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Title: Cervantes
Date of first publication: 1934
Author: Bruno Frank (1887-1945)
Date first posted: Dec. 2, 2019
Date last updated: Dec. 2, 2019
Faded Page eBook #20191207
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BRUNO FRANK
CERVANTES
EIN ROMAN
Erstes Buch | |
Seite | |
Audienz | 9 |
Der Sprachlehrer | 28 |
Geehrte, geliebte Eltern | 37 |
Die Venezianerin | 47 |
Fieber | 66 |
Flottenparade | 76 |
Lepanto | 87 |
Im Schwarzen Hut | 98 |
El Sol | 117 |
Die toten Könige | 124 |
Dali-Mami | 132 |
Die Stadt Algier | 145 |
Der Sklave Don Miguel | 154 |
Drei Verräter | 168 |
Die Heimkehr | 196 |
Zweites Buch | |
Erster Abend | 207 |
Unica Corte | 213 |
Theater | 221 |
Aufatmen | 232 |
Lügenbank | 241 |
Ana Franca | 249 |
Straßenkreuzung | 264 |
Das Dorf in der Mancha | 271 |
Der Kommissar | 292 |
Blutsprüfung | 310 |
2 557 029 Maravedis | 326 |
Der seltsame Kerker | 337 |
Escorial | 350 |
Der Ritter | 359 |
Es gab in Madrid keine Kutschen. Der Kardinal-Legat mußte zur Audienz reiten. Man hatte ein weißes Maultier für ihn aufgetrieben, darauf saß er seitlich, nach Art der Frauen, das leuchtende Gewand lang hinabwallend. Es regnete fein und eisig auf seinen flachen Purpurhut. Der alte Fabio Fumagalli, Kanonikus von Sankt Peter, führte sein Reittier am Zügel. Hinterdrein und zur Seite stapften die Leute seines Gefolges im Schmutz, drei Kleriker minderen Ranges und mehrere Bediente, alle unheiteren Gesichts niederschauend auf ihre Strümpfe, die kotig wurden bis über die Waden. Die geistlichen Herren hielten mit beiden Händen ihre Röcke hoch wie Bauernweiber und gedachten der schöngepflasterten römischen Promenaden.
Es war eine seltsame Hauptstadt, nach der sie da entsandt worden waren. Einen Marktflecken, nichts anderes, hatte sich dieser König zur Residenz ausgesucht. Wenn 15000 Christenmenschen hier beieinander hausten, war es viel. Die Häuser waren fast alle aus Lehm, einstöckig, so niedrig, daß der Kardinal auf seinem Maultier mühelos hätte die Dächer berühren können. Dies war die Hauptstadt der halben Welt. Von diesem Schmutznest aus wurde Spanien regiert, Burgund, Lothringen, Brabant, Flandern, und die fabelhaften Goldreiche überm Weltmeer. Von hier aus empfingen in Neapel, Sizilien und Mailand spanische Vizekönige ihre Weisungen. Gegen den Herrscher, der hier sich gefiel, hielten sich mühsam noch aufrecht der König von Frankreich, die Republik Venedig und der Staat des Heiligen Vaters. In Tracht und Sitte war Spanisch Weltmode; von hier ging sie aus.
Die spärlichen Passanten im Novemberregen beugten das Knie vor dem Reiter im Fürstenkleid. Die zu ihm aufschauten, blickten betroffen. Da ritt ein Knabe. Ein schmales, blasses, kränkliches Gesicht schimmerte unter dem Purpurrand.
Der Kardinal Giulio Aquaviva war 22 Jahre alt. Der Papst hatte ihn hergeschickt, um sein Beileid zum Tode des Thronfolgers Don Carlos zu überbringen, eine sehr besondere Mission, denn niemand zweifelte daran, daß hier der Vater dem Sohn zum Sterben verholfen hatte.
Beinahe einen Monat war die Delegation unterwegs gewesen von Rom nach Madrid. Das Meer war stürmisch, allenthalben kreuzten die Raubschiffe der Barbaresken. Die geistlichen Herren gingen halbtot an Land. Ein Aufenthalt ohne Bequemlichkeit erwartete sie. Der Kardinal-Legat saß die Nächte durch aufrecht in seinem nassen harten Bett in der Madrider Nuntiatur und hustete.
Während der langen, entsetzlichen Seefahrt hatte sein Kommen noch einen weiteren finstern Sinn bekommen. Auch zum Tode der Königin konnte er nun gleich mitkondolieren. Die schöne, sanfte Elisabeth von Frankreich war nur 25 Jahre alt geworden. Nach den Marien von Portugal und von England war sie die dritte Tote in Philipps Ehebett. Was seine Hand berührte, das welkte und ging.
Vorwand genug nun also für die Reise. Denn ihr geheimer und eigentlicher Zweck war ein anderer. Zwischen dem Allerkatholischsten Könige, Schild des Glaubens, Richtschwert der Ketzer, und dem Vatikan herrschte Zwist. Der Sohn Karls des Fünften lag im Staub vor Gott und der reinen Lehre, keineswegs vor dem Papst. „Für Spanien gibt es keinen Papst,” hatte der Präsident seines Rates in öffentlicher Sitzung gesagt... Der 22 jährige kranke Herr war Träger sehr ernster Botschaften.
Denn der ständige Nuntius hatte garnichts erreicht. Audienzen wurden ihm selten gewährt, stets von neuem verwies man ihn auf den schriftlichen Weg. König Philipp liebte den schriftlichen Weg. Leise und zäh hauste er unter Papieren. So sparsam er sprach, so gern, so methodisch schrieb er. Das Gebet und die Akten, dies war sein Leben.
Von seinem Kondolenzgesandten erhoffte der Papst, was sein Beamter nicht durchsetzte. Unter tragischen Umständen würde der Jüngling vor diesem König erscheinen, vielleicht fand er den Weg zu seinem Gefühl, zu seiner belasteten Seele. Man liebte Aquaviva in Rom. Pius selbst, unter seiner dreifachen Krone ein unerbittlicher alter Dominikaner, liebte ihn. Vielleicht würde auch Philipp ihn lieben.
Der ständige Nuntius war voller Hohn. Zunächst einmal quartierte er den kranken Herrn schlecht ein in seinem Hause, kein Mensch kümmerte sich um sein Wohlergehen, seine Begleitung bekam nichts zu essen.
Schließlich schlug der Kanonikus Fumagalli Skandal. Er war ein weißbärtiger Bauer aus der Romagna, von mächtigem Körperbau, zum Soldaten mehr als zum Priester erschaffen, und dem Hause Aquaviva seit jungen Jahren dienend befreundet. Auch er liebte den hochgeweihten, zarten und frommen Jüngling. Mit dem Hausherrn hatte er eine kurze, völlig respektlose Unterhaltung. Danach wurde alles besser.
Aber mit befriedigtem Hohn beobachtete der Nuntius weiterhin, wie der Aufenthalt des ungebetenen Logiergastes sich müßig hinzog. Drei Wochen war er nun schon da. Auf die ehrerbietige Anfrage, wann die Traueraudienz genehm sei, war erst viele Tage überhaupt keine Antwort gekommen, endlich ein Bescheid aus der Staatskanzlei, das Beileid möge schriftlich abgestattet werden. Schriftlich, das Allerweltswort, aber dem Kirchenfürsten gegenüber, der einen Monat unter Fährnissen gereist war, eine kaum tragbare Insolenz. Dennoch war nichts übrig geblieben als nochmals zu bitten. Unmöglich konnte er nach Rom zurückfahren und Petri Nachfolger bekennen: man hat Deinen Botschafter garnicht ins Haus gelassen. Als endlich der Zutritt gewährt wurde, war von vornherein das Gleichgewicht peinlich verschoben. Und das war der Zweck gewesen.
Das Königsschloß war erreicht. Aber der geistliche Zug konnte den Eingang nicht finden. Ein Gerüst zog sich um den burgmäßigen, verwinkelten Alcazar. Im Regen hämmerten Arbeiter. Immer wurde an Philipps Häusern gebaut.
Sie zogen um den ganzen zackigen Komplex. Vor einer Hinterpforte stieg der Legat von seinem Tier. Pikenträger in riesigen Hüten, gelben Wämsern und rotgelben Pluderhosen hielten Wache. Sie verstanden kein Wort. Es waren Deutsche. Schließlich, auf das Rufen der Diener, kam ein Mann in Priesterkleidung die steile Stiege herab und gab auf Lateinisch Bescheid. Von hier aus war kein Zugang zu den königlichen Gemächern. Aufgesessen also noch einmal und im Halbkreis zurück zur Vorderfront mit den Gerüsten.
Die Begleitung verblieb in einem Wachtlokal zu ebener Erde. Es war kalt hier, durch die winzigen, vom Balkenwerk verstellten Fenster kam jetzt um Mittag kaum Licht. „Das sind Vergnügungsreisen!” sagte Fumagalli, der den nassen roten Hut des Legaten auf den Knien hielt, „die Eminenz wird uns sterben an diesem Ausflug!”
Der Kardinal ging langsam, unter Seitenstechen, die dunklen Treppen hinauf. Es roch schlecht in diesem mittelalterlichen Burgpalast. Ein Hofherr schritt seitlich voran, immer höher. Ich glaube, der König von Spanien sitzt auf dem Dach und erwartet mich da, dachte Aquaviva, denn er war fröhlichen Gemüts unter seinem Purpur, ein gütiger heiterer Knabe bei all seiner frommen Klugheit.
Nun ging es im obersten Stockwerk seitlich ab, durch einen offenen Zinnengang erst, in den der Nordsturm hereinblies, und von dem aus man das ganze lehmschmutzige Städtchen recht armselig liegen sah und jenseits das nackte, traurige Hochland von Kastilien. Dann kamen Säle, niedrig und lang, mit ein paar Truhen spärlich möbliert. Überall Herren vom geistlichen Stand, in der Sutane oder im Ordenskleid, in Gruppen sich beredend, untätig harrend. Ein viereckiges Zimmer dann, voll mit Bewaffneten. Ihr Offizier erwies klirrend Salut. Im nächsten Raum, einem völlig leeren Gang, verließ ihn der Hofherr zur Meldung.
Unmittelbar zu Aquavivas Häupten schlug eine Glocke stark und nachhallos die Mittagsstunde. Die Tür ging auf. Der Kämmerer ließ ihn passieren.
Das Zimmer war hell. Aus hohen Fenstern strömte von links und von rechts stumpfes, kalkiges Licht auf dem Schreibtisch zusammen, hinter dem König Philipp arbeitete. Er legte sein Gerät zur Seite und blickte aus großen, gewölbten, unnennbar ruhigen Augen dem Eintretenden entgegen. Der verneigte sich, und wartete dann in höfischer Haltung auf eine Anrede. Doch die kam nicht. So hatte er Muße, den meistberedeten Herrn der getauften Welt zu betrachten.
Der Anblick erstaunte ihn, und er gab sich auch Rechenschaft über den Grund. Philipp saß ohne Hut, wie er auf keinem seiner vielen Portraits erschien, und wie man also nicht gewohnt war, ihn sich zu denken. So sah der Kardinal, wie blond er war: hellblond das seidig frisierte Haupthaar, nur wenig dunkler der Bart, der einen großen, geistreich gezogenen Mund umrahmte. Sehr zart und hübsch gebildet die Nase, porzellanen durchsichtig die weiße Haut, Eleganz und Gepflegtheit der vorherrschende Eindruck. Nur die vorgebaute und schwere Stirn brachte einen unbestimmt drohenden Zug in das anmutige Ganze.
Schwarzer Samt war sein Anzug. Selbst die Halskrause war in diesen Tagen der Trauer verschwunden, der Orden des Vlieses hing an einer Kette aus dunklen Edelsteinen über der Brust und schimmerte schwach.
Soll ich selber denn anfangen? dachte Aquaviva und stellte mit Mißbehagen fest, daß ihm Gesicht und Hände vor verlegener Hitze brannten. Ein wenig ratlos schickte er den Blick durch das Königszimmer. Da war nicht viel zu sehen. Gobelins bedeckten die Wände. Wenige schwere und simple Möbel. Seitlich neben Philipp stand ein Tischchen mit einem kleinen Kruzifix und zwei Reliquienkästchen aus Silber.
„Einen jungen Priester schickt mir die Heiligkeit,” sagte ziemlich leise eine höfliche und vollkommen leere Stimme in mühsamem Italienisch. „Sagt Euern Auftrag!”
„Der Heilige Vater, Majestät, entbietet Euch seinen Gruß und seinen apostolischen Segen. Mein Auftrag ist, auszudrücken, mit wie tiefem, innigen Anteil die Heiligkeit den Tod Eures Infanten Don Carlos erfahren hat, und daß ihr tägliches, unermüdlich wiederholtes Gebet dem Entschlafenen gilt.”
„Das ist viel Ehre für diesen Prinzen,” sagte die glanzlose Stimme.
Aquaviva verstummte. Dies ging wider alle Voraussicht. Mochte an sämtlichen Höfen der Christenheit ohne Umschweife von diesem aufregenden Trauerfall geredet werden, der König selbst, dies stand doch wohl fest, würde mit ein paar steifen Redensarten alles zudecken. Er hatte ja Anlaß dazu.
Dieser Prinz war ein Krüppel und ein halb Irrsinniger gewesen. Da er der Erbe der halben Welt war, kannte die ganze Welt seine Schritte von Kind auf. Sie wußte von seinen Ammen, denen der Säugling die Brüste zerbiß, so daß sie starben, von den Tieren, die der Knabe lebendig am Pfahl briet, den Hofleuten, die er zu kastrieren befahl, seinen Wutausbrüchen, Schreikrämpfen, epileptischen Anfällen. Auch vor dem Vater machte das Halbtier nicht Halt. Daß er ihm den Tod schwur, wäre ertragen worden. Aber in der vergangenen Weihnacht wurde sein Plan ruchbar, zu fliehen und sich in Flandern an die Spitze der Ketzer zu setzen. Mit geheimnisvoller Schnelle war dies auch in Rom bekannt. Der Papst geriet in Ängste. Er wurde beruhigt. Schon hielt man in Madrid den Prinzen gefangen. Er starb. Zu diesem Tod überbrachte Aquaviva die Kondolation.
„Die Heiligkeit,” sprach er mit Anstrengung weiter, „hat einen Trauergottesdienst angeordnet. Am 5. September wurde er in Sankt Peter abgehalten. Um dem Erben eines so mächtigen Reiches die höchste Ehre zu erweisen, hat die Heiligkeit dieser Feier selbst angewohnt. Ich darf darauf hinweisen, Majestät, daß solche Ehre bis auf diesen Tag nur Königen zu Teil geworden ist.”
„Nur Königen,” wiederholte der König, plötzlich in hartem Latein. „Ich danke dem Heiligen Vater. Gott hat mir die Last auferlegt, den wahren Glauben unverletzt zu erhalten, Gerechtigkeit und Frieden zu halten und nach meinen wenigen Lebensjahren die anvertrauten Staaten in fester Ordnung zurückzulassen. Alles hing in erster Reihe von der Person meines Nachfolgers ab. Es hatte aber Gott zur Strafe meiner Sünden gefallen, den Prinzen Don Carlos mit so vielen und schweren Mängeln zu behaften, daß er zur Regierung ganz untauglich war. Fiel ihm das Reich als Erbe zu, so war es gefährdet. Er konnte keineswegs leben. Nehmet den Stuhl!”
Die letzten Worte waren genau im selben Tone gesprochen wie das Vorangehende. Der junge Kardinal, betäubt und geblendet von so viel unerwarteter, schneidend heller Aufrichtigkeit, begriff nicht sofort.
„Nehmt Euch den Stuhl,” wiederholte der König.
Es stand nur einer im Zimmer, ein niedriger Schemel ohne Lehne. Aquaviva zog ihn heran. Das lebendige Rauschen seiner Seide um ihn beim Niedersitzen war wie ein Trost.
„Majestät, ich gehorche. Aber nicht sitzend dürfte ich mich meines ferneren Auftrags entledigen. Der Heilige Vater hat ihn mir nicht selbst mehr erteilen können, aber ich weiß, daß sein Herz ihn mir über das Meer zusendet. Gott hat vor wenigen Wochen auch Ihre Majestät die Königin zu sich heimgerufen, die beste, die frömmste, die edelste Seele, und so...”
„Es ist gut, Kardinal. War sonst noch etwas?”
Ablehnung schwang in der höflichen Stimme. Denn diese heitere, gütige, entzückende Französin hatte der König geliebt.
„Geschäfte schweben, Euer Majestät.”
„Geschäfte. Gewiß. Der Papst unterhält einen ständigen Vertreter bei meinem Hof.”
Aquaviva hatte zwei kreisrunde Flecken auf den Wangen, rot wie sein Kleid.
„Der ständige Nuntius ist schon lange von der Person des Heiligen Vaters entfernt. Meine Worte ersucht die Heiligkeit als unmittelbar aus ihrem Munde kommend zu betrachten.”
