanda — der Bildhauer täusche sich —, noch sei der vorgewiesene Brief aus Oppeln ein Brief ihrer Mutter. Sie denke auch gar nicht daran, den Vertrag zu brechen, den sie mit Direktor Flunkert geschlossen hätte.
Am Abend des gleichen Tages hatte Paul Haake wiederum eine schwere Krisis durchzukämpfen. Lag eine solche Verderbtheit, eine solche Verruchtheit, eine solche Hartnäckigkeit im Lügen im Bereiche des Menschenmöglichen? Hatte das Mädchen am Ende recht, und war er durch Sorge und Trunk, Trunk und Sorge verrückt geworden?
Unten im Kretscham feierte irgendeine Gesellschaft, Feuerwehr oder Kriegerverein, ihr Stiftungsfest. Das Gebälk des Hauses erdröhnte von Blechmusik und vom Gestampf und Gejohle der Tanzenden. Er schwankte noch immer, hinunterzugehen und im wilden Getümmel Betäubung zu suchen.
Was war es, was hielt ihn ab davon?
Zunächst etwas Ähnliches wie das, was den Selbstmörder zögern läßt, den Hahn der tödlichen Waffe abzudrücken. Fing er heute zu trinken an, so mußte man ihn vielleicht in acht Tagen unter allen Anzeichen des Delirium potatorum in ein Hospital abschieben. Das würde schließlich sogar die schon im Beginne liegende letzte Absicht sein. Gewiß für sein Zögern ein triftiger Grund, aber es gab noch einen anderen. Es war Paul Haake in einem gewissen Augenblick so vorgekommen, als ob ein Blitz nichtsnutzigen Einverständnisses aus Wandas Augen für ihn bestimmt gewesen sei, und dieses gänzlich unerwiesene Liebessignal war es, weshalb er seinen Fenstersturz, seinen Genickbruch noch hinauszögerte. Verfluchte Welt! Wofür sollte man leben, wenn das Dasein doch nur Heulen und Zähneklappern war! Ehe man aber zum Letzten schritt, mußte man sicher sein, nicht womöglich einen nahen Himmel verscherzt zu haben.
In solchen Gedanken, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, ohne zu Abend gegessen und irgend etwas getrunken zu haben, nickte der Bildhauer ein. Es war, als ob er auf etwas wartete. Es war ein Warten auf etwas, dessen Kommen ganz unwahrscheinlich ist und höchstens in Träumen sich verwirklicht. Noch immer zitterte das Gebäude von Tanz und Blechmusik, und ein Getöse erfüllte die Wände.
Da kam es: Haake fühlte sich von zwei Händen rechts und links an den Schläfenhaaren gepackt, fühlte sich geschüttelt und geküßt und hatte im Augenblick darauf Wanda auf seinen Knien sitzen. Es wäre ihm um ein Haar der Atem weggeblieben, und wenig fehlte, so wäre er übergeschnappt. Dann aber löste sich alles auf, er umklammerte Wanda, er schluchzte, er weinte.
Die ganze Nacht ging sie nicht wieder fort. Es wäre ein großer Glücksfall, sagte sie, daß Balduin in Kottbus sei und übermorgen erst wiederkäme. Nie erfuhr Paul Haake von ihr, auch in den besten Zeiten nicht, eine so überströmende Zärtlichkeit. Sie gehörte ihm wirklich mit Leib und Seele.
Er vergaß den erlittenen Schrecken, die beinah tödliche Verzweiflung, in die ihn ihre Flucht gestürzt hatte, vergaß, daß er nahe daran war, in Trunk, Schmutz und Wahnsinn zu enden, vergaß ihr Lügen und Leugnen, sogar seine Eifersucht. Die niederträchtige Verderbtheit ihres Wesens verzieh er ihr, und während sie wie eine kühle, glatte Schlange eng um ihn gewunden lag, wo sollte da seine Eifersucht Raum finden?!
„Ich kann nicht Knall und Fall mit dir davonlaufen!“ sagte sie. „Du mußt noch einige Tage hierbleiben. Vor allem, ich bin bei diesem Halunken, diesem Schubiack, diesem ungebildeten Lumpen, diesem Saukerl gemeinen, dem Balduin, in Schulden geraten. Ehe ich sie nicht bezahlt habe, ist kein Fortkommen. Dieser Kerl ist imstande und bindet mir nicht nur Hände und Füße, sondern er stopft mir auch was in den Mund, das mich am Schreien verhindert!“
„Nun, das wollen wir ihm schon austreiben!“
„Der — und austreiben! Da kennst du ihn nicht. Der hat eine Brust wie ein Wirbeltier, zwei Arme: zwei Keulen! Zwei Fäuste wie zwei Hämmer aus Eisen: alles ganz, sagt Pudelko, wie bei einem Wirbeltier. Zahlen muß man, sonst ist nichts zu machen!“
„Würde dir mit zweihundert Mark geholfen sein?“
„Gib sie nur her! Wir werden ja sehen, ob mir damit geholfen ist. Erweichen läßt dieser Gauner sich nicht. Durch Bitten läßt er sich nicht erweichen. Ich habe geschrien, geschrien, sage ich dir! Aber glaubst du, das hat was genutzt? Nichts hat es genutzt! Alle Knochen hat er mir förmlich zerbrochen!“
„Bei welcher Gelegenheit war denn das?“
„Das war bei keiner Gelegenheit. Ich sage nur so, wie er eben ist. Hast du die zweihundert Mark noch vorrätig? Du kannst mir glauben, ich bin über diese ganze Sache sehr traurig, Paul! Ich komme natürlich zu dir zurück. Ich werde doch nicht so blöde sein, mich von diesem Raubtierbändiger, diesem meschuggenen, verhurten Menschenschinder täglich mehrmals auf das Drahtseil hinaufprügeln zu lassen! Und beim Herunterkommen, schwöre ich dir, macht er ebensowenig Umstände. Geld muß er sehen, nur Geld muß er sehen, wenn ich loskommen soll. Die Frage ist: kannst du das beschaffen?“
„Wieviel, meinst du, würde nötig sein?“
„Nicht unter dreihundert Mark würden nötig sein. Aber diese Hyäne ist zu geldgierig. Wenn er Lunte riecht, gibt er mich nicht unter vier-, unter fünfhundert los!“
So ging es, von den Rasereien der Liebe und des Wiedersehens unterbrochen, bis gegen die Morgenstunden fort, beim Gedröhne des Hauses von tanzenden Stiefeln und Blechgeschmetter. Als Paul Haake schließlich ein wenig einnickte, stahl sie sich fort, die rechtmäßig angeeignete Summe Geldes in der Tasche. Beim Aufwachen bestätigte sich der Bildhauer, daß er auf der Leiter der Witwe Flunkert eine Sprosse weitergekommen war. Er wußte nur nicht, ob nach unten oder nach oben.
Am folgenden Tage wachte er in Breslau unter den Gipsabgüssen eigener Plastiken auf. Er rieb sich die Stirn, er sann eine Weile lang über die Wechselfälle des Lebens nach und geriet in ein endloses Philosophieren.
Von dem kleinen, staubigen Nebengelaß, in dem seine Feldbettstelle stand, konnte er durch die offene Tür seine Werkstatt überblicken. Er war wieder dort, wo er hingehörte: sollte er nicht zufrieden sein?
Gegen zehn Uhr wurde ein Schlüssel im Schloß der kleinen Empfangspforte herumgedreht. Ahnungslos trat sein Gehilfe und Faktotum Neumann ein, der einzige, den er zurückbehalten, nachdem der Toberentz-Brunnen das Atelier verlassen hatte. Gipse, Torsen, Studien dieses Brunnens standen, lagen, hingen umher.
Über die Anwesenheit seines Meisters war Neumann im allerhöchsten Grade erstaunt, da er seit Wochen nichts von ihm gehört hatte.
Der Briefkasten an der Türe wurde ausgeräumt. Eine Menge eingeschriebener Briefe waren angezeigt. Es fanden sich Karten des Bürgermeisters und mehrerer Stadträte. Vor länger als einer Woche war der Künstler von einem Geheimen Oberregierungsrat zu einer Besprechung auf sein Amtszimmer gebeten worden, wahrscheinlich wegen der Professur. Der Zuschlag für ein Kriegerdenkmal in Gleiwitz war erfolgt. Haake konnte spüren, sein Glück war gemacht und er eine anerkannte Größe geworden. Also war nun wirklich erreicht, worauf er mit zäher Ausdauer durch viele Jahre, unter Entbehrungen aller Art, hingearbeitet hatte. Er hatte eigentlich nie recht satt zu essen gehabt, ja oftmals wirklich Hunger gelitten. Seine Gesundheit war zeitweilig durch Mangel unterminiert. Mehrmals hatte man ihn in der dritten Klasse irgendeines Hospitals unterbringen müssen; seine Lunge war angegriffen. Dem allem schien er nun plötzlich für immer entronnen zu sein.
Er fühlte es, bevor es eigentlich in die Erscheinung trat. Auf diese Empfindung waren seine Heiratspläne und auch andere aufgebaut, wie zum Beispiel der, seine Mutter zu sich zu nehmen. Sie war jetzt nah an siebzig Jahr’ und verdiente ihr kärgliches Brot mit Abwaschen.
Was ist es doch für eine verdammte, verdammte, verfluchte, verfluchte Gemütsverfassung, daß mir das alles so verdammt gleichgültig geworden ist! Ohne den Sinn seiner Flüche laut auszudrücken, schwenkte er sich aus dem Bett und mit vielen Verwünschungen auf die Beine.
Der Bildhauer pflegte sein Faktotum bei den wichtigsten Angelegenheiten ins Vertrauen zu ziehen. Neumann wäre auch ohne das von dem niederschmetternden Schlage unterrichtet gewesen, mit dem die Flucht des Modells den Meister getroffen hatte. Er hatte ja alles miterlebt: Wandas Erscheinen, seines Meisters daraufhin verdoppelte Arbeitswut, das Entstehen von Werken, nach ihr geformt, Tongebilden, die er monatelang durch Umhüllen mit nassen Tüchern vor dem Vertrocknen geschützt hatte. Die gleiche Herkunft von Meister und Faktotum bewirkte eine gewisse Intimität. Das Wort Meester, mit dem Neumann Haake anredete, hatte hier keinen anderen Sinn als jenen, der ihm im Verkehr eines gewöhnlichen Handwerksgesellen oder -lehrlings mit seinem Meister eigen ist. Der Gesprächston war auf gleich und gleich abgestimmt. Dennoch hegte Neumann im Grunde seines Herzens für diesen Menschen, der sich auf so märchenhafte Weise über seinen Stand in die oberen Sphären zu erheben begann, scheue Bewunderung und ordnete sich ihm vollkommen unter. Daß ein Aufstieg wie dieser möglich war, schmeichelte seinem Standesgefühl, und er folgte ihm mit ängstlich besorgter Teilnahme, immer bestrebt, in gefährdeten Augenblicken hilfreich zu sein.
„Nun also, ich habe sie wiedergefunden, Neumann! Das ist, sage ich dir, ein richtiger Fall von Mädchenraub. Aber, verstehst du, sprich nicht darüber! Einen Skandal kann ich jetzt nicht brauchen, Neumann. Es wird alles gut. Ich behalte mich ganz in der Hand, Neumann. Es hat mich ja sehr stark mitgenommen, wie du weißt. Ich wäre beinahe, hoppla-hopsa, hops gegangen. Ein Haar, und ich hätte mir das Saufen angewöhnt. Ich wollte mich förmlich am liebsten totsaufen. Was kauft man sich da für Leonardo da Vinci und Michelangelo?! Ich wollte den ganzen Bettel hinschmeißen. Aber nun, Ehrenwort, Neumann! wird alles gut. Ich hole mir nur etwas Geld, um sie einzulösen. Hauptsache ist, daß wir mal erst heiraten. Ich werde dann erst mal mit ihr nach Rom reisen, erst mal noch einige Eindrücke holen, und dann fängt die Arbeit im großen an. Da sollen die Deutschen schon mal was zu sehen kriegen! Lege mir alles zurecht, Neumann, meinen großen neuen Schlapphut, meinen Radmantel. Es ist zwar warm, aber ich nehme den Radmantel. In diesem Saunest regnet es ja jeden Augenblick. Schwarze Hose, schwarzer Rock! Zunächst gehe ich aufs Rathaus zum Bürgermeister, dann aufs Oberpräsidium. Vielleicht kann ich den Geheimen Oberregierungsrat umstoßen. Übermorgen reise ich nach Gleiwitz und kassiere mir einen gehörigen Vorschuß ein. Du, Neumann, gehst inzwischen zu Maack. Willi soll um zwölf Uhr pünktlich bei mir sein. Sag ihm, ich bin wieder auferstanden.“
Willi Maack war schon im Atelier, als der Bildhauer ziemlich unverrichtetersache zurückkehrte. Der Bürgermeister hatte ihn nicht empfangen, ebensowenig der Oberregierungsrat. Er war ziemlich aufgebracht darüber.
Aber Willi Maack, ein junger, vielbeschäftigter Architekt, brachte ihn bald auf andere Gedanken durch eine Flut von tragikomischen Vorwürfen, die er über ihn ausschüttete. Dieser Schlesier, der wie ein Japaner wirkte und sich den bayrischen Dialekt angewöhnt hatte, blitzte seinen Freund aus lustigen Augen und blies ihn aus ungewöhnlich großen Nasenlöchern an. „Wo host du denn gesteckt? Na so ein Kerle! Ich hob ein ganzes Schock Aufträg anderweitig vergeben müssen. Da kannst di nit wundern, wannst auf die schiefe Ebene kommst, auf die große Rutschpartie nach unten. Scheene Sachen kriegt man z’heeren von dir! Alle Augenblick wird der pp. Michelangelo b’soffen in die Gräben g’funden! Wannst glaubst, daß dös g’heim bleiben kann, Paulus an die Korinther, bist aber sehr erheblich schief g’wickelt! Sehr erheblich, sog i dir. Wofür sind denn die Stadträt alte Waschweiber? Du bist net empfangen worden vom Oberregierungsrat. Das war alles fertig zur Unterschrift — jetzt hat man wieder Bedenken bekommen. Koannst denn nit warten mit deinem G’sauf, bis d’ Professor g’worden bist? Mußt denn die Leut vor den Kopf stoßen? Ein Kerl wie du, der das Zeug zu einem neuen Michelangelo in sich hat! Ein solcher Kerl, der gar nicht wert ist, was er ist, läßt sich von so einem Aas ans Bein binden! Nix bleibt geheim: in was für einem Aufzug man irgendwo g’sehn worden ist, wie man sich irgendwo betragen hat, wie man durchgebleut worden und im Dreck gelegen ist. Iberall haben die Leut ihre Zuträger. Zeig mir oan Ort, wo d’ Regierung nöt ihre Spitzel hat!“
Der Bildhauer wußte, was er an Willi besaß. Er hatte jedoch eine gewisse Erbschaft in seinem Blut, die ihn zuweilen dem Jähzorn auslieferte, wie etwa damals, als Flunkert junior einen Tritt ins Rückgrat erhielt. Solchen Ausbrüchen ging meistens ein tückisch verstocktes, blutunterlaufenes Schweigen voraus. Als Willi dieses unter seinen Worten aufkommen fühlte, zog er andere Saiten auf.
„Paulus, als ich hörte, du wärest wieder da, hob i an großen Luftsprung von drei Ellen g’mocht. Wannst jetzt hier bleibst, kannst das Geld scheffeln. Das Geld kannst scheffeln, sog i dir! Und außerdem, nix is einstweilen verlorn. Wannst du di hier oan oder zwaa Monat auf d’ Hosen setzen tust, nacha bist Professor und host an Ateljee in der Kunstschul!“
Nun aber brach die gestaute Wut des verärgerten Bildhauers doch noch aus, Gott sei Dank nur in einem Schwall von Worten. Am meisten wurde eine bestimmte Redensart wiederholt: „Sie sollen mich doch...! Der ganze Magistrat ... die ganze Regierung soll mich doch ... insbesondere der Regierungsrat! Ihr könnt mich alle, wie ihr gebacken seid...!“
Was sollten sie doch? Was konnten sie doch? Es handelt sich hier um drei Worte der Sprache, die sehr leicht zu ergänzen sind.
Die Freunde frühstückten miteinander. Sie verbrachten lange Stunden in dem bekannten Hansenschen Restaurant. Vom Nachtisch an bis zum Abend wurde der Fall Wanda von allen Seiten erörtert und durchgesprochen.
Sie hatten durchaus nicht schlecht gespeist und in ihr Diner, nach der Suppe, einen großen Helgoländer Hummer eingefügt. Auch mehreren Flaschen eines französischen Sekts waren die Hälse gebrochen worden. Die Laune war deshalb, auch bei dem Künstler, gut; aber sie blieb von dunklen Mächten umlauert.
Willi Maack hatte sich insgeheim als seine wichtigste Aufgabe vorgesetzt, den Willen des willensgeschwächten Freundes zu stärken und ihn von seiner Versklavung durch Wanda zu lösen. Dieser Zustand hatte ja nun, seiner Ansicht nach, einen Grad erreicht, über den hinaus nur noch die Provinzialirrenanstalt in Frage kam. Durch jenen Zufall, der immer so unwahrscheinlich scheint und doch so gewöhnlich ist, war er von einem Augenzeugen über die Vorgänge im Umkreis des Zirkus Flunkert unterrichtet worden. Das Fehlende brachte er leicht im Gespräch mit Haake heraus.
„Reise mit mir nach Italien, Paulus! Lieber Kerle, ich halt’ ja ungeheuer vül von dir. Aber dort wirst du schließlich noch Dinge erleben, daß dir die Augen übergehen. Über so einen Dreckspatz muß man hinauskommen. Paulus, du hast ein Leben vor dir! Wenn ich die Hälfte von deinem Talent hätte, dir fällt ja der Himmel in den Schoß! Du kannst deine Plastiken in Florenz ausführen, du kriegst Urlaub, wenn du Professor bist. In Florenz, Mensch, denke, ein Atelier! Wenn du willst, auf dem Monte Pincio in Rom. Du wirst dich doch nicht an dies Luderchen wegwerfen?!“
Nein, ganz gewiß nicht, das würde er nicht.
Der Bürgermeister, der zufällig da war, trat an den Tisch. Die Atmosphäre des üppigen Restaurants brachte die Herren einander näher. „Wir müssen über den Monumentalbrunnen reden, den die Stadt auf dem Platz hinter der Universität errichten will. Besuchen Sie mich doch baldmöglichst mal auf dem Rathause!“
„Eins nach dem andern, das hat Zeit!“
Diese Äußerung Haakes ärgerte Maack. Sie zeigte ihm an, daß mit einem folgerichtigen Ernst in der Wiederaufnahme seiner Anliegen bei dem Freunde noch nicht zu rechnen war.
„Ja, um Gottes willen, du kannst mich totschlagen, entweder ich hole Wanda zurück, oder ich gebe für die ganze Kunst, meine ganze Karriere, das ganze Deutschland, Italien und meinetwegen Griechenland, alle Orden und Ehrenzeichen der Welt, alle Goldstücke und Geldsäcke, ja, für das ganze Leben keinen Pfifferling!“
„Mensch,“ sagte Willi, „was hast du für einen Zug in dir! Es tut sich doch jetzt wahrhaftig vor dir eine andere Gegend auf! In Gottes Namen, was zieht dich denn immer wieder auf die Landstraße?“
„Mein Junge, sage mir nichts gegen die Landstraße! Man muß sie kennen, ehe man von ihr sprechen kann. Vielleicht gehöre ich überhaupt dorthin.“
Und nun bemerkte Willi Maack im Auge seines Freundes jene an Schlafsucht grenzende, müde Melancholie, jenen Blick, der ihn vom Beginne ihrer Bekanntschaft an seltsam und anziehend berührt hatte.
„Sieh mal, ich habe irgendeinen kranken, irgendeinen wunden Punkt in mir, den mich nichts ganz vergessen machen kann. Und weiß der Teufel, er hat eine geradezu verfluchte Anziehungskraft für Stich, Hieb, Stoß, kurz: alles, was den Menschen irgend im Moralischen oder im Physischen treffen kann. Ich habe in mir diesen wunden Punkt, seit ich bei Bewußtsein bin. Nicht Pflaster, nicht Balsam konnte ihn zuheilen. Als ich einmal als Kind von einem Passanten fünfzig Pfennig geschenkt bekommen hatte, traf es sofort den wunden Punkt. Ich konnte mich nicht darüber freuen, unter der Bitterkeit darüber, daß ich sie angenommen hatte. Aber mein Hunger forderte das. Wenn meine Mutter das Essen verteilte und ich sah, daß meine Ration die der andern noch kleiner machte, brannte und schmerzte während des Essens der wunde Punkt. Mitunter wurde mir dann so übel, als müßte ich alles wieder herausgeben. Wenn jemand die Arbeiter vaterlandsloses Gesindel nannte, so traf es wieder den wunden Punkt. Ich wußte ja, wie mein Vater sich im Leben für die übrige Menschheit abgerackert hatte. Da raste förmlich die Wunde in mir, weil er trotzdem so verachtet war und so beschimpft werden konnte. Der wunde Punkt, der wunde Punkt! Ich brauche nur an eine alte Waschfrau zu denken, die meine Mutter ist. Alles, was sie an Verachtung und moralischer Roheit von den höheren Ständen zu erfahren hatte, traf natürlich den wunden Punkt. Alles trifft da eben den wunden Punkt. Später waren es dann wieder andere Sachen. Daß es Leute gibt, welche zweimalhunderttausend und mehr Morgen Wald besitzen und deren Förster armen Kindern, die Preiselbeeren und Blaubeeren suchen, mit Schrot um die Ohren knallen dürfen — ja, da treffen eben alle, aber auch alle Schrotkörner bei mir den wunden Punkt. Wenn ich sehe, daß es einen Adel gibt, was die Folge hat, daß ich mich ihm gegenüber als ein Halbtier empfinden soll, so trifft der Gedanke einer solchen Erniedrigung meinen wunden Punkt. Auch das trifft meinen wunden Punkt, wenn man die Masse des Volkes, wie täglich geschieht, mit Worten beleidigt. Man beleidigt da zwar höchstens einen Begriff; denn das Wort Volk und das Wort Masse ist ja gewiß von achtzig Millionen Menschen nicht der Inbegriff. Aber achtzig Millionen Menschen mit ihren Leiden, ihren Schicksalen, ihren hohen Verdiensten um das Ganze sind doch getroffen und empfinden die Mißhandlung. Daß wir hier tafeln und uns wohl sein lassen, ist sehr schön, aber es trifft auch meinen wunden Punkt. Wir haben bei dieser einen Sitzung mindestens das ausgegeben, was mein Vater und meine Mutter bei einer Arbeit von zehn Stunden täglich, ja von zwölf, von achtzehn Stunden täglich im Schweiße ihres Angesichts in einem Monat verdient haben. Und wenn ich nun ein großer Herr werde und mich von meinen Leuten dort unten loslöse, mich ihnen entfremde, von ihnen Abschied nehme und zu ihren Ausbeutern übergehe, so trifft das wiederum meinen wunden Punkt. Und nun, siehst du, komme ich auf die Landstraße. Ich bin durchaus keine starke Natur. Ich könnte einen Schuß Roheit brauchen. Ich weiß recht gut, daß mein Jähzorn nur Schwäche ist. Es zieht mich hinauf, es zieht mich hinunter. Ich sehe Tempel, ich sehe Statuen, und dann frage ich mich wieder: wozu? Aber auch in die dumpfe Schicht, aus der ich komme, kann ich nicht mehr zurück. Da kommt nun das Morphium, der Absinth, das Kokain, das Bier und der Fusel der Zwischenschicht. Die Zwischenschicht aber lebt auf der Landstraße. Freilich, auch da trifft es immer noch meinen wunden Punkt, daß ich mit jedem Schluck Schnaps die Agrarier reich mache. Die Landstraße ist eine Philosophie. Man trifft da die wahren Philosophen. Gewiß, die Welt hat sie ausgespien. Aber mancher lebt lieber außerhalb als innerhalb einer Welt, deren Maschinerie ihn zum Rädchen oder sonst was versklavt und ihm die Seele im Leibe mordet. Man macht nicht mit. Und wird man gestoßen und eingesperrt, so läßt man sich eben stoßen und einsperren, friert, hungert, tut, was weiß ich, weil man weiß, daß man außerhalb der Gesellschaft ist, manchmal oberhalb, manchmal unterhalb, und in diesem Fall wird man natürlich immer wieder, wenn nicht zertreten, so doch getreten. Man weiß auch, daß man ein Feind der Gesellschaft ist und daß ihre Feindschaft, die Feindschaft der Welt, die man nun erfährt, eben auf ihren ausgesprochenen Gegner fällt und sich darum mit größerem Recht entladet.“
„Wenn du philosophierst,“ sagte Willi Maack, „so habe ich nichts dagegen. Dann aber philosophiere ein bißchen gründlicher! Häuser müssen nämlich gebaut werden. Und wann ich eine Stadt bauen will, so muß i natürlich mit oan oder zwaa Häuser anfangen. Also reiß erst amal dich aus’m Dreck und hernach die andern achtzig Millionen! Mach scheene Sachen, schaff große Kunstwerk, die Zeit wird scho kommen, wo alle Menschen daran ihre Freid haben werdn, verstehst du mich!“
Willi Maack hatte Paul Haake begleiten und persönlich helfen wollen, Wanda von ihrem Ausbeuter zu befreien, diesem verdammten Flunkert junior. Der Bildhauer aber wollte diesmal noch allein den Versuch machen.
Der Zirkus war inzwischen bis Zeuthen weitergerückt. Bei einer Beleuchtung von Azetylenlampen gab er, als Haake den Ort erreichte, seine erste Vorstellung. Schnell hatte der Künstler im Gasthaus seine sieben Sachen untergebracht und stand bald darauf ungesehen im äußeren Kreise der Zuschauer.
Eben hatte sich Flunkert junior, den Körper in fleischfarbene Trikots gepreßt, vom Trapez heruntergelassen und eine Nummer mit Grunz, der Bulldogge, in Gang gebracht, genannt „Fingal, der kamtschadalische Löwenhund“. Indem er es neckte, ließ er das Tier sich in einen Hader verbeißen und riß es an diesem Hader im Kreise herum, bis es den Boden unter den Pfoten verlor, ins Schweben geriet und schließlich, ohne loszulassen, wie ein dunkler, dämonischer Weltkörper um die rothaarige, stirnlose kleine Sonne, Flunkerts Schädelgebilde, kreiste.
Immerhin einigermaßen durch den Anblick gefangengenommen, hörte der Bildhauer plötzlich in seiner Nähe kleine Münzen auf Porzellan klimpern und riß in einer Ahnung den Kopf herum, die sich im gleichen Augenblick erfüllt hatte. Es war Pipilada, die Mexikanerin, die, im schwarzen Trikot, mit roter Halsschleife, mit dem Teller herumging und sammelte. Sie hatte so wenig an ihn gedacht, rechnete so durchaus nicht mit seiner Gegenwart, daß sie im huschenden Licht erst dann zu ihm aufblickte, als sie das große Goldstück sah, das sie auf einmal in der Rechten hielt.
„Bist du’s, Paul?“
„Ja, ich bin es, Wanda!“
„Hast du Geld mit? Wirst du mich frei machen?“
„Ich brauche kein Geld, um dich frei zu machen!“ antwortete er. Er war jetzt wieder bei klarem Kopf und auch, von Willi darin bestärkt, durchaus nicht geneigt, sich von einem Erpresser prellen zu lassen.
„Ich muß fort,“ sagte Wanda, „sonst fällt es auf. Wenn du deine gereizte Stimmung hast, so rate ich dir, dich heute lieber nicht sehen zu lassen. Balduin ist wegen einer bestimmten Sache etwas aufgebracht. Er hat gestern einen Herrn von R., einen ehemaligen Kürassieroffizier, buchstäblich mit der Reitpeitsche aus der Manege geprügelt!“
„Wenn er das gestern an mir versucht hätte,“ sagte der Bildhauer, „lebte er heute nicht mehr.“
Noch immer kreiste der Boxerhund. Man hörte sein Knurren und das laute Geräusch, mit dem er die Luft durch die Nasenlöcher zog. Es sah aus, als würde eine große, gelbgeflammte vorsintflutliche Echse an einer Angel herumgeschwungen.
„Ich komme wieder, wenn ich irgend kann!“ sagte Wanda. „Das heißt, du versprichst mir, keinen Skandal zu machen! Nun also, wenn du im Gasthof wohnst und dich nochmals zu sehen hier nicht möglich ist, so besuch’ ich dich dort, aber heut höchstens auf fünf Minuten.“
Eigentlich kam sich Haake nach der soeben in Breslau verlebten Zeit an diesem Platze bis zur Beschämung erniedrigt vor und fragte sich, ob er nicht lieber Knall und Fall kehrtmachen und in die gesunde Sphäre seines Wirkens zurückflüchten sollte. Alle mahnenden, bittenden, fordernden Worte Willis schlugen ihm jetzt stärker, als da er sie wirklich hörte, ans Ohr. Er gedachte der Kunst. Er gedachte der herrlichen Aufgaben, die ihm bevorstanden, Verwirklichungen der Phantasien, die ihn von Kindheit an beherrscht hatten: Wunderwerke zu formen aus nassem Ton, in Marmor, in Erz, wie er sie dann auf der Wanderschaft durch die deutschen Städte mit staunenden Augen erblickt hatte. Der Ruhm Thorwaldsens spielte in seine Jugend hinein, die Kunstanschauungen Winckelmanns. Die Ariadne von Dannecker tat es ihm an, die Amazone von Kiß auf der Treppenwange des Alten Museums zu Berlin. Er träumte von Größe, er träumte von Ruhm. Nichts anderes war die Unterhaltung des wandernden Handwerksgesellen auf der Landstraße. Nun aber hatte er eines Tages dieses Bettelkind aufgegriffen und mit sich ins Atelier genommen. Seine grazile Erscheinung reizte ihn. Schon lange hatte er mit leidenschaftlicher Ungeduld ein Modell gewünscht, an dem er sich begeistern, das gleichsam seine Muse werden konnte. Er hatte sich darin nicht getäuscht. Mit jedem Tage glücklicher Arbeit fühlte er, daß ihn dieser unvergleichliche Fund in unvergleichlicher Weise bereicherte. Erst Wandas Körper in seiner jungfräulichen Kindhaftigkeit hatte ihn die Andacht zur Form gelehrt. Sein Modellierholz, sein Meißel, sein Fingerdruck, früher von einem kalten, verstandesmäßigen Nachahmungstrieb geleitet, wurden nun, ihm fast unbewußt, von der lebendigen Gegenwart der Schönheit und von den Pulsen der Liebe bewegt. Hätte er, als ihn Wanda verließ und verlassen hatte, mehr Widerstandskraft gehabt, es wäre ihm vielleicht eher gelungen, das Mädchen zu finden und zurückzugewinnen. So aber war es schon ein Wunder, daß er dem Irrenhause und dem Selbstmord entgangen war. Er war, wenn er nicht trank, nicht weniger betäubt und umnebelt als ein Betrunkener. Alles das ging ihm nun durch den Sinn, und die Fähigkeit dieses immerhin klaren Überblicks schmeichelte ihm mit dem Gedanken, daß am Ende doch wohl die Krisis überwunden sei.
So hatte alles, was er sah, dieses bettelhafte Zirkusgesindel, dieses fahrende Vagabundenelend, inbegriffen Pipilada, augenblicklich den letzten Rest von Romantik eingebüßt. Er malte sich, nicht ohne ein Gefühl der Befriedigung, den Seelenzustand Wandas aus, wenn sie später ins Gasthaus käme und erführe, er sei abgereist. Im Geiste erblickte er staunende Besucher in seinem Atelier, war gegenwärtig bei Denkmalsenthüllungen, sah sich ähnlich drapiert wie Bandel neben seinem Kolossaldenkmal Hermanns des Cheruskers, sah sich im Frack, den Ordensstern auf der Brust, ja er sah sich zuletzt geadelt, im Besitz großer Liegenschaften, und so fort.
Und wenn er nun diese Schindmähren, diese wackligen Wohnwagen mit ihrer Enge, ihrem Unrat, ihrer Roheit, ihrem Gestank, dieses hungernde, frierende, bettelnde, radschlagende, Salto mortale ausführende, springende, kletternde, kleinliche, das ganze Jahr von Ort zu Ort vagabundierende, von Ungeziefer starrende Lumpengesindel damit verglich, wie konnte, wie mußte es bei dem Vergleiche abschneiden?!
In der Ecke des Honoratiorenstübchens, als es Haake an diesem Abend betrat, saß ein junger hübscher Mensch, der sich augenscheinlich heut dem stillen Suff ergeben hatte. Es war, wie Haake vom Kellner erfuhr, ein Baron Dagobert von Römerscheid, der ebenfalls im Hause wohnte. Er sah in der Tat wie „aus unseren Kreisen“ aus, es war aber immerhin nicht unmöglich, daß er seine Standeserhöhung sich selbst verdankte. Dieser Zirkus Flunkert hatte eine seltsame Anziehungskraft. Hier in Zeuthen wußte man Gott sei Dank nichts von dem Skandal, den der Bildhauer in seinem letzten Standort erregt hatte. Aber man wußte von einem anderen, dessen Held dieser junge Baron Dagobert geworden war.
Und sollte man es wohl glauben: mit ihm nicht etwa Wanda, sondern die verwitwete Direktorin.
Bald hatte der Kellner die ganze Skandalgeschichte ausgekramt. Und der Künstler, abwechelnd den Kopf schüttelnd und selbst von unwiderstehlichem Lachen geschüttelt, hatte, wenn er wollte, ein Beispiel vor sich, wie Liebe verblendet und bis zu welchen Absurditäten sie führen kann.
Man lockt die Katzen mit einigen Tropfen Baldrian. Wenn man nach diesem Stoffe riecht und sie einem darum wie Kletten anhängen, so ist dies eben eine Tatsache, die man hinnehmen muß. Und wenn ein elegant gekleideter junger Mann, der an Antlitz, Wuchs und Haltung gute Abkunft verrät, einer fetten, alten Frau, die einen Sohn von über dreißig Jahren besitzt, mit Anträgen lästig wird und, von diesem Sohne öffentlich gezüchtigt, den Ort seiner Schmach nicht verläßt, die Hoffnung nicht aufgibt und seine Qualen im Trunk zu ersticken versucht, so gibt es dafür keine andere Erklärung als für das Verhalten der Katzen zum Baldrian.
Der Künstler wurde von der Erscheinung des Fremden, um seines verwandten Schicksals willen und seiner Beziehung zur Familie Flunkert wegen, dermaßen angezogen, daß er ihn über das Abendessen hinweg immer wieder anblickte, bis der Baron einen solchen Augenblick mit einer kleinen Verbeugung quittiert hatte. Hiermit war die Bekanntschaft gemacht, und bald saß er mit Haake am gleichen Tisch.
„Man lebt hier,“ sagte der junge Mann, „wie in den Zeiten der Postkutsche. Wenn man die Peripherien der großen Städte verlassen hat, so fällt man um mehrere Jahrhunderte zurück. Wer weiß, vielleicht sind es sogar Jahrtausende. Und schließlich, was soll sich im wesentlichen verändert haben? Was sich verändert, ist nur der Lack. Das Essen, wollte sagen, das Fressen, das Trinken, will sagen, das Saufen, der Zwang, sich vor Regen, Wind und Kälte zu schützen, der Zwang der Weiber, bei Männern zu liegen, und umgekehrt, ist dem Menschen wesentlich und damit verbunden: Stehlen, Rauben und Totschlagen. Sonst ist dem Menschen nichts wesentlich. Wie soll sich da die Menschheit auf dem flachen Lande von der vor zweitausend Jahren unterscheiden?! Ich habe in großen Städten gelebt, in Berlin bin ich Gardereiter gewesen. So jung ich bin, wenn ich etwas Sitzfleisch hätte, könnte ich zwölf Bände im Umfang eines Konversationslexikons mit meinen Erlebnissen anfüllen. Ich könnte Ihnen Dinge erzählen ... aber ich wollte nur sagen, immer wieder hat mich das Land, haben mich die kleinen Städte, hat mich die Landstraße angezogen. — Ich habe einmal ziemlich viel Geld gehabt, aber doppelt und dreifach so viel verpulvert. Eine Zeitlang war ich von meiner Familie unter Kuratel gestellt. Bereits zweimal war ich verheiratet. Das erste Mal mit einer Opernsängerin. Die Kuratel wurde auf Betreiben dieses energischen Frauenzimmers aufgehoben. Mein Vermögen war hin. Und mein alter Herr, hart wie Granit, hätte mich, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne einen Pfennig herauszurücken, verhungern lassen. Aber die Opernsängerin langweilte mich. Sie war schließlich nichts weiter als ein lebendiges Theaterrequisit, das sich hie und da bereit erklärte, mir ein kleines Vergnügen zu gewähren. Meine zweite Gattin war eine Spanierin. Sie trug einen alten spanischen Namen; ich habe sie in Madrid geheiratet. Ich spreche nämlich Spanisch wie Deutsch und habe darum auch ohne Mühe festgestellt, daß diese sogenannte Pipilada im Zirkus Flunkert, die eine Catalina Godoy, in Buenos Aires geboren, zu sein behauptet, wo sie angeblich bis zu ihrem zwölften Jahre erzogen worden ist, kein Wort Spanisch kann. — Ich finde sie übrigens dumm und fade!“ — Somit war das Gespräch bei dem Gegenstand angelangt, der beiden Männern vor allen anderen am Herzen lag, aber vielleicht noch mehr im Magen. Es freute den Künstler, daß der Fremde Wanda dumm und fade fand. Er hatte bisher Bier getrunken, jetzt ließ er Wein kommen. „Warum diese Pipilada dumm und fade ist, wollen Sie wissen?“ setzte der Baron seine Rede fort, indem er ungeniert die Zigaretten des Künstlers aufrauchte. „Erstens ist sie eine sehr mäßige, höchst dilettantische Seiltänzerin, und dann läßt sie sich auf eine geradezu unerlaubte Weise mißbrauchen. Sie steht diesem Flunkert gegenüber allerdings im Zustande der Hörigkeit. Dieser Kerl aber, der sie im Grunde gar nicht mag, denkt nur daran, sie auszunützen. Er behandelt sie roh, er verwendet sie nach Art eines Zuhälters. Da muß sie mit einem gewissen Landedelmann auf die Jagdhütte. Er besitzt einen pathologischen Geiz und quetscht ihr zum Beispiel jeden Groschen ab, den ihr ein Professor aus Breslau, ein Maler, schickt, der sie um jeden Preis heiraten will und den auszuschlagen sie die geradezu heupferdmäßige Dummheit hat.“
„Das interessiert mich,“ sagte der Bildhauer.
„Geben Sie einmal acht, wie sich dieser Aasgeier immer wieder über die Kasse stürzt, weil er selbst seiner Frau Mutter nicht traut und fürchtet, sie könne ihn betrügen. Aber Sie steigen nicht in solche Tiefen hinab. Diese Frau ist von guter Familie, die einzige unter dem Gesindel, die Ehre und Anstand im Leibe hat. Sie hat ein Verhältnis mit der Trompete. Die Vorführungen werden von Blechmusik begleitet, einem Trio, das sich aus Trompete, Waldhorn und Posaune zusammensetzt. Die Trompete ist wirklich ein Original. Schon der Name — er nennt sich Maskos — ist merkwürdig. Ein kleiner, strampliger Kerl mit quäkiger Stimme, der es faustdick hinter den Ohren hat. Der Mensch komponiert und spielt alle Instrumente. Man versteht es eigentlich gar nicht — aber freilich, die Liebe! die Liebe! —, wie er es bei dem Lausegesindel aushalten kann. Wir standen beide nicht schlecht miteinander, obgleich ich ihm bei der Direktorin etwas in die Quere geraten mußte.“
Der Bildhauer wollte immer mehr hören.
„Dieser Maskos wird von Flunkert junior am meisten gehaßt. Erstens, weil er ihm geistig vollkommen überlegen ist, zweitens, weil er glaubt, daß seine Frau Mutter ihm unterderhand allerlei außer seiner Gage zustecke. Dabei weiß er, daß er dem Zirkus durch seine Vielseitigkeit unentbehrlich ist. Er ist eben wieder dabei, einen Jungen zum musikalischen Clown auszubilden. Was Maskos betrifft, ich bin überzeugt, er vergilt ihm alles doppelt und dreifach. Und während er zu den waghalsigen Kunststücken Balduins seine Trompete schmettern läßt, hofft er bestimmt, er werde sich eines Tages den Hals brechen. Die Familie Flunkert ist nämlich nicht arm. Der verstorbene Flunkert hat gut gewirtschaftet. Wissen Sie übrigens, wie er zugrunde gegangen ist?“
„Nein!“ Wie sollte Paul Haake das wissen?
„Der Schlag hat ihn in einem Augenblick gerührt, als er, unerwartet heimkehrend, einen andern — ich glaube, es war schon Maskos — sozusagen in flagranti beklappte.“
Das erste, dessen sich der Künstler am nächsten Morgen beim Erwachen bewußt wurde, war, daß zwischen ihm und Flunkert junior am heutigen Vormittag eine Unterredung stattfinden sollte. Der Zirkusmensch hatte sich dazu bereit erklärt und die Nachricht noch gestern durch Wanda überbringen lassen.
Es würde also ein Kuhhandel stattfinden.
Noch war Paul Haake durch die in Breslau verlebte Woche in seinem edleren Wesen bestärkt und gewissermaßen versteift. Er wirkte durchaus wie ein Mensch der gebildeten Kreise. Niemand hätte in ihm den wüsten Trunkenbold, der, auf dem Prellstein sitzend, einem Straßenkinde sein Elend beichtete, wiedererkannt. Es schien unmöglich, er könne je wieder in eine solche Tiefe der Entwürdigung herabsinken. So glaubte er auch, entschlossen zu sein, entweder Wanda noch heut mit sich zu nehmen oder selbst auf Nimmerwiedersehen davonzugehen.
Es elektrisierte ihn förmlich, die Klärung, die Befreiung um jeden Preis so nahe zu wissen. Denn wie hätte er, wenn er nach dem, was er gestern wieder gehört hatte, sich abermals von diesem Landstreichergesindel, zu dem er in ihrem jetzigen Zustand auch Wanda rechnete, ins Schlepptau nehmen ließe, noch irgendeinen Funken Selbstachtung retten können?
War das wirklich Balduin Flunkert, der zur bestimmten Stunde in sein Zimmer trat und ihn mit „Schön guten Morgen, Herr Professor!“ begrüßte? Wohl seinem äußeren, aber nicht seinem inneren Wesen nach, das von dem herzlichsten Entgegenkommen förmlich leuchtete. Beinahe zwei Meter hoch, das eine Bein nachschleppend wie ein verwundeter Panther, im Jagdjackett, den Schal um den Hals wie damals beim Amtsvorsteher, nahm er, zum Sitzen aufgefordert, Platz, wobei er den Hut mit dem Gamsbart auf den Tisch legte.
„Sie haben ganz recht,“ sagte er. „Ich habe mir das auch schon gedacht. Mir ist bei der Sache nicht gut zumute. Ich war heilfroh, als ich hörte, daß Sie wiedergekommen sind. Mein Gewissen ist rein. Ich habe mit dem Mädchen einen Vertrag gemacht, ich zahle ihr pünktlich ihre Gage, aber da sie ja schließlich nicht mündig ist und ich ihre Mutter nicht auftreiben konnte, so ist es mir schließlich lieber, wenn ich die ganze Geschichte loswerden kann.“
„Das ist sehr verständig von Ihnen, Herr Flunkert. Haben Sie Dank, Herr Flunkert, daß Sie gekommen sind! Und wenn ich Sie nun bitten darf, denken Sie sich mal in das Interesse des Mädchens, in mich und meine Absichten, kurz, in den ganzen Fall menschlich hinein! — Ich liebe Wanda. Und meine Absicht war vom ersten Augenblick an, sie aus dem Elend, in dem sie steckte, herauszuziehen. Sie mußte ja unbedingt verkommen, wenn nicht noch im letzten Augenblick eine rettende Hand sich ihrer erbarmte. Es ist ja ein reines Wunder, daß sie nicht damals unter sogenannte Sitte gekommen ist; dann war sie ja auf der Stelle verloren. Nun also: seien Sie einmal menschlich, Herr Flunkert! Helfen Sie mir das Mädchen auf den rechten Weg zurückbringen!“
Während dieser Rede blickte der Kunstreiter unverwandt den Sprecher aus zugekniffenen Augen, mit der lauernden Grimasse eines liebenswürdigen Lächelns an. Als er endete, schrak er zusammen.
„Es ist nicht die erste Geschichte dieser Art,“ sagte er, „die mir in meinem Geschäft vorgekommen ist. Die Herren sehen so ein Balg, kriegen Appetit auf so ein Balg, haben ihr Vergnügen an so einem Balg und glauben dann jedesmal, es müßte nun alles eben nach ihrem Vergnügen gehn!“ — Dies war mit sächsischem Anklang gesprochen. Der Mensch fuhr fort: „Man kann aber so ein Mädel nicht ohne weiteres aus seinem Beruf herausreißen. Wie ist sie denn auf die Straße gekommen, wo Sie das Mädel gefunden haben? Weil sie mit einem feinen Herrn durchgegangen ist! Nach acht Tagen wird sie dann sitzengelassen und weiß nun natürlich nicht wohin. Man muß nicht vergessen, wir sind Gewerbetreibende. Ich zahle meine Steuern wie jedermann. Meinen Gewerbeschein muß ich überall vorzeigen. Mir kommt die Polizei über den Hals, wenn nicht alles klipp und klar in Ordnung ist. Wir sind keine Vagabunden, keine Pennbrüder, keine Naturforscher. Wir sind Geschäftsleute, weiter nichts. Wenn Sie wollen, können Sie es sich ansehen, wie ich von morgens bis in die Nacht allein oder mit meinen Leuten und meinen Pferden arbeite. Unsere Groschen sind ehrlich verdient. Wer bei uns mitmachen will, muß seine Sache aus dem Effeff verstehen. Nennen Sie mir einen anderen Beruf, wo man manchmal bei Wind, Wetter und Regen Tag um Tag, wie ich zum Beispiel, sein Leben riskieren muß. Und nun, was haben wir schließlich davon? Daß uns jeder über die Achsel betrachtet!“
„Sie haben mich nicht verstanden, Herr Flunkert!“ Das waren die Worte, mit denen der Artist seinen Wortschwall unterbrochen sah. „Ich habe Ihnen gesagt, ich werde Wanda zu meiner Frau machen. Ich habe das Wandas Mutter gesagt, und alle meine Freunde wissen, ebenso wie es Wanda weiß, wie blutig ernst mir die Sache ist. Grade weil Sie ein ehrlicher Bürger, ein rechtschaffener Geschäftsmann sind, müssen Sie doch für die Rechtschaffenheit meiner Absicht Verständnis haben...“
„Aber Sie müssen halt auch Verständnis haben!“ gab der Artist mit eindringlich schmalziger Lachgrimasse zurück. „Sie müssen halt auch Verständnis haben. Nehmen Sie doch mal gefälligst an: Ich habe da einen Boxer, eine Bulldogge, einen Hund. Jeder wird sagen: Was kostet ’ne Bulldogge? Ich kriege für zehn, für dreißig, für hundert, für zweihundert Mark ’ne Bulldogge. Ja, ich kann sie sogar geschenkt kriegen, weil mancher froh ist, wenn er seine Bulldogge loswerden kann. Meine Bulldogge kann ich nicht verschenken, kann sie auch für zweihundert Mark nicht hergeben, nicht für tausend und nicht für fünftausend Mark, weil sie mir im Jahre mehr als die Zinsen von zehntausend Mark bringt. Nehmen Sie Richardl, meinen kleinen schwarzen schottischen Ponyhengst. Richardl hat mich selbst tausend Mark gekostet. Und wenn Sie mir fünfzehntausend Mark auf den Tisch hinlegen...“
„Gut, das ist alles schon gut, ich verstehe!“ sagte der Bildhauer. „Ihre Tiere haben Dressur, diese Dressur sieht man ihnen nicht an, diese Dressur ist mühsam und langwierig.“
„Auch meine Menschen haben Dressur. Wenn mir mein siebenjähriger Junge stirbt, oder Pudelko läuft mir davon, ein Mensch, den mein Vater mühsam zugeritten hat, oder meine Mutter wird mager, daß sie keine Gewichte mehr auf dem Busen tragen kann, und Sie holen mir zu guter Letzt vielleicht noch Wanda vom Drahtseil herunter, so ist es Matthäi am letzten mit mir, ich kann sofort meine Bude zumachen!“
„Herr Flunkert, ich bin nicht hier, um auf mein gutes Recht zu pochen. Einer meiner Freunde ist ein Breslauer Kriminalkommissar und hat mir seine Hilfe in der Sache angeboten. Aber ich habe sie abgelehnt.“
„Da haben Sie auch sehr richtig gehandelt.“
„Ich habe die feste Absicht, nichts unversucht zu lassen, was zwischen uns zu einer befriedigenden Lösung, einer Lösung im guten führen kann. Also bin ich bereit, den Schaden, wenn Ihnen einer erwächst, nach meinem besten Vermögen auszugleichen.“
„Wissen Sie was, Herr Professor? Kriminalkommissare schrecken mich nicht. Ein Zirkusdirektor ist kein Verbrecher. Ich hab’ mit diesem Mädel, das schon als Elfjährige in einem Zirkus gearbeitet hat, einen auf zwei Jahre lautenden, rechtsgültigen Vertrag, und wenn sie ihn etwa brechen will, so hat man ja schließlich auch seine Anwälte.“
„Sie haben mit Wanda vielleicht, aber nicht mit ihrem gerichtlich bestellten Vormund in Oppeln einen Vertrag gemacht. Ich bin nämlich selbst bei dem Vormund gewesen. Hier ist sein notariell beglaubigter Brief, der mich bittet, Wanda, wenn ich sie finden sollte und es mir möglich wäre, zu ihm zurückzubringen, ihm sonst aber ihren Aufenthalt anzuzeigen.“
„Das können Sie tun. Ich glaube, daß er höchstens Wandas Vertrag bestätigen wird. Das Mädel hat hier ihr Brot gefunden. Zum Heiraten zwingen kann sie auch ein Vormund nicht.“
Hier pochte das Herz des Bildhauers bis in die Halsgrube, weil das letzte Argument seines Gegners nicht zu entkräften war. Einen Augenblick dachte er flüchtig daran, sein Anklagematerial ins Treffen zu führen, das ihm der gestrige Abend mit dem Baron geliefert hatte. Aber er fühlte, daß dies am Ende die Kluft zwischen ihm und dem andern nur verbreitern würde. Mit einer Hast, die man als wohlüberlegte Handlung nicht ansprechen konnte, erklärte Haake, er wolle zum Schluß kommen. Er lege bare fünftausend Mark auf den Tisch, wenn der Artist ihm schriftlich erkläre, daß er der Abreise Wandas nichts in den Weg lege, daß er sie während eines halben Jahres, auch auf ihren Wunsch, nicht mehr einstelle, daß er sie auch sonst nicht in irgendeiner Weise berühre oder beeinflusse, durch die sie unfrei gemacht werden könnte.
Flunkert sagte: „Nichts leichter als das! Wenn Sie wollen, das unterschreibe ich. Aber Sie tun mir doch zu leid, und ich bin zu ehrlich, als daß ich Sie nicht vor einem solchen Vertrage warnen sollte. Was kann ich am Ende gegen Hunde tun, die mir partout nachlaufen? Es ist manchmal bloß ein Geruch, den man in den Kleidern hat. Ich nehme heute vielleicht Ihr Geld, und in acht Tagen kommt sie zu mir zurück, und da wollen Sie alles wieder raushaben. Ich habe es aber vielleicht schon ins Geschäft gesteckt, kann es vielleicht beim besten Willen nicht schaffen, und dann nennen Sie mich vielleicht einen Lumpenhund. Und das Mädel hat große Rosinen im Sacke. So ein Frauenzimmer weiß, sie kann vor die Hunde gehen, kann aber ebensowohl auch noch ein ganz anderes Glück machen, als es ihr — entschuldigen Sie! — ein Mann wie Sie, Herr Professor, bieten kann. Sie bildet sich ein, sie kann einen Grafen, kann einen Fürsten heiraten. Und glauben Sie mir, daß sie gar nicht so unrecht hat. Eine oberschlesische Fürstin hat auf dieselbe Weise angefangen und sich im Hui und Hastenichtgesehen mit einem Salto mortale in ihre Kreise aus unseren Kreisen hinübergeschwungen.“
Damit erhob sich Flunkert von seinem Sitz, um zu gehen. Er schien mit dem Erfolge der Unterredung zufrieden zu sein.
Das ist von dem Bildhauer nicht zu sagen.
„Wann werden wir unsere Unterredung zu Ende bringen, Herr Flunkert?“
„Wann Sie wollen, jederzeit. Ich muß jetzt nur zu einem Sühnetermin. Ich habe nämlich jemand geohrfeigt, der sich erlaubt hat, meiner knädchen Frau Mama zu nahe zu treten.“
Bei diesem Worte hatte der Zirkusdirektor bereits die Türklinke in der Hand, grüßte und ging, das eine Bein wie ein verwundeter Panther nachschleppend. Der Bildhauer blieb allein zurück.
Er blieb zurück mit gemischten Gefühlen.
Was hatte er aus dem Verhalten dieses Burschen herauszulesen? Fünftausend Mark, bar auf den Tisch gezählt, hatten ihm keinen Eindruck gemacht oder schienen ihm keinen gemacht zu haben. Weil es ihm zu wenig war? Es gibt ja bei solchen Leuten Dinge, die begreiflicherweise überhaupt nicht verkäuflich sind. So wertvoll war ihm Wanda wohl nicht. Also lagen doch wohl Beziehungen vor, welche ihn, ebenso wie den Künstler, gleichgültig gegen Geld machten. Hätte Paul Haake fünfzigtausend Mark im Besitz gehabt, er hätte sie ohne weiteres hingegeben, wenn er das Mädchen wirklich mit dieser Summe erobern konnte. Auch bei Flunkert war vielleicht der Geldnerv durch die überstarke Vibration eines anderen Nerven übertäubt, ja totgemacht worden.
Eine lange, lange Zeit saß der Künstler fast regungslos. Es war, als blicke er mit den Augen der Seele nicht etwa in die Vergangenheit, sondern in grauenvoller Hellsicht in seine eigene Zukunft hinein. Dann schien es plötzlich, als habe das, was er so erblickt, einen Entschluß zur Reife gebracht. Auf sein Klingelzeichen kam der Kellner des kleinen Gasthofs herein; Haake bat um die Rechnung, er werde abreisen.
Kaum war dies geschehen, als Wanda erschien.
„Was, du packst deine Sachen? Was, du willst abreisen?“
„Ja, Wanda, ich reise! Reise mit!“
„Was denkst du nur, Paul?! So schnell geht das doch nicht! Man kann doch die Sache nicht übers Knie brechen!“
„Heut brech’ ich sie aber übers Knie, Wanda!“
Wanda trat ans Fenster und schwieg.
Im Hofe des kleinen Gasthofs lärmten die Sperlinge. Man zog ein Paar Gäule aus dem Stall, um sie vor den alten, windschiefen Omnibus anzuschirren, der Gäste nach der Bahn bringen sollte. Eine Kastanie, die Laub in allen Tönungen von Gelb zeigte, hatte den größten Teil ihrer Blätter über die feuchtgrauen, schmutzigen Katzenköpfe des Hofes wie einen goldenen Teppich gelegt. Enten schnatterten in irisierenden Pfützen der Umgegend eines gewissen Ortes, in den hie und da eine Magd oder ein Gast schlüpfte. Ein Kettenhund schob seinen eisernen Ring, hin und her rasend und heiser bellend, an einer dicken Stange herum. Auf dem oberen Rand einer Stalltür hockten Hühner. Unter schuppenartigen Überdachungen lagen alte Kisten, Gerümpel, Räder, Stangen, zerbrochene Karren, Gebunde Stroh und dergleichen umher, in ganzen Armeen leere Bier- und Weinflaschen. Es war einer jener schönen Augenblicke, da die Sonne nach einem herbstlichen Regen alles besonders köstlich blinken und aufleuchten macht. Paul Haake empfand das, als er nach einiger Zeit neben Wanda trat, um, die Hand auf ihren Scheitel gelegt, den Grund ihres Schweigens zu erfahren. Da hatte sie Tränen in den Augen. Und weil die Sonne auch diese Tropfen durchleuchtete, küßte er sie, unterm verliebten Gurren der Täuberiche, sanft von ihrem Antlitz hinweg.
„Du sollst nicht fortgehen!“ sagte sie trotzig und leise und stieß dabei mit dem Fuße auf.
Der Bildhauer nahm sie auf den Schoß.
„Höre mal, Wanda! Denke dich doch mal in das zurück, was gewesen ist! Wie glücklich sind wir beide gewesen! Du hast mir hundert und hundertmal dankbar die Hand geküßt, als ich dich in meinem Atelier erwärmt und gepflegt habe. Wie herrlich hat dir der Glühwein geschmeckt, Wanda! Den großen eisernen Ofen hast du immer die Brutmaschine genannt, weil seine Glut deine starren Glieder gleichsam bebrütete. Und wie hat ihm unser Faktotum, der Neumann, eingeheizt! Später hast du ein bißchen Modell gestanden, aber doch nur so lange, als du Lust hattest, länger nicht. Da warst du doch mein kleiner Götze, da habe ich dich doch angebetet. Es ging doch so gut, du sagtest ja selbst, es ginge doch alles so gut mit uns, du hättest dich nie im Leben so wohl gefühlt. Einmal trällertest du das Lied: Es kann ja nicht immer so bleiben, hier unter dem wechselnden Mond! Das machte mich unruhig. Aber da hast du mich geradezu ausgelacht. Ich wollte vor dem vierzigsten Jahre nicht heiraten: wir kamen so herrlich miteinander aus, daß ich anderen Sinnes wurde. Du hantiertest den ganzen Tag vergnüglich singend in unseren paar Räumen herum, unser Essen kochten wir miteinander, des Abends tranken wir unsern Wein. Dann kam das Glück mit dem Toberentz. Ich hatte den Brunnen fertigzumachen. Habe ich da nicht zuerst an dich gedacht? Habe ich dich nicht von oben bis unten neu ausgestattet? Du kostetest mich ein Riesengeld. Aber was sollte denn mir der Prast, wenn ich ihn nicht für meine Kleine ausgeben konnte?! Wanda, Mädel, wenn mein Geld gelangt hätte, ich hätte dir ganz Breslau, ganz Preußen, ganz Deutschland gekauft. Die Leute aus aller Herren Ländern, Künstler und Kaufleute, Juweliere, Seidenhändler und Pelzhändler und was weiß ich, hätten ihre Herrlichkeiten vor dir ausschütten müssen!“
Sie hinderte ihn durch Küsse am Weitersprechen.
„Meine Verhältnisse besserten sich. Wir sind bei deiner Mutter gewesen. Die alte Frau hat mich ein ums andere Mal als ihren Schwiegersohn umarmt und ans Herz gedrückt. Sie sagte, nun könne sie gerne sterben. Wir haben dann miteinander Kaffee getrunken. War das nicht schön? Haben wir nicht alle fortwährend Wasser in den Augen gehabt? Und dann hast du mich plötzlich heimlich verlassen. Es wäre mir lieber gewesen, Wanda, glaube es mir, wenn du mich mit einem schnellwirkenden, starken Gift abgetan hättest. So ließest du mich in einem Zustand, in dem ich nicht leben und nicht sterben konnte, zurück. Ich habe furchtbare Augenblicke, furchtbare Stunden, furchtbare Tage und geradezu höllische Nächte durchgemacht, unsägliche Leiden, kleine Wanda. Ich könnte dich fragen: warum hast du mir das getan? Warum bist du gerade auf diese und keine sanftere Art und Weise verfahren mit mir? Wanda, wir wollen das alles nicht aufrühren. Wanda, Geliebte, rette mich! Ich kann ohne dich nicht leben, Geliebte! Ich lebe nur von dem Gedanken an dich! Nur daß ich an dich denke, lindert mein Fieber, meine Schmerzen hier über dem Magen, den Brand des Stachels, den ich in mir stecken habe! Nur daß ich an dich denke, hebt ein wenig meine Mattigkeit, meine Abgeschlagenheit, das graue Elend, das mich hundertmal am Tage vergehen läßt, mir hundertmal am Tage speiübel macht. Oder da, da — mach ein Ende mit mir, Wanda!“ Er kramte nach etwas in den Taschen herum, und sie wußte von einem blanken Dolch im Futteral, den er in einem Antiquitätengeschäft gekauft hatte und immer bei sich trug.
„Nein,“ sagte sie, „nein! So mußt du nicht wieder anfangen, Paul.“
Der Liebende mochte eine Zeitlang geglaubt haben, er sei seinem Ziel, sie zu erweichen und wiederzugewinnen, näher gekommen. Nun wußte er, daß er sich getäuscht hatte. Es hatte geklopft, der Hausknecht kam, und Haake sagte: „Ja, bringen Sie meine Sachen auf den Omnibus!“ Und hernach, als der Hausknecht verschwunden war: „Nun ja, was noch? Laß es dir gut gehen, Wanda!“
„Nein,“ sagte sie wütend unter Tränen, „du wirst mich hier nicht wieder allein lassen!“
„Du läßt mich allein, ich lasse nicht dich allein! Glaubst du denn, daß ich hier den Pudel oder das Richardl oder den Grunz oder den Clown der ehrenwerten Familie Flunkert machen kann? Glaubst du, ich könnte ihrer Zigeunerwirtschaft auf Rädern wie ein Schakal nachlaufen und von den abgenagten Knochen leben, die ihre Mitglieder so gnädig sind, aus den Fenstern herauszupfeffern, oder dem Müllhaufen, den sie zurücklassen? Glaubst du, ich hätte in der Welt — Himmeldonnerwetter nochmal! — nichts anderes zu tun? Ich bin ein Künstler, ich bin ein Bildhauer! Ein großer Künstler, ein großer Bildhauer! Mein schlafender Knabe hat mich berühmt gemacht. Ich habe den Toberentz-Brunnen vollendet. Es ist bereits ein Gereiß’ um mich. Ich habe drei oder vier große Aufträge, die mich ebenso viele Jahre vollauf beschäftigen und die mich außerdem reich machen, Wanda, verstehst du mich? Dies alles werde ich in den Wind schlagen, meinst du — wie? — und dir und den Flunkertleuten nachlaufen, weil du eine ganz gemeine Dirne bist?“
„Habe ich dir je gesagt, Paul, ich wäre ein Engel?“
„Nein, das hast du mir nicht gesagt, das wäre auch eine verfluchte Lüge gewesen!“ Er schrie, er nahm keine Rücksicht mehr: „Ich kann hier nicht bleiben, ich muß nach Breslau! ich muß nach Paris! ich muß nach Rom! Ich habe Pläne und Absichten, die eines großen Künstlers würdig sind. Ich kann hier nicht im Kote ersticken!“
Da flog sie ihm jäh um den Hals und beschwor den Sturm seiner Heftigkeit, indem sie: „Paul, ich komme ja mit dir! ich komme ja mit dir!“ gleichsam in das eine seiner Ohren blies. Bald beugte er sich zum Fenster hinaus, um sein Gepäck zunächst noch einmal aus dem Omnibus herausnehmen zu lassen. Der Hausknecht brachte es wieder herauf.
Jetzt entwickelte Wanda einen Plan, den sie zu ihrer Befreiung entworfen hatte. Haake, der seine Heftigkeit nicht ohne Absicht gespielt hatte, von dem Nutzen des Schachzuges überzeugt, nahm, was sie sagte, in der Rolle des Inquisitors entgegen, um seinen Vorteil nicht wieder einzubüßen. Bald aber stieg er vom Richtersessel herab, weil eine Beichte, ein Bekenntnis, ein Geständnis größter Körper- und Seelenleiden ihn alle Strenge vergessen machte.
Nein, das hatte denn doch der Bildhauer nicht geahnt, was dieser Flunkert für ein abgefeimter, verruchter Geselle war. Es gab kein Verbrechen gegen die Sitte zum Beispiel, das ihm nicht von seiner nächsten Umgebung nachzuweisen gewesen wäre. Ihm zehn Jahre Zuchthaus einzubrocken, war eine Kleinigkeit. „Rette mich! rette mich von dieser Bestie!“ rief sie aus. „Paul, wenn ich dir sagen wollte, was er mit der Peitsche in der Hand von mir verlangt, du würdest an den Wänden hinaufgehen! Er schickt mich zu einem Freiherrn von Giersdorff auf die Jagdhütte. Ich weigere mich. Der Mann hat ihm Geld bezahlt. Ich schreie: Ich bin kein Tier! Ich lasse mich nicht verkaufen! Ich bin nicht gegangen, natürlich nicht. Aber ich werde doch schließlich hinmüssen, wenn du mich nicht mit dir nimmst! Und nun erst seine schwangere Frau: in den Topf mit Suppe aus Hundekuchen, oder was es ist, den wir hinunterwürgen müssen, wenn wir nicht verhungern wollen, hat sie mir neulich ein Pulver geschabt, davon bin ich drei Tage krank gewesen. Ich fühlte, wie alle Glieder abstarben, und habe über vierzig Grad Fieber gehabt. Sie stellen mir nach, sie wollen mich umbringen. Ich habe das Geld an Mutti geschickt, das du mir neulich gegeben hast. Jetzt behauptet der Mensch, ich sei ihm sechshundert Mark schuldig. Es stehe alles zu Buch, sagt der Mensch. Schuhe, Wäsche, Trikots für mein Auftreten, Doktor, Wohnung, Kost und so fort, Steuer, Bahnbilletts und dergleichen. Lehrgeld: ich sei eine Anfängerin. Was er mir zahle, sei Taschengeld. Er gibt mir nicht einen Pfennig Gehalt. Gegen sechstausend Mark, Paul, will er mich loslassen...“
„Nein! Keinen Pfennig, sondern der Staatsanwalt!“
Da mußte sie ihm ein Bekenntnis machen. Es war ohne weiteres einleuchtend, daß danach der Staatsanwalt unter allen Umständen zu vermeiden war. Am Schlusse war alles dahin gediehen, daß Wanda nach einem Liebestribut, den sie Haake unzweideutig gezollt hatte, mit etwa sechshundert Mark davonschlüpfte.
Nach mehreren Wochen war Paul Haake immer noch nicht nach Breslau zurückgekehrt und immer noch an den Zirkus gefesselt. Er hatte sich mit dem Baron Dagobert von Römerscheid befreundet, der gemeinsam mit ihm hinter der kleinen Gauklerbande her- oder ihr vorausreiste. Der Bildhauer glaubte, sich überzeugen zu müssen, daß der Baron es nicht verschmähe, sich von der Witwe Flunkert durch heimlich zugesteckte Summen unterhalten zu lassen.
Haake kämpfte vergeblich gegen eine gewisse Lethargie, die ihn besonders lähmend befiel, wenn er den Gedanken der alleinigen Abreise neuerdings aufnehmen wollte. Was die Befreiung Wandas betraf, so schien sie ja immer in nächste Nähe gerückt; aber zuletzt gab es stets noch etwas, dessen Regelung abgewartet werden mußte. Im Reden über Flunkert junior, seine mit Rattengift angeblich so vertraute Frau, ja über sich selbst hatte sich Wanda wohl dessen schuldig gemacht, was in dem Namen der Vagantenfamilie lag, und hatte wahrscheinlich stark geflunkert. Üble Nachrede, oberflächlich dahergeplappert, war ja von jeher eine Unart von ihr. Es entging ihr vielleicht sogar, daß die Nachrede übel war, da sie ja selbst für Sittlichkeit keinen Sinn hatte. Und schließlich: kehre jeder vor seiner Tür! Dies war ein kategorischer Imperativ, welchen Paul Haakes Vater bereits ihn gelehrt hatte. Die mildere Denkart des Bildhauers hatte mit dem Gespräch, das die Direktorin ihm gewährte, ihren Anfang genommen, hatte sich im Verkehr mit ihrem Sohne verstärkt und war in neuerlichen Begegnungen zu einem beinahe freundschaftlichen Umgangston verdichtet worden.
Dem Verkehr Wandas mit dem Bildhauer legte Flunkert nichts in den Weg. Er hatte auch nichts dagegen, wenn Haake zum Range eines erklärten Bräutigams seiner Drahtseilkünstlerin aufrückte. Er wußte den Bräutigam allmählich auch von den guten und besten Absichten halb und halb zu überzeugen, die er für Wanda hege, einen Racker, den man, wenn er nicht Dummheiten machen solle, zum Arbeiten anhalten müsse. Nun war vielleicht Balduin wirklich, wie der Baron behauptet hatte und immer wieder behauptete, eine Zuhälternatur. Aber bei diesen Leuten war das nichts Ungewöhnliches. Das mußte natürlich auch der Baron zugeben, der sich übrigens ohne jeden Adelsstolz gegen Haake betrug und es gern huldvollst geschehen ließ, wenn dieser ihn wieder und wieder regalierte. Er wußte viel, auch sogar aus dem Leben der fahrenden Leute, und Gespräche mit ihm waren selten langweilig. Die Welt der Landstraße war ja, da Haake eine Wanderburschenzeit hinter sich hatte, auch ihm nicht fremd. Aber der andere war weiter und kühner gereist, und wo der eine schließlich nur Erfahrungen sammelte, hatte er fast unglaubliche Dinge erlebt.
„Natürlich wäre es ganz verkehrt,“ sagte eines Abends der Baron beim Wein, „wenn man annehmen wollte, daß einem Kunstreiter, selbst so niedrigen Ranges wie Balduin, jede menschliche Regung fernläge. Es mag wohl sein,“ fuhr er fort, „er hat Ihre übrigens sehr leichtsinnig auf das Spiel gesetzten fünftausend Mark abgelehnt, weil er, wenn er Wanda so lange wie möglich behält, die wirklich allmählich besser arbeitet, nicht nur für sich, sondern auch für sie den größten Vorteil sieht. Es ist auch möglich, er hat das neulich von Ihnen an Wanda gezahlte Honorar zum größeren Teil, wenn nicht ganz, für das Mädchen sicher angelegt.“
„Was meinen Sie für ein Honorar?“ fragte Haake.
„Nun Gott, ganz einfach: das Honorar. Sie würdigten mich ja doch, Herr Professor, einer vertraulichen Mitteilung. Niemand kann das doch anders auffassen!“
Der Jähzorn stieg in Haake empor.
„Bitte, reden Sie nicht von Honorar! Es soll hier niemand von Honorar reden. Es handelt sich hier um meine Braut. Es handelt sich hier um ein Mädchen, mit dem ich mein Leben auf immer verbinden werde und das sich mit mir auf Lebenszeit verbinden wird. Der Zweck der Summe war ein ganz anderer. Sie will sich frei machen, und so müssen Vorschüsse aller Art beglichen werden. Das sind ja die Schlingen, mit denen solche Sklavenhalter hauptsächlich arbeiten. So steht die Sache, das merken sie sich!“
„Nichts für ungut, nein, Gott bewahre, Herr Haake! Ich gebe zu, daß der Ausdruck verfehlt ist. Schenken Sie mir eine Zigarette! Ich wollte sagen ... was war es doch?... ich will die Sache zu Ende bringen. Ich hoffe, Herr Haake, es wird Sie nicht wieder aufregen, wenn ich an der Meinung festhalte, daß der Lange“ — so nannten die Zirkusleute Flunkert — „Ihre Braut so lange wie möglich ausnützen will. Dabei braucht er auf irgendein Taschengeld, das sie sich macht, nicht zurückzugreifen. Eine Provison, das wird alles sein. Es ist ja allmählich nicht mehr zu verheimlichen: die kleine Lausemanege hat augenblicklich in Wanda ihre größte Attraktion. Neulich wollte sie ja schon, wie mir die gnädige Frau verwitwete Flunkert im Vertrauen mitteilte, ein Agent von Renz den Flunkerts abhandeln.“
„Auch bei mir,“ sagte Haake, „war der Agent. Ich habe ihn höllisch ablaufen lassen!“
„Warum haben Sie ihn denn ablaufen lassen? Meinen Sie nicht, daß Ihre Geliebte bei Renz in Berlin ganz andere Gagen erreichen und ganz anders vorwärtskommen kann?“
„Ich wünsche nicht, daß sie beim Zirkus bleibt! Ich wünsche nicht, daß sie sich tiefer in dieses Artistendasein verwickelt, sondern daß sie sich herauswickelt!“
„Sagen Sie: der Agent, war das der junge, hübsche Mensch, der vor einigen Tagen an Ihrem Tische saß, auf dem Sie eine ganze Anzahl leerer Pullen stehen hatten, und der schließlich so viele Taktlosigkeiten gegen Sie beging, bis ihn ein Faustschlag von Ihnen mitten ins Gesicht wie ein Stück Holz vom Stuhle warf?“
Dieser Vorfall, der sich tatsächlich zugetragen hatte, zeigte, bis zu welchem Grade sich Haake bereits wiederum gelegentlich gehen ließ, und gab Anlaß zu schlimmen Befürchtungen.
Etwa zwei Tage nach Haakes Gewalttätigkeit trat etwas ein, worauf er mit einer ähnlichen Inbrunst wie die leidende Menschheit auf die Geburt eines Heilandes gewartet hatte. Frau Flunkert junior war endlich mit einem Knäblein niedergekommen. Auf die veränderte Lage, die mit diesem Ereignis gegeben sei, hatte der Zirkusdirektor immer wieder den Künstler vertröstet, weil ja dann seine behinderte Gattin Elsa als Gaila, die Tochter der Luft, das Drahtseil besteigen und ihre Arbeit wieder aufnehmen könne.
Das Ereignis verlief programmgemäß. Eine Zeitlang war der Wagen der zweiten Flunkertgeneration Gegenstand allgemeiner Sorge und Aufmerksamkeit. Mehrere alte Frauen sah man beständig hinein- und herauskriechen, sogar der Landarzt hatte darin zu tun. Ein neuer Laut drang zum Fenster heraus, der die Bulldogge Grunz total verrückt machte, so daß sie anfallsweise mehrmals wie toll um den Wagen herumrabatzte. Aber auch Richardl, die übrigen Pferde und die beiden Milchziegen, die man mitführte, schienen das Außergewöhnliche zu spüren, das die Gesellschaft, zu der sie gehörten, betroffen hatte. Immer wieder mußte die Hebamme eine Ziege oder eine Ziege die Hebamme von der Wagenstiege fortstoßen.
Flunkert junior markierte familienväterliche Glückseligkeit. Er ließ sich schmunzelnd von Paul Haake die Hand schütteln, der es, in anderer Weise festlich berührt, ebenfalls nicht lassen konnte, um die fahrende Wohnung herumzuschleichen, in der das Mysterium vonstatten gegangen war.
Acht Tage später bereits war in der protestantischen Kirche des Ortes die Taufe angesagt. Die Familie Flunkert hielt darauf, daß in kirchlichen Dingen nichts versäumt wurde; ging doch Flunkert junior, wenn eine Kirche erreichbar war, am Sonntagmorgen regelmäßig zum Gottesdienst.
Wie scheinbar innig das Verhältnis der Flunkerts zu dem Bräutigam Wandas geworden war, konnte man aus dem Umstand entnehmen, daß er gebeten wurde, bei dem Täufling Gevatter zu stehn. Er schätzte sich glücklich, schon weil seine Stimmung die allerbeste war, dieser Auszeichnung gewürdigt zu sein, nahm sie an und fuhr sogleich mit Wanda nach dem nahen Berlin, um das Patengeschenk für sein Patchen zu kaufen. Als beide am nächsten Mittag zurückkehrten, konnte man unschwer erkennen, daß Wanda ganz gewiß den zehnfachen Wert des Patengeschenkes in einem neugekauften Hut, Mantel und Sonnenschirm, einer neuen Armbanduhr und dergleichen am Leibe trug.
Zum Taufdiner nach dem kirchlichen Akt hatte der Bildhauer in ein Haus eingeladen, das erst vor kurzem aus einer verwahrlosten Villa in einen Gasthof umgewandelt worden war. Das Gebäude hatte länger als ein halbes Jahrzehnt unbewohnt gestanden und war verrufen, weil man vor dieser Zeit ein Hehlernest und eine Falschmünzerwerkstatt darin entdeckt hatte. Es war eben schon die Peripherie der Riesenstadt, die man zu spüren bekam.
Die Räume des Hauses und so sein Besitzer waren für einen Gasthof sehr fremdartig. Der Wirt glich in seinen Schaftstiefeln einem verabschiedeten Kavallerieoffizier, der eine tückische Hoffart, verbunden mit Roheit, unter den vergeblichen Versuchen zur Katzenfreundlichkeit nicht verbergen konnte. Es mochten die Eigenschaften sein, die ihn seine Karriere gekostet hatten. In der Erniedrigung, zu der er verurteilt war, wirkte er abstoßend. Haake gestand sich, trotzdem der seltsame Gastwirt es im Reden und Tun durchaus nur mit den feudalen Kreisen hielt, daß er durch ihn, der diese Falschmünzerhöhle in den besten Gasthof des Ortes umzuwandeln versuchte, mehr an die Kreise dieser Hehler und Falschmünzer erinnert wurde.
Der Raum, in dem das Taufessen abgehalten wurde, verleugnete mit seinen feuchten Wänden, mulmigen Dielen und dürftig angehängten Fenstervorhängen ebensowenig das einst verrufene Gespensterhaus. Denn daß in solchen Gebäuden Gespenster umgehen, ist selbstverständlich.
Das Hauspersonal des Wirtes, der mit Vornamen Botho hieß und hinter diesem einen märkischen Adelsnamen trug, aber ohne das Wörtchen von, bestand aus einem alten Weib, das er irgendwo aufgelesen und, gegen den dürftigsten Bissen täglichen Brotes, bei sich schuften ließ. Er war unbeweibt, hatte nur einen kränkelnden, vierzehn Jahre alten, zurückgebliebenen Sohn, der seine Schwächlichkeit den Hungerkuren verdankte, die er fortgesetzt zu erdulden hatte. Der Vater zog Helmut, so nach dem großen Moltke genannt, zur Bedienung der Gäste heran. Man kann nicht sagen, daß er deshalb überbürdet gewesen sei; denn Gäste trafen sehr spärlich ein, fast immer nur dann, wenn sie sich hierher verirrt hatten, wie denn das Ganze nur allzu deutlich die Züge eines totgeborenen Unternehmens trug. Ein Gast wie der Professor Haake, der im Hause wohnen blieb, stand in der Chronik des Hauses allein. Und ebenso eine Gesellschaft von elf Personen, wie sie sich gegen Mittag um die bereitgestellte Tafel gruppierte. Den Pastor als zwölften an der Tafel zu haben, war der Versuch gemacht worden, aber fehlgeschlagen.
Die Mutter des Täuflings hatte Paul Haake zur rechten Seite. Ihm zur Linken saß Wanda, die einen Berliner Gast, einen Clown, Tom Billing, zum Tischherrn hatte. Dieser hatte ein buckliges, älteres Dämchen mitgebracht, eine Schwester der Witwe Flunkert, die einen ausgedienten Stallmeister bei Renz zum Manne hatte und in der Buchhaltung dieses Zirkus Verwendung fand. Sie wurde von Flunkert junior zu Tisch geführt. Der geprügelte Baron saß, zu Gnaden angenommen, zur Linken der Direktorin. Die Mißhelligkeiten waren, jedenfalls für den Augenblick, ausgeglichen. Zwischen diese Paare waren der Generalmusikdirektor der kleinen Wandertruppe, Maskos, der Mann für alles, Pudelko, und der siebenjährige kleine Firmian eingeschoben. Er betrank sich vor Ablauf der ersten halben Stunde bis zur Besinnungslosigkeit und mußte in einem Zimmer der Falschmünzervilla zu Bett gebracht werden, ein Vorfall, welcher der anfänglich etwas stockenden Geselligkeit einen erwünschten Anstoß gab. Tom, ein alter Kollege und sibirischer Wandergenosse der Direktorin, eine berühmte Nummer in Berlin, hatte sich allerdings schon beim Eintritt bemüht, durch allerhand Späße Leben in die Bude zu bringen. Aber erst jetzt gelang es ihm durch ein Frage- und Antwortspiel, das er, ehe er ihn forttrug, mit dem benebelten Jungen anstellte. Das Essen war, wie zu erwarten: nämlich eine schlechte Hausmannskost. Jedes Gericht, das von dem feudalistisch lackierten Wirt und seinem Sohne aufgetragen wurde, mußte sich die witzigsten Glossierungen von Tom gefallen lassen. „Mein liebes Gulasch, wo habe ich Sie zuletzt gesehen? Wahrhaftig, Sie sind wieder jung geworden! Nur durch einen Zufall, sonst hätte ich Sie stundenlang kauen können, habe ich Sie wiedererkannt. Wie haben Sie es möglich gemacht, sich vor Hunden, Katzen und Ratten zu retten? Was hat Sie überhaupt dermaßen wacker auf die Beine gestellt?“ Die tödlichen Blicke des falschen Feudalaristokraten schienen Tom keinen Eindruck zu machen. Ein Glück, daß nicht der unbezahlte Giftkellner des Falschmünzerhotels auch den Wein stellte. Paul Haake hatte einen guten deutschen Schaumwein eingekauft und sich mit Herrn Botho auf Pfropfengeld geeinigt.
„Liegen eigentlich Ihre Güter in der Mark oder in Pommern, Herr Rittergutsbesitzer?“ fragte Tom Billing mit der Miene der Selbstverständlichkeit.
„Wo meine Güter gelegen haben, geht Sie nichts an!“ gab Botho zur Antwort und trat mit dem Absatz seines Schaftstiefels ein hörbares Loch in eine morsche Stelle des Fußbodens. „Ich stünde nicht hier, wenn mich nicht ein verdammter Jude darum betrogen hätte!“
„Ich bin kein Jude,“ sagte Tom Billing und zündete, mit Erlaubnis Wandas, gleichmütig eine Zigarette an.
Zwischen Flunkert junior und Tom Billing bestand ein erheblicher Unterschied, nicht nur in der Kleidung — Flunkert trug einen würdigen Bratenrock, den vielleicht schon sein Vater von irgendeinem Dorfschneider hatte bauen lassen, der Cutaway des Clowns war in London gemacht —, sondern der Unterschied lag auch im Bau der Köpfe und war der zwischen einem gebildeten und einem ungebildeten Geist. Den verfeinerten und beweglichen Zügen des bartlosen Clowns stand die harte, sommersprossige Rothaarigkeit Balduins gegenüber, der ein in zwei Rattenschwänzen nach oben gedrehtes Schnurrbärtchen trug und eine Fliege unter der Lippe. Der glänzende Turner am Trapez konnte sich hier am Tisch nur mit unbeholfenen Bewegungen und einem befangenen, linkischen Betragen forthelfen. Mehrmals stieß ihn die Witwe Flunkert an und machte ihm seines Stillschweigens wegen Vorwürfe. Sie erreichte nichts weiter als eine kurze, knurrende Ablehnung. Seine leeren, wasserhellen Augen irrten hilflos herum und waren der Ausdruck einer Verlegenheit, die durch die Art des Gespräches, das zwischen Billing, Haake, Maskos und der buckligen Schwester der Witwe ging, verursacht war: es wurde auf einer Ebene geführt, zu der seine geistige Kraft nicht hinaufreichte.
An Wissen, an Erfahrung, an Geist, von der Summe seiner hier nicht zutage tretenden Talente ganz abgesehen, überragte Tom Billing sämtliche Taufgäste. Da er sich selbst nicht langweilen wollte und in Haake sowohl als dem kleinen, runden Musiker Maskos zwei Hörer sah, um deretwillen das Sprechen sich lohnte, ließ er sich gründlich die Zügel schießen. Natürlich renommierte er auch; aber keine Rede davon, daß er darum gelogen oder nur aufgeschnitten hätte.
„Für wie alt halten Sie mich?“ fragte er. Der Bildhauer riet auf dreißig Jahre. — „Ich habe die Fünfzig überschritten. In Europa, inbegriffen England und Spanien, kenne ich jede größere Stadt. Dabei aber auch zahllose kleine Dörfer und Marktflecken. In Rußland bin ich jahrelang gereist. Im Wohnwagen machten wir das asiatische Rußland und, ohne daß ich je verbannt wurde, Sibirien unsicher. Ich habe den sibirischen Bauern und den Gefangenen dieselben Kunststücke gezeigt, mit denen ich in London, Madrid, Paris und Berlin Aufsehen machte. Ich spreche elf Sprachen wie meine Muttersprache, meine Herrschaften, trotzdem ich ein bloßer Spaßmacher bin. Nun werden Sie sagen, ich triebe den Spaß zu weit, wenn ich Ihnen erkläre, daß ich meine Verwandten nicht nur unter europäischen Zirkusfamilien, sondern auch in russischen Fürstenhäusern sitzen habe und daß eine meiner Schwestern Fürstin Dolgoruki ist.“
„Das ist gar nichts. Mein Bruder ist augenblicklich König von Polen!“ sagte der Wirt.
„Oh, Sie brauchen nicht zu denken, daß ich aufschneide. Wichtig machen will ich mich deshalb nicht. Ich bin stolz darauf, daß ich, wie mein heutiges Patenkind, im Wohnwagen auf der Landstraße das Licht der Welt erblickt habe.“
Noch eine gute Weile zögerte der Augenblick, an dem die Tonart Balduins und seines getreuen Hundes Pudelko sich durchsetzen konnte. Den kleinen Toast auf den Täufling hielt der Bildhauer und Gastgeber, der sich durch Maskos und vor allem Tom Billing mit der größten Zuvorkommenheit und Achtung behandelt sah. Seine Gegenwart legte nahe, das Artistenwesen herauszustreichen, um ein volles Verständnis dafür zu erwecken.
„Ich stehe nicht an, zu erklären,“ sagte der quäkige, kleine Zirkusmusikus mit einem um Erlaubnis bittenden Blick an die Direktorin, „ich stehe nicht an, zu erklären: die Hochleistungen in der Manege sind das Gediegenste, Wunderbarste und Genialste, was menschlicher Fleiß, menschlicher Mut und der menschliche Körper erreichen können. Höheres hat Arbeit auf keinem Gebiete geleistet. Dieses Gebiet ist vielleicht das höchste, klassischste, weil natürlichste menschliche Bildungsgebiet!“ — Er quäkte weiter und lächelte breit: „Ich weiß nicht, warum man es eigentlich so verachtet. Ich sehe außer der menschlichen Stupidität keinen Grund dafür. Bei keiner Kunst, die ja bekanntlich vom Können kommt, kann so wenig gemogelt werden. Als Pianist in Wien habe ich angefangen. Greife ich fehl, nun, so fallen eben ein Dutzend Noten unters Klavier. Greift aber zum Beispiel Herr Flunkert auf dem Trapez fehl, so fällt er selber unters Klavier, und das heißt eben weiter nichts als den Hals brechen.“
Obgleich dies nun eigentlich keine Herausforderung des Götterneides war, klopfte die ganze Gesellschaft mit Kniebeln gegen die Tischplatte. Flunkert indessen stand geschmeichelt auf, reckte sich hoch, riß die Schultern zurück und machte mit beiden Armen seitlich jene Bewegungen, welche seine kraftstrotzende Muskulatur gezeigt haben würden, wenn die Rockärmel es nicht verhindert hätten. Die Wirkung dieses ersten Hervortretens seiner Person war einstweilen nur ein kleines Schweigen der Betretenheit, worauf Maskos sein Quäken fortsetzte:
„Hier ist Tom Billing, der berühmte Künstler und Mann, der unübertroffene Meister auf allen Gebieten: Kunstreiter, Drahtseilkünstler, Jongleur, der sogar Meister ist auf meinem Gebiet, der Musik, und zwar als ein herrlicher ernster Violinvirtuos ...“
„Ah, soo! Tom Billing sind Sie, Tom Billing sind Sie?“ sagte plötzlich der Wirt mit großen Augen.
Tom aber wollte durchaus nur zuhören und legte, immer nur Maskos anblickend, erst die Handflächen vielsagend auf den eigenen Mund und streckte sie dann in die Richtung des Wirtes, wie wenn er sie auch auf dessen Mund legen wollte: „Lassen Sie sich im Lobe Tom Billings nicht stören, Herr Maskos!“
„Gewiß nicht! Das kann auch kein Mensch in der Welt. Ich habe genug von der Welt gesehen, um zu wissen, welche Impotenz hinter den meisten glänzenden Außenseiten verborgen ist. Aber das macht es ja nicht, das ist ja gleichgültig. Wenn ich bedenke, was ein Mann wie Sie, Tom Billing, geleistet hat und zu leisten imstande ist“ — Tom Billing warf ein Glas in die Luft, es stand sogleich fest wie ein Denkmal auf seinem Kopf! —, „und zu leisten imstande ist...“ — nicht sogleich flaute das Gelächter ab —, „und zu leisten imstande ist, so zögere ich nicht einen Augenblick, ihn unter die größten Männer des Jahrhunderts einzureihen!“
„Well,“ sagte Tom, „that’s the right moment. Well, well!“ — Damit griff er unter den Tisch und stellte eine Blechbüchse, enthaltend zwei Pfund Kaviar, mitten auf die Tafel.
Nachdem die Freude über die höchst willkommene Aufbesserung des Taufmahles, dessen spottschlechte Qualität nur durch die lauten und leisen Humore der Gesellschaft verdaulich gemacht wurde, abgeklungen war, ergriff Haake das Wort.
„Ich habe mir das Meine,“ sagte er, „in dieser Beziehung auch gedacht. Es handelt sich bei den Künsten der Manege um etwas, das drei Jahrtausende lang und länger in der Entwicklung der Menschheit nachzuweisen ist. Es handelt sich da um ein Gildentum, das sich nun schon über anderthalbtausend Jahre, verfolgt, gehetzt, verachtet, unter dem kirchlichen und gesellschaftlichen Banne, in Armut, Elend und Entbehrungen aller Art fortschleppen und so sein Leben mühselig fortfristen mußte. Und was ist das Resultat aller dieser unsagbar schwierigen Umstände? Leistung auf Leistung steigender, bewunderungswürdigster Art, welche Leute aller Stände immer wieder dazu zwingt, Maul und Nase aufzusperren. Die körperliche Leistung des Artisten beginnt gleichsam auf dem Gebiete der Unmöglichkeit...“
„Auch richtig, richtig, Sie sind ja der Dumme August von Renz!“ erinnerte sich wiederum laut und vollkommen ungeniert der Wirt mit den Schaftstiefeln, der sich merkbar, wenn auch im Nebenzimmer, am Sekt beteiligt hatte. Man achtete seiner weiter nicht.
„Die körperliche Leistung des Artisten beginnt gleichsam auf dem Gebiete der Unmöglichkeit,“ wiederholte Maskos. „Ich habe Ihnen seit Jahren in verschiedenen Städten zugehört und zugesehen. Wenn Sie den Dummen August spielen, so ist der Fall gerade umgekehrt, als wenn Stalljungen ihren Baron oder Grafen nachmachen wollen. Sie stellen sich dumm, und der Junge ist wirklich dumm. Sie, ohne den Mantel der Bescheidenheit zu zerreißen, zeigen sich nach und nach als einer, der an Klugheit, körperlicher Leistungsfähigkeit, Kunstvermögen, genialen Fähigkeiten jedem Baron überlegen ist, nachdem Sie vorher den Dummkopf gespielt haben, der jedermann im Wege ist und dem sich alle Welt glaubt überlegen dünken zu dürfen. Aber was wollte ich sagen: die körperliche Leistung des Artisten beginnt auf dem Gebiete des Unmöglichen, zum Beispiel Ihre Geigenclownnummer, Herr Billing. Sie sind ein Mann, von dem ich die Chaconne von Bach jederzeit mit Meisterschaft gespielt hören kann. Jedes erste Orchester würde stolz sein, Sie als Konzertmeister zu gewinnen. Sie sind Komponist, wenigstens wenn Sie Ihre Geige im Arme haben. Da locken Sie ihr Leistungen ab, merkwürdige Tonnuancen, wie ich sie mir bei Paganini denke. Ähnlicher Art war vielleicht bei ihm die Wirkung, die niemand recht definieren konnte und von der man sagt, daß sie dämonisch gewesen sei. In Ihrer Behandlung der Geige liegt Dämonie. Wenn Sie auf Ihrer e-Saite den krähenden Hahn imitieren, so scheint es jener zu sein, der bekanntlich dreimal krähte, während Petrus den Herrn und Heiland dreimal verleugnete. Es scheint jener biblische Hahn zu sein, der als dämonisches Tier hier und da an den gotischen Kirchen figuriert. Der ganze Zirkus mit zwei- bis dreitausend Menschen tobt wie ein Lachorkan, wenn Sie die gewaltige Stimme des Esels auf Ihrem himmlischen Guarnerius nachmachen. Aber es ist ebenfalls ein dämonischer Esel, etwa der Esel Bileams. Manchmal ist mir, als ob solche unerlösten, wehevollen Tierschreie auch durch Chopinsche Musik hörbar werden. Ich hörte einmal von Ihnen bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung das Violinkonzert von Beethoven. Die Anregung gab, sagt Schindler, dem großen Meister Shakespeares Sommernachtstraum. Sie gaben der Rüpelseite den ganzen derben Eselshumor und der Elfenseite überirdische Zartheiten. Ihre Tonfäden waren tauglitzernde Spinnefäden, in denen die Sonne funkelte, und Titania ruhte auf ihnen und ließ sich von Blumengeistern umtanzen. Und Ihre Pausen! Ihre Pausen, Herr Billing! Das waren durchaus keine toten Stellen. Ihre Pausen waren der schweigende Wald. Manchmal schien das Schweigen erwartungsvoll, immer unendlich vieles verbergend, immer unendlich vieles ahnen lassend und in Schweigen hüllend. Und der Wald, ein heiliger, ewiger überirdischer Wald, ward zur Gegenwart mit der unergründlichen Tiefe seiner Mysterien!“
Maskos schwieg. Die Direktorin hatte ihm unter dem Tisch auf den Fuß getreten, weil Flunkert junior das letztemal schon ganz hörbar gegähnt hatte, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Das Manöver wurde auch von Tom Billing und Pudelko bemerkt, und dieser glaubte den Augenblick gekommen, um die Unterhaltung in andere Bahnen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er brachte auf künstlichem Wege ein fürchterliches Geräusch hervor, was jede einigermaßen gute Gesellschaft streng verbietet.
Das Entsetzen war allgemein, das Lachen aber nachher um so befreiender, als Pudelko den Nachweis zu führen in der Lage war, daß nur ein Stuhlbein aus Versehen dieses Geräusch erzeugt hatte.
Der Bildhauer hatte mit Vergnügen die ritterliche Art bemerkt, mit der Tom Billing seine kleine Wanda betreute. Er füllte ihr Glas, er legte ihr vor und sorgte dafür mit der Weltgewandtheit eines Gentleman, daß sie sich nicht einen Augenblick langweilte. Die kleine Mignon sah reizend aus, wurde aber von Tom scheinbar nicht für mehr genommen als ein Schulmädchen. Sie war natürlich entzückt von ihm. Sie möge ihn in Berlin besuchen, er werde ihr einige Tricks auf dem Drahtseil zeigen, sagte er. Sie seien sehr leicht, er schenke sie ihr, sie werde großen Erfolg damit haben.
Weniger zufrieden als Paul Haake war Balduin mit dem Anteil, den Billing an der Kleinen nahm. Er zeigte Verstimmung und schoß hin und wieder boshafte Blicke. Seine Mutter sowohl als die eben erstandene Wöchnerin sahen mit Sorge, daß sich drohendes Gewölk auf seiner niedrigen Stirn zusammenzog. Sie versuchten es immer aufs neue, ihn aufzuheitern. Ein breites Grinsen im Gesicht des Musikers Maskos verriet, daß er über das, was die Frauen ängstete, viel eher eine hämische Freude empfand. Als nun die Einladung Toms, nach Berlin zu kommen, an Wanda ergangen war, rollte Flunkert mit beiden Händen einen Blechlöffel, als wenn er von Wachs wäre, und drückte ihn dann zu einem Klumpen mit der rechten Hand.
„Wenn ich will, wird sie nach Berlin fahren, wenn ich nicht will, bleibt sie hier!“
Das war ein Wort, welches drei Menschen starr und zwei davon erblassen machte. Am tiefsten erblaßte Elsa, die Mutter des Taufkindes, Paul erblaßte nicht ganz so sehr, Tom Billings kurze Erstarrung wurde sogleich von einem Ausbruch seiner überlegenen Heiterkeit weggefegt.
„Aber natürlich,“ sagte er, „ein klein klein Mädchen fragt doch Papa, wenn es eine so große Reise unternehmen will. Und Sie sind doch ihr Chef, mein lieber Flunkert!“
Die eben erstandene Wöchnerin, die nach dem Ereignis ihre Nerven noch nicht ganz in der Hand hatte, stopfte das Taschentuch in den Mund, konnte aber doch nicht verhindern, daß sie plötzlich mit unterdrücktem Schluchzen fragte, was denn eigentlich ihr Gatte dawider haben könne, wenn Wanda Herrn Billing besuchen ginge.
„Und ich möchte fragen,“ mischte sich plötzlich der Bildhauer ein, „wer darüber einzig und allein zu bestimmen hat.“
„Das habe nur ich! Nur ich ganz allein!“ sagte, indem sie Tom Billing anblickte, Wanda.
Tom lachte auf: „Es gibt also hier drei verschiedene Ansichten!“
Die Direktorin sagte mit einer Spitze gegen den Bildhauer: „Es ist Auffassungssache, wer in dieser Frage zuständig ist.“
„Wer es wissen will: ich allein bin zuständig! Und ich gebe nicht zu...!“ Diese Worte hatte Flunkert gesagt und durch einen Schlag mit der Faust auf den Tisch abgebrochen. Paul Haake war noch im Zustande der Versteinerung, als Elsa, die zeitweilig behinderte und nun wieder nahezu hergestellte Gattin des Direktors und Drahtseilkünstlerin, sich erhob und nichts weiter zu ihrem Manne als: „Du! du! du...!“ sagte. Nun fand der Bildhauer diese Worte: „Ich erlaube es meiner Braut, Herrn Tom Billing zu besuchen! Ich, der Bräutigam!“ — Jetzt erhob sich Flunkert und sagte nichts weiter zu dem, der gesprochen hatte, als: „Sie! Sie! Sie...! — Noch was?! — Sie...!“
„Allerdings ja, ich!“ erhielt er zur Antwort und erkannte im gleichen Augenblick, wie sich auf der Stirn des heutigen allgemeinen Gastgebers etwas Verhängnisvolles ansammelte. Ein gewisser gefährlicher Mechanismus, bei lange zurückliegenden Schlägereien, Messerstechereien und noch schlimmeren Gelegenheiten ausgeübt, drohte mit einer Wiedergeburt. Da fiel ein Stuhl — die Mutter des Täuflings war aus dem Zimmer verschwunden.
Natürlich folgte ihr sofort die Direktorin, ebenso die bucklige Schwester. Auch die kleine Wanda schloß sich an. Und nun gelang es Tom Billing und Pudelko, unter den Zurückbleibenden die Gemütlichkeit wiederherzustellen. Man füllte die Gläser, und Flunkert, Haake und Billing stießen, nachdem sie sich die Hände geschüttelt, versöhnt miteinander an.
Dann entfernten sich auch die Herren für einen Augenblick, wie es die Damen getan hatten, und erschienen erst wieder, als diese bereits gefaßt, mit getrockneten Tränen, ja heiter ihre Plätze wieder eingenommen hatten, worauf das Taufgelage seinen Fortgang nahm.
Man hatte sich gegen zwölf Uhr zu Tisch gesetzt. Fünf Stunden später dachte noch niemand daran, auch nur eine Pause im Trinken eintreten zu lassen. Der kleine, übrigens äußerst kurze Zwischenfall war ohne Wiederholung geblieben, und Flunkert, der nun gesprächig geworden war und sich ungehindert gehen lassen durfte, ohne daß irgendwer seinem Gelaber zuhörte, befand sich in einem Zustand hoher Selbstzufriedenheit. Es fehlte an Wein. Der feudale Botho hatte die Gesellschaft allein gelassen. Man rührte die Klingel. Man schrie: Wirt! Wirtschaft! und so fort, als man plötzlich aus den Kellerräumen des Hauses ein Gebrüll vernahm, das allen auf seltsame Weise in die Glieder fuhr, als würde da irgend jemand erdrosselt oder sonstwie vom Leben zum Tode gebracht.
Gleichsam mit einem Sprunge waren die Männer alle zugleich an der Tür, wovon das morsche Falschmünzernest von oben bis unten erschüttert wurde, und kamen, von den verzweifelten Lauten geführt, gangauf, gangab, treppauf, treppab, schließlich in einem öden Kellerraum an, in dem ein winziger Herd die Küche markierte. Was sie hier sahen, war von der Art, die wohl selten ein Taufmahl unterbrochen hat.