„Ich werde aufmerksam hören,” sagte Philipp. Ein Sturmstoß warf prasselnd den Regen gegen die Fensterscheiben. Beide lauschten. Als dies Geräusch vorüber war, setzte der König langsam und mit Präzision hinzu:
„Seine Heiligkeit weiß, und es kann sich daran nichts ändern, daß ich lieber auf meine Krone verzichten will, als mir das entreißen lassen, was der Kaiser und König, mein Souverain und mein Vater, vor mir besessen hat.”
Auf meine Krone verzichten... Es war cäsarisches Latein, jeder Satzteil wie eine Quader. Um Redensarten ging es hier nicht. „Wenn mein Sohn,” hatte der gleiche Mann einst gesagt, „der Ketzerei verfiele, würde ich selber Holz herbeitragen, um ihn zu verbrennen.” Er hatte noch keinen Sohn besessen, als er so sprach... Dieser unbedingten, schweren und langsamen Seele war jedes Äußerste zuzutrauen. Nicht über Rom, auf unmittelbarem Wege erging an ihn, der eingesetzt war in die Herrschaft, Gottes Befehl. Spaniertum und Rechtgläubigkeit waren das Selbe für ihn. Er war Gottes schwer beladener Verwalter, sein irdisches Königsdasein in unerschauter Machtfülle war ein schmaler Vorhof der Ewigkeit, auf die sein Auge unverrückbar gerichtet blieb. Draußen auf ödem Vorland der Sierra erstand schon die ungeheure Lebensgruft des Escorial, steinerner Traum seiner Frömmigkeit, fugenlos nackt sich hinlagernd in nackte Landschaft, Machtburg, Glaubenskaserne und Grabkirche, wo er die Toten seines Geschlechts zu vereinigen dachte. Er war ein schöner, eleganter Herr und vierzig Jahre alt. Aber schon waren mit jeder Einzelheit die dreißigtausend Totenmessen angeordnet, mit denen der ganze Heerbann spanischer Priester dereinst seiner Seele den Weg zur Seligkeit sichern sollte.
Kein Papst in aller Vergangenheit hätte diesem König mehr entsprechen können als der alte Mann, der jetzt auf Petri Stuhle saß, der asketische Mönch, Großinquisitor vordem — Philipps düster glanzloses Gegenbild jenseits des Südmeers. Und mit ihm lag er im Streit.
Es ging nicht um wenig. Es drohte die Loslösung. Es drohte die Spanische Staatskirche. Die Anzeichen waren da.
Giulio Aquaviva begann zu reden. Das kranke Haupt im Scharlachkäppchen geneigt, den Blick schräg vor sich hin auf eine Tierfigur des Teppichs geheftet, baute er die vatikanischen Beschwerden vor dem Allerkatholischsten Herrscher auf, sacht beginnend mit Läßlichem, minder Bedeutsamem, sodann Befremden, Betrübnis, Entsetzen kunstvoll steigernd, keine Periode ohne ein frommes Kompliment vor dem König, seine Verdienste hoch und höher erhebend, um hernach umso tiefer klagen und anklagen zu können. Er nahm all seine Klugheit, Glaubenskraft, Innigkeit, ja unbewußt auch allen rührenden Reiz seiner kranken Jugend zusammen, — welch gebrechlich holden Geräts bedient sich hier der wahre Glaube, hätte jeder andere Hörer bei sich denken müssen. Es ging um alles. Der Augenblick war entscheidend. Höchst ungewiß, ob er wiederkehrte. Giulio sprach nun ebenfalls Latein, bestes Latein, aus Höflichkeit gegen den König, der sich dieser Sprache soeben bedient hatte.
Der Anstände waren so viele. Von ganzer Seele wünschte der Papst sie beseitigt zu sehen. Er liebte und ehrte den König, auf ihm lag all seine Hoffnung gegen die Ketzerei, die allenthalben entsetzlich sich erhob. Mit welch christlicher Freude hatte er noch kürzlich erfahren, daß das Haupt der flandrischen Häresie, Graf Egmont, auf dem Brüsseler Schafott öffentlich gefallen war, ungeachtet der Dienste und Siege, die dieser Ketzer einst hatte leisten dürfen. Ganz sicherlich waren auch jetzt alle Übergriffe und Beleidigungen das Werk untergeordneter Diener, die Majestät hieß sie nicht gut.
Unerträglich zum Beispiel war das Verhalten des spanischen Vizekönigs in Neapel, des Herzogs von Alcala. Er verhöhnte die Autorität. Bischöfe, Abgesandte des Vatikans, ließ er tagelang im schlechtesten Vorzimmer warten. Kamen sie endlich vor ihn, so empfing er sie im Bette liegend, und, wie es hieß, nicht stets allein.
Philipp erwiderte nichts und blickte mit etwas hängender Unterlippe ins Leere.
Hierzulande war es nicht anders. Ein Jahr erst war es her, da hatte der Papst die Stiergefechte verboten. Den Veranstaltern war der Bann angedroht. Die im Stierkampf Getöteten durften nicht kirchlich bestattet werden. Aber sie wurden kirchlich bestattet. Aber die Bischöfe gaben dem Bann keine Folge. Aber der Zulauf und Prunk waren größer als je. Und das geschah schließlich unter den Augen des Königs.
Aquaviva erhob den Blick und machte eine respektvoll abwartende Pause.
Philipp antwortete auch. Ein paar Worte freilich nur. Aber es war höchst seltsam: Aquaviva verstand nicht. Etwas in der Sprache des Königs klang fremd, rauh entgleitend. Hab ich denn Fieber, dachte Aquaviva, mir scheint, ich bin doch ganz klar im Kopfe... Fragen konnte er nicht. Er fuhr fort.
Das waren Einzelheiten. Aber wurde denn in Spanien die apostolische Gerichtsbarkeit überhaupt noch geachtet? Und wie war es mit den Finanzen? Besteuerte nicht der König den Klerus nach Gutdünken und leitete ungeheure Summen der spanischen Staatsfinanz zu, statt in die römische Hauptkasse der katholischen Christenheit? Gott wußte, und der König wußte es auch, daß dem Heiligen Vater Eigennutz fern lag. Christi Statthalter lebte wie ein Bettelmönch. Eine Brotsuppe und ein halbes Glas Wein zu Mittag, am Abend ein wenig Obst. Seine Kleidung war so schlecht, daß sie Anstoß erregte. Doch er benötigte das Geld für die Verwaltung des ungeheuren Seelenreiches, das ihm anvertraut war. Er bat seinen geliebten und großen Sohn, dies doch einsehen zu wollen.
Der König sprach wieder einige Sätze. Der Kardinal verstand wieder nicht. Er öffnete vor Anstrengung des Horchens den Mund, der ihm austrocknete. Er bekam Tränen in seine guten Augen, vor Scham, Ärger und Ratlosigkeit. Und diesmal merkte der König, daß er nicht verstanden wurde. Einen Schein wie von einem bleichen Lächeln meinte Aquaviva über das gepflegte Antlitz hingleiten zu sehen. Das konnte ein Irrtum sein. Aber was und wie, bei allen Heiligen, sprach dieser König? Das war doch eine seltsame Art von Latein — denn Italienisch war es nicht, obwohl es auch wieder ähnlich klang und einzelne Worte aufzufassen waren — einerlei, der Kardinal konnte nicht dasitzen und grübeln. Es hieß weiterkämpfen auf wankendem, weichendem Boden. In diesem Augenblick sehnte sich der fromme Knabe Aquaviva namenlos nach seinem Appartement im Vatikan, nach seiner kleinen, dämmerigen, immer so gut geheizten Hauskapelle, wo er vor einem schönen Muttergottesbild des Umbriers Perugino innig gern zu beten pflegte. Das waren gute Stunden. Der Heilige Vater hatte ihm da eine Fahrt durchs Fegfeuer auferlegt, nun denn, er mußte durch die Flammen hindurch.
Er richtete sich in die Höhe. Er gab seiner Stimme Metallklang. Es kam ein Schul- und Hauptfall, der endlich ausgetragen werden mußte. Um den unglücklichen Erzbischof von Toledo handelte es sich, den ersten Prälaten des Landes, Bartolomé Carranza, der von der spanischen Inquisition der Neigung zum Luthertum angeklagt war. Von der spanischen Inquisition allein, Aquaviva unterstrich das. Nie habe Rom an die Schuld des höchst würdigen Mannes geglaubt. Der Papst, der Strengste der Strengen, finde keine Schuld an ihm. Ginge es nach der Kurie, so wäre der unglückselige Greis längst befreit. Aber die spanischen Richter widersetzten sich — und zwar auf strikten Befehl des Königs. Inzwischen aber stehe das Toledaner Bistum, das erste und reichste in Spanien, verwaist, und der Staat ziehe die gewaltigen Einkünfte ein, ohne Rest. Nicht der Heilige Vater, nicht er sein Legat, wohl aber die Meinung der Welt sehe hier die eigentliche Ursache der königlichen Unerbittlichkeit.
Dem sei wie dem wolle — Aquaviva erhob sich, es schien ihm der Augenblick dazu — dies werde nicht weiter geduldet. Der Heilige Vater habe ihm in diesem Punkt äußerste Deutlichkeit auferlegt. Es handle sich um den Entscheidungskampf der spanischen Theologie mit der römischen. Die Frage sei, ob der Allerkatholischste Herrscher, Schild des Glaubens, Schwert der Ketzer, sich löblich unterwerfe oder ob er die Autorität des Papstes mißachte und die Spanische Staatskirche wolle, also den Abfall. Unmißverständlich wünsche der Papst zu erklären, daß er in diesem Fall vor nichts zurückschrecken werde, vor nichts — vor dem Bannfluch nicht!
Schweigen. Schweigen. Kein Auffahren des Königs, nicht die mindeste Geste, kein Zucken in den weißen Zügen. Eine höflich lauschende Miene, ein Blick, der an dem Kardinal vorbei schräg zum Wandteppich ging.
„Der Apostolische Stuhl,” sprach Aquaviva nun feierlich, „entscheidet gegen die Inquisition. Der Erzbischof kehrt nach Toledo zurück. Der Papst fordert seine Rehabilitierung. Carranza verdient sie. Und” — mit einem außerordentlichen Effekt plötzlicher Milde und Wärme — „nicht nur der Christ, der gehorsame Katholik, auch der Sohn muß sie willig gewähren, denn der Kaiser und König, sein Souverain und sein Vater, Karl glorreichen Namens, ist im Kloster Yuste in den Armen dieses selben Bischofs Carranza gestorben.”
Das war nun gesprochen. Aquaviva atmete hoch auf aus seiner schmalen Brust. Gut angelegt, gut gesteigert, das Äußerste gesagt, mit dem Banne gedroht, und geschlossen mit einem vollen menschlichen Glockenton. Darauf mußte geantwortet werden. Das war kein Gegenstand mehr für Kanzleien. Da gab es kein Verweisen auf den schriftlichen Weg. Der Kardinal wartete.
Der König wartete auch. Dann, ohne das Auge zu erheben, mit mäßiger Stimme begann er zu reden. Und Aquaviva verstand nicht. „Imperator et rex, dominus meus et pater” zwar begann es, aber schon wieder glitt das Idiom ab, verwandelte sich — wo hatte er denn seine Ohren gehabt: Philipp sprach Spanisch zu ihm, ein besonderes Spanisch allerdings, wie er dunkel zu spüren glaubte. Es war so. Ganz sacht und allmählich entstellte der Spanier seine Sprache ein wenig, tilgte Zungen- und Gaumenlaute, färbte das O dunkel in U um und brachte so ein foppendes Pseudolatein zustande, dessen Sinn der Andere stets zu erhaschen meinte, und das ihm doch immer entglitt. Ein Meisterspiel, das durfte man sagen.
Es fehlte sehr wenig, und Giulio hätte geweint. Was war er auch hergereist, ohne die Sprache zu kennen. Aber wem erschien denn das nötig! Noch war Italienisch das Idiom der vornehmen Welt und Latein gemeinsam allen kirchlich Erzogenen. Zu jeder Mission in Europa war man damit gerüstet. Gegen diesen einen Menschen freilich nicht.
Ihm fiel ein, was ihm gestern noch der französische Botschafter flüsternd erzählt hatte: wie der König die langsame Agonie seines Sohnes durch eine Öffnung in der Kerkerwand viele Stunden lang beobachtet habe, ruhigen Herzens, ohne sich bemerkbar zu machen. Er hatte gestern Herrn Fourquevaux kein Wort geglaubt; jetzt glaubte er’s.
Philipp sprach. Er sprach sehr ausführlich, mit feinen Modulationen der Stimme jetzt, leise zwar, aber in eleganten, effektvollen Kadenzen, mit einem offenkundigen, ruhigen Genuß. Er hatte Zeit. Er ließ sich Zeit. Es hatte für den unglücklichen Knaben im roten Mantel den Anschein, als werde er weiterreden bis zum Abend. Vor seinen Ohren brauste und zischte es, hie und da schlug ein halbvertrautes Wort durch die Brandung — er schwankte, er wäre fast auf seinen Sessel zurückgesunken, er war ja auch krank. Da sagte die höfliche Stimme abschließend auf Italienisch:
„Dies ist es, was ich sagen kann, Kardinal. Ich halte Sie nun nicht mehr zurück.”
Er mochte, ohne sichtbare Geste, eine Glocke in Bewegung gesetzt haben. Die Tür stand offen und der Kämmerer bereit, ihn hinwegzuführen.
Der Regen draußen hatte aufgehört. Eine bleiche Sonne, fast schon eine Wintersonne, schien. Der alte Fumagalli führte das Maultier am Zügel. Besorgt schaute er zu seinem Herrn und Zögling auf, der leichenbleich und erschöpft sich in seinen Frauensattel werfen ließ.
„Du siehst so müde aus, geliebter Sohn,” sprach er leise zu ihm hinauf. In guten und in sehr schlechten Stunden duzte er ihn immer noch wie als Knaben.
„Müd bin ich,” sagte der von seinem Maultier herunter.
„Du mußt fort aus diesem Lande, Giulio. Das ist kein Klima für Dich.”
„Ich gehe, sobald man mich ruft.”
„Was sollst Du denn noch! Was willst Du noch hier?”
„Spanisch lernen. Such einen Lehrer!”
„Das ganze Vorzimmer ist voll, Eminenz,” sagte Fumagalli, der von draußen zurückkam. „Ein Dutzend Kerlchen sitzen da, alle sehr hungrig und trübselig anzuschauen.”
„Ein Dutzend Sprachlehrer! Wo kommen die her?”
„Aus den Humanistenschulen. Es gibt sechs oder sieben in diesem Kuhdorf. Denen hab ich Zettel hingeschickt.”
„Sehr praktisch von Dir,” sagte Aquaviva.
„Wissen möchte ich bloß, warum Ihr noch Spanisch lernen wollt!”
Der Kardinal sah ihn an. „Noch sagst Du, Fabio, noch! Du gibst mir nicht viele Jahre mehr, wie?”
„Noch — als erwachsener Mann und Fürst der Kirche!” rief Fumagalli erschrocken.
„Ich werde Dir eine Geschichte erzählen. Hör zu! Am Abend, ehe der weise Sokrates sterben sollte, kam ein Freund ins Gefängnis und sah, daß der Musiklehrer da war und ihm auf der Leier ein Lied beibrachte. Wie denn, rief der Freund, morgen sollst Du sterben und lernst heute noch ein neues Lied? Und Sokrates sprach: wann soll ich es denn lernen, Du Lieber?”
„Wer redet vom Sterben! Das bißchen Husten. Hast Du’s denn warm genug?”
Aquaviva saß in einem Lehnsessel, gut zugedeckt, neben ihm stand mit heller Glut ein Kohlenbecken aus Bronze, rund und groß, ruhend auf drei wundervoll gearbeiteten Löwentatzen. Fumagalli hatte das schöne Stück mit eigenen Händen aus dem Schlafzimmer des apostolischen Nuntius geholt, ohne jemand zu fragen.
„Gut warm habe ich’s,” sagte Aquaviva. „Was aber das Spanische betrifft, so ist eine zweite Audienz nicht ausgeschlossen, und da macht sich’s doch hübsch, wenn ich den König mit ein paar Brocken überraschen kann.”
Fabio kniff die Augen zusammen. So verdächtig gemütlich redete er immer von diesem König! Erzählt hatte er garnichts. Aber kränker war er seit dem Empfangstag.
„Zweite Audienz! Ich glaub’ nicht daran. Er ist droben beim Escorial und überwacht seine Bauleute.”
„Einerlei. Ohne Spanisch kommt man nicht aus. Es ist auch wichtig für die vatikanische Korrespondenz. Der Heilige Vater wird es anerkennen.”
„Wie die Eminenz meint. Dann werd’ ich also ein paar von den Vögeln hereinlassen.”
„Aber einzeln, Fabio! Immer nur einen!”
Das Vorzimmer war voller Menschendunst. Die Zahl der Bewerber hatte sich fast noch verdoppelt. Es waren meist junge Leute, schlecht genährt und nicht besser gewaschen. In ihren Studentenkragen aus grobem schwarzem Tuch saßen sie aufgereiht auf der samtbezogenen Mauerbank, drehten ihre Mützen in den Händen und beschauten einander mit unguten Blicken. Wer würde den unerhörten Treffer ziehen in dieser Lotterie?