Die alte Hexe, deren Fraß man wider Willen gewürgt hatte, hielt mit beiden Armen unter ihrer Brust den Kopf eines Jungen niedergedrückt, dessen entblößtes Hinterteil der feudale Botho mit einem Werkzeug aus zusammengedrehten Wäscheleinen behandelte. Er schlug mit der ganzen brutalen Kraft, die ihm eigen war. Der Körperteil, den es traf, war schwarz und blutunterlaufen. Der Eifer des Schaftstiefelhelden und seiner Gehilfin war so groß, daß sie die Annäherung der Rächer nicht merkten. Von Botho wurde die Sachlage erst erkannt, als ihn Tom Billing von hinten, Haake von vorn ergriff, Flunkert ihm das gedrehte Seil aus den Händen gerissen hatte und so viel tobende Worte, Püffe, Schläge auf ihn niederhagelten, daß er, an die Wand gedrückt, vor Schreck und Entsetzen zu weinen begann.
Aber nun kamen erst die Frauen.
Sollte man es glauben? Auch dieser widerwärtige Zwischenfall war nicht imstande, die Entwicklung des Gelages in dem mysteriösen Gasthof „Zur Kaiserkrone“ aufzuhalten oder es gar abzuschließen. Den vermickerten, bleichen Helmut hatten die Frauen nun, ebenso wie Firmian früher, zu Bett gebracht. Sein Verbrechen war, einmal seinen Hunger gründlich gestillt und mehr, als ihm guttat, getrunken zu haben. Die rüde Abstrafung hatte man vorgenommen, weil er sich angeblich über den Küchentisch erbrochen hatte.
Nachdem die Stoßkraft des Überfalls ihren Höhepunkt überschritten und der staatserhaltende Schaftstiefelmann sich ein wenig von der erhaltenen Lektion, das heißt von den Prügeln und Schimpfworten, die über ihn hergehagelt waren, erholt hatte, erklärte er, er werde die ganze Gesellschaft wegen Hausfriedensbruches ins Gefängnis bringen. Was er getan habe, sei geschehen in einfacher Ausübung seines Züchtigungsrechtes und überdies im Interesse der Gäste. Ob es ihnen wohl passen würde, fragte er sie, wenn er ihnen Schüsseln serviere, in die jemand gekotzt hätte. Das würde ihnen nun freilich nicht gepaßt haben, sagten die Angreifer, aber der Junge sei eben nur ein Junge und auch nur ein Mensch. Man dürfe ihn deshalb nicht halbtot prügeln.
„Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus!“ schrie daraufhin immer wieder der wunderliche Hotelbesitzer. „Ich schicke sonst nach der Polizei!“
Aber Haake fragte, ob man nicht bezahlen dürfe. Daß bezahlt werden mußte, sah er ein. Als man die Rechnung zu machen begann, hatte sich die Mehrzahl der Taufgäste bereits wieder in das gemietete Festlokal zurückgezogen. Noch schimpfte Botho, aber seine Miene besänftigte sich, als er die sogenannten blauen Lappen und das klingende Gold der Stadt Gleiwitz aufsammeln konnte. Sie sollten tun, wie sie wollten, sagte er, als er von Haake und Billing gefragt wurde, ob man noch etwas verweilen dürfe. Die Absicht, den Überfall auf dem Polizeiamt zu melden, hatte er nicht. Da er sich als Sozialistenfresser aufspielte und einen im Verdachte des Sozialismus stehenden einfachen Mann des Lokales verwiesen hatte, war er dort freilich gut angeschrieben, ja es ist wahrscheinlich, daß ihn der Amtsvorsteher als Spitzel benützte. Aber derselbe Amtsvorsteher hatte ihn bereits mehrmals verwarnen müssen, da verschiedene ernsthafte Anzeigen vorlagen, die ihn beschuldigten, seinen Sohn Helmut auf Ärgernis erregende Weise mißhandelt zu haben, Grund genug, diesen beschränkten, aber doch rechtschaffenen Beamten mit dieser Sache nicht zu befassen. — Aber auch Billing und Haake und besonders die Witwe Flunkert wünschten keine Weiterungen: so war denn alles reif zum Vergleich. Und wie es in solchen Fällen ist, bald ging man dazu über, sich nach einem Pflaster für die Beulen des Geprügelten umzusehen, und kam darauf, ihn an den Tisch zu laden. Ein Parlamentär wurde abgeschickt. Man hatte ihn in dem Baron gefunden, mit dem wahrscheinlich angemaßten Namen Römerscheid, der bisher nur wenig getrunken, sich gegenüber dem Wirt mit besonderer Höflichkeit betragen und sich auch von dem Vorfall im Keller geflissentlich ferngehalten hatte. — Es verging eine reichliche halbe Stunde, bevor der Baron mit dem standesverwandten junkerlichen Botho ins Zimmer trat, worauf sich die Herren mit einem Freudenbegrüßungsruf erhoben, was sogar die Damen mitmachten, und alle auf einmal die Gläser auf Bothos Wohl leerten. Bald war er, nicht ohne ein vorheriges inniges Händeschütteln der ganzen Korona überstanden zu haben, in die Gesellschaft aufgenommen und eingereiht. Den allgemeinen Bemühungen gelang es schnell, den Vorfall, wenigstens für den Augenblick, vergessen zu machen.
Diese Bemühungen bewegten sich hauptsächlich auf dem Gebiet, das den Artisten natürlich war. Sie überboten sich in allerhand Kunststücken, womit sie sogar untereinander Verblüffung und Staunen auslösten. Diese Produktionen hätten genügt, ein großes, vollbesetztes öffentliches Schauhaus zu Beifallsorkanen hinzureißen. Es endete mit den Kunststücken Billings, der auch als Taschenspieler, will sagen Zauberer — Geschwindigkeit ist keine Hexerei! — auf dem Gebiete der schwarzen und weißen Magie Meister war. So wurden furchtbare Schläge gegen die Decke und gegen die Wände durch zitierte Geister geführt, die gefüllte Bowle wurde durch unsichtbare Hände in die Luft gehoben, man hörte Stimmen hinter der Tür so deutlich, daß man an Bauchrednerkünste dabei nicht denken konnte, und Gegenstände flogen, von niemand geworfen, durch die Luft.
Wie alles geendet hatte, wußte Paul Haake nicht, als er am nächsten Morgen bei Tagesschein mit Billing, Botho und dem Baron noch beim Kümmelblättchen ausharrte. Ihm war, als habe es schließlich noch einen Streit gegeben, und zwar mit Wanda wegen der nahe bevorstehenden gemeinsamen Abreise. Richtig: Tom Billing war ja mit allen Kräften dafür eingetreten. Richtig! er hatte gesagt: „Liebe Wanda, eine große Karriere wirst du nun mal überhaupt nicht machen. Wenn du unter die Haube kommen kannst, so tue das lieber heute als morgen!“ — Um die Mittagszeit, ja des Nachmittags gegen fünf war das Kümmelblättchen immer noch beieinander: ein sauberes Vierblatt, das erst zum Dreiblatt wurde, als Billing aufsprang und mit seinem zusammengescharrten kleinen Gewinst nach dem Bahnhof rasen mußte, um noch rechtzeitig für sein Auftreten in Berlin und im Zirkus zu sein. Jetzt ging Paul Haake nicht etwa zu Bett, sondern er wankte aus dem Hause.
Nachdem der Architekt Willi Maack in Breslau drei Wochen vergeblich auf die Rückkehr seines Freundes Haake gewartet hatte, beauftragte er ein Detektivbüro, dem er alle ihm möglichen Hinweise gab, seinen Aufenthalt zu erkunden und Nachrichten über sein Leben einzuziehen.
Er hatte gewichtige Gründe dazu.
Erstlich war er mit Haake nach Gleiwitz gereist, wo man ihn, nicht nur nach seiner Tüchtigkeit, sondern auch als Sohn eines alten Breslauer Patrizierhauses kannte, und hatte ihm beim Oberbürgermeister jenen Vorschuß ausgewirkt, mit dem er, wie sich Willi Maack ausdrückte, auf die Freite gegangen war. Für die richtige Verwendung oder aber die Rückgabe der erhaltenen Summe fühlte Maack sich verantwortlich. Er war aber keineswegs reich genug, um sie im Notfalle, wenn es etwa sein Ruf verlangen würde, sie zurückzugeben, obenhin verschmerzen zu können. Bei weitem wichtiger war ihm aber, wie gesagt werden muß, die Rettung eines Menschen, eines großen Talentes, eines Genies, wie er meinte, an dessen Entfaltung er mit leidenschaftlicher Erwartung beteiligt war. Natürlich ist eine solche Erwartung, verbunden mit einem Glauben dieser Art, auf Neigung, ja auf Liebe begründet.
Das Schreiben des Detektivbüros — Willi Maack erhielt es, nachdem etwa eine Woche vergangen war — lautete merkwürdig. Die Nachricht, Haake reise einer kleinen Zirkusgesellschaft nach und verprasse sein Geld mit einer Drahtseilkünstlerin, war natürlich das, was Maack mit Bestimmtheit vorausgesetzt hatte. Aber der Vertrauensmann, den das Büro zur Erforschung des Tatbestandes verwendet hatte, machte eine erhebliche Rechnung auf, weit über das Honorar, das in solchen Fällen üblich ist. Er beanspruchte Schmerzensgeld. Ärztliche Atteste, deren Abschrift der Auskunft beigelegt waren, stellten außer allen Zweifel, daß ihm das Nasenbein zerschlagen worden war. Die Nüstern Willis blähten sich. Aber trotzdem ihm der Schreck in die Glieder fuhr, weil solche Dinge mitunter nicht wenig Geld kosten, und ihn der Zorn darüber, was alles für Scherereien dieser Kerl, der Haake, einem machen konnte, übermannen wollte, brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus. Da hatte dieser verfluchte Hund wieder seinen Raptus gekriegt! Es steckte doch Saft und Kraft in dem Kerle!
Um sich an sein Opfer heranzupirschen, hieß es, habe sich der Vertrauensmann als Agent für Zirkussachen geriert, sei mit Haake ins Gespräch gekommen und aus irgendeinem unerfindlichen Grunde von ihm auf obige Weise mißhandelt worden. Er werde sich natürlich an den Bildhauer halten, falls der Auftraggeber es wünsche und nicht vorzöge, die Angelegenheit von sich aus und in der Stille aus der Welt zu schaffen. Das hat Zeit! dachte Willi. Nun wollen wir erst mal persönlich nach dem Rechten sehn.
Der Zirkus Flunkert, hieß es, befinde sich augenblicklich in Erkner bei Berlin, wo auch der junge Architekt wenige Tage darauf anlangte. Diesmal wollte er keinen Spaß verstehen und Haake auf eine Weise ohne Handschuhe anpacken, ihn dermaßen schütteln und aufrütteln, daß er sich wenigstens nicht mehr darüber täuschen könne, was die Uhr geschlagen habe. Er fragte nach einem Gasthof. Da man ihm aber keinen zu nennen wußte, beschloß Willi Maack, sein Gepäck auf dem Bahnhof zurückzulassen. Jetzt nannte man ihm einen neuen Gasthof „Zur Kaiserkrone“, den man aber mit so vielen geringschätzigen Glossen bedachte, daß der Reisende seinen Entschluß nicht änderte. Er fand den gesuchten Zirkus ziemlich verregnet auf dem Gelände zwischen den letzten Häusern des Ortes und dem Rande des Kiefernforstes, der viele Hunderte von Quadratkilometern weit den märkischen Sand überzieht. Ein nicht allzu großes Zelt war aufgeschlagen, dessen Leinwand der Wind zerzauste.
Der Architekt wurde von einem Menschen, der unter dem Zelt die gelehrten Schindmähren striegelte, in den Wagen geleitet, wo ihn eine noch immer weiblich wirkende, sehr gewichtige ältliche Dame mit einer dicken Zigarre im Munde empfing. Sie sagte, sie sei Frau Direktor Flunkert, nachdem sie nach den Wünschen des Besuchers gefragt hatte.
„Ich bin der Freund des Professors Paul Haake, und man sagt mir, daß er aus bestimmten Gründen immer in der Nähe des Zirkus Flunkert ist. Ich habe hier geschäftlich zu tun, und als ich Ihre Plakate las, war mir das zufällige Zusammentreffen mit Ihrem Institut ein willkommener Anlaß, ihn aufzusuchen.“
„Bitte, nehmen Sie Platz!“ sagte die Witwe.
Das war nicht ganz leicht; doch da stand ein Schemel, der etwas quietschte, aber doch hielt, als er sich darauf niederließ.
„Sie werden begreifen, mein Herr,“ sagte sie, nachdem sie durch Beendigung einer kleinen Addition Zeit zur Überlegung gewonnen hatte, „Sie werden begreifen, daß ich Ihnen höchstens, allerhöchstens einen allgemeinen Wink zu geben imstande bin, wo sich Professor Haake möglicherweise befindet. Es sind natürlich immer allerhand Leute um unseren kleinen Zirkus herum, die wir sehen und dann wieder nicht sehen und deren Lebensweise, Kommen und Gehen uns weiter nicht interessieren kann.“
„Natürlich, natürlich!“ bestätigte Willi, „aber Sie kennen den Herrn, das ist ja die Hauptsache. Wenn Sie mir also nur sagen wollen, wo der Kerle geblieben ist.“
Sie wüßte nicht, wo er geblieben wäre. Vor drei oder vier Tagen sei sie ihm bei einer gewissen Gelegenheit begegnet, sagte sie. Seitdem habe sie ihn nicht wieder gesehen.
„Was war das für eine Gelegenheit?“
Sie wollte nicht mit der Sprache heraus. Die Gelegenheit, sagte sie, sei schließlich gleichgültig. Aber wenn er sie wissen wolle — es gäbe einen Gasthof „Zur Kaiserkrone“ im Ort, und dort träfe man eben zuweilen Menschen. Als sie die „Kaiserkrone“ genannt hatte, ging ein kleiner Ruck des Besinnens über ihr Gesicht, und die dicke, saubergepflegte Patsche machte eine unwillkürliche Bewegung nach der Stirn, wie wenn sie etwas Dummes gesagt hätte. Es gehörte nicht viel dazu, um zu spüren, daß irgend etwas Besonderes zwischen dem Zirkus, Meister Haake und der „Kaiserkrone“ im Spiele war.
„Sie wissen nicht, wo Herr Haake wohnt?“
Er hatte mehrmals die Wohnung gewechselt. Sie konnte nicht sagen, wo er zuletzt untergekommen sei. Möglicherweise war er sogar abgereist. Seit etwa vier Tagen war er keinem Mitglied der Zirkusgesellschaft hier im Ort vor Augen gekommen.
Daraufhin empfahl sich der Architekt, weil er im allgemeinen nichts Gutes ahnte, sich aber zunächst bei der dicken Frau nicht auffällig machen wollte.
Als er endlich den Gasthof „Zur Kaiserkrone“ fand, an dessen Gartenzaun und Fassade er mehrere Male, ohne ihn zu ahnen, vorübergegangen war, gratulierte er sich, diesen wackligen Steinhaufen auf feuchtem Grund unter dichten Baumwipfeln nicht bezogen zu haben. Das einzige Lebewesen, ein bleicher, blutloser Junge mit traurigen, gleichsam aufgequollenen Augen, schien hier Wirt, Kellner, Hausknecht, Portier, kurz: Mädchen für alles zu sein. Es hatte wohl keinen Zweck, diesen trübseligen kleinen Todeskandidaten nach Haake zu fragen. Aber schließlich, weil wirklich niemand anders im Hause war und Maack nicht gänzlich unverrichtetersache abziehen wollte, tat er es doch, und erhielt die Antwort, daß Herr Haake im Hause wohne, aber seit einer Anzahl von Tagen verschwunden sei.
„Sage mal, Kerle,“ Maack empfand eine gewisse Rührung über das kleine Jammerbild, „sage mal, Kerle, was habt ihr denn hier für aane komische Bude, was sich Gasthof nennt? Von alle Kaiserkronen, die ich g’sehn hob, is dös doch, weiß Gott, die merkwürdigste. Zuletzt hob ich aane aus Wurst g’sehn, bei Hefter im Schaufenster. Die möcht dir wohl besser g’folln als die hier, mein Lieber?! Was zahlt denn so pro Bett bei euch aane Fledermaus?“
Der Junge war aber gar nicht so dumm. In zehn Minuten hatte der Architekt die ganze Taufgesellschaft aus ihm herausgeholt und fand sich derart ins Bild gesetzt, daß er nun, besser ausgerüstet und neuerlich auf die Familie Flunkert verwiesen, diese, koste es was es wolle, nochmals auszuforschen beschloß. Was er das erste Mal vermieden hatte, weil er seinen Besuch zunächst als gänzlich harmlos hinstellen wollte, das tat er, wiederum bei den Wohnwagen angelangt, nämlich er fragte nach Wanda Schiebelhut. Und nun gab es viel Achselzucken, Flüstern, Aufstampfen hinter den Wänden der Wohnwagen; ein scheußliches Vieh von einer Bulldogge brach hervor, ein Säugling quäkte, wahrscheinlich die unschuldsreine Ursache der Tauforgie, eine Frau weinte auf, um sogleich wieder abzubrechen, und plötzlich trat ein langer, muskulöser Kerl, nur mit Hemd, Hose und Holzpantinen bekleidet, mit einer langen Peitsche knallend, den roten Schnurrbart gewichst und martialisch aufgedreht, frech wie die Sünde und bleich wie das böse Gewissen, hinter einem der Wagen hervor, um sich mit einer Hochmutsgrimasse breitbeinig vor den Besucher zu stellen.
„Was wollen Sie wissen? Nach wem fragen Sie? Mir wird das nun bald zu dumm, verstehen Sie mich? Erst fragen Sie nach dem versoffenen Hunde da, der mich nichts angeht! Dann fragen Sie nach der Wanda Schiebelhut, die Sie nichts angeht! Was wollt ihr von der Wanda Schiebelhut? Was wollt ihr von mir? Versteht ihr mich? Ich zahle meine Gewerbesteuer. Wenn das so weitergeht, schicke ich zur Polizei. Dieser Hund kommt her, kommt her und brüllt, er will sie heraushaben! Sinnlos betrunken wie ein Stier! Brüllt und schmeißt mir mit einem Steine die Scheiben ein! Wen und was soll man einem solchen lausigen Schnapsbruder verfluchten herausgeben?! Ich werde ihm doch nicht mein Mitglied ausliefern?! Eher haue ich ihm mit dem Peitschenstiel über den Deez, bis er im Dreck liegt und das Aufstehen vergessen tut!“
„Hören Sie, mit wem reden Sie eigentlich?“ fragte Maack, als sich der Wortvorrat des Kunstreiters zu erschöpfen begann.
„Das ist mir egal, mit wem ich rede! Und wenn Sie der Bürgermeister von Breslau sind oder der Polizeipräsident von Berlin! Mein Gewissen ist rein. Ich habe meinen Vertrag mit dem Mädel, und dieser verdammte, geile, verhurte Stukkateur...“
„Wen nennen Sie so, möchte ich mir erlauben zu fragen? Und von wem reden Sie eigentlich in diesem ungeschliffenen Tone, Herr Zirkusdirektor? Wer sollte vor Ihren Wagen gekommen sein, Schimpfreden in trunkenem Zustand ausgestoßen haben und schließlich mit Steinwürfen gegen Sie vorgegangen sein? Werden Sie das vielleicht auch von mir erzählen, Herr Zirkusdirektor, wenn ich gegangen bin?“
„Von wem ich rede, und wer mir die Fenster eingeschmissen hat? Haake hat mir die Fenster eingeschmissen! Kommen Sie mal her, Maskos! Hier mein Musikdirektor Maskos hat ihn mit vieler Mühe überredet, es doch nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Maskos, haben Sie ihn nicht abgeführt?“
„Ja, ich habe ihn in einem höchst bedauernswürdigen Zustand abgeführt. Ich wollte ihn in sein Gasthaus bringen. Gestern abend war das, in der Dunkelheit. Aber kurz vor dem Gartentor riß er aus.“
„Nun, das ist eben dann wieder einer seiner scheußlichen Anfälle, seiner schrecklichen Rückfälle, besser gesagt!“ erklärte Maack, indem er sorgenvoll den Hut lüftete und mit seinem Taschentuch über die Stirne strich. „Aber es handelt sich hier um einen außergewöhnlichen Menschen und Mann, der schon etwas erlebt haben muß, wenn es so weit mit ihm gekommen ist.“
Maskos sagte mit breitem Grinsen, wobei er Maack aus kleinen Äugelchen anblickte: „Natürlich, die Liebe hat ihn aus dem Lot gebracht.“
„Nein, da muß wohl schon noch was anderes mitsprechen. Wenn ein Mensch wie Haake bis zu solch einem scheußlichen Grade herunterkommen kann, daß er alte Möbelwägen oder — Verzeihung! — Wohnwägen mit Steinen bombardiert, da ist nicht alleine die Liebe im Spiele. Aber das lasse ich jetzt auf sich beruhen. Ich habe Sie also nur noch zu fragen, Herr Zirkusdirektor, ob das Fräulein Wanda zugegen ist oder wo ich sie finden kann? Oder ob Sie die Dame dermaßen unter Verschluß halten, daß eine Unterredung mit ihr nicht möglich ist. Sie kennt mich: Willi Maack. Ich bin Baumeister.“
„Machen Sie, was Sie wollen, das geht mich nichts an! Sprechen Sie, mit wem Sie wollen, wenn Sie lustig sind! Aber ich bin kein Gelegenheitsmacher! Wo die Wanda ist, weiß ich nicht. Ob die Wanda hier oder woanders ist! Mag sie tun, was sie will! Mag sie sein, wo sie will: ich bin für das Mädel nicht verantwortlich! Meinen Sie etwa, ich hätte nichts Besseres zu tun, als einem Weibsbilde nachzulaufen?“
„Der kleine Junge in der ‚Kaiserkrone’ sagt, das Taufessen Ihres Söhnchens, wenn Sie Herr Flunkert sind, wäre von dem Gelde des Mannes bestritten worden, über den Sie sich jetzt so entrüstet auslassen. Darf ich fragen, ob der Junge gelogen hat?“
„Was? Was? Was?“ schrie Flunkert verdutzt. „Da sieht man’s ... Man ist dazwischengetreten, man ist dem Vater in den Arm gefallen, als er diesen Bengel verdroschen hat. Hätte er ihn doch totgeschlagen! Halbtot war der Lümmel ja schon! Ich danke dafür! Mir bezahlt man kein Taufessen. Der eine hat das, der andere jenes mitgebracht...“
Unbeirrt fuhr der Baumeister fort: „Hat der Junge gelogen, wenn er erzählt, es sei zuletzt zwischen Ihnen und Haake ein Streit ausgebrochen? Der Bildhauer habe die Entlassung Wandas verlangt, weil ihm die Freigabe unmittelbar nach dem Wochenbett Ihrer Frau von Ihnen auf das bestimmteste zugesagt worden ist. Und das hätten Sie wiederum bestritten.“
Das war zu viel. Flunkert rannte davon, als wäre er tätlich beleidigt worden und suche nun blindlings sein Gewehr, um den Beleidiger niederzuknallen, wobei er jedoch immer wieder nach Wanda rief.
Was sind das alles für Sachen! dachte sich Maack. Er war von Flunkert im ganzen und einzelnen angewidert, allein schon von seiner geschraubten Sprechweise und seinem Organ, das sich, an einem tief im Halse steckenden Kloß vorbei, mehr oder weniger heiser Luft machte. Also nun sollte er Wanda mit Augen sehen, die er aus dem Atelier seines Freundes Haake kannte, das, mit einem Kanonenofen überheizt, sie tagsüber nie anders als in der Bekleidung einer Eva vor dem Sündenfall gesehen und beherbergt hatte. Man konnte da schon begreifen, welchen betörenden Einfluß auf eine Künstlerseele sie gewann.
Wanda schien nicht dazusein. Auch das Wäschermädel, das, einen langen, nassen Strumpf in der Hand, vom Waschfaß weg nach ihr hatte suchen helfen, blickte sich überall in der Runde um, zuckte die Achsel und gab es auf, wie es schien, sie zu finden. Warum macht, denkt Willi, der Kunstreiter diesen kleinen Fratzen für den Mißerfolg verantwortlich, als er sieht, wie jener das Mädchen von rückwärts unsanft bei den Schultern packt und ihm entgegen vorwärtsstößt: „Da, macht und tratscht und klatscht und quatscht nach Herzenslust miteinander! Sage dem Herrn, was der Stukkateur für ein Engel und Flunkert für eine Canaille ist! Habe ich dich nicht mit Wäscheleinen am Bettpfosten festgebunden? Habe ich nicht...?“
In einer plötzlichen Überraschung sperrte der junge Baumeister wirklich Mund und Nase auf, als sich das ihm wohlbekannte Modell aus dem Wäschermädel herauslöste.
„Kommen Sie!“ sagte Wanda hastig zu Maack, nachdem der Kunstreiter sich in den Wagen, wie der Hund in die Hütte, verkrochen hatte. Sie ging ins Innere des Zeltes voran, wohin er ihr widerwillig folgte, von allem, was vorging, abgestoßen. Er war erstaunt, wie ganz anders und, von dem Gelärm des undurchsichtigen Prinzipals unberührt, ihre Tonart einsetzte.
„Lassen Sie sich nicht stören, Euer Gnaden!“ rief ein Mensch, der, während er rief, im grotesken Frackkostüm des Dummen August in der Manege Salti mortali übte und Räder schlug: „Keine Angst! Keine Angst! Wünsche wohl zu schnäbeln!“ — Die kurze Shagpfeife ging dem Burschen bei seiner Arbeit nicht einmal aus.
„Wir wollen uns hier ein bißchen hinsetzen!“ sagte Wanda. Ihre zarten Ärmchen waren bloß. Maack sah nun wieder die feinen Gesichtszüge, das dunkle Auge, das schwere, schwarze, gelöste Haar, kurz, den ganzen bleichen, lemurischen Reiz, den er von früher her kannte.
„Ich weiß, Sie sind Haakes Freund, Herr Maack. Um seinet- und meinetwillen gesagt: Sie müssen ihn mir vom Halse halten. Ich gehe nun einmal nicht mit ihm. Schon das Modellstehen ist mir widerlich. Aber auch wenn ich seine Frau werde: ich kann nicht! er ist nicht der Mann für mich! Ich kann solche Schwerblüter, solche Kaltblüter, solche lastenden, solche unbeholfenen Männer nicht aushalten. Aber nun gar nach dem, wie er sich jetzt gezeigt hat, was er jetzt geworden oder was aus ihm geworden ist — ich kann doch keinen gemeinen Säufer, keinen Landstreicher heiraten. Er hat mir ja erzählt, daß er schon als Handwerksbursche einige Male beinahe unter die Räder gekommen ist. Er hat in Asylen herumgelegen und seine Finger sogar einige Male in schlimmen Sachen gehabt! Es dauert nicht lange, wenn es so weitergeht, und, meiner Seele, er endet im Zuchthaus, falls er nicht hinter der Hecke krepiert. Sicher, ich habe etwas übrig für Paul. Er hat sich mir auch mal als ein anständiger Mensch gezeigt. Was er an mir getan hat, war sehr anständig. Anständig mag er im Grunde sein. Aber was nutzt das, er kann ja durchaus keinen Pfennig Geld halten. Er schmeißt ja das schöne Geld förmlich mit Scheffeln zum Fenster hinaus. Er wird mich aus meinem Berufe herausreißen, und wir werden dann — noch was! — die Leute auf der Landstraße um Groschen für Fusel anbetteln. Das kann mir wahrhaftig niemand zumuten. Wenn Sie glauben, daß ich zu schwarz sehe, überzeugen Sie sich! Sie werden ihn, wenn Sie weitersuchen, in irgendeiner Schenke der Umgegend total vertiert hinterm Schnapsglas finden. Dann kommen Sie wieder, wenn Sie das Herz haben, Herr Maack, und raten Sie mir, einen solchen Menschen zu heiraten!“
Als sie das gesagt hatte, lief sie, wie um alles Weitere abzuschneiden, davon.
Was sie vorgebracht hatte, benahm übrigens Willi Maack jeden Wunsch, weiter in sie zu dringen, ganz einfach, weil er ihre Art, den Fall zu betrachten, als gerechtfertigt anerkannte. Er wandte sich also an den Clown, weil er möglicherweise von ihm eine Auskunft erhalten konnte, wo und wie etwa der betrunkene Bildhauer auszumitteln sei.
„Tun Sie ein gutes Werk, Herr großer Architekt! Tun Sie ein gutes Werk, Herr, großer Herr, und kaufen Sie uns diesen Galgenvogel ab! Wir geben ihn unbesehen hin. Mit einem Bahnbillett vierter Klasse in jedes beliebige Trinkerasyl, jede beliebige Irrenanstalt! Sollten Sie es nicht fertigkriegen, daß er heut oder morgen aus dieser Gegend verduftet, so sitzt er übermorgen im Arbeitshaus!“
Nach alledem nannte der Clown, der Pudelko war, einige gemeine Schenken, wo man den Trinker vielleicht antreffen konnte.
Willi Maack befand sich in einem Alter, in dem man eine Aufgabe, wie sie ihm bevorstand, herzhaft, und ohne sie allzu tragisch zu nehmen, anzugreifen in der Lage ist. Auch hegte er keinen Zweifel, daß sich die edleren Kräfte und Eigenschaften seines Freundes sehr bald wieder beleben und durchsetzen würden. Er brauchte den Künstler für seine Bauten. Er hatte Dinge mit ihm vor, von denen er glaubte, er könne sie nicht ohne ihn durchführen. Und da er, im Bewußtsein eigener Willenskraft, der Schwäche des Freundes gegenüber Gewalt zu brauchen imstande war, schien ihm auch der gute Erfolg gewährleistet.
Er suchte also und fand den Bildhauer noch am Abend des gleichen Tages, wie er schreiend, lallend und grunzend in einer gemeinen Schenke hinter seiner Schnapsflasche saß. Wie ein Gespenst stierte Haake ihn an, als er ihn bemerkte. Mit einer Bewegung seiner Hand hatte Willi Glas und Flasche vom Tisch gefegt, bezahlte alsdann gelassen die Zeche, das zerschlagene Glas mit inbegriffen, fuhr Haake mit Kommandostimme an, drohte dem Wirt mit einer Anzeige und duldete keinen Widerspruch, weder von ihm noch von seinem Freunde, der das Bild einer schweren Vergiftung bot: ein Gesicht wie Kalk, eine stechende Leere im Blick, große Schweißperlen auf der Stirn.
Und Haake, dessen Krakeelerstimme der junge Baumeister schon auf der Straße erkannt hatte, begriff auf einmal, daß sein Retter gekommen war, und ließ sich willenlos von ihm abführen.
Am ersten Oktober schritten zwei gutgekleidete Männer auf den Freiburger Bahnhof in Breslau zu, um über Berlin, Frankfurt, Basel, Mailand nach Florenz und Rom zu reisen. Es waren Paul Haake und Willi Maack.
Der Bildhauer hatte arbeitsreiche Monate hinter sich. In Atelierräumen, welche die Stadt seinen bisherigen hinzufügen mußte, standen große Tonfiguren, die augenblicklich in Gips abgeformt wurden. Auf Kosten der Stadt ging er nun nach Rom, wo ihm, ebenfalls auf Betreiben des Magistrats, staatliche Arbeitsräume zur Verfügung gestellt waren.
Die Reise des Architekten war nur auf etwa sechs Wochen geplant. Er gedachte viel zu zeichnen, noch mehr zu sehen von italienischer Architektur und Kunst, während in seinen Büros seine Pläne zu einigen umfangreichen öffentlichen Bauten, die man ihm anvertraut hatte, durch tüchtige Bauführer ausgearbeitet wurden. Mit dem Zustande seines Freundes durfte der Architekt wohl zufrieden sein. Es waren Werke entstanden, die ihn beglückten und zur Bewunderung hinrissen. Es sollten in Rom die Entwürfe und Modelle zu einem Monumentalbrunnen während des kommenden Winters ausgeführt werden, einem Werk, das man auf dem Platze hinter dem Breslauer Universitätsgebäude aufzustellen gedachte. Es ist natürlich, daß sich die beiden in Tatkraft blühenden Männer beim Antritt einer Künstlerfahrt, bei der sich Arbeit und Genuß unlöslich verbanden, in überschäumender Laune zeigten. Und wirklich kamen sie während der ersten Eisenbahnstunde aus dem Lachen nicht heraus.
Trotzdem war dem Bildhauer Haake nicht eben ganz so zumute, wie er sich nach außen den Anschein gab. Während des letzten Vierteljahres hatte er mit bewunderungswürdiger Zähigkeit hauptsächlich durch Arbeit gegen ein nagendes Etwas in seinem Innern gekämpft. Seine Angelegenheiten waren längst wiederum in Ordnung gekommen. Keine Rede davon, daß er sich in der Kleidung vernachlässigt oder im Trinken übernommen hätte.
Der vertierte Säufer Paul Haake hätte getrost zehn Schritt von dem heutigen auf dem Prellstein sitzen können, ohne daß man in dem einen und andern die gleiche Persönlichkeit erkannt haben würde. Im Anfang hatte er selbst gegen einen Rückfall den Riegel durch ein Ehrenwort vorgeschoben, das er dem treuen Freunde gab, obgleich es dieser nicht haben wollte. Trat wirklich ein Rückfall ein, dachte Maack, warum sollte das Bewußtsein eines gebrochenen Ehrenwortes den Schwachen vor sich selbst noch verächtlicher, seine abermalige Rehabilitierung fast unmöglich machen?! Aber an alles das dachte man schließlich nicht mehr. Es schien eben nur ein festes und ganz bestimmtes Gleis zu geben, auf dem sich das Leben des Bildhauers vorwärtsbewegte. Willi würde geschworen haben, der Bildhauer wisse beinah von den Ursachen, Umständen und Folgeerscheinungen seiner Entgleisung nichts mehr.
In Wahrheit hatte aber der ununterbrochene Kampf mit sich selbst weder das Bild Wandas noch die Erlebnisse mit dem Zirkus Flunkert abschwächen oder gar auslöschen können. Die Nächte, besonders im Anfang, ließen das alles mitunter mit der Wirkung völliger Schlaflosigkeit aufflackern. Auch gab die schweigsame Arbeit am nassen Ton leider viel Zeit zu Grübelei. Die Art, wie er dies alles vor Willi und jedermann zu verbergen verstand, grenzte an Verschlagenheit. Wenn der Architekt sich zu dem munteren, offenen und gesprächigen Wesen seines früher so zurückhaltenden Freundes innerlich gratulierte, wußte er nicht, daß er gerade hierin noch das hartnäckigste Symptom des alten Übels vor sich hatte. Und nun, als der Zug mit den beiden Freunden ins Rollen kam, steigerte sich das Wesen Haakes zu nie dagewesenen Ausbrüchen tollster Lustigkeit, die Willi zu gleichen Tollheiten hinrissen, ohne daß er auch nur im entferntesten die verzweifelte Stimmung ahnte, die ihnen zugrunde lag und die sie verhüllen sollten. Jede Minute, sagte sich Haake, reißt mich weiter und weiter von Wanda fort! Jetzt atme ich wenigstens die Luft der gleichen Provinz mit ihr — der Zirkus befand sich derzeit in Schlesien —, und wenn es nichts anderes sein kann, und ehe ich an gebrochenem Herzen zugrunde gehe, kann ich sie hier im Verlaufe von wenigen Stunden erreichen. Bald aber bin ich aus der Provinz, aus Preußen, aus Deutschland heraus, und selbst wenn ich nicht wollte, muß ich die Kleine ihrem Schicksal überlassen. Überhaupt: warum spiele ich diese Komödie? Was ist mir dies alles als ein Scheinleben? Warum lasse ich mich durch meine Arbeit, durch die Erfolge meines Fleißes, meines Schuftens in Verpflichtungen verstricken, die mich von meinem wahren Dasein lostrennen, mich zum Beispiel jetzt ins Ausland reißen, um mich in Rom, in der Fremde, in der Ferne festzubinden? Ich werde in Italien an einem Marterpfahl festgebunden sein, und durch jede Schönheit, die ich empfinde, wird sich meine Marter vertausendfachen. Dies wird darum geschehen, weil ich jeden Eindruck mit dem vergleichen werde, der er sein würde, falls Wanda an meiner Seite wäre. Weshalb war sie denn nicht an meiner Seite? Warum konnte sie denn nicht an meiner Seite sein? Ich werde die Hochzeitspärchen, die Hochzeitsreisenden in Italien sehen. Alles war doch so nahe gerückt! Warum war es gerade mir nicht vergönnt, was hier jeder genießt und was im Grunde so billig ist wie Brombeeren? — Eigentlich war Paul Haake inmitten der Exaltation seines Übermuts nicht weit davon entfernt, aus dem Coupé zu springen. Er wollte diese verruchte und lügenhafte Art zu sein nicht mehr mitmachen. War man denn auf der Welt, damit man sich und andere betrog, sich selbst noch mehr als die anderen betrog, nämlich betrog um das wahre Leben?
Diese Kleine ließ sich ja auch kein X für ein U machen. Sah ihr Leben auch äußerlich noch so armselig, noch so mühselig aus: weil sie es liebte, ließ sie sich irgendein anderes dafür nicht aufschwatzen. Und was mich, Paul Haake, betrifft, wenn ich nur ihren Rockzipfel schwenken sehe, so gebe ich die ganze hochgelobte Sonne und Kunst Italiens dafür hin! Sie betrügt mich, saugt mich aus, verrät mich an diese Bestie von einem Kunstreiter, stopft ihm die Taschen mit meinen Goldstücken voll, läßt sich von ihm prügeln, gibt sich ihm preis, würde sich auf seinen Befehl wem immer preisgeben. Aber schließlich, man hört sie sprechen, sieht sie schreiten, sieht mit zitterndem Herzen ihre rührende Ängstlichkeit auf dem Seil und kann sie doch hie und da einmal auch im Arm halten. Schade, daß einem ohne Arbeit das Geld immer so schnell knapp werden muß.
Schließlich gelangte Paul Haake nach Florenz, er gelangte nach Rom. In Florenz besuchten die Freunde den großen Bildhauer Adolf Hildebrand, dessen Grundsätze jedoch Paul Haake sich nicht zu eigen machen konnte. Zwar las er manchmal im Winckelmann und verehrte die Denkmäler griechischer Kunst; aber seine Bildnerschaft hatte, man könnte sagen, eine rohe Ursprünglichkeit, die sich als michelangeleske Größe mißverstand. Maack verstärkte dies Mißverständnis. Die Sagrestia nuova mit den Werken des erhabenen Demiurgen in Marmor wurde in Ehrfurcht besucht, das Haus des Meisters wurde besucht, und die Freunde hatten nach reichlichem Chiantigenuß die erhabensten Träume, in denen der alte Mann mit dem eingeschlagenen Nasenbein, Michelangelo, erschien und sie selbst sowie ihre Unternehmungen guthieß und segnete. Hinwiederum blieb Paul Haake mitunter plötzlich, etwa auf der Viale dei Colli, wo man den herrlichen Blick über die Stadt genießt, wie angegossen stehen, verwirrte und verwickelte sich in unverständliche Sätze während der Erörterung irgendeiner Kunstfrage, so daß Willi Maack nicht wußte, was mit ihm geschehen war. Das Geschehnis war innerlich. Der Bildhauer hatte einen schlanken Menschen mit gewichstem Schnurrbart in enganschließendem, rosafarbenem Trikot erblickt, wie er sich lachend auf einem Trapez schaukelte, dessen Leinen sich in dem glücklichen Himmel Italiens verloren. —
In Rom wurden die empfänglichen Sinne und Seelen der Künstler noch stärker hingenommen. Haake bezog sogleich sein Atelier in der Villa Strohl-Fern. Den Arbeitsraum umgab ein herrlicher Garten auf einem der sieben Hügel, dem Monte Pincio, von dem aus man die Ewige Stadt mit der Peterskuppel unter sich sah. Nun mußten denn doch die mit schlechtem Wetter, Straßenkot und Straßenstaub, mit Stallgeruch und Wagenschmiere, verlausten Bierfilzen, Dünsten von Schnaps und Lagerbier, schmutziger Bettwäsche verbundenen heimatlichen Eindrücke einigermaßen zurücktreten. Aber auch hier meldete sich mitunter jählings die Sehnsucht danach, die sich durch das natürliche Gefühl des Heimwehs sogar verstärkt hatte.
Nach Verlauf eines Monats aber erklärte Haake, er begreife nicht, wie man als Künstler woanders als in Rom zu leben vermöchte. Der Plastiker, sagte er, befinde sich außerhalb Italiens geradezu in einem Zustand der Ausgeschlossenheit. Daran änderten auch in Deutschland etwa die hie und da aufgesammelten Kunstwerke nichts, die man nach und nach über die Alpen geschafft habe. Hier in Rom atme man in der Atmosphäre der bildenden Kunst, wenn auch eine neuere italienische Bildhauerei nicht vorhanden sei. Der Atem der Kirche, der Atem des Altertums, in ihr aufgegangen, sei pure Belebung, pure Nahrung für den künstlerischen Schöpfergeist. Nur um Aufträge einzuheimsen und etwa das fertige Werk aufzustellen, werde er noch in Deutschland zu sehen sein.
Später konnte er sehen, wie dieses Hockenbleiben in Rom eigentlich keinem deutschen Künstler recht bekam. Da waren Kollegen, die ein halbes Jahrhundert in der Ewigen Stadt versessen und nichts anderes erreicht hatten, als daß sie die Größenempfindung, welche ihnen die Ewige Stadt einflößte, auf sich und ihre Kunst bezogen, die entweder nie vorhanden gewesen oder im Sybaritismus des Kunstgesprächs hinter der Chiantiflasche untergegangen war.
Eines Tages besuchte die Ateliers in der Villa Strohl-Fern eine Frau Ingeström mit zwei schönen Töchtern. Meister Haake, den man ihr als einen aufgehenden Stern am Himmel deutscher Kunst gerühmt hatte, und seine Arbeiten gefielen ihr. Sie besprach mit ihm ein Grabmal für ihren verstorbenen Mann und ließ eine Büste der ältesten Tochter für ihren Bräutigam modellieren. Zwischen der jüngeren, die meist den Sitzungen beiwohnte, Carola Ingeström, und dem Meister bahnte sich mehr und mehr eine wärmere Beziehung an, die schließlich zu einem geheimen Einverständnis der beiden führte. Die Familie war schwedisch. Die junge Dame sprach Deutsch und Schwedisch mit gleicher Ungezwungenheit. Sie war jung, wohlerzogen, reizvoll und verständig, hatte Erfahrungen in Ateliers und im Umgang mit Malkasten und mit Staffelei.
Frau Ingeström war eine aufgeklärte Frau, und wo sie es nicht gewesen wäre, hätte sie, als Mitglied eines kunstliebenden Hauses, den Adel des Künstlers neben dem Geburtsadel anerkannt. Ohne etwas dafür und dagegen zu reden, ließ es deshalb die noch immer schöne, hochgewachsene Dame zu, wenn man öfter und öfter Carola und Meister Haake zusammen sah, ja, schließlich wurde sie selbst samt den Töchtern in den Museen, Restaurants und Cafés fast nur noch in seiner Begleitung gesichtet.
Als Willi Maack, um sich vom Fortgang der Arbeiten Haakes zu überzeugen, etwa Anfang März in Rom für kurze Zeit auftauchte, wurde er den drei Damen vorgestellt und konnte seinem Freunde von ganzem Herzen zu dem geradezu unerhörten Schwein, das er hatte, gratulieren. Was er alsdann aus verschiedenen Quellen über die Familie Ingeström erfuhr, schien ihm das Glück seines Freundes ins Märchenhafte zu steigern. Sie besaß einen Reichtum an Ländereien und Fabrikbetrieben, der, selbst wenn er in drei Teile zerfiel, dem einzelnen Teilhaber keine Beschränkungen auferlegte. Erstaunlich zu sehen, welchen fast unbedingten Einfluß der untersetzte, breitschultrige Paul Haake auf Mutter und Töchter ausübte. Und auch als der junge Marquis Saintpierre, Deutscher aus einer französischen Flüchtlingsfamilie und Bräutigam der älteren Schwester, erschien, ein junger Mensch von leidenschaftlicher Kunstliebe, blieb diese Sachlage unberührt. Das Auge der Frau Ingeström ruhte mit Wohlgefallen auf diesem volkstümlich breiten, vierschrötig zuverlässigen Mann, der wahrscheinlich ganz der Rechte war, um den gestürzten Pfeiler des Hauses, den verstorbenen Gatten, in allen praktischen Anliegen zu ersetzen. Die Zufriedenheit Willi Maacks, der den Neid in bezug auf Paul Haake nicht kannte, war vollkommen: seine Konsolidierung als Mensch und Mann, seine Entwicklung als Bildhauer, sein Eintritt in diese alte Familie gingen sogar über das hinaus, was Willi je für den Freund gewünscht und erhofft hatte.
So standen die Dinge, als eines Tages im Café Aragno, wo Paul Haake diesmal allein seine Tasse Schwarzen nahm, ein Mensch am Nachbartisch sich erhob und ihn mit großer Freude begrüßte. Haake wußte nicht gleich, wer wohl das geschniegelte Herrchen sein mochte, als er sich ihm, seine Unsicherheit bemerkend, als Baron Dagobert von Römerscheid in Erinnerung brachte.
„Dagobert von Römerscheid?“
„Ja, aber ich will Ihnen gleich sagen, ich lebe hier inkognito. Ich bin hier in einer geheimen Mission und habe mir von seiten der Regierung einen Paß erwirkt, der auf einen Kunsthistoriker Egon Schmidt lautet. Ich sage Ihnen das, lieber Professor, weil Sie mich unter einem anderen Namen kennen, der mein wahrer Name ist, und weil mir doch einigermaßen daran liegen muß, nicht verraten zu werden.“
„O bitte, bitte, richtig, ja, ich erinnere mich!“
„Erlauben Sie, daß ich ein bißchen bei Ihnen Platz nehme?“ Was sollte Haake dawider tun? Nein, diese Begegnung war ihm nicht angenehm.
„Also, ich heiße Egon Schmidt. Es ist besser, damit Sie es nicht vergessen. Sie haben die Güte und nehmen hier meine Visitenkarte. Es ist übrigens nicht so ohne mit meinen kunstgeschichtlichen Kenntnissen. Sie sind weit über den Durchschnitt hinaus. Ich genieße die hohe Protektion eines Kardinals und werde vornehmen Ausländern sozusagen als Gentleman-Cicerone attachiert. Sie wissen, daß ich fünf Sprachen perfekt und sogar etwas Russisch spreche. Ich habe hier einen Schritt getan, den mir freilich meine Familie nie verzeihen wird. Nämlich ich habe konvertiert, ich bin zum katholischen Glauben übergetreten. Daher auch meine Verbindung zum Vatikan und meinem Protektor, dem Kardinal. Der nüchterne Protestantismus genügte mir nicht. Was soll man mit diesem laisser faire, laisser aller anfangen, wenn man sich an etwas anschließen, an etwas anklammern will? Ich will mich durchaus an etwas anklammern. Ich muß geführt, gelenkt, ermutigt, getröstet und absolviert werden, wenn es nötig ist. Ich muß mich auf etwas stützen können. Auf was aber kann man sich stützen, wenn nicht auf eine Macht, auf eine immer und überall zuverlässige Macht? Die protestantische Kirche ist keine Macht, die katholische Kirche ist eine Macht. Weil Christus arm war unter Menschen, muß deshalb die Kirche, deren Grund- und Eckstein er ist, deren göttlicher Inhalt, König und Kaiser er ist, dürftig, hinfällig, armselig und ohnmächtig sein? Ich will die Glorie Jesu Christi, Herr Professor, nicht aber den Pauperismus dieser mesquinen evangelischen Betstundenfrömmigkeit.
Sehen Sie, nicht nur meine Familie, die Welt hat mich vielfach mißverstanden und verfolgt. Obgleich ich so viele Sprachen spreche, Kenntnisse und Erfahrungen genug habe, um drei Lehrstühle an deutschen Universitäten über und über damit auszustatten, dichtet mir meine Familie Unzurechnungsfähigkeit und Schwachsinn an, und der Geistliche unseres Patronats nahm mich weder als Christ noch sonstwie für voll. Hier in Rom werde ich durch diese allmächtige Kirche sofort für voll genommen. Um mich elenden Menschen zu gewinnen, hat sich ein Jesuitenpriester monatelang, und zwar täglich, innig bemüht. Ich habe den Zugang zu Kardinälen, zu Bischöfen. Ich habe vor dem Heiligen Stuhl gekniet und den Fuß des Heiligen Vaters küssen dürfen. Denken Sie, was es bedeutet, und wie es einen durchrieseln und erheben muß, wenn man aus diesem heiligen Munde die Worte hört: Mein Sohn! Und ob ich Urkunden gefälscht, Perlenketten und Juwelen aus der Kassette meiner Mutter entwendet hätte, der Papst, der Vertreter Gottes auf Erden, würde mich nichtsdestoweniger seinen Sohn nennen! Hätte ich Einbrüche, Überfälle, ja Morde begangen, er würde zu mir sagen: Mein Sohn!“
Der einstige, vielleicht nur so genannte Baron, jetzt Egon Schmidt, hatte sich nicht nur im Namen, sondern auch sonst verändert. Auf gute Kleidung und saubere Wäsche hatte er immer nach Kräften gehalten. Seine Art aber und sein Wesen waren erregter und belebter geworden, ähnlich der eines Wasservogels, den man zuletzt auf einem stehenden Wassertümpel bei stehender Luft erblickt und der nun auf einen freien, großen, schnell fließenden Strom geraten ist, mit dem er schwimmt und flattert, während stromauf, vom Meere her, frische Luftwellen ihm entgegenschlagen. Was er sagte, war schließlich nicht uninteressant, und so nahm es Haake gefangen. Er vergaß darüber, was ihm anfangs besonders peinlich war, daß er in diesem Menschen einen Zeugen seiner tiefsten Erniedrigungen vor sich hatte.
Seine Gegenwart blieb ihm trotzdem fatal, und er fragte sich jetzt, ob es gut wäre, wenn er mit ihm gesehen würde. Er schlug deshalb vor, das Lokal zu wechseln, obgleich er oder gerade weil er jeden Augenblick den Eintritt der Damen Ingeström befürchtete, mit denen er verabredet war. Der Vorschlag, ein behagliches Kneipchen aufzusuchen, das Zahlen und Verlassen des prismenglitzernden, von den Geräuschen des Servierens klimperklirrenden Cafés geschah so hastig und fluchtartig, daß es jeden anderen als diesen fahrigen jungen Abenteurer befremdet hätte.