Mit Notwendigkeit blieb Fumagallis Auge sogleich auf einer Erscheinung haften, die sich aus all dieser schlechtgelüfteten Jugend auffällig heraushob. Er trat auf den Mann zu, der sich erhob und nun im langfließenden, dunklen Seidenmantel groß vor ihm stand, das hochgeschnittene Barett auf dem grauhaarigen, bartlosen Haupt.
„Sind Euer Ehren nicht irrtümlich hier?” fragte er höflich, denn die Tracht des Mannes schien ihm gelehrte Grade zu verraten. „Der Empfang heute dient einem besonderen Zweck.”
„Der Zweck ist mir bekannt, Euer Würden, und mit Vorbedacht bin ich hier.”
Fumagalli vollführte eine einladende Geste und schritt gegen die Türe voran. Zugleich mit dem Gelehrten hatte sich neben ihm ein Student erhoben, ein schlankes, behendes Bürschchen mit lebhaften Augen, angezogen wie alle, nur vielleicht besser gewaschen, und machte unsicher Anstalten, mitzugehen.
„Du bleib nur einstweilen,” sagte der Mann im Talar, „Du würdest nur alles verderben.” Gehorsam nahm der Student wieder Platz, für die Protektion, die er genoß, von allen Seiten durch zornige Blicke versengt.
„Euer Eminenz,” meldete Fabio drinnen mit Förmlichkeit, „unter den Wartenden befand sich auch dieser Herr. Es schien mir richtig, ihn als Ersten einzuführen.”
Der Gelehrte stellte sich vor. Er war Don Juan Lopez de Hoyos, wohlbekannten Namens, wie er hinzufügte, Doktor der Universität Valladolid und Vorsteher einer jener Grammatik- und Kunstschulen, der berühmtesten in ganz Spanien, er verschwieg es selber nicht.
„Euer Besuch ist eine Ehre für mich,” sprach Aquaviva und wies auf einen Sessel. „Ich weiß sie zu schätzen. Aber unmöglich darf ich glauben, daß ein Mann Eurer Grade bereit ist, Elementarunterricht zu erteilen.”
„Eminenz, es war vorauszusehen, wie viele Anwärter sich einstellen würden. So habe ich einen meiner Zöglinge herbegleitet, in der Hoffnung, ihm durch Empfehlung zu dienen. Das Glück ist so blind,” setzte er hinzu, da er in den Zügen des Kardinals eine kleine ärgerliche Verfinsterung zu bemerken glaubte, „es mag mir erlaubt sein, ihm ein wenig die Augen zu öffnen.”
„Mir wollen Euer Ehren die Augen öffnen, ohne Metapher gesprochen. Ich sehe aber ganz gut.” Und Aquaviva lachte.
Der Humanist entschloß sich mitzulachen. „Der junge Mann, der mich begleitet, ist schüchtern, er bringt es nicht fertig, sein Licht leuchten zu lassen. Lobt ihn jemand, so widerspricht er eher — er hätte sich Eurer Eminenz selbst nicht empfohlen. Und da er begabt ist...”
„Er braucht doch nur Spanisch zu können.”
„Spanisch können! Das eben ist’s! Spanisch kann nur, wer Latein kann. Und wie kann er Latein! Den Beweis dafür habe ich mitgebracht.”
Aus den Falten seines Doktortalars hatte er zwei Hefte in Quart hervorgeholt und hielt sie auf seinen schwarzbekleideten Händen dem Kardinal hin.
„Was ist das?” fragte Aquaviva, ohne die Schriften zu nehmen. Er war voller Abwehr gegen den Schulfuchs und Musterlateiner, der ihm da aufgeredet werden sollte.
„Das eine Heft,” antwortete Hoyos, „enthält gedruckt ein Gedicht, mit dem mein Schüler bei dem jüngsten öffentlichen Dichterturnier den ersten Preis davon getragen hat — den ersten, Eminenz, obwohl der sonst in unserem Lande fast stets nach hohem Stand und Protektion vergeben wird. Das zweite...”
„Bleiben wir bei dem einen! Vielleicht beliebt es Euer Ehren, die Verse vorzulesen.”
„Mit Freuden,” sagte der Humanist. „Es handelt sich natürlich um eine Glosse.”
„Glosse?”
Man sah Hoyos an, daß so viel Ignoranz ihn erstaunte. „Bei unseren Wettbewerben,” erklärte er ein wenig überheblich, „wird den Kandidaten in Versform ein Thema gestellt. Dies auf der Stelle zu kommentieren, in makellosen Strophen, darum handelt es sich. Die Zeilen des Themas werden dabei wiederholt.” Und er las:
„Wär Vergangnes nicht entflohn,
Könnt ich wieder glücklich sein,
Träfen meine Wünsche ein,
Wär ich noch des Glückes Sohn.”
„Vergänglichkeit ist also das Thema?”
„Und dies die Glosse,” sprach Hoyos:
„So wie alles einst entschwindet,
So entschwand mein süßes Glück,
Da ihm nichts die Schwingen bindet,
Kehrt es nimmer mir zurück.
Ob sich auch im Staube windet
Dieses Herz vor seinem Thron,
Ach seit Jahren seufz ich schon,
Doch es senkt sich nicht hernieder.
Glücklich wär ich immer wieder,
Wär Vergangnes nicht entflohn.”
„Scheußlich,” sagte Fumagalli, ebenfalls auf Latein. Der Humanist fuhr herum, ins Herz getroffen. Ungesehen von ihm warf Aquaviva dem Freund einen sehr strengen Blick zu.
„Ich meine nur,” erläuterte der Kanonikus, „es scheinen hier gewisse Widersprüche zu bestehen. Entweder ist das Glück ein Vogel, hat Schwingen und fliegt durch die Luft, oder es ist ein Fürst und sitzt auf einem Thron. Aber Beides...”
„In gar keiner Weise, mein Herr, widerspricht das der Kunst! Die Kunst umwandelt ihren Gegenstand und läßt ihn jeden Augenblick in andersfarbigem Lichte neu aufleuchten. Das ist ein Elementargesetz,” schloß er mitleidig. „Gestatten Eminenz, daß ich fortfahre.”
„Bitte!”
„Nicht begehr ich andre Freuden,
Siege oder Ruhm und Macht,
Nicht des Reichtums Herrlichkeiten,
Weder Glanz noch eitle Pracht,
Nur Zufriedenheit sei mein,
Ach in ihres Lichtes Schein,
Der wie Morgensonne schimmert
Und in meinen Augen flimmert,
Könnt ich wieder glücklich sein.”
„Es genügt,” sagte der Kardinal. „Ich sehe schon.”
„Aber es rundet sich ja noch nicht! Zwei Strophen fehlen.”
„Sie werden auf gleicher Höhe stehen, Meister Hoyos. Was aber beweist mir, daß dieser flinke Latinist ein ebenso tüchtiger Lehrer des Spanischen sei?”
„Diese zweite Schrift hier beweist es.” Und er hielt Aquaviva das andere Büchlein so dringend hin, daß der nicht umhin konnte, es zu nehmen.
Es war auf edlerem Papier gedruckt und zeigte auf seinem Umschlag ein Titelbild: einen Schau- und Staatskatafalk, der mit Wappen, Emblemen, Figuren und Inschriften ganz übersät, von Kerzen und wehenden Fahnen umstellt war.
„Was Eminenz in Händen halten, ist der offizielle Bericht über das Leichenbegängnis der jüngst verstorbenen Königin. Er ist gestern erschienen. Die Trauerode, ausgewählt durch die berufensten Richter, hat eben den jungen Mann zum Verfasser, den ich empfehle — und dessen Verse jener Herr dort als scheußlich bezeichnet.”
„Nehmt das nicht tragisch! Vergeßt es. Was aber die Ode betrifft...”
„So ist sie spanisch, Eminenz, und Ihr könnt sie nicht lesen. Verlaßt Euch auf meine Autorität, wenn ich sage: sie ist im feinsten, blumigsten Hochkastilianisch verfaßt, voll von Vergleichen und eleganten Figuren, von der Alltagssprache so weit entfernt als nur möglich.”
„Aha!”
„Seine Abstammung disponiert meinen Zögling zu guten Formen. Er ist von Familie, adelig, Hidalgo...”
Der Rektor blickte sich um nach Fumagalli, der aber unbeteiligt zum Fenster hinaussah, und beugte sich auf seinem Sessel vor: „Er trägt den Namen und ist ein naher Verwandter...” Er flüsterte.
„In der Tat?” sagte Aquaviva. „Das ist interessant, und es freut mich.”
„So darf ich ihn rufen?”
„Ich bitte darum, Meister Hoyos.”
Der Humanist nahm Abschied, von Aquaviva durch eine Geste entlassen, die zwischen Gruß und Segen taktvoll die Mitte hielt.
„Miguel!” hörte man ihn im Vorzimmer rufen, „Seine Eminenz erwartet Dich,” und dann den Raum durch die jenseitige Pforte verlassen.
Das Bürschchen mit den lebhaften Augen trat ein. Als es sich aus tiefer Verneigung in die Höhe richtete, malte sich sehr komisch ein ungeheures Erstaunen in seiner Miene. Offenkundig hatte es einen eisgrauen Patriarchen erwartet und fand nun einen Altersgenossen. Der Mund blieb ihm offen, und die blitzenden Augen zu Seiten der Adlernase wurden ganz rund. Auch diese Adlernase selbst wirkte komisch, ganz als wäre erst sie allein fertig geworden in dem unflüggen Gesicht, und als sollte der Rest ihr erst nachrücken.
„Tretet nur näher,” sagte der Kardinal und spürte, daß ihn das Lachen in der Kehle kitzelte. „Ihr habt einen enthusiastischen Fürsprech an Euerm Rektor.”
„Meister Hoyos ist sehr gut zu mir, Eminenz. Er weiß, daß ich arm bin, und will mir helfen.”
Die Stimme war fertig, nicht tief zwar, doch klingend und von männlicher Wärme.
„Ihr seid ein Dichter, wie man mir zeigt.” Aquaviva hob das Heftchen mit dem Katafalk in die Höhe.
„Das eben macht mich ängstlich, Eminenz, ob ich zu einem Sprachlehrer auch geschickt bin. Wenn man zu sehr darauf gedrillt ist, über jeden Gegenstand in der Welt spanische und lateinische Verse zu machen, verliert man am Ende die Natürlichkeit. Dichtung und täglicher Umgang sind zweierlei.”
„Ihr meint also eigentlich, ich sollte mir meinen Lehrer nicht unter Studenten suchen?”
Er wurde rot. „Während ich draußen saß, habe ich mir in der Tat überlegt, ob der erste beste Juwelier oder Waffenschmied für Euer hohe Gnaden nicht tauglicher wäre.”
„Setzt Euch doch,” sagte der Kardinal. Das Bürschchen nahm Platz. „Ihr redet, als wünschtet Ihr garnicht, die Stelle zu bekommen.”
„Ich wünsche es mir brennend, Eminenz, es wäre ein Glück ohne Gleichen. Aber ich habe eine entsetzliche Angst, zu enttäuschen.”
„Ihr bringt ja auch Vorzüge mit. Ein Waffenschmied oder was Ihr sonst meint, spricht die Sprache des Volks. Ihr aber seid aus berühmtem Haus, seid von Adel...”
„Wieso?”
„Nun, Euer Lehrer wird sich nicht irren. Ihr seid Hidalgo.”
„Ach Gott!”
„Was heißt denn das Wort? Es klingt stolz.”
„Filius de aliquo — Sohn von jemand Rechtem, und stolz klingt es wirklich. Aber es bedeutet garnichts. Hidalgo ist jeder. Zum Beispiel jeder, der in der Residenzstadt des Königs wohnt, durch Dekret.”
„Euer Waffenschmied wäre es auch?”
„Wär es auch, Eminenz.”
Fumagalli in seiner Ecke wiegte den bärtigen Kopf. Er war gewonnen und schnitt dem Kardinal ungesehen eine wohlgefällige kleine Grimasse. Aber Aquaviva reagierte darauf nicht.
So jung er war, so hatte ihn doch sein Rang mit zu viel Eigensucht und höfischem Raffinement in Berührung gebracht. Der Junge da war ihm zu treuherzig. Das konnte Methode sein.
„Sollten wir einig werden,” sprach er ohne Lächeln, „so würdet Ihr in kurzem Euer Land verlassen müssen. Ich verhehle Euch nicht, daß Euer Platz in meinem Haushalt ein ziemlich geringer wäre. Ihr wäret nicht mehr als ein Page oder Kammerdiener. Macht Euch da keine Illusionen!”
„Ich wäre glücklich, nach Rom zu gehen, Eminenz.”
„Auch der Rang Eures Verwandten würde Euch da keine Ausnahmestellung erwirken. Ihr habt wohl keinen Begriff, was alles an Bischofsverwandten in Rom sich umhertreibt. Die Stadt ist voll davon.”
„Jetzt verstehe ich Euer hohe Gnaden nicht mehr,” sagte das Bürschchen betreten.
„Stellt Euch nicht so!” Aquaviva hatte eine Falte der Ungeduld zwischen den Brauen. „Euer Lehrer hat mir ja gesagt, daß Ihr ein Neffe des Erzbischofs seid.”
„Welches Erzbischofs?”
„Des Erzbischofs von Tarragona, Gaspar Cervantes.”
„Das müßt ich doch auch wissen, Eminenz.”
„Es stimmt also nicht?”
„Ich kenne ihn nicht, ich weiß nichts von ihm.”
Die skeptische Falte in Aquavivas Gesicht war verschwunden. Er wechselte mit dem Kanonikus einen Blick. Der verließ seinen Platz, öffnete die Türe zum Vorzimmer und rief hinaus:
„Die Stelle ist schon besetzt, meine Herren Studenten! Seine Eminenz läßt bedauern.”
Füßescharren, Gemurmel. Sie gingen und ließen eine Atmosphäre zurück, die dick war von Neid und Körperdunst. Fumagalli riß draußen die Fenster auf.
An Don Rodrigo de Cervantes Saavedra und seine Gattin Doña Leonor aus dem Geschlechte de Cortinas,
zu Alcala de Henares,
im Hause neben der Posada de la Sangre de Cristo.
Geehrte, geliebte Eltern!
Kaum drei Monate ist es her, seitdem Ihr mir beim Abschied Euern Segen mitgabt auf die Reise, mir aber ist es zu Mute, als seien inzwischen Jahre vergangen. Soviel Neues hat Euer Kind unterdessen gesehn und erfahren, wovon dieser Brief Euch nur einen ganz unzulänglichen Begriff geben kann. Täglich danke ich Gott, der es so gnädig gefügt hat, daß mir in jungen Jahren seine Welt sich schon öffnet, voll mit Wundern, von denen ich vor kurzer Zeit nicht einmal zu träumen gewagt hätte.
Ein Hauptmann der päpstlichen Schweizergarde, der nach Spanien reist, hat die Beförderung dieses Briefes übernommen. Er scheint ein guter und redlicher Mann zu sein, und so vertraue ich ihm gleichzeitig einen Wechsel über 40 Realen an, den Euch das Bankkontor in Madrid bar auszahlen wird. Da es ja nur drei Reitstunden hinüber sind, wird gewiß bald jemand von Euch das Geld abheben können. Die Summe ist nicht groß, und ich bitte, daß Ihr sie nur als einen Anfang betrachtet. Vielleicht fügt es Gott, daß ich reich werde, und Eurer Bedürftigkeit ein Ende machen kann. Täglich begegnet man hier Leuten, die weit geringerer Erziehung sind als Euer Kind, und die es doch zu großem Wohlstand gebracht haben.
Bitte suchet doch auch Ihr nach einer Gelegenheit, mir Nachrichten zu senden, und erneuert dabei Euern Segen. Gebet mir auch Kenntnis vom Ergehen meiner Schwestern Andrea und Luisa und meines sehr geliebten Bruders Rodrigo, besonders auch darüber, ob er inzwischen seinen Plan ausgeführt hat und als Soldat dem Könige dient. Ich wünschte sehr, daß es der Fall sei, denn das Sprichwort, das sie bei uns zuhause haben, scheint mir die Wahrheit auszusprechen:
Kirche, Meer oder Königshaus,
Wähle dir eines, so kommst du aus.