Der Bildhauer atmete auf, als er, im Menschengedränge des erleuchteten Korsos untertauchend, ungesehen bemerken konnte, wie die Damen in Begleitung des Herrn von Saintpierre hinter der Tür des Cafés verschwanden. Lieber wollte er sie versetzen, wie man in solchen Fällen sagt, und für sein Fernbleiben eine plausible Lüge erfinden als gezwungen sein, sie mit diesem zweifelhaften Ehrenmann bekannt zu machen. Gab es etwa noch andere Gründe, die seinen Entschluß beeinflußten?
Jedenfalls stellten sich solche ein, als Haake mit dem sogenannten Baron einer abgelegenen Kneipe allereinfachster Art zupilgerte. Er sagte sich, ich will diesen Menschen nicht wiedersehen, aber ich will ihn auch nicht von mir lassen, ohne ihn einmal über die versunkene, so verhängnisschwere Zeit, die wir beinahe gemeinsam durchlebt haben, gründlich auszupumpen. Es werden Stunden des Gegenwärtigmachens von Umständen sein, deren Gefährlichkeit den Reiz der Betrachtung aus sicherer Ferne erhöhen wird. Wenn ich die Gesellschaft der Damen, das gewohnte Souper mit ihnen heute einmal aufgebe, so ist das bedeutungslos und leicht vor ihnen und mir zu entschuldigen, da es sich nicht aus dem gleichen Grunde wiederholen wird. Ich habe ja auch die Pflicht, diesen Burschen von ihnen fernzuhalten, und eine andere Möglichkeit, ihn auf gute Art loszuwerden, gibt es nicht.
Fünf oder sechs riesenhafte Fässer in einem Steingewölbe, vor ihnen einige leidlich gescheuerte Tische und Schemel: das war die hie und da von deutschen Künstlern besuchte sogenannte Goldkneipe. Hier verzehrte Haake in den ersten Monaten seines römischen Aufenthaltes gewöhnlich sein Abendbrot. Es war Brauch, es vorher anderswo einzukaufen und sich hier nur mit Teller, Besteck, Brot und Wein versorgen zu lassen. Auch heute hatte der Bildhauer in einem Commestibili-Laden Salami, Schinken, Mortadella da Bologna und einige Käsearten, nicht zu vergessen Oliven, eingekauft, als er es sich mit seinem Gaste an einem der Tische des Lokals bequem machte.
In dieser Umgebung war die Wirkung des Abenteurers auf den Bildhauer weniger peinlich und weniger fremdartig. Und durch den Lichterglanz und das Gesumm des Großstadtcafés nicht mehr behindert, trat auch die kleine, verhältnismäßig farblose Welt des nordischen Vagantendaseins deutlicher in die Erinnerung. Warum fühle ich eigentlich ein Behagen, fragte sich der Bildhauer, in dem Gedanken, einen ganzen Abend mit diesem Schuft vor mir zu haben? Warum ist mir plötzlich so diebisch-vergnügt zumute wie einem Jungen, der hinter die Schule gegangen ist? Warum freue ich mich, wenn ich sehe, wie dem anderen ebenso wohl um den Magen wird? Wie wundervoll diese schlichten Arbeiter, die da und dort an den Tischen sitzen, teils allein, teils mit Weib und Kind, ihr wohlverdientes Nachtmahl verzehrend! Was einen hier überkommt, ist das Gefühl einer schlichten, einer klassischen Daseinsform. Menschliche Menschen ringsherum mit dem Anstand und Takt von Königen? Nein, denn das würde voraussetzen, daß alle Könige den Anstand und Takt, die Menschlichkeit solcher Arbeiter hätten.
Den ganzen Abend verließen Haake, wovon auch immer die Rede war, solche und ähnliche Gedanken nicht. Er hatte sie immer gedacht, sie hatten ihm immer wohlgetan, sooft er nach schwerer Arbeit sich vor diesen Weinfässern abends niedergelassen hatte, in dem spritigen Dunst dieses Raumes, wo er, außer unter den deutschen Künstlern hie und da, einen Betrunkenen nie erblickt hatte. Gehörte er nicht vielleicht doch hierher, wo der Mensch sich noch nicht, wie in der oberen Gesellschaftsschicht, durch Behängung mit Tand, Flitter und Maskierungen Leibes und der Seele belastet und bis zur Unkenntlichkeit gefälscht hatte? Seltsam, sogar die Scheu, die Verachtung und damit der Abstand, der ihn von dem Abenteurer getrennt hatte, fielen fort. Er verkehrte mit ihm wie der Mensch mit dem Menschen. Es war ihm lieb zu sehen, wie alles gemachte Wesen von ihm wich und wie er sich, genau wie früher, ganz ungeniert über den Zigarettenbestand des Bildhauers hermachte. Die Scheinwelt, die Welt der Überflüssigkeiten, wie er meinte, zu der ja schließlich auch die schönen Künste gehörten, lag wieder einmal hinter ihm.
Man kam sehr bald auf die Flunkerts zu sprechen. Seltsam, wie nun das ganze Um und An der kleinen Zirkusgesellschaft nur eine heitere Seite bot. Sie hätte in dieses rauchgeschwärzte, feuchte Gewölbe und unter alles, was darin war, recht gut hineingepaßt. Sie hätte auch überhaupt nach Rom gepaßt, in den Schoß dieser Allerweltsbuhlerin, die ja aller Gaukeleien Meisterin ist. Schließlich hatte der große Scurra Tom Billing hier sein Publikum gefunden, man würde auch den kleinen Dummen August, Pudelko, in den Vorstädten weidlich belacht haben. Und was den großen Springer und Trapezkünstler, diesen Schwerenots-Flunkert, betraf, er konnte jeder Konkurrenz standhalten. Die römische Plebs war noch immer das dankbarste Publikum.
In heiterster Weise glossierte der Baron, jetzt Egon Schmidt, seine Beziehungen zur Direktorin. Es gehe ihm nun einmal ähnlich wie einem gewissen Erbprinzen, der auf sein Ländchen verzichtet und eine Riesendame geheiratet habe. Ein gewisses Übergewicht habe es ihm immer angetan. Das Alter, wenn es sich in gewissen Grenzen halte, sei dabei gleichgültig. Unerläßlich schien ihm indes daneben ein bißchen ammoniakhaltiger Stallgeruch. Er sei verloren, wenn etwa gewisse Balkonanlagen die bekannten blauen Tätowierungen zeigten: so war es bei der Direktorin. Daß die Herren bei dergleichen Erörterungen recht derb und zynisch wurden, ist selbstverständlich. Wenn Haake den Geschmack des Barons kopfschüttelnd verurteilte, so zögerte dieser nicht, zum Vergleich den Geschmack an jungem und altem Käse herbeizuziehen, von denen ja jeder gerechtfertigt sei.
„Ich bin eine etwas infantile Natur, behaftet mit allen Schwächen einer solchen. Darum geht meine Liebe immer durch das Mütterliche. Mit einem jungen, unerfahrenen Springinsfeld kann ich nichts anfangen. Die Flunkert ist eine kluge, welterfahrene Frau, die Menschen und Verhältnisse hinreichend kennt, um keine Vorurteile mehr bei sich aufkommen zu lassen. Was die Gesetze uns in moralischer Beziehung verbieten wollen, habe ich sie sagen hören, das sind jene Sprenkel, in denen sich die Drosseln fangen, arme kleine Vögel, die natürlich, wenn sie in der Pfanne schmoren, das Fliegen aufgeben müssen ... Das hindert aber die Drosseln im allgemeinen am Fliegen nicht. Sie sind ja schließlich auch ein Mann ohne Vorurteil, lieber Professor. Wissen Sie, weshalb ich diesen peinlichen Auftritt mit Flunkert junior eigentlich gehabt habe? Warum er so wütend gegen mich war? — Weil es zwischen ihm und der tätowierten Frau Mama auch wohl nicht ganz geheuer ist. Auch gegen den Maskos, der ohne alle Verwandtschaft in der Welt steht, ist sie mütterlich. Sie ist eben einfach auf eine unbeschreibliche Weise, auf eine ganz entzückende Art und Weise, auf eine im höchsten Grade beglückende Art und Weise mütterlich. Ich brauche das. Ich habe das notwendig.“
„Nun, Sie haben ja jetzt die Kirche!“ sagte der Bildhauer.
Baron Dagobert von Römerscheid Egon Schmidt schwieg einen Augenblick und brach dann in Lachen aus: „Sachte, sachte, lieber Professor! Darüber habe ich mir natürlicherweise vor meinem Schritt volle Gewißheit verschafft. Die Kirche ist nachsichtig, duldsam, langmütig. Nein, meine menschlichen Schwächen und Bedürfnisse leugne ich nicht. Meine Berater wissen, daß ein Mensch ohne Schwächen, ein Sünder ohne seine Sünden nicht auskommen kann. Es hat einen einzigen sündlosen sogenannten Menschen, in Wahrheit einen Gottmenschen, gegeben: Jesus Christ, und der steht so unerreichlich hoch, daß es Frevel wäre, die gleiche Höhe und Reinheit der Tugend auch nur zu erstreben. Da ist es aber eben allein die Gnade, die uns helfen kann. Darum begibt man sich an den Beichtstuhl, legt ein reuiges Geständnis ab und wird absolviert. Erst gestern, wollen Sie es mir glauben, habe ich einen Brief von der herrlichen Frau erhalten!“
Der Bildhauer fragte: „Von welcher herrlichen Frau?“
„Natürlich von Innocentia.“
„Sie haben mir aber noch gar nichts erzählt von Innocentia!“
„Aber wieso? Wir sprachen doch soeben von Innocentia!“
„Ach, um Gottes willen, mich trifft der Schlag! Dieses alte, schnaufende Nilpferd heißt Innocentia?!“ sagte mit übertriebenem Staunen der Bildhauer.
„Nein, nein, Herr Haake, so dürfen Sie diese Sache nicht auffassen! Ich protestiere! Nein, durchaus: Sie beleidigen mich! Ich lasse nichts kommen auf diese edle, diese zuverlässige, hilfreiche Frau! Hier ist ihr Brief, ich trage ihn stets auf dem Herzen!“
Haake bemerkte, daß der ihm gewiesene große Brief mit fünf dicken Siegeln gesiegelt war. „Alle Achtung! Hut ab!“ waren die Worte, mit denen er seiner verdutzten Verwunderung Ausdruck gab. So etwas war möglich: zwischen diesem Globetrotter und dem verregneten und verfrorenen Lumpengesindel im Schmutz der fernen schlesischen und märkischen Landstraßen bestand aus unsichtbaren Fäden ein Zusammenhang! Warum hatte er selbst eigentlich alle Fäden zerrissen, an einen Briefwechsel nie gedacht?
Haake dachte noch immer versonnen darüber nach, als die Geschwätzigkeit des Barons, über Stock und Stein springend, schon allerlei andere Dinge berührt hatte: wie grotesk es war, daß Flunkert seine täglichen Übungen, seine halsbrecherischen Kunststücke am Trapez machen, seine dressierten Pferde vorführen, Fingal, den kamtschadalischen Löwenhund, um sich kreisen lassen mußte, daß er Wanda-Pipilada und jetzt wohl auch seine Frau täglich aufs Drahtseil jagte, mit dem Possenreißer, Pojaz und Dummen August läppische Konversation trieb, Maskos mit seinem Blech schmettern und wettern ließ, damit ein Nichtsnutz fern in der Ewigen Roma das nötige Geld habe, um es, heidi heida, zu verjubeln. Hier also endete ein Teil der durch saure Arbeit verdienten Groschen zahlloser kleiner Leute, die ihnen wiederum ehrliche, saure, mühselige Arbeit anderer Art aus der Tasche gelockt hatte! Ein Liederjan wurde mit ihnen finanziert, damit er katholisch werden und dabei schlemmen und lumpen konnte.
Haake schien verstimmt. In diesem Augenblick haßte er das nichtsnutzige Schoßkind der Direktorin und war geneigt, einen Ausbund mißbrauchter Güte in ihr zu sehen, wie er denn auch in den wenigen Unterredungen, die er mit ihr gehabt hatte, immer nur ein allgemeines, menschliches Wohlwollen feststellen konnte. Etwas wie tiefe Sympathie und wahre Rührung kam ihn an, wenn er an den ahnungslosen Flunkert und seine Gehilfen dachte, die sich für diesen Schweinehund abrackerten. Diese naiven Menschen waren ungeheuer pflichttreu und arbeitsam. Und wie langsam, langsam mehrte sich, was sie sich am Munde absparten! Einen gefährlichen Funken aber schlug der Gedanke unter seinen Wimpern heraus, daß Wanda, die kleine Wanda, für diese Canaille die Knochen zu Markt tragen sollte.
Der italienische Wein ist schwer. Vielleicht waren die beiden schon beim dritten oder vierten Liter Falerner angelangt. In solchen Fällen trat es bei Haake zuweilen ein, daß er, von einer einzigen Tatsache oder Bemerkung, die ihm mißfallen konnte, gereizt, mit zähem Eigensinn an ihr haftenblieb und, wie in bekannten sowie unbekannten Fällen, schließlich tätlich wurde. Es kam in diesem Falle nicht so weit, da der Bedrohte sich einem solchen Ausgang entzog. Der gefährliche Zustand entwickelte sich auf folgende Weise:
„Sagen Sie mal, Sie haben mir da einen Brief mit fünf Siegeln gezeigt. Ich möchte wissen...“
Der Baron überhörte, in das Rauchen von Haakes Zigaretten, in sein eigenes Geschwätz vertieft und verliebt, das erste, das zweite Mal diese Anrede. Aber Haake wiederholte mit eigensinniger Zähigkeit:
„Sagen Sie mal, Sie haben mir da einen versiegelten Brief mit fünf Siegeln gezeigt. Ich möchte wissen...?“ Er hob sein Glas, an das der Baron mit dem seinen stieß, weil er annahm, daß man ihm zutrinken wollte.
„Prosit,“ sagte er, „lieber Haake!“
„Hören Sie mal, ich bin nicht Ihr lieber Haake! Sagen Sie mir lieber mal, Sie haben mir da einen fünfmal versiegelten Brief gezeigt. Ich möchte wissen...?“
„Was weiter? Natürlich Pinke-Pinke!“
„Sagen Sie mal, Sie haben mir da einen Brief mit fünf Siegeln gezeigt. Ich möchte wissen, für was für Leistungen ich da ein...?“ Noch unterbrach sich der Bildhauer: „... für was für Leistungen ein solches Ehrenhonorar von Ihnen bezogen wird?“
„Was für Leistungen? Gar keine Leistungen. Hätte ich nicht Mitleid mit ihr, ich könnte dieses Pfundweib wie einen ledernen Geldbeutel umkehren! Ich könnte sie auf den Kopf stellen, und sie würde noch nicht einmal so viel in den Taschen behalten, als sie für eine ihrer dicken Zigarren bezahlen muß!“
„So?! Sie können also das Pfundweib umkehren?“ Das Auge Haakes hatte, als er das sagte, etwas Unverwandtes, düster Glotzendes angenommen.
Jetzt merkte der Baron, Kunsthistoriker, Konvertit und diplomatischer Geheimemissär, daß es mit Haake nicht mehr ganz richtig war. Er konnte sich an die Schläge erinnern, die Flunkert von Haake und alsdann eines Abends der sogenannte Agent von Renz wiederum von dem Bildhauer bezogen hatten. Trotzdem wiederholte er törichterweise:
„Ja, ich könnte das Pfundweib umkehren!“
„Wie machen Sie das, wenn Sie das Pfundweib umkehren?“
„Wie ich das mache? Kunststück! Lächerlich! Seien Sie doch gescheit, bester Meister Haake, und verderben Sie unsere gemütliche Stimmung nicht!“
„Wie machen Sie das, wenn Sie Pfundweiber umkehren? Und halten Sie das Umkehren von Pfundweibern für ein Geschäft, das eines anständigen Menschen würdig ist?“
Der andere rief:
„Nun hören Sie mal, ich könnte auch Fragen stellen! Wenn Sie mir so kommen ... Lächerlich! Halten Sie es etwa für eines Ehrenmannes würdig, im Straßenschmutz auf der Lauer zu liegen und, die Taschen voll Klopfsteine, die Fenster von Wohnwagen einzuschmeißen?“
„Nein, so weit soll sich ein Mensch nicht gehen lassen. Aber ich sehe nur die Handlung eines zeitweilig Unzurechnungsfähigen darin. Dagegen Pfundweiber umzukehren, wozu Sie übrigens höchstens Lust haben, sonst aber ein viel zu jammervoller, viel zu erbärmlicher Geselle sind, ist etwas ganz anderes als so etwas. Ich habe höchstens mit meinem Gelde die Flunkerts fett gemacht. Sie, Sie lassen sich Schürzengeld bezahlen, von diesen bettelarmen Herumziehern aushalten — jetzt aber hopp, hopp! Sie sind ein Rowdy, der jeden bedreckt, mit dem er am Tische sitzt!“
Der Baron verstand, ergriff die Flucht und blickte selbst dann nicht einen Augenblick zurück, als, erst im Rahmen der Ausgangstür, ein Weinglas an seinem Hinterkopfe zerschellte.
„Es ist ein Kreuz,“ dachte Haake, „wie ich doch immer, trotz aller festen Vorsätze, im gegebenen Augenblick nicht an mich zu halten vermag!“
Wenn Haake seine Arbeitsperiode hatte, so wurde er zum Arbeitstier. Der Zwang seiner proletarischen Vorfahren, zwölf bis vierzehn Stunden des Tages schuften zu müssen, und die Befähigung dazu hatten sich auf seine Moral und seine eiserne Muskulatur vererbt. Zwar hatte er ein Faktotum in seinem römischen Studio, aber die schwersten Arbeiten, die schwersten Verrichtungen seines Töpfer-, Ofensetzer- und Maurerhandwerks, wie er seine Tätigkeit je nachdem nannte, pflegte er selbst auszuführen. Er stampfte und knetete selbst seinen trockenen Ton, packte und klebte ihn zentnerweise um die Gerüste seiner Statuen, ja er war auch gelernter Gipsgießer und unterzog sich der Mühsal, seine manchmal recht umfangreichen Tonmodelle selbst abzuformen.
Solange es Tag war, befand sich Haake in seinem Arbeitsraum und war in seiner verbohrten Schweigsamkeit Besuchern, selbst Kollegen aus den Nachbarateliers, kaum zugänglich. Sie bewunderten seine bärenhafte, unverwüstliche Arbeitsfähigkeit, und seine Grobheit war gefürchtet. „Halt’s Maul, arbeite!“ war seine Redensart, wenn ein Kollege ihm durch Maulaffenfeilhalten lästig wurde.
Den ganzen Winter hindurch hatte die Arbeitswut den Bildhauer nicht einen Tag verlassen, und höchstens an einigen Sonntagen und während der Dunkelheit hatte er Zeit, die trotz der durch die Jahrtausende gehenden Zerstörungsraserei noch ungeheuren Kunstschätze Roms zu betrachten. Im Blute wühlte ihm der stündlich zitierte, gigantische Dämon Michelangelo, von dem er, das machte ihn glücklich, bei Winckelmann gelesen hatte, daß er unter gewissen Voraussetzungen für einen Neueren nicht unerreichbar sei. Auch Haake pflegte zuweilen, wie Buonarroti, den eigensinnigen Versuch zu machen, bei Kerzenlicht seine Arbeit fortzusetzen, da in den römischen Ateliers elektrisches Licht damals noch nicht vorhanden war.
Drei Dinge besuchte der Bildhauer mindestens einmal in der Woche: die Pietà des Michelangelo in der Peterskirche, diese magna mater, diese Demeter, die statt ihrer dem Tode verfallenen Tochter einen toten Sohn auf den Knien hält, auch dieser, wie jene, zur Auferstehung bestimmt. Er besuchte den Moses desselben Meisters, er besuchte einen gewissen Heraklischen Torso griechischer Kunst, der eines der schönsten Stücke der Vatikanischen Sammlungen ist. Das waren die Quellen, aus denen er immer neue Kraft, neue Begeisterung holte, ein göttlicher Zustand, den er jedoch nur stumm in seinen Werken aufgehen ließ.
Ein solches pausenloses Roboten, das noch dazu keine den Geist unbeteiligt lassende Taglöhnerarbeit ist, erschöpft natürlich mit der Zeit auch den Widerstandsfähigsten. Haake war eine Stiernatur. Als er es indessen auf diese rastlose Art und Weise fünf Monate lang getrieben hatte, fragte er sich mitunter, wie lange das noch gehen sollte. Zuweilen packte ihn eine zerstörungssüchtige Reizbarkeit. In Rom sind Fälle bekannt geworden, wo Bildhauer in einem der natürlichen Anfälle wiederkehrender Depression den Hammer nahmen und alle ihnen erreichbaren Marmorfiguren, Erzeugnisse ihrer Lebensarbeit, kurz und klein schlugen. Auch Haakes Schöpfungen schwebten zuweilen in dieser Gefahr.
Weiß überhaupt ein Mensch außer einem, der es selber an sich erlebt, über wie viele innere Nöte hinweg Plastiker das Leben ihrer Kunstwerke zu erzwingen haben? Manchmal robotete Haake fort, obgleich sein eigenes Urteil sein Ton- und Steingebilde völlig entwertet hatte. Er arbeitete unter Flüchen fort, so, wie vielleicht seine Vorfahren, die Taglöhner und Hörigen, wenn sie auf ihren Schultern und Rücken die Steinblöcke fühlten, unter denen sie fast zusammenbrachen, und wußten, daß es ihnen trotz der Geißel des Vogtes nicht gelingen werde, sie zur Höhe der Mauer eines Raubnestes hinanzuschleppen.
Kamele, die zu schwer beladen sind, pflegen nicht aufzustehen. Sie bleiben liegen, auch wenn man nun ihre Last erleichtert. Man kann sie halbtot prügeln, ohne daß man ihren Entschluß zu brechen imstande ist. Wenn man sie aber wirklich tötet, so tut man ihnen nicht mehr, als sie wollen und voraussetzen. So wirft der Hörige, der Leibeigene seine Steinlast plötzlich ab, ist befreit, atmet auf und erwartet das Ende. In einer ähnlichen Stimmung kam es vor, daß Haake mit der Landstraße und einem friedlichen Tod hinter der Hecke liebäugelte.
Übrigens war ihm ein Unglück passiert. Eine überlebensgroße Brunnenfigur, die eine schweißbedeckte Tätigkeit von Wochen mühsam errichtet hatte, sank eines Tages vornüber zusammen. Viele Zentner nassen Tons waren an ein zu schwaches, nicht genügend durchdachtes Gestell geklebt. Millionen formender, denkender Augenblicke waren an ihre schön herausgebildeten Flächen vergeudet worden. Als sie kaum merklich zu sinken begann — es war eine Weibfigur, zu der ihm ganz im geheimen Carola Ingeström einige Male Modell gestanden hatte —, als sie kaum merklich zu sinken begann, sprang er mit einem Fluch auf den niedrigen, mächtigen Drehschemel und fing ihren Oberkörper mit seinen Armen auf. Er schrie: „Carola!“, aber niemand hörte ihn. Sein Faktotum war zum Essen gegangen. Selbst seine athletischen Kräfte ließen schließlich nach. Das Antlitz Carolas ward schwerer, lastender, immer drückender. Da wich er — was blieb übrig?! — aus, und einige Zentner amorphen Tons verbanden sich unter einem häßlichen Klatschgeräusch mit dem Zementboden der Werkstätte.
Nun war die Beziehung zu den Ingeströms das freundliche Licht seiner römischen Zeit. Er verehrte Carola und ihre zarte, schlichte Mütterlichkeit. Er verehrte sie, diese Mütterlichkeit, in fast noch zarterer Weise. Das hohe, schlanke, blonde Mädchen, das überflüssige Worte nicht machte und keineswegs, wie etwa Wanda, eine Plaudertasche war, traf damit auf verwandte Eigenschaften des Bildhauers. Es war schon viel, wenn sie ihre schöne, lange, durchsichtig weiße Hand, wie nach der Tonmodellkatastrophe, begütigend auf die Schulter ihres Freundes legte, dessen Stimmung mehr als verdrießlich war. Wie war wohl eigentlich das Einverständnis dieser beiden Menschen zustande gekommen? Ein Vertrag auf Grund irgendeiner Abrede lag nicht vor. Es sah vielmehr aus, als seien Bruder und Schwester, seit der Geburt getrennt, durch eine Schicksalswendung einander begegnet und nach langer Trennung vereint worden. Man war, was man war: was sollte da viel zu reden sein?
Carola, falls sie ihm nicht den Dienst erwies, Modell zu stehen, erschien täglich etwa um zwölf Uhr für einen Augenblick bei dem Bildhauer. Nach der Arbeit, später und später bei zunehmender Helligkeit, pflegte der Meister im Café Aragno seine Tasse Schwarzen zu nehmen und Zeitung zu lesen. Dort wurde er meist von den Damen Ingeström zum Abendessen abgeholt, das man gemeinsam im Restaurant zu sich nahm. Von dort aus, nicht später als etwas nach zehn, zogen sich die Damen in ihr Hotel, Hotel Regina, zurück — sie liebten die großen Prunkkästen nicht! —, bis an dessen Pforte sie Haake begleitete. Er ging dann meist noch in die Goldkneipe oder in eine andere, wo ein guter Wein verzapft wurde und er entweder einsam grübeln konnte oder mit dem oder jenem Kunstgenossen in alltäglichem Gespräch ausruhte.
In seinem Atelier war Haake nicht ganz allein. Wann immer er heimkehrte, erwartete ihn eine weiße Katze, die einen schwarzen Kopf hatte und die der Bildhauer Waschi nannte. Beinahe Anstoß erregte bei Carola seine Liebe zu ihr. Zwar packte sie selbst beim Abendessen das Mitbringsel für Waschi sorgfältig in Papier, aber sie wurde doch rot, wenn der breite und so selbstsichere Mann aus irgendeinem Grunde in die eigensinnigste Übertreibung verfiel und Waschi seine einzige Liebe nannte. Da war nichts zu machen, solche Sonderbarkeiten waren bei Künstlernaturen in Kauf zu nehmen. Denn wenn man nun lachte, es bestritt und selbst Mama sich ins Mittel legte, konnte man eine Änderung seiner Behauptung erst recht nicht herbeiführen. Lieber, sagte er, möge er selbst ein Bein brechen, als daß man Waschi auch nur ein Haar krümme. Wer Waschi auf die Pfoten träte, schlüge ihm, Haake selbst, ins Gesicht. Auf so absurde Art ging es dann immer fort, bis sich ein neues Thema einstellte.
Mit dem Edelfräulein Carola als Gelegenheitsmodell kam Haake natürlich nicht aus. Er mußte Berufsmodelle herbeiziehen. Auf der Spanischen Treppe und auch sonst standen sie, Männer, Frauen, Kinder, zur Auswahl bereit. Gegen Carola erlaubte sich Haake wohl nur eine abgemessene, im Rahmen eines Beinahe-Bräutigams erlaubte Zärtlichkeit. Er nahm keinen Anstand, sich anderweitig auszutoben. Dies war bei seiner Natur, seiner Jugend, seiner überschäumenden Körperkraft, seinem Beruf eine Selbstverständlichkeit, mit der er sich von den Kollegen nicht unterschied.
Ende März war herangekommen, als Haake zum erstenmal um die Mittagszeit vergeblich auf Carola gewartet hatte und ebenso im Café Aragno auf alle drei Damen Ingeström um die übliche Abendstunde. Beim Portier des Hotels erfuhr er, die Damen seien in großer Toilette gewesen, und der Wagen irgendeiner Botschaft habe sie abgeholt.
Irgend etwas an diesem Vorfall machte Haake ruhelos. Es stand eine milde Mondnacht über Rom, und ohne nach der Uhr zu sehen, bewegte er sich den Korso hinab bis zum Spanischen Platz, dann wieder zurück bis zum Kapitol, die Treppe zum Kapitol hinauf, die Trümmer des Forum Romanum im Mondschein unter sich, große Gedanken, große Gefühle im Innern, verloren im lebendigen Gräberpuls der Ewigkeit — und doch mit einem peinlichen Nagen im Herzen, dieser drei Damen wegen, von denen zwei seine Freundinnen, eine beinahe seine Geliebte war und die ihn so schnöde versetzt hatten, wenn nicht etwa die Nachlässigkeit eines Hotelbediensteten dazwischen lag und dem Erlebnis den Stachel nahm.
Man sprach in Rom von den schönen Schwedinnen. Die Schwestern gehörten zu jenen Erscheinungen, bei denen die Harmonie des Aufbaus, der Reiz und Adel des Ganzen wie des Einzelnen, gleichsam keinen Protest duldet. Jede von ihnen war, was man eine Beauté, eine Schönheit nannte. Dazu kam eine gewisse Pikanterie und Selbständigkeit der Schwedinnen. Man konnte nicht glauben, leere Hüllen, bemalte Wachsfiguren vor sich zu haben. Sie waren innig beseelt und näherten sich, wie selten Frauen, was sich auch Haake oft gesagt hatte, dem durch die Plastik auf uns gekommenen griechischen Schönheitsideal. Seiner Art gemäß hatte sich Haake den Stolz nicht anmerken lassen, den er empfand, sooft er mit ihnen gesehen wurde. In solchen Augenblicken glaubte er, ein begnadeter Grieche zu sein. Liebte er Carola Ingeström? — Oft konnte sein Auge im Staunen nicht satt werden. Er bewunderte Carolas Güte und Vornehmheit. Ihr freier Charakter und überhaupt der Charakter dieser Frauen schien ihm verehrungswürdig. Aber erst diese Nacht empfand er, wie Staunen, Bewunderung und Verehrung zu leidenschaftlicher Liebe geworden waren. Wieder und wieder schlug er sich an die Stirn und fragte sich, wie es möglich sei, dies nicht erkannt und dieses schöne Mädchen so oft durch Lauheit verletzt und im ganzen hingehalten zu haben.
Was hat sich denn da für eine Verblendung, für ein Wahnsinn eingenistet? fragte er. Stets hatte er sich im Zusammensein mit diesen Frauen aus hohem Stande frei und unbedrückt gefühlt, wie ihm denn überhaupt ein natürlicher Anstand, eine Sicherheit des Betragens angeboren war, sofern ihn nicht eine andere Erbschaft in den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit hinunterstieß.
Also: was hat sich denn da für ein Wahnsinn, für eine Verblendung eingenistet? Wußte ich denn nicht, was mir widerfuhr? Wo komme ich her: von zwölf Kindern das jüngste, großgefüttert mit einem Stück verschimmelten Hungerbrots, welche Aussichten hatte ich? Und nun: diese Stufen des märchenhaften Aufstieges! Fürstinnen, Göttinnen neigen sich mir! Und ich nehme das hin mit dem Stumpfsinn eines Steinklopfers? Mit einem Beest, einem Katzenluder ärgere ich sie, das mir vollkommen gleichgültig ist und dem ich, wenn ich diesmal nach Hause komme, den Hals umdrehe! Ich weiß recht wohl, daß es ein Dämon ist und wer diesen Dämon zu meiner Bewachung abgeordnet! Kein Gedanke, daß er mich jemals wieder in die verschlammten und verschlampten Gebiete dieser versunkenen Dreckhöllen hinablocken wird! Lebe wohl, Wanda Schiebelhut! Brich dir den Hals oder kriege die Kränke! Ich wüßte nicht, was mir mehr schnuppe wäre...! So und ähnlich meditierte der Bildhauer Haake fort.
Nach Hause gehen mochte er nicht aus Furcht vor den schrecklichen Bildern seiner Eifersucht, und weil er die Katze nicht morden wollte. Mehrmals trat er in kleine Wirtsstuben, wurde aber, ohne viel getrunken zu haben, von seiner Rastlosigkeit immer wieder aufgescheucht. Er irrte noch in den Straßen umher, als hie und da ein Kampanile zu läuten begann, trat schließlich mit anderen, die vermummt und frierend einherkamen, in irgendeine Kirche ein und fand sich plötzlich mit ihnen kniend und, obgleich er ein Protestant war, dem Neigen und Beugen, Schellen und wieder Schellen am matt erleuchteten Altar mit frommer Spannung zuschauend.
Was war es eigentlich, was diesen im Grunde recht einsamen Menschen überkam, als er dem Zuge nachgab, sich niederzuwerfen und das jedem Menschen eigentümliche immerwährende Selbstgespräch in Gegenwart des Mysteriums, in Gegenwart Gottes fortzusetzen? Es war vielleicht der seit Jahrzehnten tiefste Augenblick seiner Innerlichkeit. Hatte der Schubiack, der seinen Glauben gewechselt, nicht am Ende doch recht? Was tat er jetzt anderes, als von einer stärkeren Macht Hilfe zu erflehen, wo die seine nicht ausreichte? Haake, der gar nicht kirchliche, gänzlich unfromme Haake — betete! Er flehte um Hilfe, endliche Hilfe wider seine Besessenheit, gegen den Dämon, der in Gestalt der Katze Waschi während der Arbeit auf seiner Schulter hockte, jeden Abend auf seine Bettdecke sprang und sich zu seinen Füßen hinkuschte, dieser Katze, die selbst von einer anderen Seele besessen war, die sich jederzeit durch die feuerspeienden Augen des Wirtskörpers gleichsam mit einem Raubtiersprunge in seine Brust begeben und sein Herz mit Krallen und Zähnen zerfleischen konnte. Das aber war nur das eine, wozu dieser böse Hausgeist des Bildhauers fähig war. Sein Spuk war leider immer im Gange. Er bediente sich im Innern des Opfers bald eines Spiegels, in dem er aber und aber tausend Male eine kleine Drahtseiltänzerin in schwarzem Trikot und roter Schleife erscheinen ließ. Er bediente sich eines Altars und vieler brennender Kerzen, um dieselbe kleine Teufelin Lilith als Mutter Maria auf ihm zu verherrlichen. Das war es, wogegen er diesmal aus tiefstem Grunde der Seele zu Gott um Beistand schrie: Mache mich frei! Mache mich rein! Rotte sie aus aus meinem Herzen!
Er wollte nun endlich reinen Tisch machen. Der unverdienten, unerhörten Begnadung, die ihm durch die Neigung der schönen Carola zuteil geworden war, hatte er nur darum seine zögernde Lauheit entgegengestellt, weil der Dämon in ihm noch lebendig war. Nie aber hatte er sich so erneut, frei, verjüngt und freudig gefühlt wie jetzt, als er aus der Kirche trat. Natürlich war das Ausbleiben der Damen am gestrigen Abend auf irgendeinen unvorhergesehenen Umstand zurückzuführen, wie sie ja immer wieder vorkamen. Die Aufklärung fand sich wahrscheinlich bereits im Briefkasten seines Ateliers. Er selbst, wie er sich nun deutlich erinnerte, hatte ja auch einmal vor Wochen die Damen im Café Aragno vergeblich warten lassen, als er die Nacht mit dem Konvertiten vergeuden mußte.
Der Bildhauer fand, nach Hause gekommen, allerdings keine Nachricht von Carola vor, was ihn aber nun kaum noch beunruhigte. Er legte sich angekleidet aufs Bett und schlief mit dem Gedanken ein, die Zeit bis zur Besuchsstunde Carolas werde so am schnellsten vorübergehen. Als er die Augen wieder öffnete, war es bereits finstere Nacht um ihn. Er stand auf, nachdem er Waschi, die er zu seinen Füßen fühlte, mit einem Fußtritt von sich gestoßen. Es war die Zeit, wie er feststellte, da er sonst im Café Aragno saß. In aller Eile machte er sich salonfähig und sann währenddessen darüber nach, ob denn Carola heute mittag wieder ausgeblieben sei. Aber nein: sie hatte wahrscheinlich vergeblich geklopft und geklingelt; er wußte ja, daß man, wenn er einmal schlief, neben ihm eine Kanone, ohne ihn zu erwecken, abfeuern konnte.
Er traf rechtzeitig im Café ein. Es war noch gut eine halbe Stunde hin bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Damen Ingeström zu erscheinen pflegten. Diese halbe Stunde aber verging, es verging eine weitere halbe Stunde, und als sie immer noch nicht erschienen waren und die Tortur des Wartens keine weitere Aussicht bot, tat Haake, was er gestern getan hatte: er ging ins Hotel, um sich nach den Damen zu erkundigen.
Frau Ingeström mit zwei Töchtern war am Morgen, mit Fahrkarten bis Stockholm, abgereist.
Haake war eine Bärennatur. Aber der Zustand, in den er durch diese Erfahrung gestürzt wurde, war doch so, daß ihn acht Tage lang kein Mensch zu sehen bekam. Bedauerlicherweise war dies nur der Anfang einer langen Leidenszeit.
Als sich am dritten Tag weder Tür noch Tor des Ateliers öffnete, mußte man darüber ins reine kommen, ob Haake darin verschlossen sei. Nach vielem Pochen und Rufen hörten dann die Kollegen seine Stimme. Er gab die Erklärung ab, daß er nichts bedürfe und im übrigen wohl und munter sei.
In Wahrheit befand er sich im Zustand völliger Lethargie. Im Anfang hatte ihn hauptsächlich Scham in sein Versteck gedrängt. Er schloß die Türe von seinem Schlafraum ins Atelier und legte sich auf sein Bett, nachdem er das einzige kleine Fenster zu seinen Häupten dicht verhängt hatte, eine gleichsam symbolische Handlung, welche die völlige Umnachtung einer bestimmten herrlichen, sonnigen, nun verscherzten Aussicht ins Leben bedeutete. Er legte sich gleichsam in sein Grab, da ja nun auch der Leben lügende Dämon in seinem Innern getötet und nicht mehr wirksam war. Waschi, die Katze, war ausgeschlossen.
Wie kam es, daß der robuste Mensch in diesen Zustand der Ohnmacht versinken konnte? Hatte ihn vielleicht ein langes, geheimes seelisches Leiden innerlich ausgehöhlt und war jetzt zur Krisis ausgeschlagen? Es gehörte zu Haakes Wesen, daß er nicht etwa nach und nach korrumpiert werden konnte, sondern sich plötzlich und fast bewußt fallen ließ. Dieser Bruch der Damen mit ihm war natürlich auf die Machenschaften irgendeines geheimen Gegners und Neiders zurückzuführen. Man lebte ja nicht allein zwischen den weiten Horizonten des Ewigen Roms, sondern war in ein kleines deutsches Künstlerdorf eingeschlossen, dessen Bewohner dafür Sorge trugen, daß Neid, Haß, üble Nachrede, Ehrabschneiderei und Verfolgungen nicht ausstarben. Aber was hatte es für einen Sinn, sich dawider aufzulehnen oder den Lumpenhund zu suchen, der diese erfolgreiche Mine gelegt hatte? Zu ändern war so oder so an der Sache nichts. Hätten die Damen, denen wahrscheinlich von irgendeiner Seite ein Teil seines Vorlebens in gehässiger Weise unterbreitet worden war, ihn gehört, so wäre ihm doch fortan der Weg zu Carola durch die eiserne Mauer seines eigenen Stolzes verschlossen geblieben. Und übrigens: irgend etwas aus seiner Vergangenheit abzuleugnen, lag ihm nicht. Die ersten vierundzwanzig Stunden verbrachte der Künstler in Entspannung bis zur Bewußtlosigkeit. Sie war nicht allein eine Folge des ungeheuren Kräfteverbrauches, den eine gewaltige seelische Erschütterung mit sich bringt, sondern die Folge der Arbeit des ganzen Winters. In seiner Werkstatt standen die Zeugen seiner übermenschlichen, pausenlosen Arbeitswut. Es ekelte ihn, sie zu sehen; ja auch nur an sie zu denken, widerte und empörte ihn. Waren sie aus der Erbschaft entstanden, die ihm im Blute saß, jener geduldigen, durch die Jahrhunderte bewährten, blut- und schweißgebadeten Arbeitskraft seiner Voreltern, so gehörte vielleicht zu dieser Erbschaft ein durch die Jahrhunderte summierter Arbeitshaß, eine jahrhundertelang unerfüllte Sehnsucht nach ruhigem Müßiggang, die sich ebenfalls auswirken wollte. Halb und halb dachte dies Haake selber: er genoß ... ja, er genoß eine durch Jahrtausende der Arbeit gleichsam verdiente Lebensmüdigkeit mit dem Wunsche zur letzten Ruhe.
War denn nicht das eigentlich hinter allem Roboten am Bau des Lebens uneingestandenermaßen einzige Sehnsuchtsziel der Tod? Eine schöne Magd hatte vor Jahren außerehelich ein Kind bekommen, dessen Vater Paul Haake war. Er war nicht der Mann, es abzuleugnen. Als er das Wurm bald nach seiner Geburt erblickte und bei seinem Anblick erwägen mußte, was alles es durchzukämpfen haben würde, ehe es auch nur so weit wäre, wie er damals war, wurde ihm schrecklich schlimm zumute, weil er zweifelte, daß es etwas gäbe, was diese unendlich vielen Schrittchen und Schritte, Schmerzen, Krankheiten, Enttäuschungen, Qualen und Mühseligkeiten lohnen könnte. Nur deshalb, weil er es verneinte, ging er befreit, wenn auch erschüttert, hinter dem Totengräber her, als dieser, das Särgelchen am breiten Gurt wie einen Leierkasten vor der Brust, den eben geborenen Erdenbürger wieder zu Grabe trug.
Später wußte es Haake nicht, ob er beinahe acht Tage nur darum ohne Nahrung geblieben war und nur Wasser getrunken hatte, weil er sich durch Hunger töten wollte. Als der Schlosser die Pforte geöffnet, weil Willi Maack gekommen war und, nachdem er von der Sachlage Kenntnis genommen, dies in der ersten Bestürzung veranlaßt hatte, fand man Haake bewußtlos und fiebernd vor, und schon eine Stunde darauf lag er, von Willi Maack übergeführt, im Deutschen Krankenhaus, wo man Typhus als Krankheitsursache feststellte. Wahrscheinlich hatte der alleinige Genuß schlechten Leitungswassers im Atelier eine Woche hindurch die Infektion verursacht.
Das war der Abschluß von Paul Haakes römischem Aufenthalt.
Vier Wochen nach seiner Einlieferung befand sich der Kranke auf dem Wege der Besserung. Dem Tode mehrmals auf Haaresbreite nah, rettete ihn seine Bärennatur. Damals lag das Deutsche Krankenhaus auf dem Kapitol. Sein Garten stieß an den oberen Rand des Tarpejischen Felsens. Dort saß Haake täglich unter Blumen, überwölkt von der weißen Blütenwolke eines alten Apfelbaumes. Aber er dachte nicht daran, sich über den Felsen hinunterzuwerfen: er saß so lange, bis er wieder leidlich gehen und stehen konnte und, menschliches Heimweh im Herzen, das Krankenhaus verließ. Jede Vorsorge war von dem guten Willi Maack getroffen worden, der so lange in Rom ausharrte, bis er seinen Freund außer Gefahr wußte. Er hatte inzwischen die letzten Arbeiten seines Freundes abgießen lassen und alle Hohlformen, auch die, welche schon vorhanden waren, unter seiner Bewachung sorgfältig in Kisten verpackt, nach Breslau gesandt. Mitte Juni traf Haake selbst dort ein, nachdem er sich in einem Alpendorf der Schweiz völlig von seinem Leiden erholt hatte.
Der Bildhauer nahm seine Arbeiten in der Haupt- und Residenzstadt Breslau sogleich wieder auf. Krankheit und Genesung hatten seine Seele gleichsam gereinigt, ihn weicher und empfindsamer gemacht. Seine Gesellschaft im Gartenfrühling des Krankenhauses war „Titan“ von Jean Paul und „Hyperion“ von Hölderlin, tiefste Vermächtnisse der deutschen Seele, deren Empfindungs- und Vorstellungswelt ihn auch in Breslau noch umgaben und die Atmosphäre seiner Werkstätte adelten.
Willi Maack ließ mehrere Monate verstreichen, bevor er auf die Katastrophe von Rom zu sprechen kam. Auch dann tat er es nur, weil Haake selbst bei einer gemeinsamen Abendmahlzeit zum allerersten Male überhaupt die Unterhaltung darauf lenkte.
Willi Maack war nicht der Mann, eine Beleidigung seines Freundes, wie er sie in dem Verhalten der Damen sah, ruhig hingehen zu lassen. Die Sache, als er sie zuerst erfuhr, hatte in der deutschen Kolonie von Rom das Wesen eines Skandals angenommen, für den Haakes Ruf die Kosten decken sollte. Aber Haake war krank und erfuhr nichts davon. Übrigens war er an sich so schwer getroffen, daß ihn ein bißchen mefitischer Gestank als Begleiterscheinung kaum ernstlich erregt hätte. Anders Willi, der, aufs äußerste entrüstet und empört, in dem, was Haake geschehen war, ein Verbrechen sah, dessen Schuld freilich nicht bei den Damen lag, sondern bei irgendeinem Dunkelmann, dem auch sie zum Opfer gefallen waren. Diesen Dunkelmann mußte er aufstöbern.
Einige Tage sprang er hin und her, zur Rechten, zur Linken, wie ein Frettchen im Kaninchenbau der deutschen Kolonie, überall hämische Behauptungen, bösartige Fehlurteile und nichtswürdig erfundene und geglaubte Gerüchte abwürgend. Da sollte Haake gegen Zahlung einer Geldsumme katholisch geworden sein. Eine dicke Kunstreitersfrau sollte ihn aushalten. Er hatte gesessen, das eine Mal wegen Urkundenfälschung, das andere Mal wegen Bettelei. Nun war der Bildhauer wirklich während seiner Handwerksburschenzeit einmal auf kurze Zeit festgesetzt worden, weil er, wie üblich, jemand um eine milde Gabe angegangen hatte. Er sprach selbst mit dem heitersten Freimut davon. Alles übrige hatte ruchloser Klatsch erfunden.
Nicht erfunden: nein! Mit der frechen Gewissenlosigkeit, die ihm eigen ist, hatte der Klatsch einfach, wie der junge Baumeister später feststellen konnte, das Schuldkonto seines perfiden Gegners auf den Bildhauer übertragen. Denn schließlich gelang es Maack, diesen Feind und Dunkelmann wirklich aufzustöbern: in Egon Schmidt, einem sogenannten Kunsthistoriker. Dieser war in der Tat katholisch geworden, wegen Führung falscher Namen und Titel und wegen Urkundenfälschung vorbestraft und erhielt Geldbriefe von einer Zirkusdirektorin.
Der Weg seiner Ermittlungen führte Maack zunächst auf das Deutsche Konsulat. Ein junger Vizekonsul, den er gut kannte, eröffnete ihm, es seien auf Betreiben der Schwedischen Botschaft Erkundigungen über Haakes Vorleben eingezogen worden. Insonderheit darüber, ob er mit einer kleinen Kunstreitergesellschaft herumgezogen, ob er ein Trinker sei und ob es wahr sei, daß man aus diesem Grunde davon Abstand genommen habe, ihn mit dem Titel Professor an der Breslauer Kunstschule anzustellen. Die Fragen waren mit ja beantwortet worden. Augenblicklich wisse man nicht, setzte die überaus schlaue und hellsichtige Regierungsstelle hinzu, wo der p. p. Haake verblieben sei.
Über das Eingreifen der Botschaft zum Zwecke der Trennung eines Eheverlöbnisses zwischen einem schönen Mädchen und einem großen Künstler war Willi im höchsten Maße aufgebracht. Da war nun wieder ein Botschaftsrat, den er kannte und den er sofort nach Kenntnis der Sachlage aufsuchte. „Wir sind düpiert, wir sind hinters Licht geführt worden,“ sagte der Botschaftsrat. „Es handelt sich da um die Intrige eines der bekannten Nicht-Gentlemen, ohne die keine Regierung recht auskommen kann. Er ist der Schwedischen Botschaft von einem Kardinal als Dolmetsch und Cicerone für die Damen Ingeström empfohlen worden und hat die Damen an drei verschiedenen Tagen geführt. Auf seine Berichte über Haake ist die schwere Beunruhigung zunächst der alten Dame Ingeström, sind die Bemühungen der Deutschen Botschaft durch die Schwedische und sind die Recherchen zurückzuführen, die man über den Meister Haake anstellte. Wie die Auskünfte lauten, wissen Sie.
Ich sagte Ihnen, wir seien düpiert worden: was besagen denn schließlich die Auskünfte? Der Künstler ist mit einer Kunstreitergesellschaft gereist. Dazu hatte er vielleicht als Zeichner und Plastiker gute Gründe. Er ist im betrunkenen Zustand gesichtet worden. Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann! singt das deutsche Lied. Man hat bisher gezögert, ihn als Professor anzustellen. Jetzt wird man vielleicht nicht mehr zögern, wenn man die Riesenarbeit dieses Winters zu Gesicht bekommt und von seinem auch im übrigen exemplarischen Leben erfährt. Bei den Damen wurde ihm aber verhängnisvoll, daß die Auskünfte zu bestätigen scheinen, was ihnen dieser — im Vertrauen gesagt! — Schweinehund von einem Cicerone aufgebunden hat. Es heißt, er soll sich dafür gerächt haben, daß ihn Haake einmal unsanft aus dem Atelier befördert hat.“
Willi quittierte: „Ich danke für Obst und andere Südfrüchte. Jetzt ist also Haake vollkommen unschuldig. Er stand allgemein geachtet, allgemein bewundert da. Seine Anstellung, wenn er heimkam, war selbstverständlich. Nun hat man Erkundigungen über ihn eingezogen, die in einer recht schlagenden, undifferenzierten Weise ausgefallen sind. Sein glorreicher römischer Aufenthalt hat mit einem Skandal abgeschlossen. Seine Braut hat ihn sitzenlassen. Hochstehende schwedische Damen haben sich entsetzt und entrüstet von ihm abgewandt, sie haben Rom mit Protest verlassen. Was glauben Sie, wie das auf den Ruf Haakes in der Heimat, bei der Regierung, im Kultusministerium und auf den Gedanken seiner Anstellung zurückwirken wird!“
Da nun bei jenem Abendessen Willi dies und das aus der im Wege seiner Nachforschungen zusammengetragenen Sammlung von Schmutzerei, Nichtswürdigkeit, Gemeinheit und Infamie zum besten gab, entsprach dies alles so ungefähr der Art, wie sich Haake die Sachen zusammengereimt hatte. In seiner derben Art nannte er den Verleumder, Konvertiten und Baron einen „Vorneherum und Hintenherum“, dem das Heroldsamt tatsächlich zum mindesten einen Weg zugebilligt habe und dessen römische Karriere und Einverleibung in die katholische Kirche zunächst wohl durch eine der bekannten unheiligen Handlungen eines Kardinals vorbereitet worden sei. Dies wurde, wie der Architekt bestätigen konnte, bei Konsulat und Botschaft nur mit listigem Augenzwinkern geleugnet.