Wenn Ihr nun aber fragt, wohin Ihr solche Nachrichten in der gewaltigen Stadt Rom richten sollt, damit sie mich auch erreichen, so lautet die Antwort majestätisch genug, nämlich an den Vatikanischen Palast. Jawohl, es ist so, im gleichen Hause und unter einem Dach mit dem Nachfolger Petri wohnt Euer Sohn, obgleich das mit dem Dach auch wieder nicht so wörtlich zu nehmen ist. Denn der Vatikan hat viele Dächer und wohl mehr als tausend Zimmer. Er ist für sich eine Stadt und keine gar kleine, in langen Zeiträumen entstanden und ohne große Regel durcheinandergebaut, so daß es auch jemand, der länger darin wohnt, schwer fallen kann sich zurechtzufinden. Von den tausend Gemächern aber bewohne gewiß ich eines von den allergeringsten, es befindet sich ganz oben in einem Turm, den einst der Papst Paschalis aufgeführt haben soll, und darin es mehr Ratten gibt als Bequemlichkeit. Immer ist die Rede davon, ihn abzureißen und etwas Schöneres an die Stelle zu setzen, aber immer wieder kommen schlechte Zeiten, dann ist zu wenig Geld vorhanden, und alles bleibt liegen. So ist es sogar mit der Kirche Sankt Peter, an der seit dem Tode des Meisters Buonaroti vor jetzt fünf Jahren nur noch nachlässig weitergebaut wird. Von der großen Kuppel, die sich über dem Hauptaltar erheben soll, ist noch nichts zu sehen als ein mächtiges Gerüst, darin aber selten Arbeiter erscheinen, und dessen Latten morsch werden und manchmal herunterfallen.
Was Ihr nun sicherlich zuerst wissen wollt, wird sein, ob ich den Papst in Person erblickt habe, so daß ich eine Beschreibung von ihm abgeben kann. Dies ist bis jetzt zweimal der Fall gewesen. Das erste Mal wurde er mir aus einem Fenster gezeigt, wie er in einem der inneren Gärten mit zwei Ordensgeistlichen sich erging. Von Prunk und Reichtum der Kleidung war nichts an ihm zu bemerken. Er trug einen weißen Mantel, der nicht einmal ganz sauber war, wandelte barhaupt und stützte sich auf einen Stock. Er ist ein Greis von vielleicht 65 Jahren, völlig kahl, mit langem schneeweißem Bart, augenscheinlich sehr mager und von furchteinflößendem Ausdruck. Man sieht gleich, daß mit ihm nicht zu spaßen ist, und daß die Verteidigung unseres heiligen Glaubens bei ihm in guten Händen ruht. Bei keiner Sitzung der Inquisition soll er fehlen, die Gefängnisse werden zu klein für die vielen Ketzer, und im vergangenen Jahr allein sind sechs durch das Feuer und zwei mit dem Strang hingerichtet worden. Das zweite Mal sah ich den Papst, da er in Sankt Peter die heilige Messe las. Er las sie nicht vor dem Hauptaltar, dies geschieht nur viermal im Jahre, aber sieben große goldene Leuchter brannten, und die Wände waren mit Purpur behangen. Der Papst teilte selbst die Kommunion aus, und seine Haltung dabei stach sehr ab von jener der meisten anwesenden Prälaten, die recht ungeniert herumsaßen, bedeckten Hauptes, und konversierten als wären sie sonstwo. Da ich frühzeitig gekommen war, konnte ich jede Einzelheit deutlich beobachten. Die Geräte sind ganz die gewöhnlichen, nur am Kelch fiel mir eine unbekannte Vorrichtung auf, die aus drei goldenen Röhrchen besteht. Man erzählte mir später geheimnisvoll, sie solle den Papst vor Gift schützen. Übrigens spendete er selbst nur an wenige bevorzugte Personen, mit und nach ihm übernahmen dies Amt die Kardinäle Saraceni, Serbelloni, Madruzzo und mein sehr geliebter Herr, Kardinal Aquaviva.
Dies war eines der seltenen Male, daß mein Herr seine Zimmer verlassen konnte. Mit seiner Gesundheit steht es garnicht gut, sie hat den Strapazen der Seefahrt und des Madrider Winterklimas nicht standgehalten. Viele geben ihm nur noch Monate, höchstens einige Jahre, und er selber spricht mit größter Unbefangenheit von seinem sicheren frühen Tode. Er ist von einer unbeschreiblichen Milde und freundlichen Heiterkeit, und wenn es wirklich dahin kommt, so wird er gewiß, ohne viel Aufenthalt unterwegs, zur Herrlichkeit eingehen. Mit andauerndem Fleiß erledigt er von seinem Sessel aus die Geschäfte seiner Ämter, zu denen vor kurzem noch ein besonders ehrenvolles gekommen ist: das große Bleisiegel ist ihm anvertraut, und kein Breve geht aus dem Palaste hinaus, er hätte es denn mit seiner Hand bekräftigt. Zu seinen spanischen Studien, um derentwillen er mich doch mitgenommen hat, findet er hingegen nicht so viel Zeit, als mir lieb wäre, so daß ich oft mehrere Tage hindurch ganz frei bin und hingehen kann, wohin mir beliebt. Dann komme ich mir unnütz vor, so recht wie einer aus dem ungeheuern Heer der Nichtstuer und Lungerer, die den Vatikan und die Kardinalshaushalte bevölkern, und von denen jeder geheimnisvoll tut, als sei er unentbehrlich.
Ich selber sehe deutlich, wie wenig der Kardinal mich hier in Rom nötig gehabt hat. Denn hätte er hier nach einem spanischen Sprachlehrer gesucht, so konnte er fünfzig haben für einen. Die Stadt ist voll von Spaniern, spanische Priester, spanische Mönche und Reisende sind in erstaunlicher Zahl vorhanden, unsere Tracht ist sehr gewöhnlich und kommt auch unter den Römern selbst immer mehr in Aufnahme, und sogar viele Bettler betteln auf Spanisch.
Ihr könnt Euch denken, daß ich meine viele freie Zeit dazu verwende, um die Stadt recht fleißig zu betrachten. Rom ist freilich groß, aber man sieht, daß es einst noch gewaltig viel größer gewesen sein muß, denn innerhalb der tausendjährigen Stadtmauer, die noch steht, ist viel Raum, der unbebaut oder von Trümmern bedeckt ist. Prächtige Paläste wechseln ab mit elenden Hütten, in denen die Armen wohnen. In die cäsarischen Theater und Tempel sind sonderbar die Wachttürme der christlichen Ritterschaft hineingebaut, so daß alle Zeiten durcheinandergehen. Auf Schritt und Tritt sieht man, wie blutig zu allen Zeiten hier gekämpft worden ist. In manchen älteren Häusern sind aus Gründen der Verteidigung gar keine Treppen, und man läßt sich aus den Fenstern an Seilen herunter. Auch heute ist die Sicherheit noch nicht groß. Das Stadtgebiet zu verlassen gilt als ein Abenteuer, und wenn Pilger die vorgeschriebene Wanderung durch die sieben äußeren Basiliken antreten, lassen sie sich durch Bewaffnete begleiten.
Die Kirche ist alles in Rom, und ehrlicherweise muß man zugeben, daß sonst kein Mensch hier etwas zu tun hat. Selbst in Madrid, das doch so viel kleiner und unscheinbarer ist, sieht man mehr Handelsverkehr und geschäftliches Treiben. Das fehlt hier ganz, so daß man sich verwundert fragt, wie eigentlich alle diese Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen. Das Straßenbild ist Sonntags und Werktags ganz gleich, und die Hauptbeschäftigung der Römer scheint planloses Umherspazieren zu sein. Unglaublich für mich ist die Anzahl der Kutschen, in denen Personen von Stand langsam herumfahren. Manche von diesen Wagen haben oben kreisrunde Öffnungen, damit man besser hinaussehen und an den Fenstern die schönen Damen beobachten kann. Dazwischen aber ist alles wieder ganz ländlich, zwischen der Engelsburg und dem Vatikan weidet das Vieh, und noch nicht drei Tage ist es her, da sah ich mitten auf dem Platz vor Sankt Peter eine schwarze Sau mit fünf munteren Ferkelchen niederkommen.
In Rom spricht jeder davon, wie sehr sich das Leben hier verändert habe, und wie viel vergnügter und prächtiger es einst hier gewesen sei. Seitdem in Trient die versammelten Väter ihre strengen Beschlüsse gefaßt haben, und besonders unter dem jetzigen Papst, ist alles frömmer und einfacher geworden. Selbst die Karnevalslustbarkeiten, die sich sonst über Wochen erstreckten, hat man auf wenige Tage eingeschränkt. Was ich davon sah, habe ich kindisch gefunden. Hauptsächlich wurden Wettrennen veranstaltet, und zwar sehr seltsamen Charakters. Die Bewerber liefen völlig nackt einher, angefeuert von der Menge. Einmal war es ein Wettlauf von Kindern, dann einer von ganz alten Männern und schließlich einer von langbärtigen Juden, der Anlaß zu viel Gelächter gab.
Es ist aber wohl zu verstehen, daß der Heilige Vater in ernsten Zeiten Ausgelassenheit und lärmendes Vergnügen nicht gerne sieht. Zu groß sind seine Sorgen um die Sache unseres Glaubens. Wie man hört, bereitet sich der Sultan wieder zum Angriff vor, und sein nächstes Ziel ist die Insel Zypern, die den Venezianern gehört und in jenem Teil des Meeres das letzte Bollwerk der Christenheit ist. Von entsetzlichen Greueln ist die Rede, die die Ungläubigen an christlichen Gefangenen verüben, die in ihre Hand fallen. Die große Hoffnung des Heiligen Vaters ist eine Allianz gegen den Sultan, an der alle katholischen Könige und sogar Rußland Teil haben sollen. Die Verhandlungen scheinen zu stocken. Aber Krieg liegt in der Luft, und mit jeder Woche erblickt man in den römischen Straßen mehr Männer von kühnem, militärischem Aussehen, die hier zusammenströmen. Kommt es soweit, so mag ja wohl auch unser Rodrigo an diesen verdienstlichen Kämpfen teilnehmen, und manchmal ist mir, als müßte ich ihn um das Teil beneiden, das er erwählt hat.
Diesen Brief habe ich nicht ohne Hast in der Nacht geschrieben, denn mit dem Frühesten verläßt der schweizerische Hauptmann schon die Stadt. Verzeiht also, wenn ich Wichtiges und Zufälliges ohne viel Wahl zusammengefügt habe. Von ganzem Herzen wünsche ich Euch Gesundheit und Sorglosigkeit und bitte Gott innig, daß er Euch in seinen gnädigen Schutz nehmen möge.
In Dankbarkeit und kindlicher Liebe küsse ich Eure Hände.
Euer Sohn
Miguel de Cervantes Saavedra.
Rom, am dritten Tag nach Lätare 1569.
Wenn Jemand von Euch nach Madrid geht, um den Wechsel zu beheben, tut mir die Liebe, an der Calle de Francos bei dem Buchhändler Pablo de Leon vorzusprechen und Euch nach dem Verkauf meines Schäfergedichts „Filena” zu erkundigen, dessen Vertrieb er übernommen hat. Ihr wißt, daß mehrere Kenner es gelobt haben.
Miguel.
Er ging in seinem heimatlichen Schwarz einher, und der Schnitt seiner Kleidung hatte sich leicht ins Geistliche verändert. „Söhnchen,” hatte Fumagalli zu ihm gesagt, „bald läßt Du Dir ja doch die Tonsur scheren und kriegst eine kleine Pfründe. Wozu wohnst Du sonst hier im Haus!” Und gutmütig gab er ihm Ratschläge. Dabei konnte er selbst nicht so recht als ein Muster für geistliches Aussehen gelten. Mit dröhnendem Schritt kam er daher auf knarrenden Sandalen, und sein Priestergewand fiel wie ein Kriegsmantel.
Kirchenglaube und fromme Übung war für den jungen Miguel so selbstverständlich wie das Atmen. Auf seinen Quergängen durch die Stadt trat er häufig in eine der Kirchen ein und hielt seine Andacht. Es war kein Mangel an ihnen; jeden Alters, jeder Größe und Schönheit, erhoben sie sich an allen Ecken. Aber er hatte bald das Gotteshaus gefunden, nach dem es ihn zog.
Es war Santa Maria ad Martyres, vom Volke Santa Maria Rotonda genannt, seit Urzeiten aber noch anders... Der Platz, an dem sie lag, war nicht sehr groß und nicht besonders schön, armselige kleine Häuser standen regellos umher, auf der linken Seite waren sie unmittelbar an die Kirche herangebaut. Anderthalb Jahrtausende hatten das Niveau des Platzes erhöht, so daß man auf einer schlechten Treppe zum Eingang hinuntersteigen mußte. Aber schon unter dem Portikus mit seinen mächtigen, granitenen Säulen ward ihm seltsam wohl, und mit einem immer erneuten hohen Schauer trat er ins ungeheure Innere. Jedesmal stand er hochatmend lang inmitten des Riesenrunds, ehe er sich zu einem der Nischenaltäre zu christlicher Andacht wandte.
„Sieh einmal an, das Pantheon!” sagte Fumagalli und betrachtete ihn aus zugekniffenen Augen. „Genau das hast Du Dir ausgesucht, Söhnchen?”
Sie saßen bei einander im Zimmer des Kanonikus, einem großen Raum, geschmückt mit vier Gobelins, die Hannibals Alpenübergang darstellten. Man sah auf einen der Brunnenhöfe des Vatikans hinunter.
„Ich weiß nicht, wie mir da wird, hochwürdiger Vater! Sonst in einem Gotteshaus fühlt man auch Andacht und innige Frömmigkeit, aber man muß dieses Gute erst rufen, muß sich versenken, und Priesterwort und Musik tun das Ihre. Aber hier! Ohne Wort und Gesang reißt der Raum ganz allein zur Anbetung hin. Nirgends wird mir so gut und himmlisch heiter und frei zu Mute wie hier. Es ist, als müsse man gleich zum Himmel fahren, hinauf in das Licht, das durch die weite herrliche strahlende Öffnung oben hereinbricht. Und der gewaltige Rundraum, der einen umfängt, so makellos vollkommen, so stark, er ist wie ewiges Gesetz. Gesetz und Freiheit, beide sind da. Mir ist, als könnt ich an keinem Orte der Welt mehr Ähnliches empfinden.”
„Schau schau, kleiner Miguel, das Pantheon! Wie ich aber höre, ist Gott in der ärmsten und engsten Dorfkirche ebenso gegenwärtig als in Deinem rundem Dom mit den Säulen und dem olympischen Auge.”
„Gewiß,” sagte Miguel.
„Gewiß! Mehr hat er nicht zu antworten. Aber sag einmal, hat man darum 28 Wagen voll Märtyrerknochen in diesen Heidentempel hineingefahren, damit Dir jetzt so sonderbar wohl wird! Freiheit und Gesetz und der blaue Äther und hinauf in das Licht — kommst Du Dir nicht selber ein bißchen verdächtig vor? Die 28 Fuhren haben, scheint’s, nicht genügt als Gegenkraft gegen die alten Bewohner.”
Er lachte, stand auf und schritt auf krachenden Kriegersandalen im Raum auf und ab, zwischen seinen Hannibalsteppichen. Miguel folgte ihm betreten mit dem Blick.
Von seiner Vorliebe abzulassen, fand er aber doch keinen Grund. Schließlich war Santa Maria ad Martyres ein hochgeweihter Ort, und von jener Überführung heiliger Reste schrieb sich sogar das Allerheiligenfest her. Es war ernsthaft nichts einzuwenden, und der Kanonikus zog ihn nur auf. Aber er kürzte jetzt das Verweilen unter dem Himmelsauge ein wenig ab und beugte früher das Knie vor seinem Altar.
Es waren keine Betstühle da. Man kniete auf dem uralten Fußboden aus Porphyr und Marmor.
Als er sich einmal erhob, um zu gehen, wandte eine Frau, deren Anwesenheit er keineswegs wahrgenommen, den Kopf nach ihm um. Ein etwas breites, helles, sinnliches Gesicht schaute zu ihm auf, mit einem zugleich trotzigen und einladenden Ausdruck. Er ging ziemlich hastig. Aber genau nach der Uhr war er am nächsten Tag wieder zur Stelle. Sie kniete am gleichen Fleck.
Daheim in Spanien hatte er keine Frauen gekannt, ja er hatte eigentlich keine gesehen. Spanische Damen zeigten sich nicht. Erblickte man eine von fern, so erschien sie wie verpackt in hochgeschlossener, wattierter, drahtstarrender Tracht, das Haar stets bedeckt, die Ohren in die steife Krause versenkt.
Hier in dieser geistlichen Hauptstadt voller Junggesellen war alles anders. Mochte der asketische Papst predigen lassen und Kleider- und Sittengesetze verkünden, noch war viel übrig von einstiger Lebensheiterkeit. Mochte Spanisch Mode sein, die römischen Frauen wandelten die Madrider Tracht ins weiblich Lose und Lockere. Farbige, schmiegsame Seide modellierte den Wuchs, die Krause umstand als offener Spitzenfächer reizvoll das Haupt mit dem freigetragenen, natürlich frisierten Haar, das nicht blond genug sein konnte. Man zeigte den Hals, freigebig auch den Ansatz der Brüste.
Er war entschlossen, seiner Schönen zu folgen. Am Ausgang der Kirche, unter den Säulen, verließ ihn der Mut. Sie verschwand im Gassengewirr gegen den Fluß hin.
Am dritten Tag war er lang vor der Zeit zur Stelle. Seine Andacht war ohne Versenkung. Er stand auf und schritt in dem Tempel auf und ab, unfähig stillzuhalten. Die wenigen Beter wandten gestört die Augen nach ihm. Sie kam nicht. Sie kam auch die folgenden Tage nicht. Sie kam nie mehr. Der Widerhaken saß ihm im Fleisch. Das stumpfnäsige, breite, verlockend helle Gesicht schien ihm idealisch schön und schöner mit jeder Nacht.
Es war Herbst, als er wieder einmal zu jenem Bankier sich aufmachte, der ihm seinerzeit den Wechsel auf Spanien ausgestellt hatte. Dies geschah nun zum vierten Mal. Sein kranker Herr, den er kaum mehr unterrichtete, hatte ihm unter Vorwänden wiederholt die Bezüge erhöht, und freudigen Herzens trug er diesmal volle zehn Taler zu dem Wechsler. Das war schon eine stattliche Summe. Die Eltern daheim würden achtzig Realen ausgezahlt bekommen, ein Betrag, der im ländlichen Alcala den Lebensunterhalt einer bescheidenen Familie Wochen lang bestreiten konnte.
Beschwingt überschritt er die Engelsbrücke und bog dann nach wenigen Schritten links ab in die Via di Tor Sanguigna. Hier wohnte sein Mann, der Bankier aus Siena, in einem hübschen alten Hause, drei Fenster nur breit, das unten am Eingang zwei Säulchen aufwies und im zweiten, dem obersten Stockwerk eine heitere Loggia. Das Kontor lag im Hof, Miguel hatte einen dunklen Hausflur zu durchschreiten, um hinzugelangen. Postsäcke und Ballen lagen umher, die dem Sienesen gehörten, der nicht Geldhandel nur, auch Warenverkehr betrieb. Miguel erledigte drinnen frohen Herzens sein treues Geschäft, faltete die Quittung zusammen und ging.
Der Hof lag leer und still. Von ungefähr blickte er an der Hinterfront des Hauses empor. Er erstarrte. Dort oben im zweiten Stockwerk sah er sie. In einem lichtgrünen Hausgewand stand sie an einem der offenen Hoffenster. Es mochte die Wohnung des Sienesen sein, und sie seine Frau. Er konnte die Augen nicht abwenden, die sich vor Erregung und Intensität des Schauens mit Tränen füllten. Nun erschien sie ihm schwimmend in unsicher lockendem Kontur. Im Hausgang mußte er sich an die Mauer lehnen. Dann riß er sich zusammen, schüttelte kritisch den Kopf über sich und stand wieder draußen auf der Straße.
Sie war von neuem da. Sie war in ihrer Wohnung nach vorne gekommen. In der Mitte ihrer Loggia stand sie, ein wenig vorgebeugt, die Hände seitlich hingestützt auf den Steinsims, so daß die weiten, grünseidenen Ärmel vorfielen, und blickte unverkennbar zu ihm herunter. Ihr helles, leuchtendes Gesicht lächelte.
Ehe er zu denken vermochte, fühlte er sich am Arme berührt. Neben ihm stand eine Frau von mittlerem Alter, nach Dienerinnenart gekleidet, und mit geraden Worten, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, trug sie ihm an, ihr zu folgen. Ihre Dame erwarte ihn.
Er stolperte auf der dunklen Treppe, die Frau mußte ihn festhalten. Dann war sie verschwunden, und in einem kleinen Vorraum, der kein Fenster hatte und worin zwei Lämpchen brannten, stand er der Beterin aus dem Pantheon gegenüber.
„Ich habe Euch öfters bemerkt,” sagte sie lächelnd, mit einem Akzent, der nicht römisch war und den er gleich überwältigend fand, „da war es Zeit, endlich Bekanntschaft zu schließen.” Und sie lud ihn durch eine Geste ein, weiterzukommen, in das größere Zimmer, das durch einen aufgeschlagenen Vorhang sichtbar war.
Hier herrschte volles Tageslicht. Zwei Sessel standen da, ein Schminktisch, und inmitten des Raumes, breit und prächtig, mit einer weißseidenen, goldgestickten Decke darüber, das Bett.
Der junge Miguel war noch in keiner römischen Wohnung gewesen, er hatte auch mit keiner Frau dieser Stadt ein Wort gewechselt, außer mit ein paar Mägden und Krämerinnen. Sein Leben vollzog sich in der Männeratmosphäre des Vatikans. Ihm fehlte jede Möglichkeit, zu vergleichen und zu urteilen.
Die Frau spürte das Ungewöhnliche. Sie wurde befangen.
„Ihr seid ein Priester,” sagte sie fragend, als sie in den zwei Sesseln einander gegenübersaßen, und wies unbestimmt an seiner Kleidung hinunter.
Miguel gab sogleich Auskunft, eifrig, als säße er in einer Prüfung. Aber dann ermutigte er sich am Klang seiner eigenen Stimme. Er sprach sehr gut, das Wort stand ihm flüssig zu Dienst, wenn ein Impuls ihn erfüllte. Kaum habe er gewagt, ihrer Güte zu folgen, er sei sich des Abstandes wohl bewußt, aber zu deutlich sei doch der Fingerzeig, daß er sie, die er als Einzige wahrgenommen, bewundert, verloren, gesucht, nun in dem einzigen Hause in Rom wiederfinde, in das ein Geschäft ihn führte.
Und nun war er im Fluß. Er malte die Begegnung in Santa Maria Rotonda, auf den tausendjährigen Fliesen unter dem Himmelsauge, seine Unfähigkeit, sich im Gebet zu sammeln, nachdem er sie einmal erschaut, den Augenblick, da sie im Gassengewirr gegen den Fluß hin entschwand, seine Verzweiflung, als sie nicht wiederkehrte. Und nun, und nun — unfaßbar die Fügung, unendlich das Glück!
Er redete in einem Taumel. Von ihrer leichtbekleideten, weichen Gestalt ging ein Duft aus, der ihn anders berauschte als gewohnter Weihrauch, ein Hauch von jungem, blühendem Fleisch, dem eine Spur eines scharfen Parfüms beigemischt war.
Plötzlich, mit brüsker Bewegung, stand sie auf und erklärte, nun müsse er gehen. „Um nicht wiederzukommen?” fragte er, fast ohne Laut.
Sie bedachte sich und sah ihn prüfend an. Und dann, ganz unerklärlich, zog ein Lachen ihre hellen, geschlitzten Augen noch mehr zusammen, der verlockende Mund wurde breit, die weiße Kehle spannte sich, sie nahm ihn mit einem festen Griff bei beiden Händen.
Oh ja, wiederkommen dürfe er, aber nur zur bestimmten Stunde, Vormittags, immer nur Vormittags, und ja nur an einem Dienstag, zu jeder anderen Zeit sei es bedenklich. Und während sie ihn zum Ausgang leitete, fügte sie einige vage Sätze hinzu, deren Inhalt er erst daheim, in seinem Vatikans-Turm, sich zurechtlegte und klar zu machen versuchte. Aus ihnen schien hervorzugehen, daß sie als Witwe eines Kaufherrn allein und in Zurückgezogenheit lebte, gewärtig einer neuen vorteilhaften Verbindung, die angebahnt war, und die unter keinen Umständen gefährdet werden durfte.
Als er am Dienstag kam, mit dem Glockenschlag, war die Blonde ersichtlich in schlechter Laune. Vielleicht war sie unausgeschlafen. Sie bemühte sich kaum, die ärgerliche Reue zu verbergen, die sie über ihr zweckloses Abenteuer empfand, und schnitt dem jungen Miguel bösartige, kleine Frätzchen, während er sie respektvoll zu unterhalten suchte. Und dann, ohne jeden Übergang, beendete sie die Konversation, indem sie aufstand, sich aufs Lager warf und ihn unwirsch und ungeduldig heranwinkte zum Liebesdienst. Die teure Seidendecke lag übrigens nicht auf dem Bett, sorgsam gefaltet hing sie über einem Schemel.
Der junge Miguel war unerfahren. Geringschätzig, ein schales Lächeln in den hängenden Mundwinkeln, ertrug sie seine Liebkosung. Er sah überhaupt nichts mehr in seiner Betäubung, gewiß hätte ihn sonst ihr Ausdruck ernüchtert. Aber dann verging ihr das Lachen.
Er war ein Neuling. Aber er war geboren zur Leidenschaft. Ein untrüglicher Instinkt wies ihm den Weg zur gemeinsamen Lust. In einem bestimmten Augenblick stemmte sie ihre Hände gegen seine Schultern, sah ihm groß in die Augen, als erblickte sie ihn zum ersten Mal. Sie murmelte: „Komm, komm! Du bringst Dich ja um und mich auch!”
Als er dann neben ihr ruhte, in ihrem Arm, ließ sie nicht ab, ihn zu betrachten. „Du bist ja ein erstaunlicher kleiner Sprachlehrer,” sagte sie achtungsvoll.
Das Gesicht ihr zur Seite war mit einem Mal schön geworden. Das war kein Knabe mehr, kein dürftiges Halbpriesterlein, sondern ein Mann mit festem Mund und lebensvoll blitzenden Augen. Die Flügel der Adlernase bewegten sich langsam und stark. Das volle Haar von Kastanienfarbe lag wirr und weich auf der Stirn.
Dies war der Anfang. Miguel lebte nur noch von einer Umschlingung zur andern. Eine durchdringende Seligkeit füllte ihm Herz und Nerven. Er strömte über vor Freundlichkeit. Er hätte vor den Bauernkarren die Eselein umarmen mögen. Auf endlosen Märschen durch Rom suchte er seine Kraft zu beruhigen; unbekümmert um das Raubgesindel, das dort auf der Lauer lag, streifte er durch das melancholisch zaubervolle und öde Umland. Wer ihm die Hand reichte, spürte im Druck ein elektrisches Feuer.
„Was ist in Dich gefahren, Söhnchen,” sagte Fumagalli. „Ein künftiger Priester muß sacht einhergehen. Du springst ja die heiligen Treppen herunter, als wärst Du im Tanzsaal!”
Er war schlechter Laune. Er schimpfte. Das Neueste, was der Heilige Vater plante, war ein Verbot der Barttracht für Kleriker. Fumagalli trug seinen Bauernvollbart, es war der einzige, den es noch gab im Domkapitel von Sankt Peter. Er werde sich keineswegs fügen, erklärte er jedem, der zuhören wollte, eher spränge er noch aus dem Priesterrock. Mit sechzig noch ein anderes Gesicht, oh nein! So viel er sähe, trage der Papst ja selber den Bart. Das könnte ihm fehlen!
Miguel beruhigte ihn liebreich, er hatte einen gewaltigen Schatz an Güte und Herzlichkeit zu verschwenden. Es werde dahin nicht kommen, sagte er überzeugend. Das mit dem Verbot sei ein Schreckschuß, er wisse es aus verläßlicher Quelle. In vier Wochen werde kein Mensch davon reden.
„Brav bist Du, Söhnchen!” murmelte der Kanonikus. „Du kannst einen trösten. Aber ist’s denn nicht eine bizarre Schande, was man sich da gefallen lassen muß! Man hätte was Anderes werden sollen auf dieser lebendigen Erde.” Er sagte nicht, was.
Die Gina war eine Venezianerin — mehr als dies und den Namen erfuhr der junge Miguel kaum von ihr, selbst nach Wochen nicht. Sie redete wenig, diese Stunde am Vormittag war eine einzige Glut. Ohne viel Widerstand zu finden, hatte er’s erreicht, daß sie ihm zweimal die Woche zu kommen erlaubte, nun auch am Freitag. Mehrmals traf er sie ganz verschlafen, im unaufgeräumten Zimmer, und zur Liebe nicht aufgelegt. Er schalt die Langschläferin, die Faule, sie blinzelte ihn seltsam und tückisch an. Aber seiner Flamme war nicht zu widerstehen. Er riß sie hin, nicht minder lechzend als er lag sie an seiner Brust. Es kam vor, daß er Fragen stellte, mit kaum verborgener Angst, denn es war ja doch möglich, daß jene Heirat plötzlich in die Nähe trat, die alles zerstören mußte. Daran war schlimm zu denken, schlimm auch an das Unrecht, das er jenem arglosen Bewerber in Sünden antat. Er wagte keineswegs, im Beichtstuhl sich zu erleichtern, so unmöglich schien ihm das Gelöbnis, hinfort von dieser Sünde zu lassen. Aber Gott war barmherzig, er würde ihn nicht verwerfen um einer Glut willen, deren Lodern nicht zu beherrschen war.
Antwort bekam er niemals. Die Gina zog ihn an ihre weiße Brust und erstickte die Fragen. Und war es nicht gut so? Denn wäre auf ihre Beziehung, die so wild im Unwirklichen schwebte, das Licht des realen Daseins gefallen, was hätte er selber nur sagen sollen! Was ihr ankündigen, mit welcher Verheißung von der eigenen Zukunft sprechen? Maß- und gestaltlose Hoffnung erfüllte ihn freilich, er träumte in seinem Turm von Ehren und Ruhm, die sie teilen sollte — als Dichter, als Kriegsmann, als Entdecker sogar, nur natürlich niemals als Priester. Sicher war, daß er niemals auf sie verzichten konnte, auf den Leib und den Duft, auf die Stimme, das Lachen. Er hatte nicht gelebt, eh’ er sie kannte.
Vielleicht aber wartete sie? Harrte nur auf ein Wort, um jede Fessel zu brechen? Vielleicht sammelte sich Groll an in ihrem Herzen, weil er schwieg? Sie war ja verschlossen, von gefährlicher Stummheit. Vielleicht verdarb er alles, weil er nicht sprach?
Aber als er sich entschloß und den Mund auftat und von Zukunft redete und gemeinsamem Leben, als gar das Wort Ehe fiel, war die Wirkung höchst schrecklich. Die Gina brach in ein Lachen aus, in eines, wie er’s noch nicht von ihr vernommen. Ein Lachen ohne Heiterkeit, rauh und gläsern von Klang, höhnisch und bösartig und nicht zu stillen.
„Heiraten willst Du mich, Priesterlein!” brachte sie endlich hervor, mit zersprungener Stimme. „Willst Du in Deinem Turm mit mir leben, von Wasser und Rattenfleisch? So etwas Dummes hat doch kein Mensch noch gehört!” Und das Gespräch endete, wie alle endeten, in Feuer und lechzenden Küssen.
Nein, er wußte nicht das Geringste von ihr. Sie wurde gesprächig nur bei einem Gegenstand. Das war Venedig, die Heimatstadt. Sie war doch wahrhaftig fromm genug und gab Gott das Seine, Miguel wußte es ja. Aber sie haßte Rom, seine Feierlichkeit, sein steifes Wesen, die Unzahl der Priester und schmutzigen Mönche, die Büßer, die sich in Prozessionen singend den Rücken zerfleischten, die kalten Straßen ohne Geschäft, das ewige Glockengebimmel, das Trümmerwerk, das herumlag. Und sie malte Venedig, die Heimat. Die volkreiche, wimmelnde Weltstadt im lebendigen Wassergeflecht, die schimmernde Piazza, auf der sich’s abends köstlich promenierte, die Gassen und Plätze im zärtlichen Licht. Den Zusammenstrom vornehmer Reisender aus allen Ländern, im bunten Schmuck eleganter Trachten — lauter Leute, die nicht herkamen, um anzubeten und abzubüßen, sondern um sich zu unterhalten, um fröhlich zu sein unter Frohen, um Geld auszugeben für gute Dinge. Sie wurde beredt, wenn sie das Gewimmel um den Rialto malte, die Unzahl geschmückter Gondeln, darin wohlgekleidete Frauen sich stolz in die Kissen zurücklehnten. „Jeder arme Gondolier ist dort schön,” rief sie aus, „und für die scharlachroten Hosen, die er trägt, gebe ich gern alle römischen Kardinalsröcke!” Und der Karneval erst — ein Fest die ganze herrliche Stadt viele Wochen lang, alles maskiert Tag und Nacht, alles lachend und wirbelnd hinterm Vergnügen her, Piazza San Marco ein ewiger Ballsaal, jedes Höfchen eine verschwiegene Loge. Heiterkeit alles, Sorglosigkeit, freundliche Duldung. Kein eifernder Bettelmönch als Herrscher, sondern eine Regierung, die mit Wohlwollen die Freude gewähren ließ, sich niemals einmischte, die mildeste Polizei...”
„Was willst Du nur immer mit der Polizei,” sagte er dazwischen, denn nicht zum ersten Mal tauchte das Wort bei ihr auf, „was geht denn Dich die Polizei an! Tut Dir die römische was?” Und er lachte.
Sie sah ihn sonderbar an, und blieb stumm und verdrossen.
Dies war an einem Dienstag. Als er am Freitag wiederkam, in der Hand ein Päckchen mit einem Seidentuch, das er ihr bringen wollte, öffnete niemand. Er pochte, mit der Hand erst, dann heftig mit dem bronzenen Klopfer. Alles blieb still. Während er wieder im Hausflur stand, mit böser Ahnung, unfähig noch, sich fortzumachen, kam im Halbdunkel ihre Magd vorbei. Er hatte sie nicht wiedergesehen seit jenem Tag, da sie ihn von der Straße geholt hatte. Er hielt sie auf. Wo ihre Herrin sei.