Am ersten Oktober trat Haake seine Stellung als Professor der Kunstschule an. Hauptsächlich infolge der Bemühungen Willi Maacks war es nun endlich doch so weit. Von Rom hatte der Bildhauer die Nase voll. Da er aus Gründen einiges wieder in Italien arbeiten wollte, verbrachte er die Monate Februar, März und April in Florenz, wo der Marmor Carraras leicht erreichbar war und er wohlfeil geschickte Abbozzatoren haben konnte. Es war hier in Florenz, wo ihm einer dieser italienischen Gehilfen die Karte eines Besuchers in den innersten Arbeitsraum brachte, auf der Carola Ingeström zu lesen stand. Er rief sein deutsches Faktotum herbei und gab ihm in völliger Ruhe diesen Auftrag: „Geh hinaus, Neumann, und sage der Dame, daß ich zu Hause sei, daß ich mir aber ein für allemal ihre Besuche verbäte. Verstehst du mich? Ich verbitte mir ihre Besuche für jetzt und immer, wann es auch sei. Sie möge mich also nicht mehr belästigen!“
Der Leumund Haakes stand nun so, daß er, wenn er gewollt hätte, unter den Töchtern der ersten Familien Breslaus die Auswahl hatte und ebenso unter den Töchtern des konservativen schlesischen Landadels mit oder ohne elterliche Einwilligung. Aus diesen Kreisen strömten ihm eine Menge Schülerinnen zu, die sich um jeden Blick, jede freundliche Miene, jedes Wort des Meisters stritten, dessen Anziehungskraft als Lehrer eine ganz ungewöhnliche blieb. Im Frühjahr war Haake nach Breslau zurückgekehrt, im Oktober besuchte der Kaiser sein Atelier, fand nichts zu tadeln an seinen Bildwerken, und damit hatte sein Ruf, zum mindesten in der Stadt Breslau, einen Punkt erreicht, der kaum noch zu überbieten war. Das Denkmal in Gleiwitz, der Brunnen in Breslau waren aufgestellt und von der Presse glänzend beurteilt worden.
Abermals war ein Arbeitswinter vorübergegangen, als eines Tages ein unerwarteter Umstand Haakes Stellung von Grund aus veränderte. Von einem Ferienausflug nämlich war Haake nach etwa vier Wochen in Begleitung eines jungen weiblichen Wesens zurückgekehrt, das er als seine Frau vorstellte. Die Angetraute war eine geborene Wanda Schiebelhut.
Von dem Schritt des Meisters war niemand unter allen, die ihm wohlwollten, so recht erbaut, am wenigsten aber Willi Maack, obgleich er natürlich der erste war, der sich über das Unabänderliche mit Humor hinwegsetzte. Der Schülerinnenzudrang ließ etwas nach, was jedoch niemand, am wenigsten Haake, bedauerte. Man riß sich bis dahin um Haake bei allen Gesellschaften. Da er von nun an ohne seine junge Frau nicht erschien, stand man davon ab, ihn, außer zu Herrenabenden, einzuladen. Auch das war Haake nur angenehm. Niemand wußte, wieso die Wendung in seinem Leben so plötzlich eintreten konnte. Sie hatte sich gar nicht vorbereitet. Selbst Willi Maack traf sie wie eine Überrumpelung. Es hatte sich folgendermaßen zugetragen:
Niemand hatte darauf geachtet, als eines Tages ein kleines Modell nach dem Bildhauer fragte und von ihm empfangen wurde. Das Persönchen glich etwa jenen kleinen, dürftig gekleideten Laufmädchen, die bei Putzmacherinnen Hutschachteln und dergleichen austragen. Wie sich im Atelier herausstellte, war es Wanda Schiebelhut. Der Bildhauer, welcher, gerade auf einer Leiter stehend, an einer überlebensgroßen Figur, Albrecht Dürer darstellend, arbeitete, geriet, als er sie erblickte, zunächst in einen Zustand der Sprachlosigkeit. Es war nicht entschieden, welche von allen Regungen, die sich im Ausdruck seines Gesichtes ablösten: Schreck, Verblüffung, Entsetzen, Grauen, Haß, Wut, Angst, den Sieg davontragen würde. Ein Tonklumpen fiel aus seiner Hand, ein Bund Modellierhölzer regnete auf den Fußboden.
Das Mädchen stand auf der untersten von zwei Treppenstufen, die von der Tür ins Atelier hinabführten. Kein Wort der Begrüßung kam von ihr. Als ihr jedoch das lastende Schweigen zu lange währte und bedrohlich schien, warf sie, eins zwei drei, das Mäntelchen ab, zog die Schuhe aus, riß das Jäckchen, das Mieder, das Röckchen herunter, worauf die Drahtseilkünstlerin im schwarzen Trikot mit roter Schleife zum Vorschein kam. Nach diesem Manöver hatte der Bildhauer nur noch die eine Möglichkeit, sich auf Gnade und Ungnade zu ergeben und auszuliefern.
Nachdem bei verschlossenen Türen die Begrüßungen ausgetauscht waren, durch welche eine lange öde Zeit der Entbehrungen sich in fast verzweifelter Raserei schadlos zu halten suchte, ließ sich Haake erzählen, wieso ein solcher Besuch Wanda in den Sinn gekommen und wie er menschenmöglich ward.
Es war Wanda endlich zu bunt geworden. Nicht nur hatte ihr Flunkert niemals Gage ausbezahlt, er hatte ihr auch alles, was sie etwa geschenkt bekam, aus der Tasche gezogen. Auf dem Drahtseil blamierte sich nun meist die junge Direktorin. Sie hatte vom Kindbett einen dicken Bauch, dünne Beine und einen Nabelbruch zurückbehalten. Wenn sie auftrat, lachte das Publikum. Flunkert war diesem Weibe gegenüber zum Schwächling geworden, ihr, Wanda, gegenüber wurde er immer brutaler und viehischer. Zustände waren das überhaupt! — Und die Sachen hatten sich kompliziert. Durch eine Schlangendame, die engagiert worden war, wurde der ganze Zirkus außer Rand und Band gebracht. Selbstverständlich, daß sich die Schlange zunächst um Flunkert ringelte, wodurch sie es mit dem Nabelbruch zu tun bekam. Sie, Wanda, mußte ehrlich gestehen, sie stehe in diesem Fall auf Seite der jungen Direktorin. Bei einem Handgemenge, das diese mit der Klapperschlange gehabt hatte, war Wanda zugesprungen und hatte die Schlange am Genick zu fassen gekriegt und zurückgerissen. Jede Gelegenheit benützte dieses Mensch — Gutshaus, Dorf und kleine Stadt —, um sich außer der Reihe Geld zu machen, und keinen Heller rückte sie raus. Nie trat sie auf, wenn Flunkert nicht vorher ihr Spielhonorar gezahlt hatte. In dieser Beziehung hatte der Schuft in ihr seinen Meister gefunden: eine Sachlage, der Wanda ihre eigene sträfliche Dummheit entnehmen konnte. Dieser Blutsauger, dieser Tyrann, dieser Menschen-, Pferde- und Hundeschinder hatte ihre Gutmütigkeit bis zum letzten Tropfen ausgepreßt. Wanda verfügte, wie sie vor Haake stand, obgleich sie die ganze Zeit nichts ausgegeben und nur gearbeitet hatte, nicht über mehr als zwei Mark im Geldtäschchen, die sie, das war ihr gutes Recht, beim Sammeln vom Teller genommen und beiseite gesteckt hatte. Nur hie und da durfte sie einmal auftreten, sonst nützte man sie als Mädchen für alles aus. Im Bettenmachen, Geschirreausgießen und -reinigen, Milchabkochen, Herumschleppen des Kindes bestand ihre Tätigkeit. Sie mußte die ekligen Hemden und Unterhosen des Flunkertpaares im Waschfaß walken, Trikotagen stopfen und reinigen und schließlich noch der Bulldogge das widerliche Fressen mit den Fingern einrühren. Sie wußte nun, was das Leben war, sie hatte gelernt, sie hatte bereut. „Und entweder,“ sagte sie, „nimmst du mich für immer zu dir, Paul, oder aber ich gehe ins Wasser!“
„Wie eine Erleuchtung,“ schloß sie, „ist das über mich gekommen, Paul! Der Zirkus steht nämlich wieder vor demselben Hause hier draußen in Breslau, wo du damals wohntest und wo wir beide aus dem Fenster geblickt haben, als Flunkert mit dem Schmitz immer uns unter die Nase knallte. Die größte Dummheit, der größte Wahnsinn, das größte Verbrechen meines Lebens schloß sich daran. Augenblicklich rannte ich fort, als die Erleuchtung diesmal über mich kam. Und nun bin ich da. Schlag mich, erschieß mich, Paul! Ich verdiene nichts Besseres. Ich hab’s verdient! Aber nur von dir, Paul, will ich die Strafe erleiden!“
Das Ehepaar Haake bezog eine hübsche Wohnung am Stadtgraben. Die Einrichtung der fünf Zimmer besorgte Maack. Sie war gediegen, nicht exzentrisch, und atmete eine gewisse Behaglichkeit. Aus Rom hatte Haake einige Antiken, griechische Marmortorsen, Vasen, Terrakotten und Münzen mitgebracht: sie zierten die Räume und adelten sie, auf Säulen gestellt oder in hübschen Glasschränken untergebracht. Kein Zweifel, daß Wanda ein Racker war und daß sie viel auf dem Kerbholz hatte. Aber sie war gescheit, gelehrig und keineswegs langweilig. Der Architekt, der ihr dieses Zeugnis gab, setzte hinzu, wenn sich ein Mann in sie verschieße, so sei an der Tatsache nichts Befremdliches. Schon aus Grundsatz, und weil das Gegenteil die Sachlage nur verschlimmern konnte, nahm er überall Wandas Partei. Sie war vergnügt. Mit viel Geschick fügte sie sich auf gute Art in die neuen Umstände, und Haakes Gäste, meist allerdings nur Männer und Kunstgenossen von der Akademie, fanden sich von ihren Pikanterien und Drolerien angeregt, wobei gewisse Entgleisungen, denen sie unterlag, das Vergnügen der Geselligkeit im Hause Haake nur würzen konnten.
Bald war die junge, kindhaft reizende Professorenfrau an der Seite ihres Gatten eine bekannte Erscheinung geworden, nicht zwar in den Gesellschaften, aber in den besseren Breslauer Restaurants. Der Bildhauer putzte sie mit unermüdlicher Liebe, wie ein Kind seine Puppe, heraus.
Hätt’ ich irgend wohl Bedenken,
Balch, Bochara, Samarkand,
süßes Liebchen, dir zu schenken,
dieser Städte Rausch und Tand?!
Nein, er hatte keine Bedenken. Nackt ist sie am schönsten! sagte er. Aber das soll man ahnen, soll man wissen, soll man voraussetzen, wenn man diesen köstlichen Schatz verborgen oder mit schützenden Hüllen umgeben sieht, indem man aus der Kostbarkeit dieser Umhüllungen Schlüsse zieht.
Dieses Verhalten Haakes war bei einem Künstler natürlich. Es schadete ihm nach außen nichts. Da ist der Professor, sagte man, mit der schönen Seiltänzerin! Er war nur noch interessanter geworden. Um Wandas willen wurden die jungen Kürassieroffiziere und Avantageure vorübergehend zu Kunstfreunden. Aber der Bildhauer war auf der Hut. In ihm glimmte allbereits der Lynkeusfunke der Eifersucht. Willi Maack war im ganzen zufrieden mit der Entwicklung, welche der Geniestreich Haakes genommen hatte. Tat dem Bildhauer kein Geldbetrag für die Ausschmückung seines Idols leid und ging er bis an die Grenzen seiner Bezüge, so verdoppelte sich zugleich sein Fleiß, und man mußte schon übelwollend sein, wenn man den Aufstieg seiner Karriere hinwegleugnen wollte.
Der Professor gehörte nicht zu den Leuten, die durch Titel und Amt zu verändern oder gar zu schablonisieren sind. Seine Art zu sein, sich zu gehaben, zu reden war in ihrer breiten Natürlichkeit unveränderlich. Es war ja klar, daß man auch seine Frau nach einer gewissen Probezeit in die Gesellschaft aufnehmen würde. Haake entbehrte durchaus nichts, solange es nicht geschah, aber er langweilte sich, da er sich überall gehen ließ, auch in Gesellschaft nicht. Was er sprach, hatte Hand und Fuß und war durch keinerlei Rücksicht eingeengt. So war Haake überall gern gesehen, zumal ihm der Frack ausgezeichnet saß, und man gönnte ihm den Raum und die Redefreiheit einer Persönlichkeit. Am lustigsten, derbsten und geistreichsten aber erwies sich Haake unter seinen Kunstgenossen beim Wein. Es zeigte die volle Gesundung seiner Person, daß er dabei, aus der Gesamtheit seines Lebens von unten auf, ohne irgendwelche Partien zu verheimlichen, mit breitem Behagen schöpfend, reden und erzählen konnte. Da war Willi Maack, waren die meisten seiner Kollegen völlig verliebt in ihn. Kann es etwas Schöneres geben, als wenn sich aus dem immer und ewig so schwer bedrückten Volkstum ein Mann mit breiter Brust, starken Schultern und freiem, unabhängigem Geist erhebt? Er ist eine Macht; sie stellt ihre Ansprüche. Wenn er redet, spricht er von sich. Haßt er jemand, ist er es, der haßt. Hat er Pläne, ist er’s, der sie hat. Hat er Glück, ist er’s, der es hat. Und hat er ein Weib, dessen Besitz ihn vor Seligkeit beinahe wahnsinnig macht, so spricht er tagaus, tagein von diesem Weibe.
Als unverbildeter Mensch und Künstler sah Haake nichts Arges darin, von den einzigartigen Eigenschaften, Fähigkeiten und Reizen Wandas immer wieder ganz offen zu reden und jedermann mit Verachtung zu strafen, der ihr irgendein weibliches Lebewesen auch nur von ferne gleichsetzen wollte.
Honigmond auf Honigmond war mit dem glühend heißen Breslauer Sommer vorübergegangen. Um die Weihnachtszeit konnten es die im Hause verkehrenden Freunde deutlich erkennen, daß bei dem Ehepaar Haake nicht mehr alles ganz im Lote war. Was man und was insonderheit Willi Maack beobachtete, sprach aber mehr gegen den Bildhauer als gegen die junge Frau, welche immer wieder von ihrem Gatten Ausbrüche finsterer Laune zu erdulden hatte. Versuche Wandas, Versuche der Freunde, den Meister aufzuheitern, waren umsonst oder halfen nur kurze Zeit. Es war der schreckliche Dämon der Eifersucht, dem er verfallen war.
Im Januar nahm Willi Maack eines Tages der jungen Professorsfrau die Beichte ab. Er hatte gesehen, wie sie im Atelier, auf der Straße, bei Tisch von Haake gequält wurde. Ärger war, was er nun erfuhr. Mochte auch Übertreibung von Wandas Seite mit unterlaufen, es wurde klar, daß sie ein keineswegs rosiges Dasein, sondern eher eine Art Fegefeuer zu bestehen hatte.
„Da und da im Restaurant,“ sagte Wanda, „fing es an. Da hieß es, ich hätte Blicke gewechselt.“ Als ein Kürassieroffizier zu Haake gekommen war, um eine Bronzebüste in Harnisch und Helm von sich machen zu lassen, wurde das auf eine schnöde Art abgelehnt. Wanda habe, erklärte dann seinem Weibe der Herr Gemahl, diesem windigen Gecken Mut gemacht, sozusagen mit Hilfe von Sitzungen ihn mit ein paar appetitlichen Hörnern auszustatten. Er sei kein Gelegenheitsmacher oder gar Zuhälter, sagte er.
Zu solchen Vermutungen, solchen Annahmen — Wanda weinte und schwor! — war nicht der geringste Grund, wie denn auch die tadellose Haltung der kleinen pikanten Person, seit sie verheiratet war, allgemein anerkannt wurde. Hatte sie von einem Postamt Briefe mit chiffrierter Adresse, von Flunkert oder anderer Seite stammend, abgeholt? Ihr Gatte warf ihr das freilich vor, ohne daß er aber einen dieser Briefe gesehen hätte.
Er selber hatte mit ihr kostbare Stoffe, Hüte, seidene Strümpfe und Unterwäsche eingekauft, besprach mit der Schneiderin ihre Kleider, deren Schnitt er selber entworfen hatte. Jedes Strumpfband wählte er aus. Und nun auf einmal wurde er mißtrauisch und gedrückt, wenn sie dieses Armband, jenes Paar Schuhe, diesen Mantel, jenen Pelz, diese Haarspange, jenes ausgeschnittene Kleid anlegte. Hinter allem versteckt lag irgendein sündhafter Grund, eine betrügerische Absicht, die seine Eifersucht witterte.
Geradezu eine psychische Krankheit war diese Eifersucht. Im Anfang wußte es Haake beinah genau, daß sie keinen tatsächlichen Grund hatte. Nahm er ihr doch gnadenlos ein kleines Bologneser Hündchen weg, weil sie Zärtlichkeiten an es verschwendete. Er sagte manchmal, sie könne ja nichts dafür, daß ihr gebrechlicher, lüsterner Körper die Blicke und Begierden aller Männer auf sich ziehe. Aber das sei doch eine Tatsache! Und weil es eine Tatsache war, erwog er allen Ernstes, ob er Wanda nicht während seiner Abwesenheit im Atelier in der Wohnung mit einem alten Weibe als Bewachung einsperren sollte. — Willi standen die Haare zu Berge. — Wenn sie ausgehe, sagte Wanda, lasse der Bildhauer sie beobachten. Wenn sie ein Käsebrötchen in einem Laden gegessen habe, wisse er es am Tage darauf. Sie brauche nur zweimal den Namen irgendeines Bekannten zu nennen, so werde Haake totenbleich, auch wenn er eben laut gelacht habe. „Ich weiß nicht, wie das noch enden soll!“ hatte er einmal zu Wanda gesagt. „Meine Liebe zu dir ist jetzt, wo ich dich täglich und stündlich und ganz besitze, beinahe noch schmerzhafter, quälender, sinnlos unmäßiger als in den Zeiten, da ich dich suchen ging. Ich weiß ja, du bist zu nichts anderem da. Alle müssen ja auf dich fliegen und in dich hineinstürzen. Du bist ja die reinste männermordende Gottesanbeterin: das aber macht mich ja eben zu deinem Hörigen! Und trotzdem, wenn ich dir je wieder etwas nachweise, Wanda, bist du nicht mehr! Du bist von der Straße, du bist eine, die dorthin gehört! Eine Allerweltshure bist du! Den Kerl möchte ich morden, der nicht für eine Nacht mit dir seine Seele verkaufen würde. Aber wehe! wehe! wehe!, wenn auch nur der kleinste Gedanke an Untreue in dir ist!“
Sorgenvoll schüttelte Willi den Kopf.
Wanda ging weiter in ihren Herzensergießungen. Sie sagte ganz offen, wenn sie gewußt hätte, was ihr bevorstehe, wäre sie lieber geblieben, wo sie war. Dieses goldene Elend sei fürchterlich. Sie habe Haake immer noch gern. Aber allmählich würden andere Gefühle bei ihr die herrschenden: Angst, Furcht, Schreck, Entsetzen, Abscheu, Haß. Er mißbrauche, erniedrige sie ohne Maßen. Mit seiner brutalen Gewalt zwinge er sie in der leeren Wohnung, aus der er alles Hauspersonal entfernt habe, zu Dingen, die man nicht einmal aussprechen dürfe. Er habe ja schließlich die Kraft eines Stiers. Sein Nacken, das sähe ja Maack, sei wie ein Stiernacken. Dann träten ihm auch die Augen wie zwei Stieraugen aus dem Kopf hervor. Dann sei es so, daß sie manchmal eine Stunde in tiefer Ohnmacht zugebracht habe, bis sie schließlich von dem nun verzweifelten Manne, der sich angstvoll und schweißbedeckt über sie beugte, wieder ins Leben zurückgerufen worden sei. Schon öfters hatte sie sich gefragt, wenn sie außerhalb des Hauses war, ob sie sich nochmals in diesen Lustkerker, diese Glückshölle zurückbegeben oder auf Nimmerwiedersehen davongehen sollte. Aber dann hatte ihr jedesmal Haake wieder leid getan.
Er zog sie aus, er richtete sie ohne alle Bekleidung, nur mit goldenen Fuß-, Arm- und Halsspangen, das schwarze Haar mit Perlen durchflochten, zur Tänzerin her. Und während er saß und trank, mußte sie tanzen. Und wenn er auf brutale Weise ihre Ermüdung bis zur Erschöpfung durchgesetzt hatte, begann er den wildesten Teil seiner Orgie.
Armer Paul Haake! dachte Maack und sah, wie der Blitz eines Verhängnisses über dem Hause des Bildhauers in einer schwarzen Wolke gebraut wurde.
Im April stellte Direktor Renz unweit des Freiburger Bahnhofs ein riesiges, rundes, ziemlich feuergefährliches Zirkusgebäude aus Brettern auf, in welchem einige tausend Menschen amphitheatralisch um die Manege herum sitzen konnten. Ganz Breslau sprach nur noch davon und erwartete mit höchster Spannung den gewaltigen, nie dagewesenen Apparat, mit dem man diesmal die Schaulust der Massen befriedigen wollte. Man erzählte sich von den vierundzwanzig milchweißen Araberhengsten, die der junge Renz gleichzeitig in der Manege ihre Bewegungen ausführen ließ, von Tom Billing und einigen anderen weltberühmten Clowns, von Ozeana, einer Drahtseiltänzerin, zubenannt die Sylphide der Luft, welche die derzeit schönste Frau der Welt sein sollte. Jedermann in der Stadt war aufgeregt lange vor Beginn der ersten Vorstellung. Nachdem sie aber erst stattgefunden hatte, brach ein Rausch, ein Taumel über die Haupt- und Residenzstadt herein. Das große Stadttheater, Oper und Schauspiel sowie das Lobetheater blieben leer und verloren ihre Leuchtkraft wie Lichtstümpfe, wenn die Sonne über den Horizont gestiegen ist.
Entschieden war Ozeana die größte Sensation. Der Kommandeur des Leibkürassierregiments war ebenso betört und betrunken von ihr wie der Sextaner, der mensa zu deklinieren kaum angefangen hatte, der Stadtgouverneur, Herzog von Soundso, ebenso wie der Sohn des jüdischen Althändlers auf der Stockgasse. Für die Frauen, die sich zum Teil nicht minder für Ozeana begeisterten, waren andere Götter da, zum Beispiel ein Jockei, der auf ungesatteltem Pferd nie gesehene Kunststücke ausführte. Übrigens waren der Nummern so viele, daß jeder auf seine Rechnung kam.
Im zweiten Teil des Abends wurde gewöhnlich ein großes Spektakel veranstaltet, in dem Elefanten, Pferde und Strauße mitwirkten. Eine Steeplechase in Form einer Jagd über Hindernisse auf Straußen und Gazellen wurde dabei ausgeführt. Das Donnern der Hufe über hölzerne Rampen hinauf hörten die Breslauer noch im Traum. Jung und alt aber sang die süße Melodie eines Stückes, das vom hohen Altan des Zirkus einsetzte, wenn, vier und vier, die weißen Hengste mit roten Gurten und Troddeln, unter lautlosem Schweigen, in die Manege tänzelten, und welches „Klosterglocken“ genannt wurde. Die Triangelschläge bildeten den besonderen Reiz dabei.
Für Paul Haake, und wahrscheinlich nur für ihn, stieg das ganze Ereignis eher wie eine Wolke denn als eine Sonne über dem Horizont herauf. Solchen Veranstaltungen im Grunde leidenschaftlich geneigt, stand er ihnen aus Gründen, die in seinen Erlebnissen lagen, jetzt mit Zurückhaltung gegenüber. Es war ihm, als sollte er lieber nicht hinblicken, wo etwas dergleichen in Erscheinung trat. Dagegen war Wanda außer Rand und Band. Die Verschmitztheit ihrer Natur ermöglichte ihr, das vor dem Gatten zu verbergen. Als sie durch gelegentliches Antippen, durch leicht hingeworfene Fragen, ob Haake nicht seiner Stellung wegen dem gesellschaftlichen Ereignis der ersten Vorstellung beiwohnen müsse, keine Gegenliebe fand, beschloß sie, koste es, was es wolle, doch dabeizusein.
Dies durchzusetzen, war bei ihrer Entschlossenheit eine Kleinigkeit. Der Bildhauer wurde in diesen Tagen zu einer Besprechung in Gleiwitz erwartet. Die gemeinsame Reise dorthin war für den Tag der Zirkuseröffnung festgesetzt. Daß Wanda mitreisen würde, darüber ließ sie bei Haake bis zum Morgen des Reisetages einen Zweifel nicht aufkommen. An diesem Morgen blieb sie zu Bett, schützte Unterleibskrämpfe und wüstes Kopfweh vor, war verzweifelt, daß sie daheim bleiben sollte, und drängte Haake, die nun einmal fällige Fahrt nicht aufzuschieben. Da auch er in ihrem Rat die einzig vernünftige Lösung sah, ging er arglos darauf ein, nahm Abschied und war damit für diesen und den folgenden Tag von Breslau ferngehalten.
Als er am dritten Tag wiederkam, konnte seine Frau den Versuch machen, sich vom Bett zu erheben und aufzubleiben. Es gelang ihr wider Erwarten gut. Was ihr schwerfiel, war das Verbergen und Insichverschließen der ungeheuren Eindrücke, der nie gesehenen Wunder, die am Eröffnungsabend des Zirkus Renz, dem sie beigewohnt hatte, über sie hereingebrochen waren. Aber auch dies gelang ihr vermöge einer fast übermenschlichen Willenskraft.
Eine Woche ließ Haake vergehen, bevor er, dem allgemeinen Drängen seiner Freunde, insbesondere dem Willi Maacks nachgebend, Karten für den Zirkus nahm und damit dem schmerzhaft gestauten Verlangen seiner Gattin endlich genügte. Über die nun zutage tretende Erregung Wandas wunderte sich der Künstler nicht. Die Erscheinung war ja ganz allgemein und hatte schließlich auch ihn befallen. Und wenn sie mit dem Artistenblut seines Weibes zusammenhing, so war sie auch darum nicht zu verurteilen. Ihn beherrschte noch immer eine argusäugige Eifersucht, aber schließlich war er an ihrer Seite, und ihm auf irgendeine Weise sein angetrautes Weib zu entwinden, würde eine unausführbare Unternehmung geblieben sein.
Man saß zu dreien in einer Loge. Freund Willi hatte sich angeschlossen.
Er konnte unmöglich den Angeber machen und dem Bildhauer mitteilen, er habe Wanda zur Zeit, als dieser in Gleiwitz war, nicht nur auf ihrem bezahlten Platz, sondern auch während der Pausen im Gespräch mit Tom Billing, dem Dummen August, gesichtet, da er begreiflicherweise Unrat witterte. Heute, schon beim Betreten des Zirkus, als er die Sünderin scharf beobachtete, merkte er, welchen verhängnisvollen Grad das Artistenfieber bei ihr erreicht hatte. Kaum hörte sie mehr, was man zu ihr sprach. Sie wurde heftig, ja ungezogen, wenn man ihre alles verschlingenden Fieberaugen irgendwie ablenkte. Der Geruch der riesigen Schaubude, der Manege, der Ställe wirkte auf sie wie Stechapfeldunst. Und wenn sie einerseits in dem Gewühl und Gesumme des Menschenkraters nur selbstvergessene Masse war, so hatte sie gleichzeitig etwas Erwecktes, Sprunghaftes, einem seltsamen, wilden Vogel ähnlich, der, lange gefangen, sich unvermutet in der offenen Tür seines Käfigs sieht: im nächsten Augenblick wird er davonfliegen.
Die Stallmeister kamen und bildeten wie üblich Spalier. Im nächsten Augenblick hörte man Lärm: eine Armee von Clowns, an der Spitze der Dumme August, wurden in die Manege geworfen. Nach einem prächtigen dicken Kaltblüterschimmel, auf dessen Rücken man gut eine Sommerlaube hätte errichten können, erschien die zum Urbestande jeder Manege gehörende Kunstreiterin, eine Balletteuse mit Reitpeitsche. Graziöse Sprünge führten sie bis in die Mitte des Raumes, wo sie Knickse nach allen Seiten machte, um bald darauf mit den bekannten hellen Vogelschreien immer wieder Seidenpapier zu zerreißen, das große Reifen verschloß, durch die sie vom galoppierenden Pferde sprang.
Hodgini, der Jockei auf ungesatteltem Pferde, war die erste größere Sensation. Wiederum war es ein kräftiger Schimmel, auf dem er seine Kunststücke ausführte. Wahrscheinlich war der glänzende Rücken des Tieres, um ihn glatt zu machen, mit Kreidestaub imprägniert, damit der tollkühne Reiter um so leichter hinauf- und hinabgleiten konnte. Denn während es im gestreckten Galopp die Manege umkreiste, sprang er ab und auf. Er sprang auf, indem er zunächst den Gurt faßte. Später sprang er, neben dem Tiere gleichen Schritt haltend, ohne den Gurt zu fassen, auf. Und schließlich, ohne den Gurt zu fassen, sprang er so, daß er auf der breitgebauten Kruppe des Gaules sicher Fuß faßte. Der Zirkus brach in frenetischen Beifall aus.
Wanda schrie und zerklatschte die bis über die Ellbogen reichenden Handschuhe. Dem Bildhauer war nach der Art, wie sie seine Dämpfungversuche heftig ablehnte, so zumute, als maßregelte ihn eine fremde Frau. Die Fremdheit wuchs mit jeder weiteren Vorführung. Dabei machten die mondhaft durchsichtige Blässe ihrer feinen Züge, das nächtliche Haar und die düster zuckenden Fanale ihrer Augen den Gatten fast wahnsinnig. Sie hatte sich mit offenem Mund so weit vorgebeugt, daß die unter ihr in Reihen sitzenden Leute beinah von den Spitzen ihrer schwarzen Haarwellen berührt wurden. Es war Haake vorgekommen, als hätten Tom Billing und sogar Hodgini mehrmals zu ihr hingewinkt. Jedenfalls streckte Wanda manchmal den Arm mit schnellen, intimen Bewegungen ihrer Finger, als ob sie ihn, von Sehnsucht getrieben, verlängern wollte. Auf Haakes Frage, was das bedeute, rief sie hastig beiseite: „Das geht dich nichts an!“
So kam der hochklopfenden Herzens erwartete und begrüßte Augenblick, wo auf der Altane die sanfte Musik der Klosterglocken mit den betörenden Triangelschlägen einsetzte. Inmitten der Manege stand — wie anders als Flunkert, und doch ihm ähnlich in Handhabung seiner langen Peitsche! — Direktor Renz, freilich ein reicher und vornehmer Gentleman, dessen Erscheinung — Lackschuhe, Frack — ihn in den allerhöchsten Kreisen gesellschaftsfähig gemacht haben würde. Er erwartete die Creme, die Elite seines eigenen Besitzes und des Pferdegeschlechts. Vier Rosse erschienen in einer Reihe. Sie knieten vor ihrem Meister hin und traten, die Trensen kauend, beiseite. Vier andere kamen und taten wie sie. Und abermals vier betraten mit gleichem Anstand, mit gleicher Grazie, mit gleichem Stolz die Manege.
Diese Hengste, deren unbehaarte Körperteile eine rosige Haut zeigten, gehörten, was ihren Adel anbetraf, Geschlechtern von Fürsten, Herzögen und Königen an. Aber nicht gemeinen Fürsten, gemeinen Herzögen, gemeinen Königen. Sie schienen nicht aus einer noch so aristokratischen Stute Leib, sondern aus dem Atem der Scheherezade, den Klängen der Leier eines Ariost und, soweit sie Materie waren, mindestens aus dem Gestüt der Sonnenrosse des Helios abzustammen.
Diese mit langen Schweifen und Mähnen geschmückten milchweißen Tiere trugen eine Krönung von ebensolchen Federn auf dem Haupt, rote Zaumzeuge mit Troddeln und breite rote Gurte hinter dem Widerrist um den Leib. So edel und stolz wie von Göttern war, wenn sie nebeneinander standen, ihre Haltung, die Art, wie sie mit den Schweifen die Lenden schlugen, und ihr unablässiges Kopfnicken. Aber auch die Götter mit köstlichen Gliedern, Flanken und Schenkeln hatten einen höheren über sich, den sie mit frommem Funkeln gehorsamer Blicke verehrten, dessen Winken sie, mit rührend ergebenem Eifer, schnell und ohne Verfehlung zu gehorchen suchten, feurig schnaubend, mit erschrockener Wendung einen etwa verfehlten Schritt, eine etwa verfehlte Richtung sogleich bereuend. Wie köstlich war alles, was sie beim Klange der Musik im Verlauf ihres göttlichen Tanzes an Bewegungen, Drehungen, Wendungen und Bäumungen im kurzen oder schlanken Trabe ausführten! Und herrlicher, wenn bei einem dieser Wesen, das ausbrach, die wilde Freiheit der weiten Wüste Himmels und der Erde einen Augenblick lang zum Ausdruck kam und eine Galoppade die gebändigte Kraft unter der Schönheit verriet.
Nicht den kürzesten Blick entwendete diesem Schauspiel die junge, pikante Professorsfrau. Diese Wesen im Königsweiß des Hermelins: wie sie zitterten, wie sie schauderten, und wie mehr und mehr bei jedem das dämonische innere Leben in geschleuderten Blicken und Mähnengewölken zum Ausdruck kam, bis zu dem ungeheuren Schluß, wo sich sechs Rosse auf jeder Seite vor dem Gotte in der Mitte schnaubend, hufestampfend und gleichsam anbetend emporbäumten. Der Beifall raste, mit ihm die junge Künstlersfrau, bis zur Verzückung hingerissen.
Haake hatte genug, er wollte abbrechen. Das Verhalten Wandas war ihm unheimlich. Weder Willi noch er waren vorhanden für sie. Es war höchste Zeit, den Ort zu verlassen, wenn man nicht allen Einfluß auf sie verlieren wollte. Vielleicht würde man ihn nicht ganz verlieren, aber je länger man blieb, um so härter würde nachher, wenn man ihn zur Vernunft bringen wollte, der Kampf mit diesem Wildling sein.
„Also komm,“ sagte Haake, „wir wollen jetzt gehen, Wanda!“
Ihr Kopf flog herum, ein Auge voll Grauen sah Haake an, ein furchtbarer Blick, der ihn förmlich klein machte: „Nimm einen Strick und binde mich! Binde mir Hände und Füße!“ sagte sie. „Dann kannst du mich wie ein Paket hinausschleppen! Aber vergiß den Knebel nicht, sonst schreie ich, schreie ich...!“
„Bist du verrückt, Wanda?!“
„Du bist es vielleicht, denn du redest vom Weggehen!“
„Ich habe bis über den Hals genug von diesem Klimbim!“ sagte Haake.
Die Antwort war: „Schieb ab! Mir gefällt der Klimbim!“
Der Zwang, sich zu mäßigen, seine steigende Wut zu ersticken, die sie mit solchen geringschätzig hingeworfenen Reden aufpeitschte, trieb dem Bildhauer dunkle Röte ins Gesicht.
„Ich gehe, Wanda, und du gehst mit!“
„Du gehst, und ich bleibe hier!“ sagte Wanda.
Eigentlich war es ja sonderbar, warum Haake so plötzlich aufbrechen wollte. Er hatte indes ein Gefühl, einer Warnung ähnlich, das ihm diesen Gedanken aufdrängte. Irgendeine verhängnisvolle Wendung würde vielleicht, wenn man ginge, vermieden sein.
Unter dem Hin- und Widerreden des Paares hatte die Vorstellung ihren Fortgang genommen, mit Tom Billing als musikalischem Clown. Der Groteskkomiker erschien in den Lumpen und Flicken eines Stromers, ebenso malerisch als närrisch hergerichtet, in die Stümpereien seiner Geige vertieft und verliebt, die ihn seine Umgebung vergessen ließen. Ein Stallmeister sagte ihm, daß er hier nicht am rechten Orte sei und seine mißtönigen Übungen gefälligst woanders anstellen sollte. Der dumme Mensch begriff aber das Gesagte nicht. Nun kamen Versuche verschiedenster Art, ihn zu entfernen, die alle fehlschlugen. Auch blieb vergeblich, was man anstellte, um wenigstens seine Geige zum Schweigen zu bringen. Man verleidete ihm das Stehen, indem man ihn in den Hintern trat. Er überschlug sich, ohne daß, selbst während des Überschlagens, die Geige zur Ruhe kam. Er nahm einen Stuhl, stieg hinauf und setzte sich, immer geigend, auf die Stuhllehne. Der Stuhl aber wurde umgestoßen. Ein Salto mortale abermals, ohne daß es die mehr und mehr virtuosen Klänge der Geige unterbrach. Der Clown saß solide auf dem Stuhl: man zog ihn fort, die gleiche Geschichte. Der Stromer setzte sich abermals. Als man ihm wieder den Stuhl entzog, sah man ihn, ungestört, in sitzender Stellung fortgeigen. Ein kleines Shetlandpony kam und faßte den Clown bei den Rocklumpen. Es half nichts. Geigend schwang sich schließlich der Clown auf den Rücken des Ponys hinauf, geigte und ward geigend abgeworfen, wälzte sich geigend in den Sägespänen, sprang wieder hinauf, geigte fort, ahmte schließlich auf den Saiten des Instruments Tierstimmen nach, die Henne, nachdem sie ein Ei gelegt, den Hahn, die Katze und schließlich den Hund, dem man auf den Schwanz getreten hat, ein Trick, mit dem er sich hinkend unter dem rauschenden Beifall des Hauses empfahl.
Eh man es recht begriffen, war bereits ein schlanker Trapezkünstler in Trikots eingetreten und flog, an einem Seil gehoben, bis in schwindelerregende Höhe der hölzernen Zirkuskuppe hinauf. Dort hing die Schaukel, auf der er seine gefährlichen Kunststücke ausführte. Jedermann hielt den Atem an, auch schwieg die Musik, wie es üblich ist, beim Höhepunkt seiner äquilibristischen Produktion. Der Künstler stand, ohne sich anzuhalten, Kopf, auf dem Querholz der Schaukel balancierend. In solcher Höhe war das eine kühne Ungeheuerlichkeit. Wanda brachte das Fernglas nicht vom Auge. Nur einmal, als sie, mit einem entfärbten Gesicht, sich mit den Worten: „Das ist ja unmöglich!“ gleichsam hilfesuchend an Haake und dann an Willi wandte.
Der Bildhauer fragte: „Was ist unmöglich?“ — „Was ist denn unmöglich?“ der junge Baumeister. Eine Antwort erhielten sie nicht. Plötzlich, als der tollkühne Mensch, der den Zirkus in einen Taumel der Angst, der Beklemmung, der Begeisterungsraserei versetzt hatte, schräg wie eine Sternschnuppe niedergeschossen und in einem Netz aufgefangen worden war, in dem er watete, schrie sie jedoch: „Um Gottes willen! um Gottes willen...! Das ist ja...! Das ist ja Balduin!“ Und nun kreischte sie: „Balduin! Balduin! Balduin!“, so daß man im Umkreis aufmerksam wurde und in Wanda eine jener exaltierten Personen zu sehen glaubte, die bei öffentlichen Schaustellungen nicht selten sind.
Haake durchfuhr es wie Schmerz einer Schwertschneide, als auch er Balduin Flunkert erkannt hatte. Bevor er aus der Verwirrung seines Inneren wieder zu sich selber gekommen war, hatte Wanda das Weite gesucht. „Wo ist Wanda?“ fragte erwachend Haake. — „Ich weiß nicht, mein Guter,“ antwortete Maack; „vielleicht einen alten Bekannten begrüßen,“ setzte er unwillkürlich hinzu. — „Da liegt ja ihr Mantel!“ sagte Haake. Er nahm ihn, und als er mit Willi die Loge verließ, stellte er sich, als sei ihm das Verschwinden Wandas nur deshalb verdrießlich, weil man sich leicht im Gedränge verfehlen konnte.
Der letzte Zirkusbesucher hatte sich mit der letzten Droschke entfernt, als Haake, der in bitterem Schamgefühl Willi verabschiedet hatte, noch immer auf seine Frau wartete. In das weitläufige Gebäude einzudringen, wozu ihn wütende Eifersucht, verbunden mit marternden Vorstellungen, allerdings stachelte, hätte keinen Zweck gehabt. Er hätte nach Flunkert fragen müssen, der wahrscheinlich schon über alle Berge war. Wenn er nach seiner Frau gefragt hätte, so wäre er dem Gelächter des zahllosen Personals ausgeliefert gewesen: je heftiger er sich gebärdet hätte, um so mehr.
Wanda konnte bereits zu Hause sein. Sie mochte ihn gesucht und nicht gefunden haben, so wie auch er sie vergeblich gesucht hatte. Also schlug er den Heimweg ein, die erste Droschke, die ihm begegnete, anrufend.
Seine Ungeduld peitschte ihn. Aber je mehr deshalb der Kutscher das arme, von ramponierter Haut überzogene Pferdeskelett vor dem Wagen peitschte, um so weniger schien es vom Fleck zu kommen. Dieser abgeschundene, gleichsam nur durch Prügel noch am Leben gehaltene Gaul und die nickenden Götter der Klosterglocken: welcher Gegensatz! Sic transit gloria mundi! ging es Haake durch den Kopf.
Er fand seine Gattin zu Hause nicht. Jetzt erkannte er erst die ganze furchtbare Tatsache, mit der er sich abzufinden hatte. Das lange Geahnte, lange Gefürchtete war nun da. Wäre es der Tod selber gewesen, das fast ungläubige Staunen Haakes hätte nicht können größer, seine Empfindungen nicht aufgewühlter sein. Nachdem er alle Zimmer, auch das Schlafzimmer, mit dem Licht einer Kerze durchleuchtet hatte, lief er noch immer in seiner Wohnung wie in Katakomben herum: taumelnd, obgleich er nichts getrunken hatte, und fast erblindet vom Ansturm des Unfaßbaren, griff er wie nach einem Strick in die Luft.
Wie sollte er über die Nacht hinwegkommen?!
Durch Dreckhöllen, Kothöllen, Schlammhöllen, bestialische Lust- und Durstmartern seiner rasenden Phantasie schleifte ihn seine Eifersucht. Es war nicht möglich, die Augen zu schließen, und war es möglich, so half es nichts. Was man nicht sehen wollte noch konnte, mußte man sehen: Mißbrauch, Unflätigkeit, Vergewaltigung, ohne zuspringen, retten, hindern, würgen, auf dem niedergeworfenen Verbrecher knien, ihm den Rippenkasten zerdrücken, ihm die Faust ins Maul stopfen, ihn erstechen, erschlagen, ermorden zu können. Haake führte die Selbstgespräche eines Wahnwitzigen. Er ging Stunde um Stunde, wie von dumpfer Tollwut befallen, in der Wohnung umher, Worte bald zischend, bald belfernd, bald heulend hervorstoßend. Dazwischen immer zusammenschreckend und lauschend, wenn ein Geräusch auf der Straße, ein Geräusch im Hause, ein Knacken in der Wohnung zu hören war. Bei solchem lautlosen Lauschen kam es ihm vor, als wenn er Jahrtausende tot und begraben wäre. Das Geräusch seines eigenen Atems, seiner eigenen Luftröhre erschreckte ihn. Kleine, von dorther kommende Pfeiflaute verlegte er auf die Straße, als ob ein Diebsgesindel oder ein Kreis von Häschern um das Haus sich durch Pfiffe verständige. Erst gegen zwei Uhr morgens war Haake auf einem Lehnstuhl eingenickt.
Da sprang er auf. Er war plötzlich hellsehend. Ihn wunderte nicht, daß sich in der Entreetür ein Schlüssel umdrehte. Wenn sie nicht heimgekommen wäre, blitzte es flüchtig durch seinen Kopf, es würde am Ende besser für sie gewesen sein.
Und schließlich auch noch für mich, dachte Haake.
Unbefangen und scheinbar frisch, mit der sinnlosen Frage: „Hast du lange gewartet?“ trat sie ein. Sie setzte hinzu: „Jetzt aber zu Bett, ich bin schrecklich müde!“
Er gab keine Antwort. Sie ging ins Schlafzimmer.
Sie kam wieder und fragte: „Kommst du, Paul?“
„Wo bist du gewesen?“ war seine Frage.
„Morgen, morgen! Erst laß mich ausschlafen! Morgen erfährst du alles, erfährst es haarklein. Es ist ein wahrer Kuddelmuddel! Dem begegnet, den erkannt, dich gesucht, umhergelaufen, einem in die Droschke gestiegen, Restaurant, wo Maack verkehrt. Du nicht da, der muß fort. Lasse mich überreden, zu bleiben...“
Wandas Rede ward abgerissen. Sie hörte, wie eine schreckliche Männerstimme sie fortsetzte: „... lasse mich überreden, zu bleiben, lasse mich überreden, mit Flunkert in die Droschke zu steigen, lasse mich von ihm befingern, begreifen, abknutschen, lasse mich von ihm überreden, mit ihm in ein Absteigequartier zu gehen, lasse mich von ihm überreden, zu ihm ins Bett zu steigen, lasse mich von ihm ... weil ich eine Dirne, ein gemeines Frauenzimmer, ein gemeines Luder, eine Hure bin!“ — Und nun schüttete sich, in Kübeln gleichsam, Sprachjauche über Wanda aus, die mit einem dreimaligen Pfui! davonlief und sich in ein Zimmer verschloß.
Aber er fand den Zugang dazu mit Fußtritten und Faustschlägen. Sie schrie, sie floh, sie verkroch, sie versteckte sich. Zuletzt in der Küche, wo er einen Staubwedel vom Hänger riß. Der Stiel war dasselbe biegsame Rohr, das früher die Schullehrer zur Züchtigung von Knaben benutzten. Sie war halb entkleidet. Was sie noch anhatte, riß er ihr ab. Und nun sauste der Rohrstock, bis Haake die Rechte lahm wurde und Wanda, alle viere von sich streckend, wie tot auf der Erde lag.
Dort ließ er sie liegen und ging zu Bett.
Morgens kündigte ihm das Dienstmädchen. Aber Wanda war nicht mehr da. Sie war mit dem und dem Koffer, den und den Schmucksachen auf und davon gegangen.
Über Paul Haake kam nun Finsternis, nicht nur für diesen Morgen, sondern für lange Zeit. Das Dienstmädchen warf er Knall und Fall hinaus, um sich dann in der Wohnung ein- und abzuschließen. Obgleich man vermuten konnte, der Flunkertzirkus befinde sich irgendwo auf einem Dorfe in der Nähe der Stadt, dachte er nicht daran, nach Wanda wiederum auf die Suche zu gehn. Mit dieser Sache war er nun fertig.
Wie war Flunkert in den Zirkus Renz gekommen? — Das war eine Frage, die ihn eine Weile beschäftigte. Vielleicht ein Gastspiel auf Engagement, vielleicht eine Aushilfe. Weitere Fragen tauchten auf: hatte er Wanda zu Recht mißhandelt? Darüber konnte kein Zweifel sein. Er sah alles noch immer so klar, als ob er den Vorgang mit Augen erblickt hätte. Ihr ganzes Verhalten, auch als er sie schlug, konnte man nur als ein volles Geständnis auffassen. Da hatte sie um Erbarmen gefleht: Nie mehr werde es wieder geschehen! Sie gehöre ihm zu, sie liebe ihn! Nur einmal noch möge er ihr vergeben, und er werde an ihr die treueste, ergebenste, gehorsamste Frau haben! Ausrufe, flehende Bitten, Beschwörungen, Schwüre, die indes seine Wut nur steigerten und die Wucht seiner gnadenlosen Züchtigung. Vielleicht: wenn sie alles geleugnet hätte...? Aber schließlich, plötzlich ward Haake weich und brach mit Heulen und Zähneklappern zusammen. Er schluchzte und flennte wie ein Kind und bekam am Ende das Schlucken, das sogenannte Bockstoßen.
Hernach mußten Wandas Kleider herhalten. Es war Fetischismus, was er mit ihnen trieb. Er umarmte, er küßte, was er von ihnen zu packen bekam. Wandas Schuhe preßte er an die Brust, an den Mund. Hüte, Hemden, Strümpfe, Strumpfbänder, Schuhwerk, Pelze, Abendkleider lagen in der ganzen Wohnung verstreut, als er sie am späten Nachmittag, in Angst vor dem Fegefeuer der Dämmerung, vor der nahen Hölle der Nacht verließ, Hals über Kopf die Flucht ergreifend.
Der Dämon bekam Gewalt über ihn. Das unerträgliche Elend seines Zustandes machte ihn lechzen nach Betäubungen. Er verkroch sich in eine jener Spelunken, wo irgendein unsauberes Mensch den Gast bedient, der sicher ist, daß ihn hier kein Freund aus der guten Gesellschaft aufstöbern wird. Hier goß er Bier und Schnaps in seinen Jammer, in seine Verzweiflung hinein. Er trank und trank, als ob er Wanda, Willi Maack, seine Arbeiten und Entwürfe, seine Professur, seinen Schmerz, seine Qual, seine Martern, seinen Glauben, seine Hoffnungen, das Bild seiner alten Mutter, kurz: alles und alles, was seine Phantasie beherbergte, in Bier und Schnaps ersäufen wollte. Das ging so fort, bis ihm von Seiten des Wirtes der Stoff gesperrt wurde. Er irrte nun in den Straßen umher, immer geflissentlich Richtungen einschlagend, die ihn weiter und weiter von der Gegend seiner Wohnung entfernen sollten. In einen Vorstadtkeller, aus dem er Lärm und Gebrüll hörte, trat er ein. Hier konnte er sein Gesaufe fortsetzen. Noch war er nicht so besinnungslos, daß er sich über die Gesellschaft täuschte, in die er durch Zufall geraten war: Stromer, dunkles Gesindel aller Art, das seltsame Worte in seine Sprache mischte und die Beute verschleuderte, die ihm durch Bettel, Taschendiebstahl, nächtlichen Einbruch zugefallen war.
Ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen, fand sich Haake am Morgen außerhalb der Stadt, am Arm irgendeines verlausten Kerls, der auf alles einging, was der Bildhauer mit lallender Zunge Verworrenes sagte, ihm dabei immerfort gut zuredete, aber ihn schließlich mit einem Stoß in den Straßengraben beförderte, als Haake Verdacht schöpfte, in störrischem Eigensinn nicht weiterwollte und stehenblieb. Dort lag er, bis er am späten Abend wiederum aufwachte. Er war ernüchtert, hatte wütende Kopfschmerzen, übergab sich, fand sich seiner Uhr, seiner Barschaft, seiner Diamantnadel und seines Eheringes beraubt. Die Verluste ließen ihn vollständig gleichgültig. Er grübelte nur darüber nach, wie unumgänglich und widerwärtig es sei, noch einmal zurück in die Wohnung zu müssen, um sich mit Geldmitteln zu versorgen. Er schlich wie ein Dieb in die eigene Wohnung ein, raffte mit der Hast und dem bösen Gewissen eines Einbrechers alles Geld zusammen, das im Hause war, und was etwa Wanda an Schmuckstücken nicht mitgenommen hatte. Eine Droschke brachte den vom Dämon der Trunksucht Befallenen zur Bahn, da er hier in Breslau die Dazwischenkunft Willis oder anderer Freunde fürchtete, die ihn vielleicht gewaltsam vom Trinken abhielten, die vielleicht nicht wußten, daß er sich sogleich eine Kugel durch das Hirn jagen müßte, wenn er nicht trank. Er fand ein Dorf, er fand einen Kretscham, in dem er sich niederlassen und unter den Augen eines ehrlichen Bauernwirts trinken, trinken und trinken konnte.
Am fünften, sechsten Tage dieses Trunkfiebers weigerte sich der kräftige Körper des Trinkers, auf weitere Mißhandlungen einzugehen. Am Wirtstisch sitzend, schlief Haake ein, und als er Stunde um Stunde nicht wieder ins Bewußtsein zurückgebracht werden konnte, schaffte man ihn zu Bett, wo er die Nacht und den nächsten Tag und abermals die Nacht hindurch wie ein Toter lag. Aufgewacht, hatte er etwas wie eine Krisis überstanden.
Was geschehen war, sah er wie die Angelegenheit eines fremden Menschen an, die, soweit sie ihn selbst betraf, endgültig ihren Ablauf gefunden hatte. Weit entfernt, dem Vorgang im ganzen und im einzelnen auszuweichen, ging er ihm in Gedanken nach und suchte sich seiner bewußt zu werden. Auf diese Art erhob er sich über ihn, um sich zugleich von ihm zu befreien.
Haake erklärte sich bei sich selbst für krank, einer längeren Kur in Form einer längeren Ruhe bedürftig. In diesem Sinne schrieb er an Willi Maack, der noch immer in Breslau sein getreuer Sachwalter war. „Ich habe,“ hieß es, „wiederum einiges durchgemacht, lieber Willi, und es, Gott sei Dank, überstanden. Ich bin in dem und dem Dorf und in dem und dem Wirtshause. Ein gewisser Krankheitsprozeß, mein altes, Dir bekanntes Übel, hat mich vor Schlimmerem bewahrt. Mir ist, als wenn ich eine Karlsbader Kur, verstärkt durch ungeheure Mengen von Ofner Bitterwasser und Rizinus, hinter mir hätte. Das Erbrechen und die Diarrhöe, nicht bildlich gesprochen, waren fürchterlich. Eine Pferdekur, aber sie hat geholfen. Natürlich ist eine große Schwäche zurückgeblieben, aber die Schwäche des Genesenden, dessen Bauch alle Giftstoffe ausgestoßen hat. Zwei Tage lang war es wirklich so, als wenn ich das allerdings etwas verengte Flußbett für Oder, Elbe und Rhein zusammengenommen geworden wäre. Aber ich bin ausgespült, lieber Willi, ausgespült! Katarakte sind von mir gegangen. Purgation! Reinigung! Meine Seele ist ein geläutertes Engelchen. Alles Teuflische ist in furchtbaren Explosionen, mit Knall und Gestank, von mir gegangen. Ich hätte nicht gedacht, daß ich so kruppisch-kanonisch detonieren und geschützdonnern könnte! Nun, freilich hätte meine Seele mitgehen können. Aber, Willi, ich habe sie noch. Nur der Feind ist niedergemacht. Der Kopf des Bandwurmes ist unter den Abgängen festgestellt. Unter dem hellen, tödlichen Tageslicht hat das Luder sein Ende gefunden. Meine Arbeit kann ich zunächst noch nicht wieder aufnehmen. Einstweilen habe ich mit kalten und warmen Umschlägen, Kamillentee und dergleichen genug zu tun. Und übrigens sieht mich Breslau nicht wieder, solange noch ein Stein meiner bisherigen Wohnung auf dem andern geblieben ist. In einigen Tagen schicke ich Dir eine notarielle Vollmacht zu, durch die Du ermächtigt wirst, die Möbel in meiner Wohnung zu verkaufen — die Kunstgegenstände werden in mein Atelier gebracht —, und dann fort mit dem Dreckloch, und wenn auch nur der halbe Mietpreis dafür zu erzielen ist!“
Dem Architekten Willi Maack fiel der bekannte Stein vom Herzen, als er diesen Brief erhielt. — „Ich gehe jetzt,“ war der Schluß des Schreibens, „zu einem alten Freunde, einem Förster, nach Görbersdorf, ebendem Ort, wo ich ja, wie Du weißt, meine Mutter untergebracht habe. Dort besuche mich Sonntag über acht Tage, wenn es Dir möglich ist, aber nicht früher! Bevor ich Dich wiedersehe, muß ich mich ganz erholt haben.“
Genau nach dem Wunsche Haakes traf Willi ein. Er fand einen Menschen, der mit langsamen Schritten ging, medizinierte, trotz milden Frühlingswetters nur im Winterüberzieher, den Hals von einem langen Wollschal umwickelt, aus dem Hause ging, einen pimpligen Riesen, der eine leise und wehleidige Sprechweise angenommen hatte: „Siehst du, ich lebe von etwas Weißbrot, lieber Willi, das ich mir in Milch aufweiche. Vier oder fünf kleine Brötchen täglich, mehr vertrage ich nicht. Beinah kann ich jetzt auch das sechste verdauen, ich verdanke das einem Hausmittel. Ich habe mir ein sogenanntes Zittauer Pflaster, etwa in der Größe eines Quadratkilometers, selbst geschmiert und auf den Magen gelegt. Es zieht kleine Bläschen, ausgezeichnet!“
Willi wollte gerne eine Arbeit vollendet wissen, die über irgendeinem Portal, solange das Gerüst stand, angebracht werden mußte. Haake sagte nichts weiter als: „Liebster Willi, ich schwöre auf Homöopathie. Nux vomica, Aconitum wirkt wie ein Zauber. An der Lunge habe ich nichts. Hier ist ja die große Lungenheilanstalt, und ich habe mich untersuchen lassen. Meiner Mutter geht es gut. Sie ist bei einer reizenden alten Dame, die eine kranke Tochter hat, untergebracht. Sie leben zusammen wie Turteltauben. Ein bißchen leichte Hausarbeit, meine Mutter kann ja ohne das nicht auskommen. Weißt du, es ist hier so, daß ich gar nicht mehr fortmöchte. Mein Freund Adolf“ — gemeint war der Förster Adolf Ronke, bei dem er wohnte — „hat mir das Botanisieren beigebracht.“ Wirklich lag auf dem Tisch des Giebelstübchens, das der Meister bewohnte, eine Botanisiertrommel. — „Na, du Kerle,“ sagte der Architekt mit lustig geblähten Nasenflügeln, „hast du nicht auch womöglich noch ’n Schmetterlingsnetz?! Paulchen, Paulchen, hätt’ ich dir etwa gar den Struwwelpeter sollen mitbringen?“
„Nicht nötig, Willi, er ist hier im Haus. Ich amüsiere mich täglich darüber mit den Försterskindern. Wirklich, ich möchte hier gar nicht mehr fort. Wenn ich erst wohler bin, nimmt mich Ronke mit auf die Jagd. Ich habe dafür, wie du weißt, eine Schwäche, seit ich beim Militär das Schießen gelernt habe.“
„Na selbstverständlich,“ sagte Willi, „du bist ja die aufgelegte Jägernatur!“
„Gelegentlich jagen, aber hauptsächlich botanisieren,“ sagte der Bildhauer. „Der Krokus, die Anemonen, alle die kleinen Berg-, Wiesen- und Sumpfpflänzchen, wunderbar! Geradezu wunderbar! Hast du einmal was von Diastase gehört? Durch Diastase wird Stärke in löslichen Zucker überführt, wodurch sie für das Pflänzchen als Nahrung verwendbar wird. Und dieser lausige kleine Sonnentau, der in Mooren wächst, er frißt Insekten, er ist ein Fleischfresser. Daß Blumen schlafen, ist dir bekannt. Kennst du die sogenannte Linnésche Sonnenuhr?“ — Von einem Notizblättchen las er ab: „Um fünf Uhr morgens öffnen Hemerocallis fulva und Sinum usitatissimum ihre Blüten, um sieben Uhr Nymphaea alba und Lactuca sativa, um neun Uhr Calendula, während die Schlafstellung andere Stunden anzeigt, bei Lactuca zehn Uhr vormittags, bei Calendula drei Uhr nachmittags, bei Nymphaea alba fünf Uhr, bei Hemerocallis fulva sieben Uhr abends. — Denke mal an: es gibt sogenannte Kompaßpflanzen! Es gibt eine Pflanze, die — ulkig, nicht? — Froschbiß heißt! Hura crepitans heißt eine Pflanze, sie kommt im amerikanischen Urwald vor. Deren Früchte platzen mit dem Knall eines Gewehrschusses. Die Sprengstücke fliegen weit umher, und so fort, und so fort; eine ganze neue Welt tut sich auf. Morgen wirst du mal staunen über Adolf Ronkes Herbarium. Da siehst du, ich fange auch schon an!“ — Er zeigte Willi, einen Schrank öffnend, Stöße von Löschblättern und Schichten von anderen, zwischen denen schon Pflanzen konserviert waren.
Fünf Wochen war der Bildhauer bereits in Görbersdorf. Nicht nur Wanda schien er vergessen zu haben, sondern auch, daß er Bildhauer war, die Ausführung gewisser Arbeiten übernommen hatte und Pflichten, durch die er als Professor und Lehrer an eine staatliche Kunst- und Kunstgewerbeschule gebunden wurde. Haake hatte zu Willi gesagt: „Laß mir soundso lange Zeit!“, und dieser versuchte es nicht einmal, ihn davon abzubringen. Er kannte zur Genüge Haakes verstockte Hartnäckigkeit. Wenn solche Entschlüsse bei ihm auftauchten, so war er selbst durch sie wie in einen Schraubstock eingezwängt.
Willi hatte mit dem Forstmann gesprochen, der, gebildet über seinen Stand hinaus, vor Künstlertum den größten Respekt hatte. Haakes Bedeutung, aber auch seine gelegentliche Neigung zur Maßlosigkeit im Trinken waren ihm gesteckt worden. Nun erfuhr er, in abgeschwächter Form dargestellt, von ehelichen Irrungen und Wirrungen.
Natürlich sagte sich Willi Maack, daß er durch eine rücksichtslose Darstellung aller darin begriffenen Geschehnisse dem Ansehen seines Freundes bei diesem schlichten Manne nur schaden könne. Nicht einmal Wandas Namen zu nennen wagte er, geschweige, daß er von ihrer anrüchigen Herkunft, ihren schlechten Streichen, ihrem Zirkusberuf gesprochen hätte.
Der freundliche Wirt sollte ja nur, indem man ganz allgemein auf die seelische Krisis hindeutete, die der Meister zu überwinden hatte, noch mehr und noch wärmer für ihn gestimmt und zum besseren Verständnis seines Wesens geführt werden.
Ein Blinder hätte bemerken müssen, daß irgendein Sturm an diesem kräftigen Stamm und Baum gerüttelt hatte. Um so eher erkannte dies Ronke, ein hell und sicher blickender Mann. Es genügte ihm aber, wenn er Haake sich nach und nach festigen und erholen sah, ohne daß ihn Neugier plagte, hinter das Schicksal zu dringen, das dem Manne so mitgespielt hatte.
Und wirklich konnte er sehen, wie nach einer Zeit der Verzärtelung und Verweichlichung, während der Haake hüstelte, über den Überzieher einen Überzieher zog, aller Augenblicke seinen Puls fühlte, auch am Tage bald innerhalb, bald außerhalb des Bettes war, eine andere folgte, in der etwas Stillvergnügtes über dem Bildhauer lag. Sein Tageskreislauf ließ aber auch nichts zu wünschen übrig an Behaglichkeit. Die noch nicht sechzehnjährige Försterstochter Marie, genannt Mieke, brachte ihm gegen neun Uhr früh das Frühstück ans Bett, Kaffee, geräucherten Schinken, Eier und Radieschen, welche sie unmittelbar aus dem Gartenbeet genommen hatte. Hernach stand er auf und begab sich, bewaffnet mit der Botanisiertrommel, in die Wiesen und Wälder hinaus, sinnend, betrachtend, botanisierend. Am gutbesetzten Tisch des Försters genoß er, an den Humoren des Wirtes seine eigenen entzündend, wie an dessen Wolfshunger seinen eigenen Appetit, die kräftigste Mittagskost. Dann ging es nach kurzem Mittagsschlaf, ein Reclambändchen, Fischarts „Gargantua“, in der Tasche, ein Stündchen Weges durch Wälder über die Grenze in ein böhmisches Wirtshaus hinüber, wo zu einer Zigarre und einer Portionstasse guten Kaffees die heiteren Derbheiten Fischart-Rabelais’ innig genossen wurden. Nach der Rückkehr nahm er in irgendeinem kleinen Restaurant sein Abendbrot, lud etwa dazu seinen Hauswirt ein, oder Mieke brachte ihm Schlippermilch, Brot, Butter, Käse, vielleicht einen Eierkuchen aufs Zimmer.
Mieke war nicht die erste beste. Sie hatte die breite Kraft und Intelligenz des Vaters geerbt, dessen Bart und Haupt den Künstler an ein Selbstbildnis Tizians erinnerte. Sie schien ein werdendes Zimbernweib. Ihre Stimme war tief, ihr Griff war fest, sie duftete nach Tannennadeln und Baumrinde, Moos und Waldboden, Himmelschlüsseln, Schneeglöckchen und Gras und sah stets so frisch und so sauber aus, als ob sie sich eben im reinsten und kältesten Bergbach gebadet hätte. Sie wußte wie ein Mann mit den Doppelflinten ihres Vaters umzugehen, hatte mehrere Marder in Fallen gefangen, wovon der letzte auf der Försterei in einem eisernen Käfig gehalten wurde. Mit den Forstgehilfen und Forsteleven machte sie wenig Umstände. Sie war nämlich eigentlich Frau im Haus, da die Försterin seit vielen Jahren gelähmt, aber unversehrten, lebendig-heiteren Geistes zu Bette lag. Der Vater verließ sich völlig auf Mieke und ließ ihr durchaus ihren freien Willen. Ihm war nicht bange, wenn sie auch gelegentlich erst nachts um eins aus den Wäldern des Storchberges kam oder sich früh vor drei erhob, Hirsche zu verhören oder einen Bock zu schießen. Es war eine Liebhaberei von ihr, besonders des Nachts stundenlang mutterseelenallein im Walde zu sein.
Es war nicht gut Kirschenessen mit ihr. Besonders von jungen Leuten wagten sich wenige an sie heran. Für Haake hatte sie eine Vorliebe. Sie wollte trotzdem ganz gewiß kein Geheimnis in Blumensprache ausgedrückt haben, als sie einmal in seinem Zimmer für ihn einen Tisch zurechtmachte, auf den sie einen richtigen großen Wäschekorb voll Vergißmeinnicht gestellt hatte: der blaue Himmel in einen Korb gepackt. Es war eine Liebeserklärung von kindlicher Offenheit und Großzügigkeit, deren Urheberin zu sein sie allerdings, als sie bei Vater und Gast einen starken Heiterkeitsausbruch bewirkte, schließlich und endlich errötend ablehnte.
Wie kommt es, dachte manchmal der Bildhauer, daß man zuweilen durch die finstersten Tore, durch schwarze, erstickende Gruftdämpfe, nach schwerem Ringen mit Tod und Verderben, das einem an der Gurgel sitzt, auf den herrlichen Almen des Lebens im Lichte des heitersten Tages landet? Hatte ich je eine Jugendzeit? Wenn ich auch glaubte, eine gehabt zu haben, habe ich doch, wie ich jetzt merke, keine gehabt. Ich habe keine Jugend gehabt. Weil ich jetzt weiß, was Jugend ist, weiß ich auch, daß ich keine gehabt habe. Ich lebe hier in Erinnerungen und Erweckungen eines Jugendglückes, das ich irgendwann einmal vor meiner Jugend gehabt haben muß.
Was war dies nun für ein Jugendglück? — In sogenannte Metakosmien, leere Räume, hat Epikur Himmel und Götter verlegt. Hier leben sie in einer von der ewigen Unruhe der Stoffteilchen nicht berührten Glückseligkeit. Haakes Zustand hatte eine entfernte Verwandtschaft mit dem Gedanken eines solchen Zwischenreiches. Der Gang seines Lebens schien nach vor- und rückwärts abgestaut. Er schien stillzustehen oder sich um ihn herum, an ihm vorbei zu bewegen. Äußerlich war er in ein enges Waldtal mit blumenreichen, üppigen Wiesen, allzeit durchrauscht von Bächen und Rinnsalen, welche das klarste Süßwasser führten, das er je im Freien erblickt hatte, eingeengt. Hier, angefügt einer menschlichen Waldsiedlung, wurde er selbst ein Stück Natur. Einem mit Bewegungsfreiheit begabten Baume hätte er sich hier vergleichen können. Die Fichten, die Gräser, die Blumen sprachen zu ihm, wie sie nie gesprochen hatten. Die Genugtuungen, ja Seligkeiten einer Rückkehr nach langer Abwesenheit waren in ihm. Endlich einmal ist man dort, wo man hingehört. Überall war man bis jetzt, wo man nicht hingehört. Gehetzt und gelockt, ist man mühselig bergauf und bergab gekraxelt, hat im Aufstieg geschwitzt, im Abstiege beinahe die Beine gebrochen. Eine Chimäre war das Ziel. Nun aber ist man nach Hause gekommen.
Man fühlt an dem Schlage seines Herzens, daß dies alles zwecklos ist. In jeden Fußpfad, in jeden Weg, in jede Radspur war Haake verliebt, in jeden stehenden Tümpel, in dem ein Frosch quakte, in die unregelmäßigen Katzenköpfe, mit denen der Hof der Försterei gepflastert war, das dazwischen wuchernde Gras, in das Gelärm des Sperlingsgesindels, das zwischen landwirtschaftlichem Gerümpel herumvagabundierte, in die herrlichen Brennholzstapel, welche das Försterhaus umgaben.
Vier große Dackel und ein Hühnerhund teilten mit den Menschen das einzige Wohnzimmer der Försterei, zwei gewaltige Katzen, die mit ihnen in bester Kameradschaft lebten, ebenso ein kleines Reh, das der Verzug nicht nur aller Menschen, sondern auch aller Hunde war. Die laute, etwas kropfige Stimme des Forstgewaltigen, der dies alles beherrschte, hatte, wie das Bellen der Hunde, das Miauen der Katzen, etwas Naturhaftes. Der Mann, die Tiere, die Betten rochen nach Harz und Nadelwald. Auch Mieke roch nach Harz und Nadelwald. Die ganze Försterei war ein Stück lebendig gewordener Nadelwald, verbunden mit ihm, aus ihm hervorgegangen. Nicht nur die Hühner wagten sich in die Wohnstube. Hie und da wurde auch eine Tümmlertaube hinausgescheucht, die sich etwa Küchenreste vom Klavier holte, das mitten im Zimmer stand. — „Wenn das Viehzeug zu frech wird,“ sagte der Vater zur Tochter, „wer anders als du ist schuld daran?!“ — Und wirklich grenzte Miekes Verhältnis zu den Tieren an Abgötterei.
Und dieses naturhafte Leben, scheinbar so eng, hatte weite und tiefe Inhalte. Da war eine Laute, die am Gewehrschrank hing, zu welcher Ronke zwar nicht sang, auf der er jedoch beinahe meisterhaft musizierte. Noch besser spielte der Forstmann Klavier, kaum je unter Schubert, Mozart, Beethoven: ein schönes, aus dem ganzen Menschen geborenes, zur eigenen Erbauung bestimmtes Spiel.
Eine Dachkammer aber enthielt sein Herbarium. Ronke war Rosen- und Weidenforscher. Seine Flora ging über die gemäßigte Zone nicht hinaus. Mit einer wundervollen Handschrift führte er eine umfangreiche Fachkorrespondenz. Er war Mitglied vieler gelehrter Gesellschaften. Zur Bestimmung wurden ihm viele Pflanzen geschickt. Als Mann von Phantasie erklärte er Haake, daß er durch seinen botanischen Briefwechsel und die damit verbundenen Austauschpflanzen, deren Standorte er sich vorstelle, der weiten Reisen überhoben sei. Bei alledem war er ein Forstmann von außergewöhnlicher Tüchtigkeit. Hier verbanden sich also Weite mit Enge, geistiger Reichtum und Bewegungsfreiheit mit Verwurzelung. Mit welcher Wahrheit, in welcher Bodennähe, wie frei von aller Künstelei, wie fern von allem hohlen Schein, aller Schminke lebten diese Menschen! Welche wahre und tiefe Bildung in schlichter Kraft und Gesundheit enthielt dieses Haus, dessen Einfachheit und echte Grundständigkeit Haake in seinem Wesen erneuert hatte, ihm zum ersten Male eine Jugend gab.
Oder steckte auch hier etwas anderes dahinter? Eher wuchs dieses andere wohl aus dem Lebensaugenblick seiner Seele und aus der Art dieser Waldherberge heraus.
Aber es war da, dieses andere!
Warum sah er das schindelbedeckte Forsthaus mit dem Rosengärtchen an der Giebelseite und der großen, spiegelnden Glaskugel mit so zärtlich beglückten Augen an? Warum liebte er das wilde Gewucher von Unkraut, Nesseln, Stechapfel, Distel und Schafgarbe, Mauerpfeffer und Natternkopf, das aus den fauligen Abwässern hinter Schuppen und Kuhstall aufgeilte und eine Woge bunten, wuchernden Lebens gegen die Mauer warf? Er fand es billig und gönnte es diesen Schmarotzern, über die sich blühende Obstzweige ausstreckten, wenn sie ihr Recht zu leben durchsetzten und, als gehörten sie dazu, sich in den Schatten des traulichen Hauswesens eindrängten. Wenn Mieke die Hühner und Tauben lockte, so spitzte auch dies Gewühle die Ohren, wie Haake schien, und sendete gleichsam Wolken von Mücken und weißen Schmetterlingen, die den blonden Scheitel des Mädchens mit seiner Krone von armesdicken Zöpfen umtanzten. Dem Bildhauer schien es wie eine Huldigung. Lange fühlte er, wie dies alles außer von dem Lichte der Frühlingssonne noch von einem anderen, in ihm selber wohnenden Lichte beleuchtet war, ohne zu wissen, wer dieses neue Licht entzündet hatte. Schließlich aber wußte er plötzlich, daß zwischen ihm und der Försterstochter irgend etwas Unausgesprochen-Nichtauszusprechendes im Werke sei. Was ihm nie in Gegenwart eines weiblichen Wesens begegnet war, das geschah ihm jetzt: im Verkehr mit Mieke wurde er linkisch, schüchtern, unsicher. Manchmal kam er sich wie ein schwarzer, häßlicher Sünder vor, für dessen verderbtes Blut sich jeder diesem unverdorbenen, kerngesunden Kinde geltende Herzschlag verbot. Schließlich wußte er, daß er sie liebte, die für ihn selbst ein niegeahntes Wunder bedeutete. Allein erst lange, nachdem er diese Entdeckung gemacht, die er vor jedermann mit peinlicher Sorge verbarg, gewann eine Hoffnung, eine Gewißheit in ihm Raum, daß er nicht vergeblich werben würde, falls er frei wäre.
Dies war ein Plan, mit dem er liebäugelte. Er wollte zunächst seine Scheidung betreiben und durchsetzen, dabei, ohne neue Aufträge anzunehmen, die übernommenen Arbeiten fertigstellen. Der größte Teil des Erlöses sollte dazu dienen, hier am Ort, wo man jederzeit in den Ärzten und Gästen der Sanatorien auch städtischen Umgang haben konnte, ein bestimmtes kleines Gehöft zu kaufen, das Haake bereits ins Auge gefaßt hatte. Ein Atelierraum wurde mitten in den Gras- und Obstgarten hineingebaut. War dies geschehen, so wollte Haake das Naturkind Marie Ronke heiraten. Er besaß sein Studio, und sie hatte ihre geliebte kleine Landwirtschaft. Aufträge nahm er nicht mehr an oder nur solche, die er in Görbersdorf ausführen konnte. Im übrigen wurde ausschließlich nach eigener Neigung gearbeitet. Für den bequemeren Gelderwerb kamen die Porträts reicher Leute in Betracht, an welchen in den Sanatorien nie Mangel war.
Seine Pläne teilte Haake seinem Freunde Willi mit, als dieser ihn abholte. Der Abschied wurde ihm nicht leicht. Auch das Försterskind hatte Tränen im Auge. Dies waren die Worte, mit denen er Abschied nahm: „Binnen kurzem werdet ihr von mir hören, gute Leute!“ — Seine Werkstatt in Breslau gähnte ihn an. Seine Wohnung existierte nicht mehr. Die Einrichtung hatte der Architekt verkauft, Wandas Kleider und sonstige Sachen in einigen Kisten einmotten lassen und auf einen Speicher gestellt. Haake, von der städtischen Atmosphäre angewidert, begann trotzdem wie rasend zu arbeiten. Er nahm mit einem Rechtsanwalt Rosenstock Verbindung auf, womit eine lange Kette von Querelen ihren Anfang nahm. Wanda wollte auf keine Scheidung eingehen, außer es würde ihr eine Summe gezahlt, die den Bildhauer ruiniert hätte. Schuld an der ehelichen Zerrüttung trage sie nicht, sie werde auch eine Schuld nicht auf sich nehmen, die ihr niemand nachweisen könne. Haake habe die Ehe gebrochen. Sie sei von Haake brutal mißhandelt worden und habe fliehen müssen, weil ihr Leben gefährdet gewesen sei. Dafür hatte sie ärztliche Zeugnisse. Für den Fall, daß Haake im bösen die Trennung durchsetzen wolle, drohte sie mit Enthüllungen. Sie werde schaudererregende Dinge offenbaren, die sich von irgend jemand bieten zu lassen keine Ehefrau gehalten sei.
So lagen die Dinge auf eine niederdrückende Weise aussichtslos. Wanda war wieder Kunstreiterin. Augenzeugen berichteten, daß sie jetzt gewisse Künste auf einem kleinen Schecken ausführe, wozu sie Flunkert dressiert habe. Haake wollte nichts wissen davon. Leider konnte er nicht vermeiden, manches andere zu hören, was sein Anwalt von dem ihm befreundeten Sachwalter Wandas erfuhr, der seit Jahren Vertrauensmann und Berater der Zirkusfamilie Flunkert war. Vergeblich hielt er sich, immer zu spät, die Ohren zu. Er wollte loskommen, wollte nur loskommen, alles andere war ihm gleichgültig.
Eines Tages besuchte ihn der Grünrock Ronke im Atelier. Um so größer war die Freude des Bildhauers, als er eben wieder in der Scheidungsangelegenheit Beweise von der Perfidie der Gegenpartei erhalten hatte. Es konnte nicht anders sein, wenn diese Lumpencanaille, dieser Flunkert, dahinterstand. Nachdem er, freudig erregt und mit einer Lebhaftigkeit, die bei ihm selten war, den Forstmann in seine Werke und sein Wirken eingeweiht hatte, überkam ihn ganz ungesucht ein Zustand der Offenherzigkeit, in dem er Ronke zum Mitwisser seiner augenblicklichen Kämpfe machte.
Ronke war eine ungewöhnliche Persönlichkeit, aber ein Beamtencharakter. Nicht eigentlich kirchlich — seine Kirche war die Natur —, hatte er doch über Ehe und eheliche Treue die strengsten Ansichten. Scheidung und Erdbeben bildeten für ihn ein und dieselbe Ungeheuerlichkeit. Darum hatte auch Haake erkannt, daß er, wenn er nicht jede Aussicht bei Vater und Tochter verscherzen wollte, sich dieser nur onkelhaft nähern durfte und seine Projekte geheimhalten mußte, solange er anderweit gebunden war. Dies hatte er, wie gesagt, erkannt und erkannte jetzt, es sei ratsam, abzubrechen und insonderheit alle Erörterungen über Beruf, Wesen und Herkunft seiner in Trennung lebenden Frau unterwegs zu lassen, da Ronke durch das Gehörte bereits in Verlegenheit gesetzt worden war.
Im Schweidnitzer Keller war alles vergessen. Man schlug, Willi Maack als Dritter im Bunde, eine Wiener-Würstchen-Schlacht. Ronkes Leistungen waren auf diesem Gebiet und im Leeren des Methornes ungeheuer. Eröffnungen, die man ihm auf seinem fürstlichen Kameralamt gemacht hatte, gaben ihm hinreichend Grund, guter Laune zu sein. Sein bisheriges Revier war ja eigentlich auch schon eine Oberförsterei. Nun aber hatte man ihn für die Verwaltung weiter Waldungen vorgesehen, welche in eine Menge Oberförstereien zerfielen, die ihm damit unterstellt wurden, ein ungeahnter Erfolg seiner Lebensarbeit, der kaum mehr zu überbieten war.
Diese Eröffnung richtete im Geiste des Bildhauers eine kleine Verwirrung an. Das Görbersdorfer Idyll hatte nicht mehr die gleiche Anziehungskraft, wenn Ronke nicht im Orte war. Noch war diese Tatsache nicht verdaut, als ein anderer Umstand die gute Laune der Stunde bedenklich gefährdete. Haake sah einen kleinen dicken, diabolischen Kerl, der beinahe durchgetretene Schuhe trug, karierte, trichterförmige Beinkleider, ein abgewetztes Kleidungsstück, das, zu lang für ein Jackett, zu kurz für einen Paletot, ein blaues Hemd und darüber einen roten Wollschal sehen ließ. Der auffallend schäbige Gentleman tat es nicht unter einem spanischen Rohr mit einem Pferdekopf aus Horn als Krücke in der rechten Hand und einem Paar vom Regen und vielen Gebrauch hart und schwarz gewordenen Glacés sowie einem Tiroler Hütchen in der Linken.
Als diese groteske Erscheinung die Treppe zu dem berühmten Keller herunterkam, der Willi Maack und der Forstmann den Rücken kehrten, die der Bildhauer aber überblickte, hatte er über sie lachen wollen, eine Regung, die er sogleich vergaß, weil eine andere überaus ernsthafte auftauchte. Dieser bartlose, schlechtrasierte Mensch mit den mokant verzogenen Mundwinkeln konnte oder mußte ein Bekannter sein. Traf das zu, so war es einer von denen, welchen man gewiß in Gegenwart eines künftigen Schwiegervaters strengster Bürgerlichkeit nicht gern begegnete. Aber was dann, wenn er vertraulich, wenn er intim wurde und sich womöglich an den Tisch setzte? Wie, wenn er die Weste aufknöpfte und von der Leber weg plauderte? Daß dies peinliche Überraschungen bringen konnte, war Haake klar, besonders als er — er wußte nicht recht an welchem Kennzeichen, vielleicht an der mit einem Maulkorb versehenen gelbgefleckten Bulldogge, die, etwas hinkend, breitbrüstig und asthmatisch hinter ihm die Kellertreppe heruntergestiegen kam, — erkannt hatte, daß es Maskos vom Zirkus Flunkert war: Trompeter, Kapellmeister, Universalmusikus, nicht nur starke Stütze des Zirkus Flunkert, sondern auch Mann für alles bei der Direktorin. Ob Maskos dagegen ihn erkannt hatte, war ihm so lange nicht klar, bis dieser ihm, am Tische stillstehend, die kurzbefingerte, derbe Patsche unter breitem Grinsen entgegenstreckte.
„Professor, kennen Sie mich nicht mehr?“
„Nicht ganz, aber kann wohl sein!“ sagte Haake.
„Und Fingal, den kamtschadalischen Löwenhund? Kusch dich, Grunz! Er kennt Sie wieder...“
„Schwein, du bedrielst mir die ganze neue Hose, die eben vom Schneider gekommen ist!“ sagte Haake und putzte an seinem Beinkleid herum.
„Er kennt Sie wieder! Wahrscheinlich hat er von Wanda Ihre Witterung! Irgendwie hängt für diese Bestien am Weibe immer noch der dazu gehörige Mannsgeruch...“
„Ich verstehe Sie nicht, mein Freund!“ sagte Haake.
„Macht nichts. Erlauben Sie, daß ich Platz nehme?“
Maskos nahm ohne weiteres Platz und fuhr fort, als er Würstel und Bier bestellt hatte: „Ich bin wegen Grunz hierhergekommen. Das arme Luder hat sich den Fuß verstaucht. Er wird nächstens reif für das Gnadenbrot. Bei der letzten Schlenkerei, der Nummer mit dem Tuchlappen — Sie wissen ja! —, sind ihm fünf Zähne auf einmal ausgebrochen. Da hat er natürlich müssen loslassen. Es war schließlich noch ein Glück, daß er der Frau Amtsvorsteher Sartorius vor den Magen flog. Sie ist mit dem Schrecken davongekommen. Sie gab aber nach und fiel hintenüber. Er sauste leider über sie fort und machte sich noch das Vergnügen eines Querschlägers, wobei ein Kinderwagen ins Rollen kam, bis er schließlich mit einem Prellstein Bekanntschaft machte, aber leider auf andere Art, als es sonst bei Hunden üblich ist. Er blieb zunächst drei Minuten wie tot liegen. Wir dachten, es wäre alle mit ihm. Als wir ihn aber eine Weile befühlt hatten, sprang er auf, es wurde ihm wohl zu dumm, und verkroch sich unter den Wagen in den Werkzeugkasten, wo ihn niemand herausbringen kann.“
Es kam nun die unumgängliche Vorstellung.
Haake, der sehr ungern log und sich einer ähnlichen falschen Vorspiegelung niemals schuldig gemacht hatte, stellte das Original als Professor Maskos vor, Komponist, Pianist, Kapellmeister und dergleichen, was Maskos sich widerspruchslos gefallen ließ.
Der prächtige Forstmann war selbst viel zu geradlinig, um Verdacht zu schöpfen. Er redete Maskos fortgesetzt mit Herr Professor an. Den Hundekenner und Hundefreund interessierte die Bulldogge. Er ließ sich noch einmal genau erklären, wo und auf welche Weise sie zu Schaden gekommen war. Maskos tat es und setzte hinzu: „Unsere Gesellschaft arbeitet augenblicklich nahe bei Breslau, in Sibyllenort.“ — Ein Umstand, der Haake lebhaft beunruhigte und die Neugier sowie das Befremden Ronkes steigerte. „Ein Zirkus? Ein Zirkus? Also gehört der Hund zu einem Zirkus?“ fragte er.
„Der Hund gehört zu einem Zirkus, allerdings!“ sagte Maskos. „Ich bin bei dem kleinen, aber renommierten Zirkus Flunkert angestellt!“
Haake sagte, um abzulenken: „Sie sind aber viel zu schade dafür!“
„Natürlich bin ich zu schade dafür! Ich möchte viel lieber ganz der Musik leben. Aber der alte Flunkert ist tot. Ich mußte es ihm in die Hand versprechen, seine Witwe nicht zu verlassen. Der junge Flunkert, der Sohn, hatte nie ein gutes Verhältnis zu ihr. Sie wissen ja, was das für ein Heiliger ist, Sie kennen ihn ja genug, Herr Professor!“
Der Architekt Willi Maack erklärte, Haake sei aus Studiengründen eine Zeitlang mit dem Zirkus gereist, habe gezeichnet, in Wachs modelliert und dergleichen. Er war von dem Bildhauer in seine Görbersdorfer Pläne eingeweiht und fürchtete aus denselben Gründen für sie, die früher den schwedischen Heiratsplan zerstört hatten.
„Sie kennen ihn ja genug, Herr Professor!“ fuhr das kleine quäkende Original, ohne auf Willi zu hören, fort. Sein bartloses Antlitz sah eigentlich aus, als seien die Züge darin durch einen Schlag mittenhinein völlig aus dem Gleichgewicht und in eine immerwährende wilde Verwirrung gebracht worden. — „Sie kennen ihn ja genug, Herr Professor! Er ist ein Trapezkünstler, der sich gewaschen hat. Neulich hat er sogar im Zirkus Renz Sensation gemacht. Renz, Herzog, Salomonsky, Schumann machten ihm daraufhin Anträge. Er hatte sich aber nur wieder einmal mit seiner Frau Mutter verkracht. Und wie solche Menschen eben sind, als er sich mit der Mama versöhnt hatte, kroch er sofort wieder in seinen Pißpott zurück. Nicht zehn Pferde bringen ihn aus dem alten, wackligen Wohnwagen, in dem er geboren ist. Sie können ihm flugs ein Hotel in Paris oder einen Palast in Venedig anbieten. Und überhaupt, einen Prinzipal über sich zu haben, schätzt er nicht. Sie erinnern sich doch noch an das Taufessen?“
Nun gut, dachte Haake, was kann da sein? Der gute Maack hat ja einigermaßen vorgebaut. Pastoren, Ärzte, Juristen und Künstler verkehren ja selbst mit Verbrechern von Berufs wegen. Also! „Ja, allerdings, da war ja ein Taufessen!“
„Sie erinnern sich also an das Taufessen? Der kleine Flunkert, der damals getauft wurde, ist heut vier Jahr’. Hat sich ganz ausgezeichnet entwickelt. Anstellig, kräftig, macht schon die waghalsigsten Kunststücke! Unerschrocken bis dort hinaus. Fällt, wo er hinfällt, auf die Füße, kriecht auf die Wagen, die Pferde, auf jeden Zaun, jede Stange wie eine Katze hinauf, wäre allerdings beinah vor acht Tagen in der Regentonne ersoffen, wenn ich ihn nicht bei den Beinen herausgeholt hätte. Er hat eine Schwäche, die uns allerdings manchmal zugute kommt: er schmeißt nämlich Gänse mit Steinen tot! Was soll man schon tun, wenn die Sache nicht mehr zu ändern ist? Ein Gänsebraten ist immer willkommen.
Das wäre der eine der beiden Jungen, die bei dem Taufessen eine Rolle gespielt haben. Erinnern Sie sich an den Schuft in der Falschmünzervilla, diesen niederträchtigsten Gauner von einem Wirt, der mir jemals begegnet ist? Wissen Sie, wie wir mitten im Essen das Gebrüll hörten und die Treppen hinunterrannten, weil wir glaubten, es würde einer umgebracht? Und wie wir diesen Verbrecher trafen, als er mit einem alten Luder von einer Köchin dabei war, seinen Sohn totzuprügeln? Aber lieber Professor, das müssen Sie ja doch wissen! Botho, glaub’ ich, hieß die Canaille; der Zufall oder er selber hat ihm noch einen märkischen Adelsnamen ohne das von beigelegt. Ich sehe Sie ja noch über ihn herfallen. Sie hatten ihn vorn, ich hatte ihn hinten gepackt. Pudelko haute ihm über die Nase, daß die rote Tunke nachstürzte. Helmut hieß der verprügelte Sohn. Wissen Sie, daß dieser Helmut acht Tage später langsam immer tiefer in den sogenannten Karutzsee hineingegangen ist? Die Leute haben ihm zugerufen, der Briefträger hat ihm zugerufen, aber er hat nur gelacht und hat gesagt: ‚Ich habe genug! Grüßen Sie mir meinen Satan von Vater,’ oder so. Er ist weitergegangen und ersoffen.
Und Botho, es ist tatsächlich wahr, hat sich die Vermittlung und Unterstützung des Amtsvorstehers erbeten bei einer Bewerbung um die Stelle des Henkers in Preußen, alias Scharfrichters. Wie sich nachher herausstellte, hatte er mehr als achtzig Mitbewerber. Er ist aber, glaube ich, nicht angekommen. Er muß sehr traurig darüber sein, denn er ist doch dadurch um ein ersehntes, königlich privilegiertes, jährlich mehrmaliges Privatvergnügen gekommen.“
Maskos quäkte sehr laut, auch die Sache mit dem Scharfrichter. Der grüngekleidete Donnergott, der binnen kurzem seinen Rang unter den höchsten Beamten einer fürstlichen Herrschaft einnehmen sollte, ließ seine Augen, mehr und mehr befremdet, aus ihren Höhlen hervorquellen und blickte, mit Bezug auf Maskos, fragend bald den Architekten, bald Haake an. Es war ihm sicherlich kein angenehmer Gedanke, mit diesem putzig schäbigen Männchen zusammen gesehen zu werden. Gott sei Dank wurde er durch die Bulldogge etwas abgelenkt. Das Tier witterte ganz gewiß, daß es hier einen Hundekenner, Hundeliebhaber, Hundeprotektor vor sich hatte. Es bestand darauf, ihm Kopf oder Pfote aufs Knie zu legen und ihm mit einem sprechenden, bittenden Ausdruck unverwandt ins Auge zu blicken. Der Forstmann fand, daß der Bullenbeißer wirklich eine Reihe Zähne verloren hatte, was dieser am Ende der Untersuchung mit einem verstärkten Schnaufen und einem knurrenden Winseln anklagend bestätigte. Ronke wußte natürlich nichts von der Art der Fingal-Produktion, gründete aber seine Vermutung darüber auf die Tatsache, daß Bulldoggen, die sich verbissen haben, nicht loslassen.
Der Schweidnitzer Keller ist schließlich ein Volkslokal. Der Briefträger kann neben den Oberlehrer, der Eckensteher neben den Stadtrat oder Stadtverordneten zu sitzen kommen. Dieser Gedanke, verbunden mit der Wirkung des Bieres, tilgte allmählich die Zurückhaltung, die man anfangs gegen Maskos beobachtete. Das Groteske seiner Erscheinung war überdies durch Gewohnheit abgeschwächt. Und schließlich ward der Barbarossa durch Erörterungen über Musik gefangengenommen, auf die sich, zur großen Beruhigung Haakes und Willis, das Gespräch gelenkt hatte.
„Ich folge diesem Zirkus Flunkert, wie ich schon sagte, hauptsächlich aus Pflichtgefühl, dann aber aus einer vielleicht törichten Liebhaberei!“ — Nach dieser Bemerkung fuhr Maskos fort: „Von Berufs wegen, wie Sie wissen, bin ich eigentlich Musiker. Ich bin unter den fahrenden Leuten keineswegs der einzige, der seinen wahren Beruf vernachlässigt. Solche Leute sind, ganz im Gegenteil, bei uns keine Seltenheit. Selbstverständlich spiele ich alle Instrumente, Blech und Holz, was die Blasinstrumente betrifft, Violine, Bratsche, Kontrabaß. Ach, wie oft habe ich bei Beethovens Neunter den Paukisten vertreten! Ich spiele das Banjo, das Niggerinstrument, das Xylophon oder schlechtweg Hackbrett der Zigeuner. Auch das andere Zigeunerinstrument, Zimbal genannt. Von alledem kann ich jedoch keinen Gebrauch machen. In gewissen Städten habe ich musikalische Freunde von meiner Theaterzeit. Vielleicht klingt es komisch, aber zweimal war ich nahe daran, nämlich einmal in Prag, das andere Mal in Lissabon, vom Aushilfskapellmeister zum ersten Dirigenten der Oper aufzurücken. Das ist vorbei. Auch habe ich nach dieser Richtung hin keinen Ehrgeiz mehr. Meine verstorbene Frau war Sängerin. Wie gesagt: wenn die Gelegenheit es gibt und wir Städte berühren, wo alte Freunde seßhaft sind, die notabene auch ein Klavier besitzen, tobe ich mich manchmal acht Tage lang musikalisch aus. Meine Finger laufen zu meinem Erstaunen immer noch ganz gut, Herrschaften!“
Der mächtige Forstmann blickte den kleinen Maskos mit heroisch durchdringenden Augen an. „Wenn das wahr ist,“ dröhnte er mit allerdings etwas gequetschter Kropfstimme, „wenn das wahr ist, was Sie da sagen, und ich denke mich in Ihre Lage hinein, so müßte ich doch zwanzigmal Tinte gesoffen haben, wenn ich ein dreckiges Herumtreiberleben einer Existenz als ehrlicher Kapellmeister vorziehen sollte!“
„Aber ich bin ja — wie sagen Sie? — was für einer? — ein Kapellmeister!“ Der gleichsam Niedergeschmetterte sagte das, indem sein Gesicht wie von selbst in einem herzlich breiten Lächeln auseinanderfloß. „Fragen Sie doch Herrn Haake, ich bin ja Kapellmeister! Sie sollten mich einmal sehen, wenn ich mit meiner spitzen Mütze, meiner Halskrause, meiner Leinwandkombination, in der ich Junge wie drei Känguruhs unterbringen könnte, auf Richardl sitzend, mit einer zwei Ellen langen Trompete durch die Ortschaften reite. Mein Antlitz ist in einem solchen Fall mit Mehl, meine Lippen und meine Nase mit Zinnober beschmiert. Hinter mir folgt in Gestalt eines Posaunisten und eines Paukisten und Beckenschlägers meine Kapelle. Sie ist auf ein und demselben Schimmel untergebracht. Herr Oberforstrat,“ fuhr Maskos fort, nachdem er durch seinen ironischen Gegenhieb den Forstmann hinreichend aus der Fassung gebracht hatte, „Herr Oberforstrat, was ist denn die Welt, wenn einem darin das Seligwerden nach eigener Façon verboten ist?! Ich hasse nun einmal geschlossene Räume. Ich liebe die freie Weite der Landstraße. Außerdem kann ich nicht seßhaft sein. Sie müssen nicht glauben, ich wüßte nicht, was ich aufgegeben und was ich dafür eingetauscht habe. Fünfundvierzig Jahre in der Welt, geboren zu Melbourne in Australien, dann nach Kapstadt hinübergeschaukelt und auch mal sogar die Osterinsel von ferne gesehen, San Franzisko, New York und so weiter, mehr erlebt, mehr gesehen, Herr Oberforstrat, als sich im Augenblick erzählen läßt: da weiß man schon etwas von der Welt. Ich habe in fürstlichen Betten gelegen, in manchem stolzen Schloß Klavier gespielt, und nicht nur die Kammerkatzen haben mir hübsche Erinnerungen zurückgelassen. Das Bürgertum, in dem die Worte ehrlich, rechtschaffen, hochachtungsvoll und dergleichen besonders zu Hause sind, hat mich nie so recht interessiert. Und wenn mich überhaupt keine gute Gesellschaft aufnehmen will und mir ihre Geringschätzung zeigt, so sind wir insofern ganz d’accord, als ich mich nicht um alles in der Welt entschließen würde, ihr beizutreten. Und was die Geringschätzung anbelangt, so kann man die ganz gewiß nicht überbieten, die ich in treuem Herzen für sie bewahre!“
Der kleine Zirkusmanager und Musikus redete wie ein Wasserfall. Anscheinend fand er sich doch durch den Umstand ein wenig erlöst, es vorübergehend wieder einmal mit gebildeten Leuten aus dem Bürgertum zu tun zu haben und eine zurückgedrängte Innerlichkeit spielen lassen zu können, für die es im grünen Wagen der Flunkerts keine Verwendung gab.
„Sie müssen nicht glauben, wir Landstreicher hätten keine Bildungsmöglichkeit. Wir haben sie und machen davon Gebrauch. Schon allein, wenn Sie wollen: ich spreche acht Sprachen. Ich benutze die Nähe jeder größeren Stadt, um wichtige Sehenswürdigkeiten, Bauwerke, Bildersammlungen und dergleichen kennenzulernen. Wird ein Schauspiel, eine Oper, ein Konzert gegeben, so suche ich, wenn Zeit, Geldbeutel oder sonstige Umstände es ermöglichen, dabeizusein. Ein Freund meines Vaters war Little Wheal. Little Wheal war ein berühmter Clown. Clown, auf deutsch will das sagen, Possenreißer, ein Pojaz, ein Spaßmacher. In seinen Mußestunden trieb er Altgriechisch und Latein. Lateinische Briefe jagte er auf das Papier genau so wie Briefe in seiner Muttersprache. Er ist hochbetagt und als wohlsituierter Mann in Mailand gestorben. — Und dann, ich will Ihnen etwas sagen: Sie glauben vielleicht, wenn Sie in einen D-Zug hineinspringen, Sie kommen weit. Springen Sie einmal in unseren grünen Wagen hinein, da werden Sie bald sehen, daß Sie noch weiter kommen. Wir Herumtreiber, wie Sie uns nennen, führen zu wenig Tagebuch, weil wir schreibfaul, aber auch weil wir Philosophen sind. Cui bono? pflegen wir meistens zu sagen. Wenn wir Tagebücher führten, Herr Oberförster, so würden Sie daraus sehen, daß man im grünen Wagen weiter kommt als in D-Zügen. Wir haben Zeit, deshalb kommen wir weit. Eugen Lee, auch ein Clown und älterer Freund von mir, ist vor zwei Jahren auf Penang gestorben. Wie kam er dorthin? — Im grünen Wagen. Er ist ebenfalls mit so einem kleinen Zirkus Flunkert gereist, der die Länder an fernen Ozeanen unsicher machte. Ich habe mit einer anderen kleinen Gesellschaft den armen politisch Verbannten in Sibirien aufgespielt, und unsere dressierten Tiere und Menschen haben ihnen ein bißchen die Zeit vertrieben. Da haben wir Renntiere vor dem Wagen gehabt; denn Eisenbahnen gibt es in Irkutsk, Jenisseisk und Jakutsk nicht. Es ist im Sommer ganz hübsch dort oben, aber im Winter um so weniger. Von den Schwierigkeiten fange ich lieber gar nicht an, die sich dann für eine Reisegesellschaft von Menschen, Pferden, Hunden und anderen Tieren ergeben, die meist nicht viel mehr als das am nächsten Ort zu verdienende Kleingeld verfügbar hat. Was für Sums machen nicht manche Forschungsreisende, die mit vierfach übereinandergezogenen Pelzen, fetten Kreditbriefen ausgestattet, mit offiziellen Empfehlungsschreiben der Regierungen versehen sind, durch die alle Behörden gehalten sind, ihnen wo immer Beistand zu leisten. Glauben Sie nur, solche Leute wie wir sind lange vor Marco Polo in China gewesen! Wir kommen schon, abgebildet, auf den Wänden ägyptischer Grabkammern vor. Ich selbst bin einmal auf dem alten Wege nach China gereist, der um Anfang fünfzehnhundert üblich war. Auch uns haben, wie die Kaufleute jener Zeit, meist Ochsen, manchmal Kamele gezogen. Nur war es damals unter dem Schutz der Tatarenherrscher, welche die Wege bis China bewachen ließen, bedeutend sicherer. Schwarzes Meer, Südrußland: die Reise hat etwa zwei Jahre gedauert.“
So ging es fort, und nicht nur der Forstmann, der Architekt und der Bildhauer horchten aufmerksam, sondern auch das Publikum an den Nebentischen, soweit die Stimme des quäkenden Männchens verständlich war.