„Fort,” sagte sie giftig, „Ihr sehts ja.”
„Wo?” brachte er hervor. „Bei ihrem Verlobten? Heiratet sie?”
Sie betrachtete ihn von oben bis unten wie ein exotisches Tier. „Wahrscheinlich! Die heiratet. Einen Prinzen heiratet die.”
„Redet nicht albern! Gebt Auskunft.” Er holte Geld aus der Tasche hervor. „Wo wohnt sie? Kann ich sie sehen?”
„Oh ja, die könnt Ihr sehen, und ganz bequem. Wißt Ihr den Portugieserbogen?”
Er schüttelte den Kopf.
„Dann fragt, wo er ist! Da trefft Ihr sie sicher.”
„Und wann?”
„Abends natürlich. Recht spät!” Und sie ging davon, der Treppe zu.
„In welchem Haus denn?” rief er ihr nach.
„Ihr werdet ja sehen.”
Der Nachmittag verging nicht. Und sein Unstern wollte, daß er gerade heute für den Abend zum Unterricht befohlen wurde. Das geschah jetzt ganz selten. Eher einmal bediente sich Aquaviva seiner als Sekretär, ließ ihn aushilfsweise Schriftstücke kopieren und ordnen. Der spanische Unterricht, wenn er je einmal angesetzt wurde, bestand in gemeinsamer Lektüre. So nahm er auch heute dem Lehnsessel seines Herrn gegenüber Platz, und sie begannen aus zwei gedruckten Exemplaren ein Stück des Spaniers Lope de Rueda zu lesen. Es war die hochberühmte „Armelina”, ein Schauspiel, das der junge Miguel immer für ein Meisterwerk gehalten und das ihm sogar den heimlichen Ehrgeiz eingegeben hatte, es auch seinerseits einmal mit dem Theater zu versuchen.
Aber heute erschien ihm alles grob und gemacht. Was waren alle die Wundermedizinen und Liebestränke, von denen da die Rede war, gegen den Höllensaft, der ihm in den Adern brannte! So leer konnte nur einer reden, der nie dergleichen verspürt hatte. Seine Gedanken schweiften ab, er brachte es nicht mehr fertig, Aussprache und Betonung des Kardinals zu verbessern, die beide zu wünschen übrig ließen.
„Ihr seid nicht ganz bei der Sache, Don Miguel,” sagte Aquaviva freundlich und schloß sein Buch. „Ihr seht auch schlecht aus. Fehlt Euch etwas?”
Miguel entschuldigte sich. Das Einfallen der kalten Jahreszeit setze alljährlich zu. Das verging.
„Dabei ist es milder in Rom als in Euerm Madrid. Aber vielleicht wohnt Ihr nicht gut. Kann man Euer Turmgemach denn recht heizen?”
Das sei alles zum Besten, erwiderte Miguel, gerührt von der Fürsorge des kranken Herrn. Endlich entließ ihn der Kardinal.
Es war in der zehnten Stunde. Neues Mißgeschick. Die Tore rings am Palast waren verschlossen und streng bewacht. Seit kurzem benötigte jeder, der bei Nacht die Papstburg verließ, einen schriftlichen Ausweis. An zwei Stellen versuchte Miguel zu parlamentieren, aber die wachehabenden Schweizer wollten ihn nicht verstehen und wiesen ihn ab, in kehligem Alemannisch. Er irrte zurück, über Treppen und Gänge, durch Gärten, Galerien, Höfe und Vorhöfe, und fand endlich weit abgelegen die kleine Porta Posterula unbehütet und unverschlossen. Sie führte in lehmiges Ödland.
Im Bogen umlief er den mächtigen Komplex, fand Zäune und Gräben auf seinem Weg, und gelangte durch die schweigenden Gassen des Borgo zur Engelsbrücke. Drüben lief er weiter am Fluß entlang, die ungepflasterte Uferstraße war ganz ohne Licht, kein Mond schien in der feuchten Dezembernacht, die nicht kalt war. Er passierte den Tiberhafen, ein paar elende Barken lagen vor Anker, von der einen blinkte ein grünes Laternchen. Ein Schifferhund schlug an bei den eiligen Schritten.
Er bog ein wenig landeinwärts ab, wie ihm der Weg beschrieben war. Die geradelaufende Straße hier war die Ripetta. Auf einmal stolperte er und fiel schmerzhaft. Wie er hinsah, unterschied er, was ihn zu Fall gebracht hatte. Mitten in der Straße lag, in vier große Stücke zerbrochen, ein uralter Obelisk. Man hatte ihm die Stelle geschildert, er war nah am Ziel.
Rechts von ihm hob sich aus der Nacht ein seltsamer Rundbau, und er wußte auch, was es war: das Grabmal des Kaisers Augustus. Aus seiner Öffnung oben nickten Bäume ins Dunkel. Kleine niedrige Gassen duckten sich um den Riesen. Hier mußte es sein.
Es war die Gegend, in der arme Fremdlinge siedelten. Straßenweise waren sie eingeteilt. Die Orte hießen nach ihnen: Griechenhof, Slawonengasse, Portugieserbogen. Ungute Gestalten bewegten sich. Miguel fragte und bekam mundfaule Auskunft. Übrigens war ja alles umsonst, das war ihm nun klar, wie sollte sie Wohnung genommen haben in solcher Umgebung! Da stand er still.
Der Portugieserbogen war ein schlechtes Gemäuer aus Backsteinen, mit zwei neuen, jetzt offenen Holzflügeln, die den Blick freigaben in eine gekrümmte Gasse.
Hier brannte Licht. An den einstöckigen Häuschen zur Rechten und Linken waren in Mauerringen Fackeln aufgesteckt, die phantastisch ein nächtiges Treiben erhellten. Miguel ging vorwärts wie in einem Schrecktraum. Frauen standen in Rudeln beisammen, Dutzende, höchst verschieden gekleidet, sehr prächtig manche, viele in grauen billigen Mänteln. Sie stritten und schwatzten, sie hielten die Männer an, die geduckt prüfend zwischen ihnen umherstrichen. Viele Fenster waren erleuchtet, man hörte Geschimpf und Gelächter.
Plötzlich stand er ihr gegenüber. Fackellicht strahlte blutig über das weitflächige, weiße Gesicht. Sie stand bei vier anderen. Sie sah ihn, winkte und schrie.
„Da kommt einer, den seht Euch an! Der will mich heiraten. Er ist ein Pfaff, aber heiraten will er mich. Nur los, Herr Miguel, bloß nicht geniert! Hier könnt Ihr mich heiraten, Tag und Nacht. Aber teurer ist’s im Seraglio als drin in der Stadt. Kostet pro Hochzeit bar einen Scudo!”
Und stolz auf das Beifallsgelächter, das sich erhob, ging sie wirklich voran zu ihrer Tür. Es war gleich die nächste.
Er war weit zurückgewichen. Er konnte den Blick nicht wegwenden. Einer, der getrunken hatte, taumelte aus einer der Türen und stieß ihn hart an. Miguel fand einen Spalt zwischen zwei Häusern, stolperte rückwärts hindurch und stand auf freiem, windigem Feld.
Es war ihm, als hätte er den Tod gesehen.
Er hatte das Schriftstück selbst in den Händen gehabt...
Daß ein eifernder Papst wie Pius die Sittenfreiheit seiner Hauptstadt haßte, war natürlich. In jeder Schwäche sah er die Todsünde, war keiner Vorstellung zugänglich, kannte kein Mittel als erbarmungslose Strenge. Gleich zu Anfang seines Pontifikats schritt er dazu, Todesstrafe auf Ehebruch zu setzen. Mit genauer Not beließ er es dann bei Auspeitschung und lebenslangem Kerker. Davor schützte nicht Rang noch Verdienst.
Das Kurtisanenwesen auszurotten, war er entschlossen. Zwar die Zeit war lange vorbei, da die freilebenden Frauen über die römische Gesellschaft unumschränkt herrschten, da in ihren Salons die Kardinäle, Gesandten und Künstler sich glänzendes Stelldichein gaben, da der Hausstand einer Imperia den Zuschnitt eines Fürstenhofs zeigte und der Zutritt bei ihr schwerer zu erlangen war als eine Papstaudienz.
Aber der kosmopolitische Charakter der geistlichen Hauptstadt, die Ehelosigkeit ihrer herrschenden Schicht, ließen auch in graueren Zeiten die Zahl der käuflichen Frauen nicht sinken. Noch immer hatten sie in den stattlichsten Straßen ihre Wohnungen, im Viertel der Prälaten und Hofbeamten, der Bankiers und reichen Nichtstuer, an der Via Giulia also, der Via Sistina, am Canale di Ponte. Sie lebten geachtet, und was es in Rom an Geschäftsleuten gab, existierte durch sie.
Für Pius waren sie Teufelsbrut. Am liebsten hätte er sie sämtlich verbrannt. Nicht lang sah er zu. Ein bündiges Dekret erschien, das die Frauen verbannte: binnen sechs Tagen hatten sie Rom zu verlassen, binnen zwölf Tagen den Kirchenstaat. Dann war die heilige Hauptstadt gereinigt, dem Gebot Genüge getan, dann war Ruhe.
Aber es gab keineswegs Ruhe. Es gab Aufregung. Wer Handel trieb und Waren umsetzte, war völlig verzweifelt. Die Kaufleute, die den Frauen Kredit gegeben, meldeten sich ruiniert. Die Zollpächter traten zusammen und erklärten, künftig werde die Staatskasse einen Ausfall von jährlich 20000 Dukaten zu tragen haben; so stark werde die Einfuhr von Luxuswaren zurückgehen, wenn man die Kurtisanen vertreibe. Rom, hieß es, werde entvölkert. Mit einer Abnahme der Bewohnerzahl um ein Viertel sei sicher zu rechnen. Und warum das alles, warum... Aber deutlicher wagte niemand zu werden. Das geistliche Gericht wachte und lauschte.
Eine Abordnung von vierzig wohlbeleumdeten Bürgern erschien beim Papst in Audienz. Sie waren umsonst sehr beredt. Entweder die oder er, sprach der Mönch. Im heiligen Rom, wo so viel Märtyrerblut geflossen sei, so vieler Heiligen Reste ruhen, wo die Religion ihr Zentrum, Petri Nachfolger seinen geweihten Sitz habe, sei für Huren kein Platz. Entweder er oder die: eher werde er seine Residenz an einen minder verderbten Ort legen, als dies noch weiterhin dulden. Man möge sich bescheiden.
Man beschied sich durchaus nicht. Eingabe folgte auf Eingabe. Kardinäle der freieren Richtung intervenierten vergeblich. Die Gesandten von Florenz und von Portugal, ja der von Spanien, ließen sich vorschieben und erlitten strenge Zurechtweisung.
Der Auszug begann. Hausbesitzer und Händler rangen die Hände. Die Frauen machten sich auf: in Pferdesänften und Kutschen die reichsten, die anderen zu Maultier und Esel. Einige strebten Genua zu, manche Neapel, nach Venedig sehr viele. Sie führten mit sich, was sie besaßen. Aber sie kamen nicht weit. Der Staat des Heiligen Vaters, schon die nächste Umgebung der Residenz, war voll von Räuberbanden. Rechts und links der elenden Straßen lagen sie unverschämt auf der Lauer, von keiner Polizei ernsthaft behelligt. Von den Frauen, die trüb ihres Weges zogen, wurden eine große Zahl überfallen und ausgeraubt, mehrere wurden ermordet. Die Entronnenen kehrten ratlos, verstört und verzweifelt, nach Rom zurück.
Dies führte zur Duldung derer, die noch nicht abgereist waren. Sie mochten bleiben. Aber die Mitte der Stadt, überhaupt alle Quartiere, darin ehrbare Bürger sich aufhielten, wurden von ihnen gesäubert. Man bestimmte ihnen ein Ghetto, eben jenes verwahrloste und abgelegene Viertel beim Grab des Augustus. Elegante Hetären, die ihren Catull lasen und in vier Sprachen konversierten, wurden mit groben Liebesmägden zusammengesperrt. Bei Nacht und bei Tag durfte keine diesen Seraglio verlassen, bei Strafe der Auspeitschung.
Das war vor drei Jahren gewesen. Niemand außer dem Papste selbst stand so recht zu diesem Gesetz. Die Beamten drückten ein Auge zu. Das Gebot wurde durchbrochen, umgangen, geriet in Vergessenheit. In jenen Gassen blieb bald nur gröberes Frauenvolk zurück. Die anderen, protegiert durch Verehrer, wohnten von neuem verstreut in guten Quartieren. Der frühere Zustand, bescheidener freilich, stellte sich her. Man sah die Kurtisanen nur an ihren Fenstern. Verließen sie einmal das Haus, um unter Männer zu gehen, so besuchten sie Kirchen. Kirchgang entschuldigte vieles.
Da brachte in diesem Winter eine Denunziation den Dominikaner aufs neue in eifernden Zorn. Er verlangte genauen Bericht, sah, wie es stand, und griff abermals zu.
Listen wurden gefertigt. Von einer Stunde zur andern, auf einen Schlag, drang die gemaßregelte Polizei in die Wohnungen, ergriff die Nichtsahnenden und trieb sie zusammen. Dem Hausherrn, der künftig noch eine von ihnen zu herbergen wagte, wurde Kerker auf Lebenszeit angedroht. Das Ghetto beim Augustusgrab sollte ummauert werden. Pius zog einen Pestkordon um die fleischliche Lust.
Der junge Miguel Cervantes hatte jene Liste selbst in der Hand gehabt, und sie seinem Kardinal hingereicht, der das Bleisiegel anlegte. Er hatte sie nicht beachtet, die Liste, was ging sie ihn an! Nun sah er das Blatt wieder vor sich, in furchtbarer Vergrößerung, mit jedem Schnörkel des Schreibers. „Die Dirnen Panada, Toffoli, Scappi, Zucchi, Zoppio...” Regina Toffoli, das war sie.
Seine Natur parierte den furchtbaren Einbruch von Scham und Gram, sie wich aus, er wurde krank. Als kleinem Bübchen daheim in Alcala war es ihm einmal ähnlich ergangen: als ihn zwei größere und stärkere Knaben überfielen, ihm die Hände banden und den Wehrlosen durchprügelten. Fast wäre er daran gestorben. Es war damals wie heute ein starkes Fieber, unter Erlahmen wichtiger Leibesfunktionen, subjektiv ein durchaus erträglicher Zustand: Schmerzen fehlten zunächst, und ein sanftes Delirium hob ihn aus der Realität.
So lag er in seiner Turmstube auf schlechtem Bett. Niemand bekümmerte sich um ihn. Ein stumpfsinniger Zisterzienser brachte ihm zweimal abgestandenes Essen, als es unangerührt blieb, erschien er garnicht mehr.
Am fünften Tag vermißte Fumagalli den Schützling. Er erschrak, als er ihn mit glühendem Haupt und unnatürlich leuchtenden Augen auf seinem Strohsack erblickte, neben sich ein Schaff mit zweifelhaft sauberem Trinkwasser. Es war eiskalt in dem unheizbaren Raum, in den es durch vier Fenster hereinzog.
Der Kanonikus schlug den Kranken in die wollene Bettdecke, hob ihn auf wie ein Wickelkind und trug ihn über Stiegen und hallende Korridore in sein Zimmer hinüber. Cervantes ruhte nun auf bequemem Lager, die Augen vom Licht abgekehrt, zwischen den Hannibalsteppichen.
Der Arzt kam, Doktor Ippolito Benvoglienti, hochstirnig, feierlich, in feinstes schwarzes Tuch gekleidet. Er sah und prüfte, horchte und klopfte. Das dauerte lang.
„Ein hitziges Fieber,” erklärte er schließlich.
„Ich habe schon gemeint, er kriegt ein Kind!” sagte der Kanonikus höhnisch.
Der beleidigte Gelehrte verschrieb Medizinen und zog sich zurück.
Fumagalli ließ sich ein Feldbett aufschlagen. Er verließ sein Söhnchen keine Stunde. Er wusch ihn und legte ihm lauwarme Wickel an. Da der Leib sich hart und geschwollen anfühlte, verabreichte er ihm ein Klistier, dem er Öl, Kamillen und Anis zusetzte, und das seine Wirkung tat. Am dritten Tage stellten sich Kopfschmerzen ein. Der Kanonikus legte auf Miguels Schläfenadern zwei Mastixpflaster. Am vierten Tag ließ das Fieber nach, am fünften war es verschwunden.
Fumagalli ging selbst in die Küche hinüber und probierte die Suppen. Nichts war ihm recht, er zerschmiß zwei Teller, die Köche zitterten.
Einmal, als er mit der dampfenden Brühe zurückkam, fand er Miguel in Tränen. Er stellte die Schüssel warm. Er ließ ihn weinen.
„Iß,” sagte er dann. „Grüble nicht mehr. Es liegt hinter Dir. Die Welt ist weit.” Er hatte ihm nie eine Frage gestellt.
Eine nahe Uhrglocke schlug zwölf. „Ich muß fort,” sagte Fumagalli, „Messe lesen. Ich hab einen Rüffel gekriegt.”