Mitten in seiner Rede erhob sich Maskos, nachdem er kurz auf die Uhr geblickt hatte: „Gott, o Gott, es ist höchste Zeit! Wir müssen zu Doktor Kabalzer, Grunz! Wir sind um zwei Uhr zu Doktor Kabalzer bestellt. Das ist der Tierarzt, meine Herrschaften!“
Zu Ende August war in der Scheidungssache immer noch nicht der geringste Fortschritt zu verzeichnen, und zwar hauptsächlich, weil ein Ehebruch Wandas nicht durchaus zu beweisen war. Selbst die Beobachtungen und Erkundigungen durch geheime Kundschafter hatten darüber nur Wahrscheinlichkeiten ergeben, aber keine Gewißheit erbracht. Der Anwalt Wandas bestand auf einer großen Geldsumme, da Paul Haake unbedingt als schuldiger Teil anzusehen sei. Sie würde den Bildhauer beinahe ruiniert haben, abgesehen davon, daß ihn der bloße Gedanke peinigte, diesem verderbten Geschöpf, dieser Beischläferin von Flunkert junior eine Ehrenerklärung zu geben und diesem Halunken, der ihm die Frau gestohlen hatte, noch eine Geldsumme in den Rachen zu werfen: denn darauf kam es schließlich hinaus.
Haake hatte auch anderen Ärger gehabt. Eine Arbeit, die er für seine beste hielt, war ihm von einer städtischen Kommission nicht abgenommen worden. In einem Ausbruch blinder Wut schlug sie der Bildhauer kurz und klein. Gott sei Dank war eine sogenannte echte Form davon vorhanden. Aber der Künstler trug eine innere Wut davon, die ihm, stechend, nagend und brennend, nicht selten den Schlaf raubte.
Die Begegnung mit dem Musikus Maskos hatte irgendwelche offensichtlichen Folgen nicht nach sich gezogen. Der Forstmann Ronke hatte am Ende keinen Anstand an dem seltsamen Menschen genommen, ja sogar immer wieder erklärt, wie interessant ihm der Einblick in die Welt des Artistentums gewesen sei. Gewisse geheime Wirkungen aber in Haakes Seele waren da. Die Schilderungen des Nomadenlebens der kleinen Gauklertruppe und seiner fast ungeheuren Ausmaße gingen ihm nach. Sie vermischten sich mit den unaustilgbaren Eindrücken seiner Handwerksburschenzeit, wo Wechsel der Arbeitsstelle, überhaupt Ortswechsel Pflicht gewesen war. Er hatte bei mehr als dreißig Steinmetzmeistern als Geselle gearbeitet, war länger geblieben, wo es ihm gefiel, und beim kleinsten Mißbehagen weitergezogen. Dann fand er sich wieder auf der Landstraße, die ihm immer wieder die Last der Arbeitsfron von den Schultern nahm. Lohnte es eigentlich, sich fast bis zur körperlichen und geistigen Zerrüttung an die Entstehung eines Kunstwerkes zu verschwenden, dem doch schließlich kein anderes Schicksal blühte — dies zeigte eine gewisse städtische Kunstkommission! — als der Perle, die vor die Säue geworfen wurde?
Es blieb der Görbersdorfer Plan.
Der mit allen Hunden gehetzte, mit allen Wassern gewaschene Willi Maack hatte bald erkannt, daß man schöne Aufträge fischen konnte, wenn man sich mit dem werdenden Generalgewaltigen des Fürsten X. zu stellen wußte. In den neuen, ungeheuren Revieren mußte ein Verwaltungsgebäude mit anstoßenden Pferdeställen und Kuhställen, Heuböden und einem Gesindehaus errichtet werden. Etwa ein Dutzend neuer Forsthäuser waren vorgesehen. Ronke war ahnungslos genug, die Einladung des treuherzig lustigen Architekten anzunehmen und bei ihm zu wohnen, wenn er, was nun öfter geschah, nach Breslau kam.
In die Zeit eines solchen Besuches fiel die Taufe von Willi Maacks Stammhalter. Der Taufvater hatte die Schalkhaftigkeit, den Forstmann, den er, wenn er nicht zugegen war, abwechselnd Asathor, Barbarossa oder Hakelberend nannte, neben Paul Haake als Taufpaten einzuspannen.
Das Taufessen, in dem geräumigen Speisezimmer einer wundervollen, mit vielem Geschmack eingerichteten Etagenwohnung abgehalten, gab Haake Gelegenheit zu stillen Vergleichen mit einem anderen, dem er beigewohnt hatte. Die wohltemperierte Geselligkeit gab ihm Zeit, in Gedanken abzuschweifen oder hinter den Gestalten der gegenwärtigen Tafelrunde andere auftauchen zu lassen. Da war die hübsche, aus gutem kölnischem Bürgerhause stammende Frau, deren Betragen erkennen ließ, daß sie sich bewußt war, dieses Heimwesen durch ihr Jawort an Willi eigentlich begründet zu haben. „Warum lachst du?“ fragte Willi den Bildhauer. Es war geschehen, weil dieser plötzlich an Stelle der reichen Kölnerin den tätowierten Riesenbusen der Witwe Flunkert und ihre qualmende Riesenzigarre bemerkt hatte. An Stelle des fetten Bürgermeisters, den Frau Maack zum Tischherrn hatte, schob sich das geistvoll-lustige, übermütig-mokante Antlitz Tom Billings ein, der plötzlich aufstand und, eine Pfauenfeder waagerecht auf der Nase balancierend, um den etwas gelangweilten Tisch tänzelte. Denn die an sich heiter zufriedene, selbstbewußt überlegene Hausfrau in wahre Geselligkeit zu verwickeln, war schwer. Selbst der Humor und die Derbheiten ihres Gatten ließen sie völlig unbeteiligt. Gern hätte man über Willi gelacht, über das, was er in beinahe monologischem Holterdiepolter an verrückten Ansichten, Urteilen, Witzen bewußt oder unbewußt humoristisch zum besten gab. Man sah jedoch auf die Frau und getraute sich nicht. Wie vielfältig, dachte der Bildhauer, wenn auch mit unsichtbaren Schnitten, doch dieses Tischtuch zerschnitten ist, zwischen Willi und seiner jungen Frau, zwischen ihr und jedem ihrer Gäste! Willi merkt es nicht, oder es stört ihn nicht: Nu, wenn schon! ich bin ein Emporkömmling, sie hat sich zu mir herabgelassen. Sie ist unter ihren Stand heruntergerutscht. Das Leben ist eben ’ne spickige Sache! Muß man eben erst recht hoch naufrutschen! — Schließlich wurde der Täufling gebracht. Die Bettchen, die Windeln waren dieselben, in denen schon die Mama gequäkt hatte. Sie hatte dasselbe Häubchen mit Brüsseler Spitzen auf, als ihr Kopf noch den Umfang eines Gänseeis nicht überschritten hatte. So waren auch das kostbare Tafelservice, das Silber, die Weingläser alter Familienbesitz, und vor allem der Markobrunner, der Rüdesheimer und der Johannisberger, was von Haake am meisten gewürdigt wurde. Schließlich wurde man doch etwas lebhafter. Die vorzügliche Küche und eben der Wein bewirkten das. Ronke und Willi machten Projekte. Dieser hatte dem prächtigen Menschen Verwaltungsgebäude, Ställe und Dienstwohnung auf das herrlichste an die Wand gemalt. Der Forstmann quoll über von Behagen und Begehrlichkeit. Paul Haake konnte nicht recht vergnügt werden. Die Prügelszene in der Falschmünzervilla stieg in ihm auf, wie der Vater den kleinen Jungen, die Taufgesellschaft aber den Vater zerprügelt hatte. Und schließlich lag dieser kleine, vom Leben so fürchterlich mißhandelte Bengel als blaue, triefende Wasserleiche auf dem Tisch.
Der Schluß des Festes brachte Haake, der anscheinend an diesem Tag mit dem linken Bein zuerst aus dem Bette gestiegen war, noch eine kleine Mißstimmung. Während man sich im Vorraum für die Straße zurechtmachte, meldete sich Haake für die nächsten Tage bei Ronke an. Es zog ihn aus vielen Gründen und mit allen Kräften nach Görbersdorf, wo er auch seine Mißstimmung der zurückgewiesenen Arbeit wegen loszuwerden hoffte. Hatte ihn doch der Ärger auch während des Taufessens nicht verlassen, da der Bürgermeister zugegen und außerdem recht gekniffen war.
Also Herr Ronke möchte so freundlich sein, ihm wieder das Giebelzimmer einzuräumen.
Aber nein, das tat Herrn Ronke diesmal sehr leid: seine Frau war krank — was sie immer gewesen war! —, ein neuer Forsteleve war eingetreten, und außerdem wollte er nicht mehr vermieten. Ihm aber ein ebenso gutes Zimmer anderweit zu besorgen, war er gern bereit.
Trotz der Absage Ronkes war der Bildhauer wenige Tage später in Görbersdorf, begleitet von wenig Gepäck, einigen botanischen Handbüchern und einer grünen Botanisiertrommel. Er machte seinen Besuch auf der Försterei, wo er freundlich wie sonst empfangen wurde. Haake war ein leidenschaftlicher Schachspieler. Ronke, der ihm darin ungefähr gewachsen war, hatte für dieses Spiel eine große Leidenschaft. Fast täglich rangen die beiden auf dem karierten Brett miteinander, im Forsthaus oder in einer kleinen Konditorei.
Auf seinen ausgedehnten Waldspaziergängen traf er meist mit Försters Mieke zusammen. Man konnte sich nur auf diese Weise begegnen oder aber ganz öffentlich. Freimut und Temperament des Försterskindes hatten den Eltern eine stürmische Neigung für den Bildhauer offenbart, die anfangs von ihnen als Scherz genommen wurde. Später von einer ernsten Gefahr, die das Mädchen laufe, überzeugt, bekämpften sie diese Neigung mit Entschiedenheit. Ein verschärftes Verfahren trat ein, als der Vater von Breslau zurückkehrte, wo er seine Beförderung erfahren und den Morgen im Schweidnitzer Keller erlebt hatte. Haake hatte als Bildhauer einen guten Ruf, war aber durch sein Vorleben, seine Trunksuchtsanfälle und seine Weibergeschichten anrüchig. Dadurch hatte sich der Forstmann auch veranlaßt gefühlt, ihn nicht mehr im Hause zu beherbergen.
Das blonde, von heißer Lebensfülle durchpulste Försterskind war aber in der Ungebundenheit eines Naturwesens groß geworden. Das weite Revier des Vaters war dem Mädchen besser als ihm, besser als irgendeinem Waldläufer oder Forsteleven bekannt. Sie wußte nicht nur, wo diese und jene Pflanze zu finden war, sie wußte, wo und wie man auf den Rehbock, den Sechzehnender, den Auerhahn zu Schuß kommen konnte. Ein jedes Geräusch des Waldes, mochte es vom Eichhorn, vom Igel oder aus dem Reiche der Vögel kommen, kannte und deutete sie. Lange bevor zum Beispiel Paul Haake einen Schritt hörte, vernahm sie ihn. Ihr bloßes Auge sah weiter als er mit dem Krimstecher. Geschlossene Räume beengten sie. Sie war nachts, wenn sie schlief, wirklich im Haus, sonst mehr im Hof, Garten und in den Ställen als in den Zimmern, und schließlich hauptsächlich außer dem Haus, ohne daß sie auch nur Bescheid zurückließ, wo sie im Notfall zu finden wäre. Diesem Wildling, den man so lange hatte laufen lassen, nun plötzlich Zaum und Zügel anzulegen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie wurden zerrissen und abgeworfen. Der gefürchtete Jähzorn des Vaters, der sich bisher nur gegen Unterförster, Forsteleven, Waldarbeiter und Holzdiebe gerichtet hatte, selbst er vermochte nichts gegen sie. Sie stellte ihm einen furchtlosen, ganz unbeugsamen Trotz gegenüber. Das konnte sie nur, weil sie eben kein Sohn, sondern eine Tochter war. Ihr Freimut, ihre Festigkeit, ihre selbstbewußte, kluge Wahrhaftigkeit hatten etwas Entwaffnendes. Letzten Endes pflegte immer nichts anderes übrigzubleiben, als daß man sie sich selbst überließ, wobei man, wenn man wollte, zu dem Schlusse kommen konnte, daß dieses Mädchen ihr eigenes Schicksal in festen Händen hielt.
Schon das erste Wiedersehen hatte die Leidenschaft des Bildhauers neu entfacht und den Wunsch befestigt, Marie Ronke zum Weibe zu nehmen. Nicht nur die Glut seiner Triebe begehrte sie; die Kraft und der Wille dieses siebzehnjährigen Frauenzimmers konnten ergänzen, was ihm fehlte, und seinem schwankenden Dasein den Halt geben. Dazu kam ihre herrliche Volkstümlichkeit. Nicht nur, daß sie und er den gleichen Dialekt sprachen, der zwischen der Ausdrucksweise des Waldarbeiters und der des gebildeten Kleinbürgers lag. Sie waren auch beide allen Künsteleien, allem Salonwesen abgeneigt. Es gab nichts in Haakes Aufstieg von seiner frühesten Jugend an, über die Nöte und Erlebnisse seiner Wanderschaft, was er hätte vor ihr verbergen müssen und was sie nicht ganz natürlich gefunden hätte. Ausgenommen von seinen gelegentlichen Bekenntnissen blieben allerdings zunächst alle Erfahrungen, die er in seinem Liebesleben gemacht hatte. Aber auch diese drängten unaufhaltsam ans Tageslicht und verloren ihr Gift in der Atmosphäre einer gesunden Kameradschaftlichkeit.
Es war ein ganz gewöhnlicher Fall, der diese solideste aller Werbungen gleichsam zur Entgleisung brachte. Es müßte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, wenn Mieke unter den Forstleuten der Herrschaft X. nicht Bewerber gehabt haben sollte. Unter diesen Bewerbern war sogar ein angehender Forstreferendar, der sich, als die Ernennung Ronkes zu einem Generalgewaltigen feststand, weiter vorwagte. An der materiellen Erbschaft des Försters mochte wenig, um so mehr an der dereinstigen Nachfolge auf seinem hohen Posten gelegen sein. Er schöpfte Verdacht, fühlte Ärger und Eifersucht, kratzte die über Haake immer im Schwange befindlichen Gerüchte zusammen und ließ Ronke warnen, von einer übergeordneten Stelle aus, wodurch die Warnung eine verteufelte Ähnlichkeit mit einem Verweise bekommen mußte.
Den Bericht von einem furchtbaren Wutausbruche des Vaters brachte die Försterstochter in atemlosem Lauf und Sprung auf eine gewisse Waldlichtung mit, wo Haake und sie sich zu treffen pflegten. Sie war nur bleich, sie weinte nicht. Freilich müsse sie sich verschicken lassen. Sie werde im Harz oder sonstwo in ein Mädchenpensionat verbracht. Man werde sich aber gewaltig täuschen! Am ersten Tage breche sie aus und komme zu ihm, wo er immer sei. Er brauche ihr das nur mitzuteilen.
„Natürlich wird Vater auch mit dir reden!“ sagte sie. „Glaube mir, es wird einen schrecklichen Krach geben. Er sagt, er schieße dich über den Haufen, wenn du mir je noch einmal, auch nur auf zehn Schritt, nahe kommst. Auch mir hat er gedroht. Auch mich will er totschießen. Mag er mir drohen! Mag er mich totschießen! Mache mit mir, was du willst, Geliebter! Sage, wir wollen ins Wasser gehen! Sage das, sage dies! Tue das, tue dies!“ Und so hing sie ihm schluchzend und glühend am Halse.
Jetzt sprachen sie nicht mehr, jetzt schwiegen sie. In beiden war ein und derselbe Entschluß zum Durchbruch gelangt, ein entscheidender Wille, der alles und alles zertrat, zerschlug, zerriß, alles und alles durchbrach, beiseite schleuderte, in Brand aufgehen ließ, was bisher zwischen ihnen gestanden hatte. Die Lichtung war mit riesigen Wurzelstöcken übersät, die dunkel aus einem farbigen Gewühl von Weidenrosen, Fingerhut und Waldgras hervorragten. Wo sie dereinst gestanden hatten, waren tiefe Höhlen zurückgeblieben. Eine solche war der Liebenden Herberge.
In dieser Grube ergaben sie sich und gehörten einander. Gehörten einander mit vollem Bewußtsein, mit klarer Entschlossenheit. Was irgend noch Wesen von Wesen trennen konnte, riß sich das Weib von den Schultern, den Brüsten, den Hüften herunter. Mit starken Armen umfingen sie sich. Nie, zeit seines Lebens, hatte der Mann einen solchen Rausch der Betäubung gefühlt, war niemals in einen ähnlichen Traum von Verzückung und Wonne hinabgetaucht.
So wurde von beiden das Recht der Liebe geraubt, bevor es ihnen von andern geraubt wurde.
Am nächsten Tage verließen sie Görbersdorf in verschiedenen Richtungen.
Nun hieß es für Haake, um jeden Preis von Wanda loszukommen. Daß er die Försterstochter heiraten würde, war für ihn ausgemacht. Dunkle Ahnungen hauchten ihn mit dem Gedanken an, es würde sogar vielleicht notwendig sein, wenn er nicht eines Tages vor Ronke als wirklicher Halunke dastehen wollte. Von dem im Grunde immer einsamen, innerlich scheuen Manne, der außer Willi Maack keinen Freund hatte, wurde dieser zuletzt ins Vertrauen gezogen. Nochmals fand alsdann eine Konferenz mit dem Anwalt statt, und er stimmte zu, daß der Architekt nach dem Städtchen Zobten abgeordnet wurde, wo augenblicklich der Zirkus Flunkert sein Wesen trieb, und den Versuch machte, Frau Wanda Haake, geborene Schiebelhut, für einen Vergleich umzustimmen. Er kam sehr schnell mit der seltsamen Nachricht zurück, sie sei zu einem Vergleiche bereit, Haake möge nur selber kommen und alles mündlich mit ihr verabreden. Auf diese Art ließe sich in zwei Minuten mehr erreichen als in einem Jahr durch die Anwälte, deren Vorteil es sei, die Sache nach Möglichkeit zu verschleppen.
Man überlegte lange, ob dies der einzige Ausweg wäre, da Haake ihn nicht betreten wollte und vor jeder Begegnung mit Wanda zurückschauderte. Ohne daß man darüber schlüssig geworden war, erhob sich Haake jedoch eines Morgens um zwei Uhr während einer schlaflosen Nacht und befand sich zwei Stunden darauf in dem einzigen Gasthof des Städtchens Zobten, in dessen Räumen ein Ball der Bürgerressource noch in vollem Gange war. Als Haake erschien, hob ihn sein Äußeres dermaßen ein, daß sich sehr bald der Vorstand dieser geschlossenen Gesellschaft auf ihn stürzte und ihn aufs herzlichste zur Beteiligung an dem Tanzvergnügen aufforderte. Die befrackten Dickbäuche führten den Bildhauer in den Saal, obgleich er nur straßenmäßig gekleidet war; er nahm an einem der Tische Platz, die hier und da an den Wänden standen, bestellte Kaffee und zündete seine Zigarre an.
Die Verfassung des Bildhauers war die seltsamste. Noch vor zwei Stunden wälzte er sich, von Sorgen gequält, hoffend, fürchtend, verzweifelnd, im Bett herum, die Haut wie von Ameisen überkrochen; dann kamen Nachtdroschken, erleuchtete Wartesäle mit schläfrigen Menschen, der Dampfpfeifenlärm der nächtlichen Bahnhöfe, das leere Coupé, der Dampf und die Drähte, die vor dem Fenster auf und ab stiegen, und schließlich eine Fahrt mit Bauernpferden durch schlafende Dörfer und einsame Landschaften, durch eine von Regengeriesel und Windstößen schwangere Finsternis. Nun saß er hier im erleuchteten Saal und nahm am Ausgang eines Vergnügens teil, das ihn hauptsächlich deshalb anzog und belustigte, weil es einen so trübseligen Eindruck machte.
Es lag ihm fern, sich über die bebänderten Schönen in weißen und farbigen Mullkleidchen — alte und junge, die alle indes noch zu haben waren — lustig zu machen. Sie schwitzten. Die Schärpen waren zerknüllt, die Frisuren hatten den Halt verloren. Es half nichts mehr, sie durch Greifen und Befingern zurechtzurücken. Das alles war eine Selbstverständlichkeit. Die jetzt noch tanzenden Paare waren die unersättlich Ausdauernden. Sie wurden rettungslos vom Geschmetter der Blechmusik, aber doch wie Nachtwandler, aufgescheucht und drehten sich wie mechanische Spielzeuge. Das Mädchen schlief an des Tänzers Brust. In den anstoßenden Gastzimmern war es lebhafter. Lärm und Gegröle von dorther verriet, daß das im Saale schon welke Vergnügen hier an vielen Tischen durch unentwegtes Begießen in feurigster Blüte erhalten wurde. Kein Wunder, wenn Haake, nüchtern und von eigenen Sorgen gequält und erregt, in diese Umgebung hineingeschneit, sie als fremd und phantastisch empfinden mußte.
Ich erlebe hier eine ganz gewöhnliche Sache, dachte er. Aber der außergewöhnliche Zustand, in dem ich bin, dazu die außergewöhnliche Stunde, die Nähe der ungeheuren Wahrscheinlichkeit, mit Wanda zu reden, Wanda wieder mit Augen zu sehen, diesen verdammten Zirkus Flunkert, von dem ich mit einer Art Drehkrankheit infiziert worden bin, das alles läßt diese Umgebung in einem magischen Lichte aufdunsten. Wäre ich nach Bombay verschlagen oder in den Keller eines Tempels des alten Mexiko, wohnte einer Witwenverbrennung oder einem rituellen Tanze bei, bei dem das Absurdeste vorginge, mir könnte nicht fremder, aufgepeitschter, traumhafter zumute sein.
Warum schwöre ich mir eigentlich in diesem Augenblick, denkt er weiter, mich von Wanda loszulösen? In drei Teufels Namen, ich habe mich ja doch längst von ihr losgelöst! Als ich eben über den Marktplatz fuhr, vermutete ich, infolge gewisser Geräusche, in nächster Nähe das Zirkuszelt. Es klang wie Regengeriesel auf Zeltbahnen. Oder habe ich nicht die ganze runde, oben spitze Masse deutlich erkannt? Es war ja auch Licht in den grünen Wagen. Meinethalben! Es mag auch sein, daß ich eines der kleinen Liliputanerhäuschen, die um den Marktplatz stehen, für einen Wagen genommen habe. Aber da waren die kleinen Laternen, die unter dem Langbaum befestigt sind. Er machte Gesten, wie wenn er etwas wegscheuchte. Er hörte ein Rascheln in der Brusttasche. Er griff hinein, zog einen Brief heraus, den er am Tage vorher von Marie Ronke erhalten hatte, und vergaß, in den Inhalt vertieft, wo er war. Welche kräftige Hand! Welche mutigen Grundstriche!
Haake sah auf. Er faßte ein tanzendes Paar ins Auge, das durch seine Gegensätzlichkeit merkwürdig wurde. Ein fadendünnes, kindhaftes Mädchen drehte sich mit einem kleinen Dickbauch von Stadtrat im Kreise herum. Die beiden beschäftigten seinen nach innen gekehrten Geist aber nur einen Augenblick, wenn er sie auch leeren Blickes noch lange anstarrte. Als die Tänzerin mitten im Saale innehielt und ihren verdutzten Tänzer verließ, wurde der Bildhauer aufmerksam. Dann kamen schnelle und grelle Erleuchtungen über ihn, als die Tänzerin ihn zum Ziele nahm und ihn scheinbar, wie etwa bei Damenwahl, zum Tanze abholen wollte. Endlich stand sie ihm dicht gegenüber, womit, in einem taghellen Blitz, Wanda selber wiedergeboren ward, seine durchgebrannte Geliebte und sein Weib, das in kindlicher Wiedersehensfreude schon an seinem Halse hing.
Haake, als er sich auf den Weg machte, um mit Wanda zu verhandeln, wußte, was er erreichen wollte. Auch wie er es erreichen und durchsetzen wollte, wußte er, nämlich vermöge einer meisterhaften Schachpartie, in der jeder Zug nach allen Seiten und Möglichkeiten erwogen war und deren genauen Plan er mit sich führte. Durch die Partien, die er mit Förster Ronke gespielt hatte, war er auf dieses Gebiet, wie er glaubte, eingefuchst. Zug und Gegenzug, Rede und Gegenrede in der kommenden Auseinandersetzung mit Wanda waren mit Hellsicht vorausgesehen. Teufel auch! Ihre Waffen, ihre Kampfesweise, Seitensprünge und Finten kannte er ja. Es war kinderleicht, sie zu parieren. So weit der Dünkel, dem Haake verfallen war! Aber der Bildhauer war nicht so dumm, daß er sich, als Wanda an seinem Halse hing, noch weiter ein X für ein U hätte machen können. Seine Partie war, mitsamt dem Schachbrett, schon vor dem Beginn des Spieles hinweggefegt.
Berechnung und Leben sind zweierlei! dachte Haake. Wo immer das Leben, und wenn es flugs der bewegte Sternenhimmel ist, einer Berechnung unterworfen wird, bleibt Berechnung Berechnung und Leben Leben! Lippe an Lippe mit seinem Weibe, im zärtlichen Sturme des Wiedersehens Leib an Leib gedrückt, fühlte er die ganze Majestät, die ganze Unberechenbarkeit, die ganze Unzähmbarkeit der Natur und sah in jedem Versuch, sie gängeln zu wollen, die kläglichste Unzulänglichkeit. Von dieser Erkenntnis sollten doch endlich die Menschen, denkt er, jederzeit und nicht nur beim Tornado auf hoher See, nicht nur beim Versinken des Vulkans und der Insel Krakatau, nicht nur bei Erdbeben und Überschwemmungen Gebrauch machen.
„Komm, komm! Sei gut! Komm mit zu den andern, sie sind alle so lustig! Wir sitzen dadrin in der kleinen Gaststube.“ Und dann zischte sie ihm hastig immer wieder ins Ohr: „Ich liebe dich, Paul! Ich liebe dich, Paul! Dich habe ich immer und immer, ich habe dich immer und immer ganz allein geliebt, Paul! Komm mit!“ kam es dann wieder laut von ihren beredten, küssigen Lippen. „Komm mit, sei kein Spielverderber, Paul!“
Da sah er es wieder, was ihn verrückt machte: die feine Nasenspitze, die sich ein wenig über die Oberlippe beim Sprechen herunterbog. Und dann ebendiese Oberlippe, die sich, wenn Wanda schmollte, kindlich vorstreckte, mit der Drolerie eines Kindermundes, der sich saugend über der Brustwarze seiner Mutter bewegt. Was sollte nun werden? Wo sollte das hinführen? Mieke Ronkes Schreiben, beim Ansturm Wandas heftig zusammengeknautscht, raschelte mahnend in der Brusttasche. Wie hatte er sich je auf eine Unternehmung einlassen können, wie diese war?! Er war ja ins eigene Verderben gelaufen!
Er folgte ihr an den Flunkert-Tisch. Und während des Gehens nannte er sich im stillen einen Gänserich, den eine Füchsin dazu bewegt, im Fuchsbau Besuch zu machen.
„Ach, Paul, wir sind alle heute so vergnügt! Freilich haben wir alle ein bißchen getrunken. Dann komm’ ich mit dir! Wir sind ja doch schließlich Mann und Frau, da kann uns ja niemand etwas anhaben!“
Wie Butter am Feuer zerflossen seine Vorsätze. Wie Butter am Feuer loderte seine Leidenschaft! Wie Butter am Feuer schmolz er an dem Flunkert-Tisch! Gegröl, Geheul, erstaunte Ausrufe, ein vulkanischer Ausbruch von Freude, Liebe und Herzlichkeit! Neben dem erhabenen Busen der Direktorin glänzte, im letzten Stadium vor dem Eintritt völliger Trunkenheit, Egon Schmidt — Baron Römerscheid! Vergiftet durch Alkohol und durch Nikotin, hatte er Perlen auf der Stirne und eine leichenhafte Gesichtsfarbe. Aber er hatte total vergessen, daß er ein Urkundenfälscher, ein Konvertit, ein Betrüger, ein Bube war, der Haakes Glück gestohlen und dafür nur ein einziges, an seinem Hinterkopf zerschmettertes Glas als Gegenleistung zu buchen brauchte. Begeistert trank er dem Bildhauer zu, der seinerseits nichts vergessen, aber im Augenblick — beweist mir, denkt er, daß das Leben je anders war! —, im Augenblick alles und alles verziehen hatte.
Dem Bildhauer wurde zwischen der Witwe Flunkert und Flunkert junior Platz gemacht. Man hatte hier ein ganz neues Verhältnis zu ihm. Heut war er der Meister, der große Herr, der sich herabgelassen hatte, mit dem in Berührung zu kommen ehrte und schmeichelte. Herr Professor hin, Herr Professor her! Die Witwe Flunkert zerfloß in Süßigkeit. Sie benutzte jeden unbeachteten Augenblick, um ein Spiegelchen aus dem Busen zu ziehen und Puder und Schminke zu erneuern. Flunkert junior hatte die Augen gewaltsam aufgerissen und sich ebenso gewaltsam emporgereckt, als stünde er im Begriff, seine größte Nummer auszuführen. Kuckuck! Was trug der Meister für eine Nadel im Atlasplastron! Was hing da für eine lange, schwere, goldene Uhrkette! Maskos allein hatte nichts getrunken. Er grinste Haake mit diabolischer Starrheit an, als wenn ihm die Dummheit des Mannes, die Leere der zwei Begriffe Ruhm und Ansehen, die ganze Nichtsnutzigkeit der Welt in seiner Person aufginge.
Eigentümlich genug, Haake war gerührt und geschmeichelt von seinem Empfang. War es der arme Steinmetzlehrjunge und Steinmetzgeselle, war es der arme Handwerksbursche, der in ihm lebendig wurde und ihn gerade hier, unter diesen Leuten, den Wechsel seiner Glücksumstände mit Genugtuung genießen ließ? Sich perschen und protzen war nie seine Sache. Er überließ das den saudummen Puten weiblichen und männlichen Geschlechts, die in allen Ständen und Orten die überwiegende Mehrzahl ausmachen. Heute prahlte er immer drauflos, einem Gänserich, mit dem er sich allbereits verglichen hatte, wirklich an Dummstolz nicht nachstehend. Den Schubiack, an dessen Kopf er ein Glas zerbrochen hatte, nannte er unentwegt Herr Baron. Er sprach von Kardinälen, Botschaftern, sprach zu seinem eigenen Erstaunen, was er seit Jahren nicht getan hatte, von den Damen Ingeström. Er hätte beinahe die eine geheiratet, im letzten Augenblick mochte er nicht. Es paßte ihm nicht. Er war eigensinnig: es waren Piefkes, das Mädel war spießig und langweilig. Auf Haakes Wink ergoß sich eine Sintflut von deutschem Sekt über den Tisch. Hier war ein Mäzen: der dicke, kleine Stadtrat und der Redakteur des Lokalblättchens hatten sich daraufhin an den Tisch geschmuggelt. Dieser übte durch die Anwesenheit der Schlangendame Minka Brüll und der Signora Adriana Tomalla, einer neuengagierten Kunstreiterin, noch besondere Anziehungskraft. Stadtrat Müller war Witwer und hatte nicht wieder geheiratet. Auf die Frage, warum er von einer neuen Ehe nichts wissen wolle, pflegte er: „’s is hibsch so!“ zu antworten. Diese Charakterfestigkeit hatte ihn zu einem der fortgeschrittensten Elemente in Zobten gemacht. Er war tolerant und in keiner Beziehung engherzig. An moralischen Vorurteilen krankte er nicht. Die Anwesenheit des Stadtrates und des Redakteurs, die den Künstler von vornherein anstaunten, peitschte Haake in einen förmlichen Wirbel von Renommisterei: „Wissen Sie noch, Baron...“ Es kam nochmals der Kardinal, nochmals der Botschafter, nochmals kamen die Damen Ingeström. Es kam ein Wirklicher Geheimer Rat. — „Exzellenz, es tut mir leid, auf die Änderung meines Entwurfes kann ich nicht eingehen! — Durchlaucht, suchen Sie sich einen anderen Bildhauer! — Der Oberst der päpstlichen Garde kam öfters zu mir. Was hat dieser Mensch meinem Hennessy-Kognak zugesetzt!“
Wanda war förmlich verglast vor Stolz und Freude. Heut hätte sie niemand, nicht Gott, nicht Teufel, ihrem angetrauten Gatten abgejagt.
Schon der laute Empfang, der Meister Haake am Wirtstisch bereitet worden war, schien gleichsam einem verlorenen Sohn zu gelten. Als es hell wurde, nahm ihn Wanda mit sich in ihr Quartier, wo sie ihn der erstaunten Wirtin mit stolzer Glückseligkeit als ihren angetrauten Gatten vorstellen konnte. Das Paar begab sich sofort zur Ruhe, und Haake konnte sich nicht erinnern, je in einem so entzückend altväterischen Versteck, wie es dieses Fachwerkhäuschen bot, ein so jugendlich überschwengliches Glück genossen zu haben, und gar, daß Wanda es ihm geschenkt hätte. Die Freude des Wiedersehens steigerte sich, als er am frühen Nachmittag mit Wanda bei den grünen Wagen erschien und seine alten und neuen Zirkusbekannten begrüßte. Bei dieser Gelegenheit konnte er sehen, wie sehr sich der Zirkus vergrößert hatte. Die Prinzipalin, so wurde die Witwe jetzt genannt, machte noch immer die rätselhafte Klaviatur für alles verantwortlich und so auch für das viele Geld, das sie hatte aufnehmen müssen, um ihrer Unternehmung neue Lebenskraft zuzuleiten, und für die Sorgen, die ihr aus der Notwendigkeit einer hohen Verzinsung erwuchsen.
Als unzertrennliches Paar nahm Haake Richardl und den Täufling Peter in Augenschein, der auf dem schwarzen Liliputanerhengst, daß die Funken von den Pflastersteinen stoben, umhergaloppierte. Es war heute Sonntag. Bürgerliche Tanzvergnügen werden meist auf den Sonnabendabend verlegt, man hat alsdann den Sonntag zum Ausschlafen. Am Nachmittag war man so ziemlich wieder im Gange und fähig, einer zirzensischen Schaustellung beizuwohnen. Außerdem gab es ja auch eine Jugend, eine arbeitende Bevölkerung und die Landleute.
Die etwa sechzehn Kilogramm, die Peter auf dem feurigen Gäulchen darstellte und die auf die lauten Rufe „Pix! Pix!“, die der Vater ausstieß, heransprengten, wurden von Haake durch Handauflegen geehrt und mit der Frage in Verwirrung gebracht, ob Peter sich noch an sein Taufessen erinnern könne. Der dreiste Pony stieß Wanda an, die meist Zucker für ihn in der Tasche hatte. Sie gab diesmal dem zärtlich untergefaßten Gatten die Süßigkeit, damit er sich mit dem Tierchen anfreunde. Er steckte aber unversehens das erste Stückchen Pix in den Mund, worauf dieser mit frohem Geschrei davonjagte. Dem kleinen Tausendsasa blickte die Schuljugend mit verhohlenem Neid und unverhüllter Bewunderung nach.
Ein neuer Kaltblüter wurde Haake gezeigt, der die Fußtritte der Signora Adriana Tomalla auf ungesatteltem Rücken zu erdulden hatte, wenn sie ihre gewagten Sprünge ausführte. Das Pferd zu beschaffen, war für die Vermögensumstände der Flunkerts keine Kleinigkeit. Man nannte sogar den genauen Preis, als wäre Haake der Prinzipal, der ihn zu genehmigen hätte. Es gibt wenig Tiere in einem Zirkus, die nicht hauptsächlich oder gelegentlich ihren Rücken herhalten müßten. So hatte sich Pudelko auf einem kleinen Esel, Madame Flunkert junior auf einem Strauß, ein eben erst mit dem schweren Opfer einer fast unerschwinglichen Gage engagiertes Äffchen auf der Bulldogge Grunz beritten gemacht. Sie war nicht mehr Fingal, der kamtschadalische Löwenhund. Die Schwebenummer mußte ausfallen, weil ihr Gebiß ihr nicht mehr standhalten konnte. So aber hatte Grunz wiederum Gelegenheit, sich, wenn auch nicht unter den sogenannten Stars, sein tägliches Brot zu verdienen.
Ein einziges Tier, ein Vogel, ein Storch, aß das Gnadenbrot. Er stolzierte umher, löste, ohne davon zu wissen und irgend acht darauf zu geben, beim Publikum ordinäre Witze aus und zeigte ganz einfach die Landesfarben. Außerdem trieben sich in Menge Hühner und Ferkel auf dem Markte und um den Zirkus herum; leider gehörten sie nicht dazu.
Haake war wie im siebenten Himmel. Solange der Zirkus in Zobten blieb, durchlebte er in dem kleinen Bürgerquartier mit der Geliebten die ersten, die wahrhaften Flitterwochen. Als nach einiger Zeit von Willi Maack die Anfrage an Wanda kam, ob sie etwas von Haake wisse, ließ er sich vor dem Freunde verleugnen. Das gleiche zu tun, wurde dem Gesamtpersonal des Zirkus auferlegt, als die Prinzipalin einen Brief vom Anwalt Haakes erhalten und ebenfalls in Abrede gestellt hatte, daß der Bildhauer bei ihnen sei.
Nein, er wollte zunächst keinesfalls nach Breslau zurück.
„Paul, wenn du meinst,“ hatte Wanda zu ihm gesagt, „ich gehe mit dir, wohin du willst! Ich wäre schon längst zu dir zurückgekehrt, wenn ich mich nicht vor dir gefürchtet hätte. Mag sein, daß du recht gehabt hast, mich durchzuprügeln. Vielleicht hätte ich auch eine neue Tracht in Kauf genommen, wenn es einen Zweck gehabt hätte. Aber du hättest mich vielleicht durchkalascht und dann doch wieder hinausgeworfen!“
Er hielt ihr den Mund zu, er wollte davon nichts wissen. Nach Hause aber wollte er nicht. Selbst Balduin hatte es eingesehen, eine Frau war dem Manne Gehorsam schuldig. Man sah es ihm an, der Kunstreiter war zur Vernunft gekommen. Er hatte sich auf das Rechte besonnen, zeigte er doch für Haakes Geschmack beinah zu wenig Eifersucht.
Wanda hatte sich überhaupt bei allen ihren Kollegen und Kolleginnen in Respekt gesetzt. Immer wieder bestätigte es dem Bildhauer die Direktorin. Die kleine, entzückende Krabbe zu loben, konnte sie gar nicht satt werden. Erstens sei sie nun wirklich eine Drahtseilkünstlerin, die dabei noch mit Flaschen jongliere. Ferner sei sie verträglich, willig, anstellig. Endlich halte sie sich in puncto puncti musterhaft. Das komme so manchmal plötzlich über die Menschen, das mache eben die Klaviatur! sagte sie. Jahrelang sei ein Mensch vielleicht leichtsinnig, bis sich dann plötzlich die Klaviatur ändere. Die Klaviatur! Die Klaviatur! Beinahe fing auch für Haake dies blödsinnig eingestellte Wort an, einen Sinn zu bekommen. Wirklich war Wanda kaum wiederzuerkennen. Hatte er wohl jemals gehofft, an ihr ein so fügsames, hingebungsvolles Weib zu gewinnen? Nichts und gar nichts zog ihn jedoch nach Breslau zurück. Und er wurde ja auch, wenn er mit Wanda auftauchte, vor der ganzen Stadt, nicht nur vor Willi Maack und seinem Anwalt, lächerlich! Und was würde aus Mieke Ronke, wenn sie diesen Umstand erführe?!
„Wir haben ja keine Wohnung, Wanda!“ sagte er, „die Einrichtung ist verkauft. Ein Ballen mit alten Kleidern von dir liegt irgendwo verstaubt in einem Winkel des Ateliers. Wir wollen uns lieber neue anschaffen!“
Es gibt für den verzehrenden Zustand, in dem sich Haake befand, nur den Ausdruck Besessenheit. Wanda war ihm wie einem Erlöser entgegengeflogen. Sie ließ ihn täglich Wonnen empfinden, wie er sie weder gekannt noch geahnt hatte. Dies machte ihn zu einem einzigen lodernden, durstigen Brande der Leidenschaft. Wenn er in solcher Verfassung war, versteckte er sich, wie der Hund mit dem Knochen. Eine Vergangenheit oder Zukunft gab es dann nicht. Er war kein Bildhauer, war kein Künstler mehr, hatte keine Werke geschaffen und wollte auch nicht mehr mit Michelangelo in Wettstreit treten. Auf alle diese Torheiten sah er, im Besitz eines ausgesuchten Glückes, einer ausgesuchten Begnadung, mit einem höheren Wissen herab.
Vier Wochen später befand sich der Zirkus in Bremen, wo er auf dem großen alljährlichen Volksfest, Freimarkt genannt, recht gute Geschäfte machte. Auf dem Platze vor dem berühmten Rathaus standen Karussells, Schießbuden, Schaubuden aller Art mitten in der Stadt. Es sah aus, als könnte ein weggeworfenes Streichholz ganz Bremen einäschern. Hunderttausende bewegten sich umher auf den Zeilen zwischen den Verkaufsständen. Trompeten ertönten, furchtbare und weniger furchtbare Drehorgeln, Stimmen von Bestien, Stimmen von Marktschreiern, dazu das gewaltige Summen der Volksmenge. Kam der Abend, so hatte man eine Orgie von Lärm und Licht.
Sogar der Ratskeller stand unter Militärmusik. Die sonst zu ewiger Dunkelheit verurteilten Riesenfässer waren taghell beleuchtet. In ihrer Nähe wartete Haake bei einer Flasche Wein auf seine Frau, die der Urkundenfälscher, Baron, Kunsthistoriker und Idiot nach Beendigung ihrer Drahtseilnummer herzubegleiten versprochen hatte. Der reibungslose Verkehr zwischen diesem und Haake war bereits eine Selbstverständlichkeit. Seine geistige Minderwertigkeit war inzwischen an Gerichtsstelle wiederum festgestellt worden, hatte ihn aber nicht davor bewahrt, mit dem Gefängnis Bekanntschaft zu machen, weil er einen von den Dummen, die nie alle werden, einen Kaufmann, zum Malteserritter hatte schlagen lassen, vermittels einer gaunerischen Eulenspiegelei, in der er einen Großprior dieses Ordens auftreten ließ und den Kaufmann um dreitausend Mark prellte.
Trotzdem hatte die Prinzipalin ihn wieder aufgenommen und hatte nun die Freude, den armseligen Schubiack zu allem gefügig zu finden. Er nannte sie Ma’am, weil er noch immer einen Halt brauchte, und besorgte, was man von ihm verlangte, vor allem das Aufwaschen, und zwar mit einer kindlichen Leidenschaft, die ihm von Jugend auf für diese Verrichtung anhaftete.
Lärm, Lichter, Volksgewühl, Kelleratmosphäre, der ganze mittelalterlich-hanseatische Großrummel war Haake angenehm. Man verlor sich darin, man ging darin unter, und schließlich ging man auch darin auf.
Wanda kam, wie erwartet, mit dem Baron, dieser glückselig in der berechtigten Annahme, dank Haakes gefüllten Taschen und seiner allezeit offenen Hand mit altem Rheinwein traktiert zu werden. Die Prinzipalin und Balduin würden, wie er ebenfalls freudig erregt erklärte, bald nachfolgen. Ma’am wäre überaus gut gelaunt, ergänzte der Baron, da der Kassenrapport alle Erwartungen übertreffe. „Sie nennt euch immer das glückliche Paar. Sie wolle heut abend einmal etwas von eurem Glücke abkriegen, natürlich auch etwas dazu beitragen, hat sie gesagt. Demnach nehme ich an, wir werden das Beste vom Besten aus diesem Keller zu kosten bekommen.“
„Kommt sie allein, oder kommt sie mit Balduin?“
„Natürlich kommt sie mit Balduin! Wenn sie ihren Lackel von Sohn vor Liebe fressen könnte, so käme sie mit dem gefressenen Balduin! Sie wäre dann mit und ohne Balduin. Ein Seltersglas mit ohne, ein Seltersglas mit mit, das sind zwei Seltersgläser mit ohne und mit mit. Sie kommt aber diesmal nicht mit ohne, sondern alleine mit Balduin. Auch er ist über die Maßen vergnügt heute!“
Wanda drohte: „Sagen Sie nichts über meinen Freund Balduin!“ — Sie sprach es mit überlegener Ironie, so daß Haake geschmeichelt lachen mußte.
Diese Sache war gründlich aus mit Balduin. Die blindeste Eifersucht konnte von dorther eine Gefahr nicht mehr wittern. Haake hatte trotzdem für den Luftgymnastiker keine Vorliebe. Er betrug sich korrekt, hatte an Wanda pünktlich die Gage bezahlt, war gegen Haake und sie höflich und rücksichtsvoll; man empfand, daß eben doch die Ehe eine respektgebietende Tatsache war.
Die Ehe erhält ihren Sinn durch Nachkommen. Umstände hatten dafür gesorgt, daß auch Haakes Ehe nicht ohne einen Sinn bleiben sollte. Etwa vor vierzehn Tagen war von Wanda ein Ausbleiben festgestellt worden, welches meistens eine Ankunft im Gefolge hat. Auf diese Ankunft rechnete Wanda von Anfang an mit einer beinahe überraschenden Sicherheit. Fast noch seltsamer war die Freude, welche diese Voraussicht bei ihr auslöste. Sie hatte sich eben aus voller Seele ein Kind von Haake gewünscht, und es würde auch ganz bestimmt ein Sohn werden.
„Sachte, sachte, mein Liebling!“ wußte dieser darauf nur zu sagen. Er wünschte in seiner breiten Treuherzigkeit, es möchte keine Enttäuschung eintreten.
Man machte Platz für die in vollem Pomp erscheinende Direktorin, der Balduin, geduckt, in der Hand das Tirolerhütchen, wie ein Schulbube nachfolgte. Er war schüchtern, außer wenn er als Artist vor die Menge trat, und gehörte zu jenen langen Menschen, die unwillkürlich versuchen, sich kleiner zu machen. Plötzlich saß auch Maskos am Tisch, dessen Nahen der Bildhauer gar nicht bemerkt hatte.
„Ich hoffe, wir stören Sie nicht, großer Mann!“ waren die ersten Worte der Direktorin. — „Nein,“ sagte er, „platzen Sie sich, meine Dame!“
Der Auftritt der Dame war in dem überfüllten Keller nicht unbemerkt vorübergegangen. Schließlich sind ja die Gäste da, um sich zu amüsieren, und nehmen jeden Anlaß dazu. „Aufsehenerregend“ war das zweite Wort der Direktorin. Jedes Pferd, jeder Hund, jeder Affe und also auch jeder Mensch im Umkreis ihres Metiers war dazu bestimmt, nach Möglichkeit Aufsehen zu erregen. Sie selber machte davon keine Ausnahme. Durchaus nicht groß, aber um so breiter, schwankte sie unter einem riesigen, schwarzen, straußenfedergezierten Rembrandthut, eine reich mit schwarzen Frisuren bedeckte Mantille umgelegt, die indes, durch die Hand der Trägerin in malerischer Weise zurückgedrängt, die entblößte Schulter einer allerdings nur mäßigen Riesendame und den dazugehörigen ebenso vielversprechenden als keulenhaft bedrohlichen Arm sehen ließ, der bis über die Ellenbogen in weißem Glacéleder steckte. Der mächtige rote Nelkenstrauß, den sie im Porzellan ihres Busens wie in einer Vase spazierentrug, machte sie für die Zuschauer ebenso lächerlich wie etwa eine Lüftung des Kleides, die den Umfang der Wade sichtbar machte. Haake konnte bemerken, wie man sie anstaunte und ihr nachlachte, an einigen Tischen sich förmlich bog.
Aber was machte das der Direktorin? Ihre schwarzen, spanischen Augen funkelten den Philister furchtlos und durchbohrend an. Diese Leute schreckten sie nicht. Sie wäre mit mehreren Dutzend auf einmal fertig geworden. Es waren nur eben brave Pfahlbürger; waren es Flöhe, sie wäre in Ohnmacht gefallen.
Balduin, der das Bein wie immer, ähnlich einem sich dehnenden Panther, nachschleppte, konnte im Anfang eine gewisse Gedrücktheit nicht loswerden. Es schien zunächst, als wisse er nicht, wo er mit seinen Armen und Beinen hinsollte. Von gewissen lauernden, gewissen prüfend scheuen Blicken des Paukisten, die Haake auf sich ruhen fühlte, gab er sich weiter keine Rechenschaft. Die Prinzipalin bestellte Wein. Sie bestellte ein üppiges Abendbrot, von dem sich Haake nicht ausnehmen durfte. Der Kellner flog. Ihre Stimme kam tief und männlich, an Befehlen gewöhnt, unter dem Nelkenstrauß herauf.
Man hatte dem Wein, dem Gänsebraten und anderen guten Dingen eine Weile wacker zugesprochen, das Gesumme der Menschen, die alle gleichermaßen tranken und aßen, hatte seine festlich erregte Wirkung ausgeübt, als noch immer die wachsende Prosperität des Zirkus Flunkert, mit der die Prinzipalin das kleine Gelage von Anfang an gerechtfertigt hatte, Gegenstand des Gespräches blieb.