„Dann eilt Euch, mein Vater! Ne fiat missa serius quam una hora post meridiem,” zitierte Miguel mit schwachem Lächeln.
„Aber hernach lesen wir,” rief Fumagalli unter der Türe, „und ganz etwas Anderes!”
Dies Andere war Fumagallis Lieblingswerk: die Kommentare Caesars.
Miguel kannte das Buch, aber der Kanonikus wußte es beinahe auswendig. Langsam las er mit seiner Baßstimme. Cervantes lag und lauschte. Am gleichmäßigen Tritt der Legionen in Gallien beruhigte sich sein Blut. Aus den Felsen der Gobelins schaute das Haupt des Puniers ihm gerade und kühn in Gesicht.
Er gesundete und wollte aufstehen. Der Kanonikus erlaubte es nicht. Der alte Mann war glücklich bei dieser Pflege.
Von näheren Kriegsereignissen war jetzt zwischen ihnen die Rede. Fumagalli brachte die Nachrichten. Es handelte sich um die Türken, um Zypern und um das Mittelmeer.
Schwer vollzog sich die Einigung zwischen den christlichen Staaten. Man war fromm und ergrimmt, aber zäh und verschlagen und äußerst genau. Frankreich sperrte sich völlig, in Wien der Kaiser hatte Bedenken, zwischen Philipp, dem Papst und Venedig, die übrigblieben, erhob sich ein Feilschen um die Ausrüstung jeder Galeere, um jede Getreidelieferung. Philipp vor allem war ein höchst kaufmännischer Partner. Er schob auf und wog ab und gab nicht Bescheid. Jede Beihilfe zu der gottgefälligen Unternehmung ließ er sich abkaufen. Um den Zwieback jedes Ruderknechts wurde gemarktet.
Aber jede entweichende Woche machte die Lage kritischer. Schon war auf Zypern Nicosia gefallen, die Hauptstadt Famagusta ohne Hoffnung bedroht, Kreta, Korfu und Ragusa in naher Türkengefahr.
Endlich hieß es, es sei so weit: von den Kriegskosten werde der Papst ein Sechstel übernehmen, Venedig zwei Sechstel, Spanien die Hälfte.
Wenn der Kanonikus derlei berichtete und gegen die Knauser und Zauderer loszog, hörte der genesende Miguel kaum hin. Diese trübe und lächerliche Realität bestand nicht für ihn. Das Innerste seiner Natur kehrte sich ab von ihr. Glaube und Heldentum, ungebrochen und strahlend, das war seine Wirklichkeit. Und der kriegerische Bauer im Priesterkleid war nicht der Mann, das zu tadeln.
Aus dem Elternhause in Alcala kam in diesen Tagen ein lang erwarteter Brief. Nach umständlichen Ratschlägen und Segenswünschen enthielt er auch Nachricht über Bruder Rodrigo. Rodrigo war wirklich Soldat geworden. In den Kämpfen gegen die letzten spanischen Mauren, im wilden Gebirge südlich Granadas, hatte er sich Ansehen verdient und würde nun seinem Feldherrn zur Flotte folgen, in den Entscheidungskampf gegen den Sultan.
Wer war dieser Feldherr? Don Juan d’Austria. Prächtiger Name, für Miguel nur ein Schall. Er fragte den Priester. Der wußte Bescheid. Es war erstaunlich, wie er Bescheid wußte, es war gefährlich.
„Ein Sohn vom Kaiser Carolus ist das, Söhnchen,” erzählte er hitzig. „Ganz jung noch, keinen Tag älter als Du. Ein Halbbruder von Deinem Philipp, den ich Dir schenke. Die Mutter war eine Deutsche. Schön soll er sein wie ein Gott und nichts träumen als Siege. Dein Philipp hat einen Kardinal machen wollen aus ihm, das versteht sich. Aber jetzt ist er Großadmiral und zieht gegen die Türken, und wenn’s nach unserem Oberhaupt im Hause hier geht, dann gibt’s einen Kreuzzug, und Don Juan erobert das heilige Grab.”
Das Gemüt des jungen Miguel war ein gelockerter Acker. Jedes Wort ging auf. Da er ein Mensch der Phantasie, der sinnlichen Vorstellungskraft war, sah er den Kaisersohn vor sich, in weißem Glanz, seine schönen Züge wurden eins mit denen des Puniers, der unter einem Renaissancehelm mit flatterndem Busch auf sein Lager herabsah. Wäre es möglich, Rom zu verlassen und dieser Standarte zu folgen! Rom war ihm verhaßt nach dem, was geschehen war. Und zum Kleriker war auch er nicht geschaffen, so wenig wie der, der den Kardinalshut ausschlug. Er genas und erwog.
Da brachte Fumagalli die Einzelheiten vom Falle Nicosias. Den Verteidigern der venezianischen Feste war freier Abzug zugesagt worden. Aber die Türken brachen das Abkommen, und zwanzigtausend entwaffnete Menschen fielen ihrer Mordlust zum Opfer.
Das war entsetzlich. Der fromme Christ und der fühlende Mensch waren in Miguel entflammt. Er wog nicht ab und er fragte nicht. Er dachte auch keineswegs an die Untaten, die sein eigenes Spanien an Andersgläubigen beging, nicht an Folter, Austreibung, Mord, die seit Isabellas und Ferdinands Tagen hunderttausendfach gegen Mauren und Juden gewütet hatten. Da herrschte Gottes Gebot, und der Zweifel war Sünde. Christenmord war ein Anderes.
An diesem Tage war ihm erlaubt, zum ersten Mal aufzustehen. Aber Fumagalli hätte das nicht erzählen sollen. Entgeistert sah er die Wirkung. Das Fieber war wieder da, ein heftiger Rückfall. Der Kranke warf sich und schrie. Fumagalli mußte ihn mit beiden Händen festhalten in seinem Bett.
„Du mußt auch nicht alles gleich glauben!” sagte der Alte, als der Anfall vorüber war, „die Menschen lügen ja auch.”
Aber es war viel zu spät.
Der Feldherr kam nicht. Seit zwei Monaten lagen die Schiffe der Venezianer und die des Papstes vor Messina. Auch einige spanische Galeeren waren schon da, in Erwartung der Hauptzahl. Sie ankerten abseits, damit Händel vermieden würden. Trafen Soldaten der verschiedenen Kontingente einander an Land, in den Gassen und Schenken der lustigen Hafenstadt, so gab’s jedesmal blutige Köpfe. Der spanische König, hieß es, sei vom Vertrage zurückgetreten, Don Juan d’Austria reise nicht ab, man verschimmele hier, während die Türken die Adria hinauffuhren. Die Venezianer sahen sie schon auf dem Markusplatz. Es war Ende August. Don Juan mit den Schiffen kam nicht. Jetzt war es klar, daß er ausblieb.
Aber er war unterwegs. Er reiste nur langsam mit seinen Galeeren. Er hatte Zeit. Er ließ sich feiern. Zuerst vier Wochen in Genua, wo er im Palazzo Doria glänzenden Hof hielt. Alle Frauen waren verliebt in den Großadmiral. Dann einen Monat im spanischen Neapel, wo es noch rauschender herging. Turnier und Ball wechselten ab mit kirchlichen Feiern. Der Feldherrnstab ward überreicht und das Banner der heiligen Liga geweiht. Das erforderte Vorbereitung. Das Ausarbeiten der Sitzordnung in Santa Chiara allein beanspruchte schon drei Tage.
Unbestimmte Nachricht von dem allen kam nach Messina zu dem päpstlichen Befehlshaber Colonna und zu dem greisen Venier, der die venezianischen Schiffe führte. Die Mannschaft wußte garnichts. Sie schimpfte. Man hatte Dienst, anstrengenden Dienst, und das war niemand gewohnt. Was sollten diese Schießübungen und dies Exerzieren im Fechten? Jeder wußte doch, wie man zuhieb und zustieß. Jeder wußte doch, was eine Seeschlacht war: man fuhr heran an das feindliche Schiff, warf Enterbrücken hinüber und schlug die Ungläubigen tot. Das war keine Kunst. Übrigens blieb wie gewöhnlich der Sold aus, man konnte sich kaum mehr vergnügen an Land. Und immerfort gab es an den Schiffen was auszubessern, man mußte dichten und teeren und sich im Takelwerk die Hände blutig reißen. Und Don Juan kam nicht.
Ein besonders schlechtes, altes Fahrzeug war die „Marquesa”. Alle zwei Tage zog sie Wasser, die Eimer standen nicht still. Der Hauptmann Diego de Urbina, der hier kommandierte, ein vollblütiger Mensch mit gutmütigem Gesicht unter der Eisenhaube, war bei den Leuten beliebt. „Meine Herren Soldaten!” hieß es vor jedem Kommando. Aber er kommandierte viel. Vielleicht wollte er die Mannschaft ermüden, damit sie nicht Unfug stiften konnte.
Man wohnte eng aufeinander gepackt in dem winzigen Schiff. Hundertundfünfzig Soldaten schliefen im niedrigen Raume beisammen. Kaum konnte man aufrecht stehen. Man atmete mühsam. Da wie stets Gerüchte aufkamen, im Hafen schleiche die Pest, tranken viele die Medizin, die hiergegen beliebt war: Branntwein mit Knoblauch. Wahrscheinlich schmeckte es ihnen. Der Gestank wich nicht mehr aus den Gelassen.
Hier lebte Miguel de Cervantes und war guten Mutes. Das römische Halbpriesterlein war nicht zu erkennen. Er war breiter geworden, das Gesicht unterm Eisenhut hatte Farbe, er trug Schnurrbart und Knebelbart, die er sich selbst mit der Schere allwöchentlich zustutzte.
Lang hatte er mit seiner Kompagnie in Neapel herumgelegen. Das war eine mißliche Zeit. Die Soldaten, arger Pöbel zumeist, Entgleiste, die vorm Strafgesetz niedertauchten unter das Fahnentuch, witterten mit Abneigung die zarter organisierte Natur. Er hatte sich täglich zu wehren. Er wehrte sich. Er teilte Prügel aus und empfing noch schlimmere, er sprach mit phantasievoller Einfühlung ihre Sprache, wußte Geschichten und gute Späße, war hilfsbereit und kein Streber. Ein letztes Mal kam es zu einem wilden Auftritt hier vor Messina. Etwas nämlich hatte der junge Miguel an sich, was für die Anderen, ohne Ausnahme, unangenehm lächerlich war: er las. Vier, fünf gedruckte Bücher hatte er immer unter seiner Decke verborgen. Eins davon fand er eines Tages aufgeschlagen liegen, in viehischer Weise verunreinigt. Es war der Caesar, den ihm Fumagalli bei der Abreise verehrt hatte, ein schönes Exemplar, mit schöner Widmung. „Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae,” stand auf der ersten, jetzt besudelten Seite, recht heidnisch übrigens für einen Kleriker.
Es war am Abend, beim Schein einer Ölfunzel streckte man sich zur Ruhe, dicht nebeneinander.
„Wer hat mir das da getan,” fragte Cervantes. Vielstimmiges Gelächter antwortete, denn die Tat war bekannt, der Urheber hatte sie öffentlich verübt, und man hielt sie für einen köstlichen Scherz.
Er stand auch gleich auf, halbnackt, mit zottiger Brust, kam er auf den Beleidigten zu. Es war ein Riesenkerl, ein nordspanischer Bauernknecht aus der Provinz Galicia, tierisch und albern.
„Du hast’s verdreckt, Du leckst es auf,” sagte Cervantes. Er war noch angekleidet, im ledernen Koller mit schwarzen Ärmeln. Zu aller Antwort spie ihm der Andere vor die Füße. Es war still geworden, man wartete höchst gespannt.
„Du magst nicht, dann mußt Du!” Und mit voller Gewalt schlug er ihm den geschändeten Klassiker auf das Maul, zweimal und dreimal. Das Buch ging in Fetzen. Der Andere war schon über ihm, sie knieten auf einer der Pritschen im Halbdunkel, der Knecht mit seiner Vierecksgestalt deckte den schlanken Cervantes fast zu.
„Da gibt’s eine Leiche,” sagte einer behaglich.
Aber Cervantes hatte Glück. Ausholend traf er mit der Faust den Bauer am Kinn, an jener Stelle ein wenig unterhalb und seitlich, die jeder geübte Schläger kennt und hochschätzt. Es war Zufall gewesen, aber einer von gründlicher Wirkung. Der Gallego lag mit verdrehten Augen und baumelnden Armen. Ein Beifallsgelächter erhob sich. Miguel schob dem Gefällten den entehrten Band als Kissen unter den Kopf, wusch sich im Eimer die Hände und legte sich schlafen.
Am Morgen hieß es, der Feldherr sei da. Er war die Nacht von Neapel gekommen. Die ganze reiche Stadt war auf. Sie war für ihre Feste berühmt, Kaiser Karl schon, der doch Empfänge gewohnt war, hatte beteuert, nirgends sei er so aufgenommen worden wie in Messina. Die Uferstraße war im Augenblick dekoriert, von Palast zu Palast spannte sich Purpursamt. Ein Flaggenwald flammte empor in den Sonnenhimmel. Glockengeläute, vielstimmig, scholl über den Hafen. Von der Zittadelle dröhnte unausgesetzt das Geschütz.
Aber von den Schiffen durfte niemand an Land. Für den Nachmittag war Flottenparade angesagt. Alles scheuerte: Schiff, Waffen, sich selbst.
Don Juan d’Austria war mit 49 Galeeren gekommen. Sie lagen draußen in der Meerenge, kaum unterscheidbar. Aber ganz nahe, mitten im Hafen, ankerte das Admiralsschiff. An seinem rückwärtigen Teil, vor der „Poppa”, war ein mächtiges goldenes Kreuz aufgerichtet, daneben auf hohem Mast das Banner der Liga, vom Vizekönig in Neapel übergeben, in Santa Chiara geweiht. Die Kriegsmannschaft ringsumher, alle die kindlichen Männer, Cervantes mit ihnen, unterbrachen oft ihre Scheuerarbeit, blickten hin, besprachen jede Einzelheit. Aus blauem, gesteiftem Seidendamast bestand die Standarte. Sie wies oben in der Mitte, gewaltig groß, den Heiland am Kreuz. Zu seinen Füßen das Wappen, erhaben gearbeitet, war das des Papstes, rechts das von Spanien, links von Venedig. Goldene Ketten schlangen sich von Emblem zu Emblem, von ihrer Knotung hing schwer und massiv ein viertes Wappenschild: das des Kaisersohnes und Großadmirals.
Sie hatten zu schauen. Es wurde ihnen etwas geboten, wahrhaftig. Denn als sie am Nachmittag, um die vierte Stunde, aufgereiht standen auf ihren Verdecken, alle Segel gesetzt, die langen Ruder gleichmäßig ausgerichtet, und als das Admiralsschiff unter Kanonengedröhn langsam an ihnen vorüberfuhr, da wurde jedem von ihnen in voller, leuchtender Figur dynastischer Kriegsglanz vor die Augen getragen, jedem von diesen dumpfen und rohen Söldnern der Inbegriff aller kriegerischen Eleganz des Jahrhunderts.
Das Bild war eigens für sie gestellt, das sollten sie mitnehmen, es sollte sie im Voraus bezahlen für Mühsal, Wunden und Untergang. Dies Bild im Herzen sollten sie sterben. Wer überlebte und einmal nach Hause kehrte, sollte es in der Winterstube erwecken, wenn die Anderen um ihn hockten mit offenen Mäulern. Cervantes auch würde es nie vergessen. Als er schon alt war und wissend und Don Juan tot, früh durch Gift aus der Welt geräumt — auch da noch lebte das Bild, und er sprach davon und malte es farbenstark, wenn er auch dazu lächelte.
Nur die Ruderer sahen es nicht. Tief genug unterm gewölbten Schiffsrand, daß kein Ausblick über die Meerflut sich auftat, hockten sie halbnackt, zu dreien auf ihre Bänke geschmiedet: Verbrecher, Kriegsgefangene und Ketzer, zu Halbtieren geworden, nichts vor sich als den Rücken des Vordermanns am Tage und in der Nacht. Der Aufseher mit der Peitsche ging umher zwischen ihnen und hieb zu nach Ermessen. Alte mit weißem Bart waren darunter. Sie saßen hier, seitdem die altersschwache Galeere schwamm. Die allein sahen nichts.
Don Juan d’Austria stand an der hochaufgebogenen Poppa seines Staatsschiffs neben dem Kreuz, unter seiner blauen Standarte. Ihm zu Seiten, ein wenig zurück, rechts Colonna der Römer, mit kahlem Eikopf, von Hals zu Fuß dunkel geharnischt, links der ehrwürdige Sebastiano Venier, im Goldmantel eines venezianischen Generalkapitäns. Sie waren barhaupt wie Don Juan.