„Das,“ sagte sie, „ist eben Sache der Klaviatur! Der Zirkus und überhaupt das Zirkusgeschäft geht einer glücklichen Zeit entgegen. Ich höre das von allen Seiten, Kollegen aus aller Welt schreiben mir das. Wir haben stille Teilhaber, deren Einlagen wir prozentual nach unseren Einnahmen verzinsen müssen. Nehmen wir an, es handelt sich um ein Kapital von dreißigtausend Mark und um eine Beteiligung von fünf Prozent. Wir spielen etwa im Jahre dreihundertmal. Wir bringen es, wenn wir dem Zirkus weiter, wie wir angefangen haben, neues Blut zuführen, sicher auf eine Durchschnittseinnahme von siebenhundert Mark. Hier in Bremen sind es zum Beispiel zirka zweitausend. Dreihundert Abende zu siebenhundert Mark sind zweihundertzehntausend Mark. Davon fünf Prozent sind rund zehntausend Mark. An dreißigtausend Mark verdient also der Teilhaber zehntausend Mark, was einer Verzinsung des Kapitals von etwa dreißig Prozent gleichkäme. Das ist ein Geschäft, Herr Professor,“ schloß sie, „wie man es lange mit der Laterne vergebens suchen kann.“
Haake fand nichts dawider einzuwenden.
Flunkert, von diesem nicht beachtet, suchte mit gespannter Aufmerksamkeit, unter dem Fleischzerkleinern und -verschlingen, die Wirkung der Worte seiner Mutter vom Antlitz des Bildhauers abzulesen.
Diese fuhr lebhaft fort:
„Sie sind ja schließlich einer der Unseren, Herr Professor. Haben Sie doch ein Herz für uns fahrende Leute, Gaukler, Luftspringer, kurz, verachtete Artisten, die wir nun einmal sind! Schließlich sind Sie ja fast durch Familienbande mit uns vereinigt, als Gatte Wandas, die ja nun eine Zierde unserer Truppe geworden ist. Sie nehmen teil an unseren Sorgen, und wir sorgen sozusagen dafür, daß Sie auch, wie heut abend, an unseren Freuden teilnehmen. Ich weiß, Sie freuen sich gern mit uns. Es ist Ihnen lieb, es ist Ihnen angenehm, wenn wir Geschäfte machen, und Sie ärgern sich, so wie wir, wenn unsere Einnahmen schofel sind!“
„Gewiß!“ nickte Haake. — „Gewiß, gewiß!“ bestätigte das die Direktorin und setzte hinzu: „Darauf wollen wir anstoßen!“
Die Gläser klangen, und Haake war weit entfernt davon, zu bemerken, wie er nicht nur von Flunkert, sondern auch von Maskos und dem Baron, ja selbst von Wanda immer schärfer ins Auge gefaßt wurde.
Beinahe stotternd und als sei er erschrocken, etwas vergessen zu haben, fing nun Maskos über das Zirkusgeschäft im allgemeinen und besonderen sich zu verbreiten an. Vielleicht hatte ihn Flunkert auf den Fuß getreten. Wer Geld verfügbar habe und notabene das Glück, es bei einer soliden Zirkusgesellschaft anzulegen, der wäre ein Esel, wenn er es nicht täte. Leider böte sich für dergleichen Anlagen fast nie Gelegenheit.
„Ich,“ sagte mit größter Entschiedenheit der Baron, „ich, meine Wenigkeit, wie ich hier sitze, ich, der ich ein Riesenvermögen auf unverantwortliche Weise verjuxt habe, würde mich haben retten können, wenn ich, woran ich damals dachte, meine letzten dreißigtausend Mark zum Beispiel in den Zirkus Flunkert gesteckt hätte! Wenn jemand es nicht täte, dem man die Möglichkeit dazu böte, sagte Herr Maskos, der müsse ein Esel sein! Ich will Ihnen sagen, was er wäre: kein Esel, sondern ein Ochse! Er wäre kein Ochse, sondern ein Riesenrhinozeros! Er wäre kein Riesenrhinozeros, sondern...!“
„Halten Sie doch...! Sie könnten wir gerade brauchen!“ unterbrach ihn Flunkert und verfinsterte sich. Es war, als habe er eine Flut ganz anderer Worte zurückgedrängt. „Sie, und Einlagen! Sie, und Einlagen! Sie erbärmlicher, windiger Windhund Sie!“
Der Baron aber ließ sich nicht abbringen. Die Beschimpfungen des Artisten berührten ihn nicht. Wo eine Dame wie Ma’am an der Spitze steht, eine der klügsten Frauen der Welt, eine Prinzipalin von einer Sachkenntnis und Erfahrung, einer Umsicht und Treffsicherheit, wie sie zum zweitenmal in der ganzen Artistenwelt nicht zu finden ist, da sollte wohl der Baron Römerscheid mitsamt seinem restlichen Kapital von dreißigtausend Mark warm gebettet und sicher geborgen sein!
Dieser Rede war nicht zu widersprechen in Gegenwart der Direktorin. Mit stummen Blicken der Wut sah Maskos den Sprecher an.
„Was glauben Sie, wie mir wohl wäre, wenn ich meine zehntausend Mark Zinsen hätte, nach Italien gehen und meine kunsthistorischen Studien fortsetzen könnte. Ich würde zum Beispiel an meinem Buche über Dantes Verhältnis zu Botticelli weitergearbeitet haben...“
„Sie Schöps Sie, Botticellis Verhältnis zu Dante vielleicht, sie waren zwei Jahrhunderte auseinander!“ brummte der Bildhauer.
„Was hab’ ich gesagt? Was hab’ ich gesagt?“
Maskos quäkte durch den Lärm: „Am besten, Sie hätten gar nichts gesagt! Wir sprechen hier nämlich von ernsten Dingen!“
„Ja wirklich, das muß ich selbst sagen,“ äußerte die Direktorin, „solcher Quatsch da! und was Sie da für verrückte Sachen ausspucken, interessiert uns wirklich nicht!“
Haake lachte so herzlich, daß ihm der Bauch wackelte.
„Nee, wirklich!“ Die Direktorin steigerte sich: „Wenn Sie sich man dieses verfluchte Dazwischenquatschen abgewöhnen könnten, Herr Baron! Was denken Sie sich eigentlich, wenn Sie solchen Mist vorbringen, hören Sie mal! Nein, kein Wort weiter!“ — Innocentia Flunkert glühte wie eine Pfingstrose. Sie wollte den Gedanken nicht zulassen, sie könne sich irgendwie blamiert haben. Das Lachen Haakes verwirrte sie: „Stoßen Sie nicht solche Sachen aus! Was Sie machen, wenn Sie Geld haben, wissen wir schon. Es ist ganz egal, ob Sie das da oder dort machen, ob Sie das in Italien machen oder hier machen. Aber wenn Sie das hier noch mal machen, dann machen Sie, daß Sie fortkommen! Dieses Über-den-Mund-Fahren paßt mir nicht!“
„Aber Ma’am,“ sagte kleinlaut der Konvertit, dessen eine Stütze die Witwe Flunkert, dessen andere die alleinseligmachende Kirche war.
„Wir sprachen vom Zirkus,“ sagte Flunkert.
Wanda ergriff nun plötzlich das Wort. Sie tat es auf eine Art und Weise, durch die Haake völlig getäuscht wurde. Es war, als male sie in übermütiger Stimmung ein Luftschloß aus. Haake solle Zirkusteilhaber, Haake und Flunkert Kompagnons werden und sich in die Leitung des Unternehmens teilen, natürlich unter dem Zepter der Direktorin. Sie schmollte, als man so tat, wie wenn man sie auslache. Ihr Mann könne dem Zirkus überaus nützlich sein. Man dürfe es ihr nicht übelnehmen, daß sie ihren Mann nicht wieder hergeben wolle, was doch eines Tages geschehen müßte, wenn er seinen so ganz anders gearteten Beruf wieder aufnähme. Für seine Künstlerschaft und die ihm etwa daraus erwachsenden ideellen Verpflichtungen hatte Wanda nie einen Sinn. „Ich werde mein Metier,“ fuhr sie fort, „ja doch niemals aufgeben!“ — Sie hatte sich also insofern wieder geändert, als sie vor kurzem bereit war, mit ihm nach Breslau zu gehen. — „Nein, ich kann nun einmal nicht leben ohne meine Balancierstange, meine Übungen, den Geruch und die Aufregungen der Manege, ohne Lichterglanz und Beifall des Publikums. Ich würde nie darüber hinwegkommen. Eine Topfpflanze bin ich nicht, und wäre ich’s, würdest du mich nicht liebhaben, Paul! Ich sage die Wahrheit, lacht mich aus, wenn ihr wollt! Ich fände es nett, ich fände es gemütlich, ich fände es behaglich, wenn Paul mit mir beim Zirkus wäre. Wir würden uns dann noch viel besser verstehen als jetzt, und du sagst ja, Paul, du hast für das Leben im Freien, für das Reisen auf der Landstraße, überhaupt für das ganze Vagabundendasein eine Vorliebe!“
Binnen kurzem war dieses Luftschloß insofern irdische Wirklichkeit, als der Bildhauer den weitaus größten Teil seiner Ersparnisse, etwa dreißigtausend Mark, gegen eine so und so formulierte Teilhaberschaft, so und so formulierte Sicherheit, Mitbesitz an lebendem sowie totem Inventar, in das Zirkusgeschäft gesteckt hatte.
Es war eigentlich mehr geschehen als von ihm getan worden, aber er hatte es gern geschehen lassen. Erstlich hing er, wie man es bei Künstlern oft findet, nicht besonders an Gut und Geld. Ging es verloren, so mußte man arbeiten, vorausgesetzt, daß man wieder welches besitzen wollte. Schließlich ging es auch, wenn man nur das Nötige für den Tagesbedarf zur Verfügung hatte. Er wußte das, weil er lange als Steinmetz, das heißt als Tagelöhner, sein Brot verdient hatte. Wenn man aber nicht arbeitete, ging es schließlich auch ohne das. Wie es dann ging, war Haakes Geheimnis.
Haake hing also nicht am Besitz, dachte jedoch auch nicht gerade daran, ihn wegzuwerfen. Eine Weile Zirkusdirektor spielen, konnte ja doch ganz unterhaltend sein. Und er hatte Wanda den Willen getan.
War ihm eigentlich in der Welt des Bürgertums und in Berührung mit der darüberliegenden Schicht jemals wohl zumute? Überall Bindungen, überall Verpflichtungen ideeller Art, welche das Leben unfrei machten. Arbeit und Tagelohn: eine kleine Gebundenheit. Arbeit und Leben in jenen Kreisen unter dem Auge der Öffentlichkeit: eine große Gefangenschaft! Und wer hoch hinaufsteigt, wird mit Notwendigkeit eines Tages um so tiefer herabstürzen. Er brauchte sich nur an den Fußtritt zu erinnern, der ihm durch Vermittlung der Damen Ingeström zuteil geworden war.
Das Verhältnis zu den Flunkerts hatte sich überdies beinahe in Freundschaft umgewandelt. Man wußte jetzt, in welcher Verfassung Wanda war, man gratulierte und freute sich herzlich. Mißverständnisse der Vergangenheit, Erinnerungen, die peinlich wirken konnten, entschuldigte man mit allseitig jugendlicher Unreife. Über solche Kinderkrankheiten, bei den Hunden Staupe genannt, war man hinaus.
Haake und Balduin duzten einander: „Du mußt dich so nach und nach in die Sache hineinfinden, Paul!“ sagte Flunkert. Er gab dem Bildhauer Morgen für Morgen, bevor der Vertrag perfekt wurde, eine Art Unterricht. Er legte nicht selten dabei seinen Arm um ihn. Es wurden ihm auch die Bücher gezeigt, und man machte Pläne, wie man die ganze Unternehmung ausbauen und erweitern wollte.
Es wurde nicht wenig getrunken in dieser Zeit. Was mußte nicht alles besprochen und was, besprochen, nicht alles begossen werden! Endlich kam der Tag des Vertragsschlusses, und dieser artete natürlich in ein Gelage aus, das Meister Haake bezahlen durfte.
Wenn es nun so weit gekommen war, hatte schließlich auch Haakes eigensinniges Sonderlingstum mitgespielt. Es war ein Haß, war eine Wut gegen alles satte, wohlgenährte, wohlgepflegte bürgerliche Pharisäertum in ihm aufgekommen. Selbst vor Willi Maack, dem der Künstler so viel verdankte, machte diese Wut, dieser Haß nicht halt. Er ließ seine Briefe unbeantwortet. Rechtzeitig gewarnt, machte er sich unsichtbar, als eines Tages die Ankunft des Architekten bekannt wurde. Dieser konnte ihn nicht zu Gesicht bekommen. Mit einer bitteren Wollust verwühlte sich Haake in sein eigensinniges Pariatum.
So weit war alles für Haake, wie er glaubte, nach Wunsch und Willen gegangen. Fast unmittelbar, nachdem das Geld in den Händen der Witwe Flunkert verschwunden war, fingen die Mißhelligkeiten an.
Schon die erste Handlung, die Haake für den Zirkus zu tun unbedachterweise übernommen hatte, war eine traurige. Es handelte sich um Fingal-Grunz, den kamtschadalischen Löwenhund. Seine Kugel hatte das Schicksal gegossen. Aber Haake setzte sie ihm, von Flunkert aufgefordert, leider mit einem wohlgezielten Schuß ins Hirn. Als es die Prinzipalin erfuhr, ward sie rasend darüber. Der es entgelten mußte, war Haake und nicht ihr Sohn.
Die Bulldogge war, seit sie bei ihrer Nummer versagt hatte, nie mehr ganz auf die Beine gekommen. Sie wurde grämlich und schwer zu behandeln, bis sie eines Tages, wie immer verärgert, ihren Reiter, den kleinen Affen, abschüttelte und mit einem Schnapp ihrer immer noch furchtbaren Kiefer erledigte. Trotzdem hielt sie die Direktorin; umsonst blieb auch Balduins Drängen, sie abzutun.
Sie hatte lange und ehrlich gedient. Zahllose Anekdoten aus ihrem Leben, die jetzt zutage kamen, bewiesen, daß sie auch sonst eine außergewöhnliche Töle war. Ihr Begräbnis in der Lüneburger Heide geschah unter Beteiligung sämtlicher Mitglieder. Die Direktorin weinte. Es wäre bei Haakes Jähzorn furchtbar geworden, wenn er geahnt hätte, welche Bezeichnung seiner Person insgeheim von Mund zu Munde ging: man nannte den Künstler den neuen Abdecker!
Kurz nachdem Haake sich vor seinem Freunde Maack hatte verleugnen lassen, erhielt er einen Brief von ihm. Er bekam die Leviten gründlich gelesen: „Du mußt mich nicht für geradezu polizeiwidrig dumm halten, lieber Paul. Ich weiß ganz genau, daß Du bei dem Flunkertgesindel bist! Nun gut, Du läßt Dich vor mir verleugnen: gratuliere zur Rutschbahn, Herr Professor!“ — So und so ähnlich hieß es darin.
Und weiter: „Hiermit mache ich Dir aber doch eine Mitteilung. Es liegt nicht an Dir, wenn sie nicht schlimmer ausgefallen ist. Du spielst den Verschollenen. Vier Wochen lang erreichten Dich auch die Briefe einer gewissen Försterstochter nicht. Dann kam sie zu mir. Und ich kann Dir sagen, den Feez, den sie machte, wünsche ich Dir! Sie erwarte ein Kind, und so fort und so fort. Aber Donnerwetternochmal, ein kerniges Frauenzimmer! Als sie erfuhr, daß Du wieder bei Deinem geliebten Weibe bist, sagte sie nichts mehr und sauste von dannen. Acht Tage später — ich ahnte nichts Gutes! — hielt ich einen Brief, Absender Forstmeister Ronke, in der Hand. Forstmeister Ronke! wie wird Dir da, lieber Junge!? — Was gehst Du mich eigentlich an, allerhöchst zu verehrender Leimsieder, daß mir die Sache so in die Glieder fuhr?! Ich dachte, nun ist es raus: der Rotbart will uns nur noch pro forma einige Tage Zeit lassen, ehe er uns über den Haufen knallt! Mich, dachte ich, so zur Gesellschaft mit. Gott soll mich behüten vor meinen Freunden! — Was meinst Du wohl, wie gesund das ist! Dir hätt’ ich ja mal so was um die Ohren gegönnt, Allerwertester!! — Es ist aber leider anders gekommen: hocherfreut teilt Forstmeister Ronke mit, daß seine Tochter Mieke sich mit Forstassessor Mahlmann verlobt habe! Und ich setze hinzu: sie hat gestern tatsächlich das Hornvieh zum Altar geführt! — Dir herzlich: Fröhliches Drahtseil! Leb gesund! Prosit Mahlzeit! Wünsche ergebenst, wohl zu baumeln!“
Haake war belustigt, dann beängstigt, dann erlöst und schließlich gepeinigt durch diesen Brief. Er hätte den Forstassessor gern mögen totschlagen, der ihn gleichsam auf dem Wrack seines Lebens sitzen ließ und mit der letzten seefesten Rettungsbarke und einem darin verstauten Goldklumpen von dannen fuhr. Einen Augenblick lang erreichten seine Gedanken den tiefsten Grad der Erbärmlichkeit, als er mit den unausgesprochenen Worten: Ich werde ihm die Suppe versalzen! einen Brief an ihn zu schreiben erwog, der ihm die Augen öffnen mußte. Etwa so und so: Ich habe Mieke Ronke verführt, und wenn sie ein Kind erwartet, so ist es von mir. Sie werden das schon daran erkennen, Herr Forstassessor, daß es statt nach neun Monaten schon nach sieben erscheinen wird! Damit hätte er dann wenigstens das entwendete Rettungsboot in Grund gebohrt.
Wanda fragte: „Was steht in dem Brief?“ Sie war durch ein verändertes Wesen Haakes beunruhigt. Er ging fort ohne Antwort und ließ sie allein. Als er am Abend wiederkam, hatten ihn fast ununterbrochen bitterschmerzliche Bilder eines für immer verlorenen häuslichen Glückes umtaumelt.
Tags darauf war er wieder in den langsam kriechenden Strom einer selbstgewählten Lebensmisere einbezogen.
Denn eine solche umgab ihn nun.
Die Bauernfängertaktik, durch die Familie Flunkert von langer Hand vorbereitet und mit unerhörter Frechheit bis zum glücklichen Ende durchgeführt, nämlich die Erleichterung des Opfers um dreißigtausend Mark, war nun in die zweite Phase getreten. In der ersten hatte man mit Hilfe Wandas den dummen Bauern herangezogen, um ihm zunächst die Vaterschaft Balduin Flunkerts aufzuladen, von dem natürlich das zu erwartende Kind Wandas abstammte. Da der Appetit beim Essen kommt, ging man, nachdem man erkannt hatte, wie fest er am Köder, nämlich an Wanda, hing, weiter, lockte ihn auf den Leim durch einen Sturm gutgespielter Herzlichkeit und kam dadurch zum erwünschten Ziele. Die zweite Phase mußte nun einen ganz anderen Zweck haben. Nichts anderes nämlich, als den unerwünschten Teilhaber, den unbequemen Gläubiger so schnell wie möglich loszuwerden.
So schnell aber, wie man es wünschte, ging es nicht.
So dumm, wie die Flunkerts annahmen, war der Bildhauer keineswegs. Schon in den Zeiten, als man ihn bearbeitete, stieß er zuweilen ein unbegründetes Lachen aus. Er fand sich dann durch den Dünkel der Flunkerts, durch die kriecherische Mühe, die sie sich gaben im Widerspruch zu ihrer eigenen Natur, und durch den Umstand belustigt, daß sie eine Absicht glaubten verbergen zu können, die so zutage lag.
„Wir wollen Ihr Juwel, Ihren Herzensschatz, Ihr Ein und Alles in Watte packen, Herr Professor!“ sagte einmal die Direktorin, als sie Wanda ihren eigenen wattierten Mantel umlegte. Es war ebenso putzig, wenn der von kalter Habsucht regierte Luftgymnastiker mit angelegentlichster Wärme Haake Pfefferminztee gegen versetzte Winde empfahl.
Freilich, den Punkt mit Wanda und ihrem zu erwartenden Nachwuchs durchschaute er nicht.
Er war nach wie vor überzeugt davon, daß Wanda seit dem Wiedersehen ihm ganz von Herzen angehöre. Die innige Hingabe, mit der sie ihm trotz der wachsenden Veränderung ihres Körpers angehörte, schien ihm das durchaus zu bestätigen. Noch sicherer aber machte es ihn, als sich, nicht lange nach Übergabe des Geldes beginnend, Unfreundlichkeiten Balduins gegen ihn und Wanda zeigten, die er sich als Zeichen der Eifersucht und der Enttäuschung ausdeutete.
Der Bildhauer Haake war ein Kaltblüter. Der Vergleich aber mit der Pferderasse, die man so nennt, stimmte nur teilweise. Er schien es mehr, als daß er es war. Allzeit schwelte in seinem Innern ein Feuer. Viele der ihm zugeschobenen neuen Aufgaben ertrug er, weil Selbstironie ihm Bedürfnis war und geradezu einen Genuß bedeutete. Warum sollte man nicht im Fasching des Lebens alle möglichen Rollen einmal gemimt haben?!
Er wurde als Kutscher, mit einer ungeheuren Pappnase im Gesicht, bei der sogenannten Parade angestellt, dem Aufzuge, der, in Wagen und beritten, nach Ankunft der Truppe in einem Dorf oder kleinen Marktflecken jedesmal ausgeführt wurde. Dabei wurde getrommelt, geklingelt und meistens von Balduin eine Ansprache gehalten, die natürlich Wort für Wort immer die gleiche war. Der pompöse Kehlton Flunkerts war schauderhaft, der Vortrag jedesmal, nicht nur für Haake, geradezu aufreizend, weil damit der Kern und Antrieb des Flunkertschen Wesens, die Eitelkeit, in widerlicher Großtuerei zutage kam. Er reckte die Brust, ließ seine Muskeln spielen, schlug sich die Oberschenkel, auf dem dicksten Gaule reitend, mit der Hand, blitzte mit unwiderstehlichen Blicken und drehte fast ununterbrochen das gewichste Ende des Schnurrbärtchens zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand.
In Haakes Wagen saßen gewöhnlich die Musikanten. Maskos war seinem Prinzipal ebensowenig grün wie der Bildhauer.
„Sehen Sie,“ sagte er oft zu ihm, „was das blöde Luder wieder für Zicken macht! Möchte ihn doch der Teufel holen! Tränen würde ich ihm nicht nachweinen, geweint habe ich nämlich seit dreißig Jahren nicht.“
Einer solchen Auffassung näherte sich in der Folge auch Haake von Woche zu Woche mehr und mehr, ließ sich aber davon nichts anmerken. Mit einer Tücke, die zugleich Wollust war, registrierte er schweigend, worauf der Halunke hinauswollte. Jeder von ihm verlangten Arbeit unterzog er sich, immer nach ihrer Beendigung feststellend, daß sie ihm einen Dank nicht eintragen konnte. Geduldig trug er die Zettel aus. Einmal machte er auch den Ausrufer. Zuzugreifen wo immer, beim Pferdestriegeln und -aufzäumen, beim Mistfortschaffen, beim Ein- und Ausladen der Gestänge, Zeltbahnen und so fort, war dem ehemaligen Steinmetzgesellen eine Selbstverständlichkeit. Er schmierte die Wagenräder, er arbeitete mit dem Hebebaum, rammte Steine und Pfähle ein und lächelte schrecklich, wie ein homerischer Held, wenn alle seine fast heraklischen Leistungen bei Balduin nur moralische Fußtritte auslösten.
Darüber vergingen Wochen und Monate. Im beginnenden Frühjahr hatte Haake noch nicht den ersten roten Heller seiner fälligen Zinsen eingeheimst. Den Einblick in die Geschäftsbücher verweigerte Balduin unter allerlei Ausflüchten. Die Geschäfte seien schlecht gewesen, er müsse sich gedulden, hieß es, und so fort. Dabei hatte sich Flunkert einen Gehpelz von Biber gekauft, die Witwe einen Fahrpelz aus Zibetkatze, ein überaus kostbares Stück, das ihr allerdings, wie sie behauptete, durch einen günstigen Zufall fast kostenlos in die Hände gefallen war.
Trotz alledem waren bis jetzt irgendwelche Sturmzeichen im Wesen Haakes den Flunkertleuten nicht bemerklich geworden. Er schien bei bester Laune zu sein. Wenn er, den Topf mit Farbe neben sich, das Grün der Wohnwagen, auf der Leiter stehend, mit dem Pinsel erneuerte und dabei rauchte und sang, schien er, was seine Stimmung anbetraf, eher Johann der muntre Seifensieder als ein tückebrütender Desperado zu sein. Vielleicht hätten ihn Breslau und sein Atelier wieder angelockt, wenn nicht außer dem Trägheitsmoment ein starrer Eigensinn, sich sein Kapital nicht entreißen zu lassen, durch die Flunkertsche Gemeinheit in ihm erzeugt worden wäre. Auch Wanda riet ihm: Dableiben! Dableiben! Da sie in ihrem Zustand augenblicklich nur hie und da am Waschfaß zu gebrauchen war, merkte man Balduin deutlich an, es wäre ihm recht, sie ebenfalls loszuwerden. Dableiben! Bibi hat recht! sagte Maskos ebenfalls, Maskos, der Wanda wegen ihres zigeunerhaften Aussehens Bibi nannte, ein Wort, mit dem sich Zigeunermädchen untereinander anreden. Also war die Parole: Dableiben! Dableiben! Mittlerweile kam so der Tag heran, der Wanda von ihrer Bürde befreite.
Was geschehen mußte, geschah zu Weinsberg im Gasthaus zum Ochsen. Bis dorthin war der Zirkus Mitte Juni gelangt. Zahllose Ortschaften mit den allerseltsamsten Namen waren passiert worden. Man hatte den Teutoburger Wald überquert, war durch das Münsterland an den Rhein gekommen, längs des Stromes aufwärts gegangen, bei Offenburg war man nach Osten gebogen und schließlich über Stuttgart und Heilbronn in Weinsberg gelandet. So ward der kleine neugeborene Paul Haake ein Weinsberger Kind.
Das Bett der kreißenden Mutter verließ der Gatte nicht. Die Hebamme machte den Eindruck einer Zigeunerin. Ihr Antlitz, olivfarb und von zahllosen Runzeln wie von einem feinen Netz überdeckt, konnte als Modell einer Schicksalsschwester, einer Norne, genommen werden, einer solchen freilich, der Leid und Schmerz des Lebens selbst nicht fremd geblieben waren. Sie hatte Handtücher am Fußende der Bettstelle so befestigt, daß die Gebärende, wenn die Wehen kamen, hineingreifen und diese, indem sie sich daran festhielt, verstärken konnte. Wanda erduldete alle Pein, ohne daß sie auch nur einen einzigen Laut des Schmerzes von sich gegeben hätte.
„Schreie doch, dummes kleines Geschöpf! Schreie doch! Schreie doch!“ mahnte die Zigeunerin. „Das tut ja gut, das erleichtert dich ja!“ Aber sie konnte bei Wanda nichts ausrichten.
Als der Junge endlich geboren war, war Haakes Widerstandskraft zu Ende. Er ging hinaus und wußte eine Zeitlang von sich nichts mehr.
Dann ereilte ihn eine schwarze Stunde.
Er überblickte mit Hellsicht seinen eigenen Lebensgang: die Martern im Zustand des Windelkindes, die Hilflosigkeit, das Verzweiflungsweinen der frühen Kinderzeit, die Ängste, die Sorgen, das Sichkrankfühlen, die Alpe vom Menschenfresser, vom schwarzen Mann, den ersten Schulgang, die Bosheit der Schulkinder, die Meißelschläge, die er in der Werkstatt des Vaters an Grabkreuzen und Grabtafeln und hernach auf Bauplätzen und Steinbrüchen gemacht hatte. Wer nennt ihre Zahl? Wer zählt die Schweißtropfen, die dabei geflossen sind? Und er gedenkt der hetzenden Arbeit des Gedankens. Man fühlt sich erniedrigt, will hinauf. Träume martern an heißen Tagen, in schlaflosen Nächten. Pläne entstehen, gelingen, mißlingen, wechseln ab. Man steht unter ungeheuren Glücksfällen: die Vollendung des Toberentz-Brunnens und so fort. Und doch, und doch: immer wieder Ohnmacht, Versagen, Zusammenbruch! Warum? Wer wird es glauben? Weil die Liebe, die Liebe ins Leben getreten ist! Und man schließt sich in einen Ekel ein, der immer wieder die Wirkung von allem ist! Und dies alles sollte das kleine, katzenfauchende Würmchen dort drin, diese Fron des Lebens sollte der neue Paul Haake ebenfalls wieder durchmachen?! Ein unwiderstehliches, trockenes Röcheln und Weinen schüttelte den starken Mann.
Aber dann ging er hinein, besah sich das Kind, die schlafende Mutter, hatte die Augen voll wirklicher Tränen der Glückseligkeit und faßte für sich und die beiden gute Vorsätze. Dies war die Wendung, sollte es sein! Dieser Junge mußte ganz anders aufwachsen! Das kleine Zirkusintermezzo war eine belanglose Albernheit. Noch war nichts verloren. Er kehrte binnen wenigen Wochen in seinen wahren Beruf zurück, um ihn fortan nicht zu verlassen!
Während des Wochenbettes nahm er Anlaß, der Prinzipalin und dann auch Balduin im guten wegen des Geldes nahezutreten. Sie wollten sich vergleichen, sagte er. Man möge ihm seine Einlage im Laufe von zwei Jahren nach und nach zurückerstatten. Haake durchschaute, wenn er wollte, praktische Dinge leicht. Er wäre als Vermögensverwalter, das erkannten schon die Damen Ingeström, sehr brauchbar gewesen. Aber die Flunkerts waren entschlossen, das Geld zu behalten. Und so erntete Haake auch diesmal nur Finten und Ausflüchte.
Nach den Zahlungen an das Gasthaus zum Ochsen war er fast vollständig mittellos. Er forderte eine Summe von tausend Mark, um mit Wanda und seinem Kinde nach Breslau zu gehen und dort wieder anzuknüpfen. Er wußte, daß dies möglich war. O Gott, es wären nicht zweihundert Mark in der Kasse, sagte Balduin, und er mache ja schließlich die Rechnung ohne den Wirt; denn Wanda wolle ja lieber heut als morgen wieder auftreten!
Das Kind gedieh, und Wanda hatte nach wenigen Wochen eine neue Schönheit erlangt, die Haakes Leidenschaft bis zu einem gefährlichen Grade steigerte. Sie sagte nicht nein, wenn die Frage, nach Breslau zurückzukehren, erörtert wurde. Aber ebensowenig sagte sie ja. Sie könne sich allerdings kaum vorstellen, äußerte sie, wie sie ohne ihren Beruf leben könne. Auch leuchtete allbereits wieder in Haakes Auge die Glut jener krankhaften Eifersucht, mit der er sie in den Breslauer Tagen so furchtbar gequält hatte.
Man hatte Haake mit Fusel zu ruinieren versucht. Man hoffte, sich eine jener Katastrophen wiederholen zu sehen, für die er bekannt war und die es wahrscheinlich ermöglicht hätte, ihn mit Hilfe der Polizei abzuschieben. Nur teilweise aber ging der Bildhauer darauf ein. Er trank. Der Branntwein mundete ihm. Er machte ihn, je nachdem, heiter oder düster aufgeregt. Doch behielt er sich immer in der Hand. Mit der Geburt seines Sohnes jedoch schien seine Leidenschaft für den Alkohol abgeschnitten. Während des Wochenbettes goß er, allerdings als ob er einen Brand löschen wollte, immer nur Wasser in sich hinein.
Jedermann in der Zirkusgesellschaft bemerkte diese Veränderung, dieses Grübeln, Sinnen, dieses ruhelose Umhergehen, diese Abwesenheit des Geistes beim Hervortreten aus der Gasthofstür, dieses geschäftige Laufen und Heimtragen von Apothekerwaren, dieses fortgesetzte Aussprechen eines einzigen weiblichen Vornamens, diese Berichte über das Befinden des Säuglings an der Mutterbrust. Bald war von alledem Angst die Grundlage, dann wieder Hoffnung, Freude, tolle Heiterkeit, und zwar immer auf übertriebene Art.
Daß er so in den Augen aller zur komischen Figur wurde, lag daran, daß jedermann die Hörner auf seiner Stirne sah.
Aber der Arme merkte nichts von dem Gekicher in seiner Nähe, vor und hinter ihm. Die schlechten Witze, die über ihn gemacht wurden, hörte er nicht. Er stutzte wohl einen Augenblick, wenn man von dem Säugling sprach, der um zwei Monate zu früh gekommen war, und wenn man sich gar nicht darüber sattstaunen konnte, wie es doch trotzdem ein so schwerer, ausgetragener Junge sein könne. Darüber habe auch der Arzt sich gewundert, sagte er, schien aber nichts weiter dabei zu finden.
Natürlich hatte die Zirkuswitwe die Wöchnerin einige Male besucht und ihr übrigens mehrmals gute Wochensüppchen zustellen lassen. Einmal, als Paul Haake Wanda und sie schon im Vorzimmer lebhaft sprechen und lachen hörte, trat er unvermutet ein und bewirkte dadurch ein jähes Stillschweigen. Da wehte den Bildhauer irgend etwas rätselvoll Undurchschaubares an, so eisig kalt, daß es ihm ein Friesel über den Rücken jagte. —
Es war vergessen, als er eines Tages, aus der Apotheke kommend — wo er Talkum und andere Dinge zur Behandlung seines Kindes geholt hatte, dessen Trockenamme er war —, vom Hausknecht erfuhr, der Herr Zirkusdirektor Flunkert sei oben im Zimmer.
„Hat er nach mir oder hat er nach meiner Frau gefragt?“
„Er hat nur nach Ihrer Frau gefragt. Ich sagte, Sie seien nicht zu Hause, aber er sagte, das mache nichts, es handle sich um Zirkussachen.“
Seltsamerweise stieg Haake mit der fast unhörbaren Sohle eines Diebes die Treppe hinauf. Ebenso leise trat er ins Vorzimmer.
Wanda girrte. Dann schien es Haake, als wechselten Schmollen, Lachen und Liebesgeflüster.
„Nun, wie gefällt er dir, Balduin?“
„Na freilich, ganz gut, kleine Kröte!“
„Wie er dich anglotzt! Ganz, wie wenn du deine Dressuraugen machst!“
„Nun wirst du also nach Breslau gehen mit diesem Blechseppl!“
„Ja Kuchen! Ich — und nach Breslau gehen!“
„Wie willst du den Heckenscheißer loswerden?“
„Den werd’ ich schon von selber loswerden, jetzt, wo ich schon wieder ganz kregel bin!“
„Weißt du was? Meine Mutter möchte den Jungen. Sie ärgert sich, sie findet so eine Ähnlichkeit!“
„Kunststück, Balduin: Ähnlichkeit!“
„Elsa will ihn auch nicht hergeben!“ Das war Flunkerts angetraute Frau. „Nun geht’s bald wieder los, kleine geile Canaille!“
„Nicht! Nicht! Nicht jetzt! Nicht! Nicht! Nicht jetzt, Balduin! Er muß jeden Augenblick kommen!“
Es schien, er ließ ab, er trat zurück. Man hörte ihn tief und hastig atmen und ein verlegenes Lachen ausstoßen.
„Bibi, hörst du, sorge dafür, daß er dir über seinen Gips die Verfügung läßt. Der Kerl ist wie toll und verrückt! Er will seinen Gips haben!“
Die Unterredung zu zweien fand ihr Ende. Der Zirkusdirektor Balduin Flunkert blickte in Haakes furchtbar entstelltes, steingrau gewordenes, stummes Angesicht. Es war eine schreckliche Maske mit zuckenden Mundwinkeln.
Ein Zittern ging durch den sehnigen Körper des Luftspringers. Er und Wanda wechselten einen leeren Blick. Dann ging er, ohne daß zwischen den dreien das Schweigen gebrochen und ohne daß er von jemand gehalten wurde. Haake kippte die Wasserflasche und goß ihren Inhalt in sich hinein.
Dann ging auch er, ohne Wanda und den Säugling im Bettchen auch nur mit den Augen gestreift zu haben.
Die grünen Wagen und das Zelt waren außerhalb des Städtchens auf einer Brache aufgestellt. Die Burg von Weinsberg blickte auf sie herunter. Als Flunkert, dorthin zurückgekehrt, vom Wagen aus den Bildhauer langsam herankommen sah, war er sich nicht schlüssig darüber, was er tun wollte. Einer Täuschung über die Absichten Haakes verfiel er nicht.
Machte er sich vielleicht dennoch unnütze Sorgen?
Er hatte noch eine gewisse Frist, das Herankommen seines Feindes zu beobachten: Haß, Übereilung, Wut lag in seinen Bewegungen nicht. Eher hatten sie etwas Bequemes, Schlenderndes.
In der Tat dachte Haake: Zu dem, was jetzt geschehen muß, brauche ich restlos meine ganze Kraft. Also heißt es, vor dem Beginn des Tanzes bis zur Knausrigkeit sparsam sein!
Er bückte sich und ergriff einen kindskopfgroßen, runden Stein. Ja, man wurde an den Kopf eines Säuglings erinnert. Er lachte blöd. Mit dem Kopfe des Sohnes dem Vater ein Loch in den Kopf machen: diese Vorstellung war belustigend.
Die Witwe befand sich in ihrem Wohnwagen. Pudelko war mit den Gäulen zur Hufbehandlung fortgeschickt. Maskos war aus irgendeinem Grunde nach dem nahen Heilbronn gereist. Die Musikanten lagen in ihren Quartieren, ebenso die Artisten, bis auf Adriana Tomalla, die im Zirkuszelte arbeitete. Dies war die Lage, die Flunkert im Augenblick übersah, als er niemand fand, den er diesem Blechseppl, diesem Heckenscheißer hätte entgegenschicken können, um ihn nach seinem Begehren zu fragen.
Da war freilich Pix, der aus Steinen eine Burg baute. Pix stand mit dem Bildhauer gut. Der Junge wurde hereingerufen.
„Was Sie wollen, läßt Vater fragen, Herr Haake.“
„Nichts für Kinder, mein Sohn!“ Den hübschen Knaben an der Hand haltend, klopfte er bald darauf an der Tür der Direktorin.
Balduin hatte entschieden, sich einzuschließen.
„Ich habe mit Ihrem Sohn ein Hühnchen zu pflücken. Ich bin nicht bewaffnet. Sagen Sie ihm, er soll zu mir herauskommen, wenn er kein Hundsfott ist! Ich erwarte ihn. Bitte, nehmen Sie Ihren Enkel hinein!“
Mit Unschuldsmiene fragte sie: „Was haben Sie denn mit meinem Sohn?“, nachdem sie Pix ins Innere des Wagens gedrängt hatte.
Er gab zur Antwort: „Die Klaviatur, Frau Direktorin!“ und machte mit seiner freien Hand, als ob er Klavier spiele.
Da begab sie sich in den andern Wohnwagen.
Balduin ließ sie, aber erst nach langem Parlamentieren, ein, und als er gewiß war, es könne geschehen, ohne daß Haake mit eindringe. Schnell schloß er auf und verriegelte augenblicks danach wiederum die Tür.
„Was ist geschehen?“ fragte die Mutter. Sie war so schwach, daß sie sich festhalten und auf einen Schemel setzen mußte.
„Was weiter? Er hat uns belauscht. Er weiß, von wem der Junge ist.“
„Er ist grauenhaft anzusehen!“ sagte die Witwe.
Balduin wieder: „Das mag wohl sein!“ Ein Kanarienvogel nahm auch hier das Gespräch zum Anlaß, lauter und lauter zu schmettern. Der Käfig mitsamt dem Vogel wurde von Balduin in einen Winkel des Wagens geschleudert.
„Er will, du möchtest zu ihm hinauskommen, wenn du kein Hundsfott bist, Balduin.“
„Ich bin ein Hundsfott! Ich werde mich hüten. Geh und sage ihm, daß er sich fortscheren soll! Oder ich habe hier meinen Schießprügel! — Aber lieber nicht! Sag’s ihm lieber nicht! Wir wollen es vorher im guten versuchen. Hör mal, Mutter, vielleicht geht es mit Geld! Mutter, was haben wir in der Kasse?“
„Was wird aber werden, wenn du doch zu ihm hinauskommen mußt?“
„Wenn es nach ihm geht, wird er mich totschlagen.“
Die Direktorin heulte erstickt und hielt sich die Hände vors Gesicht: „Ich habe diesem verdammten Pudelko gesagt, er soll mich nicht ganz allein lassen. Ich habe Maskos gesagt, einer muß dableiben! Ich habe sicher etwas geahnt!“
„Mutter, bleib mir vom Leibe mit deinen Ahnungen! Hätte ich mich lieber auf die ganze Geschichte nicht eingelassen und das Weibsstück gleich, als wir das merkten, zum Tempel hinausgeprügelt! Aber du hast mich in die Geschichte hineingeschwatzt! Du hast nichts geahnt! Du hast nichts geahnt!“
„Warte, mir ist ein Gedanke gekommen!“
Sie erhob sich, sie ging. In einer besinnungslosen Angst warf der Kunstreiter seine Mutter förmlich zur Tür hinaus, um nur schnell wieder schließen zu können.
Er flog. Seine Glieder gehorchten ihm nicht. Er konnte keinen Gedanken fassen. Schließlich war er ja doch ein starker, katzengeschmeidiger, tollkühner Mensch, dessen durchtrainierter Körper es mit jedem aufnehmen konnte. Warum nahm er nicht seine Peitsche? seine Flinte? seinen Revolver? und trat ganz einfach, wie er gewohnt war, furchtlos vor den Wagen hinaus? Er war wie gelähmt. Es schien ihm ein Ding der Unmöglichkeit.
Woran lag das? Er konnte die schrecklich verzerrte, lächelnde Maske nicht loswerden, und immer gerann ihm gleichsam das Blut, wenn er sie im Geiste sah. Das Antlitz Haakes, in dem er sein Todesurteil gelesen hatte.
Der Kunstreiter wurde plötzlich hellsichtig. Der ganze Umfang seiner Schuld zerknirschte und erdrückte ihn. In diesem Bewußtsein wurde er ohnmächtig.
Nicht etwa, daß er die Besinnung verlor; das wäre für ihn ein Glück gewesen. Mit einer peinlichen Klarheit leuchtete das große fortgesetzte Verbrechen in ihn hinein, das er an diesem Manne begangen hatte.
In ihm, in Haake, das wußte er, war ebendie gleiche Hellsichtigkeit, vor der ebendieselbe Schuld, ebendasselbe Verbrechen sich, in allen Teilen qualvoll erkennbar, darstellte. Nur daß er selbst, nämlich Haake, nicht der Verbrecher war. Auch er ist, zuckt es Balduin durch den Kopf, durch seine Erkenntnis in einen ähnlichen Zustand wie ich gelangt, wo er nicht mehr Herr seiner selbst ist.
Warum hatte das Drohende etwas so Unentrinnbares? Er konnte die Tür aufstoßen, er konnte davonlaufen. Er war durch und durch feig und voll Todesangst. Es meldete sich kein Fünkchen Stolz, der ihm schmähliche Flucht verboten hätte. Er saß stier auf dem Bett, und es kam ihm so vor, als wenn er bei Gott um Gnade bettelte.
Aber warum hatte er ihn in Versuchung geführt? Warum hatte er ihm diese Wanda gezeigt? dem andern diese Wanda gezeigt? diesen kleinen schwarzen Satan, der beide vernichtete!
Selbst zum Beten blieb keine Zeit. Flunkert konnte es kaum begreifen, als die Tür, von Haake mit seinem steinernen Kindskopf zerschmettert, bereits krachend in Splitter gegangen war. Er fühlte sich aus dem Wagen gerissen. Er wälzte sich, gepackt, mit einer lebenden Masse verknäult und verbissen, würgend und gewürgt, auf dem Stoppelfeld herum. Da gelang es ihm glücklich, sich loszureißen. Er floh. Sein Angreifer folgte ihm um die Wagen herum. Gott sei Dank tauchte in der Ferne Pudelko auf. Die Witwe Flunkert stieß gellende Schreie um Hilfe aus. Ich habe das Laufen zu wenig geübt, dachte Flunkert. Ich hätte nie geglaubt, daß ein schwerer Mann wie dieser Blechseppl, dieser Tagedieb, dieser Trunkenbold, dieser Akademieprofessor so rennen kann. Plötzlich will ich mich umwenden und ihn anfallen!
Vorläufig aber lief er noch. Warum lief er nicht ins freie Feld, sondern zum zweiten-, zum drittenmal um die Wagen herum? Weil er dort draußen, von seinem Verfolger ereilt, allein mit ihm gewesen wäre, während er hier auf Hilfe rechnen konnte. Pudelko kam näher. Und jetzt tauchte auch Maskos auf. Allbereits kamen auch andere Leute. Wenn er noch hundert Schritte lief und sich dann unerwartet seinem Verfolger entgegenwarf, konnte er schon allgemeiner, kräftiger Hilfe gewärtig sein.
Daß er blutete, fühlte er an der Nässe, die ihm aus Mund und Nase rann, auch war ihm klar, daß er eine Menge Zähne ausgespuckt hatte. Allzu schnell kam der Feind heran. Man konnte die Finte nun nicht länger hinausschieben. Also wandte er sich und fiel Haake an.
Ein häßliches, grausiges Schauspiel begann, wovon sich die Seele mit Ekel abwendet. Und doch ist es nichts gegen die unzähligen, gewaltsamen, blutigen Todesarten, gegen die übermenschlichen Roheiten, die ein Krieg im Gefolge hat. Haake hatte einen Knüppel zu fassen bekommen, wie ihn der Fuhrmann beim Zusammendrehen von Stricken und Ketten zu benutzen pflegt. Solche Knüppel sind meistens aus zähen Wurzeln großer Bäume gemacht, die, durch Alter verhärtet, weder brechen noch splittern. Mit diesem Prügel schlug er Balduin, als er sich gegen ihn wandte, über den Kopf.
Der Kunstreiter schützte sich mit den Armen. Er konnte nichts weiter tun. Der Bildhauer schlug wie eine Maschine. Man begriff es nicht, daß ihm Balduin nicht den Stock zu entringen suchte, sondern immer nur parierte und sich nach Möglichkeit, durch Windungen aller Art, dem fürchterlichen Hagel von Schlägen entzog.
Dadurch entfernte er sich von den Wagen. Er schien nicht zu wissen, wo er war. Wahrscheinlich hatten ihn Treffer auf die Schädeldecke in einen verwirrten Zustand gebracht. Die Leute schrien. Kinder und Frauenzimmer jammerten. Pudelko lief nach. Aber da hatte er schon einen Schlag irgendwohin bekommen, der ihn kampfunfähig niederwarf. Und der Prügel prügelte fort.
Die ganze Umgegend wurde aufmerksam. Hier ging etwas vor, was dem Bauer auf dem Acker, dem Winzer in den Weinbergen das Herz stocken machte. Dieser Prügler, jener vor ihm sich drehende, windende, gleichsam tanzende Mann boten ein Schauspiel, wie es selten ans Licht des Tages tritt. Es war ersichtlich, daß man hier einer letzten Abrechnung beiwohnte. Da war nicht einer unter den Zuschauern, dem das nicht klar wurde. Die Sache lief auf Totschlag hinaus. Es war die Vollstreckung eines Todesurteils, war eine Hinrichtung. Abdecker hatten die Artisten Haake genannt, nachdem er die Bulldogge mit einer Kugel von ihren Leiden erlöst hatte. Jetzt war er Richter und Urteilsvollstrecker in einer Person, ein Mensch, der blindlings Vergeltung übte. Und seltsamerweise: jeder nahm eigentlich in der Seele irgendwie die Partei des Prügelnden. Der andere mußte einer der schlechtesten Kerls von Gottes Erde sein, da er ihn keines besseren Todes für würdig hielt, als unter Knüppelhieben zu enden.
Maskos wußte nicht einmal, wer er war, der da auf Flunkerts Schädel, Schultern, Arme, Rücken in schnellster Folge niederdrosch. Bewegungen, die der ganze Mann dabei ausführte, hatten mit denen des einstigen Bildhauers Haake nicht die geringste Ähnlichkeit. Auch die Direktorin schien nicht zu wissen, wer er war. Sie konnte Maskos auf seine Fragen nicht antworten. Sie schrie nur immer: „O Gott im Himmel, er schlägt ihn tot! O Jesus, mein Heiland! mein Heiland! mein Heiland! Er schlägt ihn tot!“
Und wirklich war dies auch Haakes Absicht.
Alle Schläge, die er dem Zirkusdirektor von der ersten Begegnung an zugedacht hatte, wurden nachgeholt. Fast bei jedem Hiebe wußte der Bildhauer, wofür er die Bezahlung war. Auch dem Empfänger fiel jedesmal eine Sünde ein und trat ihm, als beginge er sie erst jetzt, vor die Seele. Nur die Gewandtheit, die er sich als Trapezturner und Luftgymnastiker erworben hatte, bewahrte noch immer Flunkert vor dem Äußersten. Wenn er nicht stolperte oder fiel, konnte er vielleicht immer noch, freilich braun und blau geschlagen, davonkommen. Allein die Kraft des Urteilsvollstreckers ließ nicht nach — wie lange konnte die seine noch aushalten?
Die Winzer schrien, die Landleute schrien, Zurufe kamen von allen Ecken und Enden. Plötzlich sah man, wie Flunkert stolperte.
Aber schon stand er wieder auf. Es war bereits weit draußen im Felde. Man wollte retten. Halb Weinsberg war rebellisch geworden. Da stolperte Flunkert zum zweitenmal. Er stolperte wieder, — dann blieb er liegen.
Als man hinzukam, war noch Leben in ihm.
Den Bildhauer konnte man nirgends entdecken. Man suchte ihn tags darauf mit Polizeihunden. Man fand schließlich einen Mann hinter einer Hecke an der Landstraße, der bewußtlos auf dem Rücken lag und, halb singend, immer nur: „Bolibö! Bolibö! Bolibö!“ lallte. Es ist ein Wort der Gaunersprache, das Himmel heißt. Die Hunde schnoberten ihm im Gesicht herum.
Ein Karren wurde herangeholt, aber man konnte nur noch einen Toten hineinlegen. Dem Lebenskampf des Bildhauers Haake hatte wahrscheinlich ein Bluterguß ins Gehirn ein Ende gemacht.
Mis-spelled words and printer errors have been corrected. Where multiple spellings occur, majority use has been employed.
Inconsistency in hyphenation has been retained.
Inconsistency in accents has been retained.
When nested quoting was encountered, nested double quotes were changed to single quotes.
[The end of Wanda by Gerhart Hauptmann]