Weißhäutig war er, feinzügig und blond. Das weiche Haar umwallte zurückgeworfen sein junges Haupt. Keck aufgebogen trug er den Schnurrbart. Was aber jedermann hinreißen mußte, was sicher in Wochen studiert und zusammengestellt worden, das war sein Anzug. Jeder Soldat hatte sofort das Gefühl, daß er so etwas zum ersten und letzten Mal sah in seinem gefährdeten Leben. Der Panzer allein war ein Wunder. Es war ein Zierpanzer aus Silber, leuchtend poliert und vorn auf der Brust zu einer scharfen Schiene emporgetrieben, in der sich augenblendend die sizilianische Sonne brach. Aus der Halsberge stieg blütenweiß und köstlich gefältelt die Krause und umschmiegte das rasierte Kinn. Hellseidene Ärmel, mit Goldrosetten besetzt, modellierten die Arme. Aber besonders unterhalb war Don Juan d’Austria herrlich zu schauen. Die Strumpfhosen aus Seidentrikot, ohne ein Fältchen, von besorgniserregender Straffheit, erreichten beinahe die Hüften, und darüber, rundwulstig ausgestopft, bauschte sich das kurze modische Beinkleid aus rotem Atlas mit Goldbrokat, geschlitzt, gepufft und durchbrochen, einem Frauenröckchen nicht ungleich. In der Hand trug der Schöne den geweihten Feldherrnstab, überm Harnisch das Goldene Vlies. Er lächelte und er regte sich nicht. Er stand wie aus farbigem Gips, aus Gründen der Wirkung gewiß, wahrscheinlich aber auch, weil die geringste Bewegung den Sitz seines Prachtkleids gefährdet hätte. Es mußte anstrengend sein, so zu stehen.
Das rohe Kriegsvolk schaute versunken. Dies war eine sakrale Darbietung und jedem Zweifel völlig entrückt. Außerdem bedeutete der Aufwand eine Ehrung für jeden. Nicht die Flotte wurde ja hier gemustert, umgekehrt war es. Unter einem wahrhaft hocheleganten Halbgott zog man da morgen zur Schlacht.
Aber damit hatte es gute Weile. Man blieb im Hafen. Verstärkungen wurden erwartet. Es wurde weiter exerziert und geschossen, an den Schiffen gehämmert, kalfatert und Segel geflickt, während der Admiral in Messina seine Bälle, Bankette und Abenteuer bestand. Es war Mitte September. Viele erklärten, für dieses Jahr sei es zu spät.
Auf einmal war Gottesdienst angesagt. Von den Kapuzinern und Jesuiten, die in Scharen die Flotte begleiteten, empfing jeder Kriegsknecht das Sakrament. Nun wurde es Ernst.
Zwei Tage später lag man an der albanischen Küste, Korfu gegenüber. Neue Untätigkeit. Zwist gärte unter den Admiralen. Als Don Juan auf den Gedanken verfiel, hier nun ernsthaft die gesamte Flotte zu mustern, wurde ihm unter Vorwänden der Gehorsam verweigert. Venier seinerseits, heißblütig trotz seiner Jahre und äußerst nervös durch die Prinzenallüren des Kaisersohns, ließ ein paar frech meuternde Spanier kurzerhand aufhängen. Darin sah Don Juan einen Eingriff in Rechte, die ihm allein zustanden, und kündigte dem General der Republik ein Kriegsgericht an. Aufstand der Venezianer. Schon zogen ihre Galeeren sich drohend um Don Juans Flaggschiff zusammen, an die Schaustellung von Messina dachte jetzt niemand. Der Römer Colonna vermittelte. Die Aufregung schwand. Man schrieb Oktober.
Da brachte am vierten des Monats ein Eilschiff die Nachricht vom Fall Famagustas. Zypern gehörte den Türken. Ihre Flotte, man wußte es, lag gesammelt und schlagbereit im Korinthischen Busen, wenig südlich von hier. Man entschloß sich.
Die Hauptleute erhielten Instruktion. Jeder versammelte seine Mannschaft.
Auf Deck der altersschwachen „Marquesa” waren die 150 Soldaten angetreten. Hauptmann Urbina begann. „Meine Herren Soldaten!” begann er. Sein gutmütiges Gesicht unterm Eisen war noch röter als sonst. Reden war peinlich. Aber die Tatsachen sprachen für sich.
Zypern also, das war nun heidnisch, in jenen Meeren herrschte der Halbmond, frei war der Weg für den Sultan zu den Städten der Christen.
Ein trunkener Wüterich war dieser Selim, soff seinen verbotenen Wein vermischt mit Christenblut. Die tapferen Verteidiger von Famagusta waren schmählich geschlachtet worden, die Frauen verstümmelt, Kinder zu Haufen an den Mauern zerschellt vor den Augen der Mütter. Da sah man, was Venedig, was Rom, was die spanischen Städte zu befahren hatten, wenn nicht Einhalt geschah!
Zum Schluß erst erzählte der Hauptmann das Äußerste... Die Türken kannten und haßten den heldenmütigen Bragadino, Haupt und Seele der Venezianer. Ihn fingen sie sich heraus aus den Opfern, und in langer Beratung ersannen sie für ihn eine nie erhörte Marter.
Der Unglückliche wurde lebendig geschunden. Seine abgezogene Haut wurde ausgestopft, in venezianische Amtstracht gekleidet und, auf den Rücken einer Kuh gebunden, durch die Straßen von Famagusta geschleppt. Die mächtige Natur des Gemarterten widerstand, er lebte noch tagelang. So sah er sich selber vorüberreiten.
„Das, meine Herren Soldaten,” schloß der Hauptmann Urbina, „sind Eure Feinde. Trefft sie, schlagt sie, es geht zum Kampf! Gott und die Jungfrau!”
Der Bericht von dem Ungeheuren, wahr oder übertrieben, hatte seine Wirkung getan. Die Stumpfsinnigsten waren aufgewühlt.
Miguel taumelte, als man auseinandertrat. Er lehnte sich über Bord und erbrach.
Es ging gegen Abend. Er tappte die Stiege hinunter und warf sich aufs Lager. Er zitterte. Er schloß die Augen, mit äußerster Energie bemüht, das Vernommene fortzudrängen. Die Zähne schlugen ihm aneinander. Mit Verzweiflung spürte er das Fieber aufbrennen in seinem Blut. Von den Sklavenbänken über ihm schollen Flüche herunter. Die Peitsche klatschte. Dann war es still.
Als die Anderen kamen, um sich zur Nacht hinzustrecken, lag er ohne Bewußtsein. Er warf und bäumte sich. Er delirierte und schrie. Seine Einbildungskraft formte das Entsetzliche zu unerträglicher Greifbarkeit aus. „Zu den Waffen,” schrie er und „Gottesrache!”
Niemand konnte einschlafen. Schließlich trugen sie ihm den Strohsack nach vorn in einen Winkel unter der Schiffstreppe, fünf Fuß lang und drei breit. Eine Luke stand offen. Kühlere Luft strich herein. So fuhr er zur Schlacht.
Er schlug die Augen auf, weil die Sonne mit voller Gewalt sein Gesicht traf. Er wußte nicht, wo er war. Es war alles ganz still, das Schiff fuhr nicht mehr. Sein Fieber war fort, aber die Schwäche so groß, daß seine Hand sich nicht zur Faust ballen konnte.
Mit schwerer Mühe richtete er sich endlich auf, gelangte auf seine Kniee und brachte den Kopf in die Luke. Volle, blendende Klarheit war plötzlich da.
Man war zur Schlacht aufgefahren. Zwei Flotten lagen sich gegenüber, jede sauber abgeteilt nach Geschwadern. Es war alles so lautlos und reglos, als befände man sich in einem Gemälde. Konnte dies Wirklichkeit sein, was, angeordnet wie im Spiel, abgezirkelt und farbig sich darbot auf spiegelndem Meer, unter einem glasblauen Himmel? Natur selber hielt ihren Atem an, um den Kampf nicht zu stören.
Er schaute aus sonnenschmerzenden Augen. Diese Schlachtordnung war so klar, so simpel, als hätte ein ordnungsliebendes Kind sie erdacht. Da sein Schlafgelaß vorderschiffs lag, die „Marquesa” aber nahe dem Zentrum, sah er alles wie aus einer Theaterloge.
Dies gegenüber sollte die türkische Flotte sein. Als Halbmond angeordnet erschien sie, die Mitte vorgewölbt. In genau entsprechender Kreislinie lag ihr gegenüber die Armada der christlichen Völker, alle Galeeren eng aneinander, die scharfen Schnäbel dem Feind zugestreckt. Das hier nach links hin mußten venezianische sein, er sah’s an den Löwenstandarten und an den dünneren Rudern. Vor ihnen aber, die Breitseite gegen die Türken, lagen in geschlossener Reihe Fahrzeuge von anderem Typus. Das waren die sechs Galeassen der Markusrepublik, die vielberedeten großen Schlachtschiffe, fünfzig Meter lang, gewaltig bemannt, bestückt mit dreißig gegossenen Kanonen, jedes Ruder so schwer, daß kaum sieben Mann es regierten. Miguel hatte die plumpen Ungeheuer vor Korfu schon bemerkt und auch vernommen, daß der ritterliche Großadmiral sich über sie lustig machte. Sie könnten nicht wenden, sich nicht bewegen, so wurde sein Ausspruch kolportiert, solch schwimmende Festungen aufzuführen, heiße Gott lästern, und wo denn noch Ruhm und Ehre des christlichen Kampfes sei, wenn man da aus 180 Geschützen losdonnere, statt Mann an Mann mutig zu streiten. Miguel hatte Don Juans Äußerung wohl begriffen. Wahrhaftig, von Ehre und spanischem Rittertum standen diese Galeassen weit ab. Aber da harrten sie nun, den Tod noch verschweigend.
Überall war die Mannschaft an Bord angetreten wie zur Parade. Helm lag an Helm, Schild und Harnisch erglänzte, in Schwert und Lanzenspitze brach sich das Licht, man stand bereit wie zur Landschlacht. Überall waren die Segel gerefft, Flaggen gehißt auf den Masten. Unverwandt schaute man auf den Feind, der zum Ergreifen, zum Hassen nahe lag.
Seine Schiffe waren im Bau von denen des Abendlands nicht unterschieden. Doch bunter, barbarenprächtig, war diese Flotte zu schauen. Gold waren die riesigen, dreifachen Buglaternen, golden und silbern, in ihrer geheimnisvollen Schrift, erschimmerten an den Bordwänden die Sprüche des Propheten, ein Wald von Fahnen, in Asiens wilden Farben gestreift und besternt, überhing die Armada. Überall, von jeder Laterne und Flaggenspitze, stach der Halbmond plastisch in die leuchtende Luft.
Die Kriegsvölker harrten, in Massen gedrängt gleich den Christen, in Turban und Tarbusch und bunt gebauschten Gewändern, mit krummen Säbeln bewehrt, mit Spießen, Äxten und metallbeschlagenen Streitkolben, viele mit Bogen und Pfeil.
Aber im Zentrum als vorderstes, einen Respektstreifen Wassers um sich, lag ihr Admiralsschiff. Cervantes sah es blinzelnd mit jeder Einzelheit. Unter der Prophetenfahne der Alte, im grünen Turban und silbernen Kleid, den mondgekrönten Stab in der Rechten, mußte ihr Oberherr sein, der Kapudan-Pascha. Er schien geradeaus zu starren — auf das Befehlsschiff der Christen hin. Gewiß stand Don Juan d’Austria dort, blendend gerüstet.
Miguel schmerzte der Hals von den Drehungen, die Augen vom Lichte. Die Gedanken schweiften ihm ab.
Dies war die Bucht von Korinth. Das Ziel war bekanntgegeben. Hier fiel der Schlag, die Entscheidung. Was für ein Schlachtort! Das Land hier zur Rechten, keine Meile entfernt, war der Peloponnes, und dort zur Linken — es konnte nur ein paar Stunden sein hinüber nach Delphi. Er dachte daran, er sicher allein von den Tausenden. Er dachte an mehr. An diesen Gewässern lag Actium. In dieser Nacht, seiner Fiebernacht, mußten sie daran vorübergefahren sein. Es ging um die Welt jetzt wie damals... Oktavian führte die Kräfte des Westens heran, die des Ostens Antonius, hier war der Scheitelpunkt, hier maßen sie sich. Aber Kleopatra floh, Antonius ihr nach, das Reich begrabend im Schoß der Ägypterin. Hier fiel auch heute das Los zwischen Osten und Westen, zwischen dem Mond und dem Kreuz.
Er ließ sich zurücksinken, totmüd vor Schwäche. Gewiß, auf diesen beiden Flotten, unter Unzähligen, war er der Einzige, um dies zu denken. Doch auch der Einzige sicher, der an solchem Jahrtausendtag tatenlos, geringer als ein Weib, auf dem Lager verblieb, unfähig auch nur die Hand auszustrecken und Helm und Schild zu ergreifen, die neben ihm lagen. Ihn hatte Gott geschlagen, wahrhaftig — mit diesen Anfällen der Krankheit, deren letzter ihn nun um den Sinn seines Daseins brachte. Er war zum Kämpfer verdorben, wie er zum Priester verdorben war, ein Elender, nicht gewürdigt vom Himmel, sich Verdienst zu erwerben und einzugehen als ein Streiter für Gott in die Herrlichkeit.
Und wie zur Bestätigung erscholl jetzt von Deck durch die dünnen Bretter herunter eine Stimme. Es war eine Priesterstimme, Cervantes vernahm jedes Wort. Generalabsolution wurde erteilt, das Deck schütterte, sie knieten alle. In diesem Augenblick sanken auf zweihundert Schiffen vierzigtausend Streiter zu Boden und lauschten der Botschaft, die Vergebung verhieß für alle Sünden und die Pforten weit auftat zur Herrlichkeit jedem, der heute fiel im Kampf für den Glauben. Cervantes lag, die fieberschwachen Hände gefaltet, und unter den Lidern seiner geschlossenen Augen drangen Tränen ohnmächtiger Sehnsucht, ohnmächtigen Zornes hervor. Der Priester sprach, in lateinischen Worten erst, danach auf Spanisch. Dann Stille. Er vernahm, wie die Mannschaft sich vom Boden erhob. Ein Kanonenschuß dröhnte. Da gab das Admiralsschiff das Zeichen. Tosendes Schreien erhob sich, von allen Schiffen zugleich: Victoria! Victoria! Viva Cristo! Die Galeere fuhr. Es hatte begonnen.
Heulen, Kreischen und Krachen eines Weltuntergangs drang ins Gelaß. Tausendstimmig, hoch gilfend, das Allah-il-Allah-Geschrei, verschlungen vom gleichzeitigen Donner aus hundert Geschützen. Das waren die Galeassen. Splittern der Ruder, die aneinanderstießen, zu seinen Häupten Klirren und Stampfen der Mannschaft, Mutgeschrei und Kommandos. Pulverdampf schlug herein zur Luke. Das Schiffchen schwankte, lag auf der Seite, war wieder flott.
Er wandte sich um aufs Gesicht, verschloß die Ohren mit seinen Händen. Aber es riß ihn empor, er mußte zur Luke. Von der spielerischen Ordnung draußen war nichts mehr zu sehen, er schaute ins wilde Gemisch der entbrannten Schlacht. Da aber sah er vor sich, zur Linken, das venezianische Flaggschiff...
Durch andringende Geschwader hindurch suchte es seinen Weg nach der feindlichen Mitte. Der Alte unter der Löwenflagge, der aufgerichtet stand an der Poppa, war ihr Generalkapitän, war Venier. An ihn hingen sich Cervantes’ Augen, seine Augen wurden groß und starr. Aber er sah nicht die gebietende Stirn des Mannes, die mächtigen Brauen, nicht wie seltsam sein weißer Kinnbart erzitterte bei den Kommandorufen. Er sah nicht sein Gesicht. Er sah nur sein Kleid: den Goldmantel über dem Panzer, auf dem Haupt das flache Barett. Das war nicht Venier der Generalkapitän, es war Bragadino der Gefolterte. Seine Tracht war es, Amtstracht der Venezianer. Kein Schiff zog vorüber — da kam das monströse, wackelnde Reittier und darauf die augenlose Hautpuppe, die sie vor den blutigen Augen des Sterbenden johlend vorüberführten.
Eine pressende Woge von Erbarmen, Entsetzen und Racheverlangen durchschwemmte sein Blut. Gleich würde das Herz aufhören zu schlagen unter der Last. Aber es schlug gewaltiger... die Sehnen spannten sich ihm, er war kein Geschwächter mehr, kein Ausgeschlossener, nicht länger ohnmächtig zum Kampf! Er erhob sich auf seine Kniee, er stülpte den Helm auf, faßte Stoßschwert und Schild und stürzte nach oben.
Noch war die „Marquesa” nicht in den Kampf gelangt. Ungelichtet stand noch die Mannschaft, schlagbereit, ausspähend, zwischen den rudernden Sklaven. Der Raum war eng, das ganze Schiff keine fünf Schritt breit, man hielt sich auf dem Laufgang zwischen den Bänken, auf ihnen selbst, auf dem kleinen Dach an der Spitze, unter der korbartigen Bespannung der Poppa. Dort war der Hauptmann Urbina aufgepflanzt. Cervantes drängte sich durch. Urbinas braves Gesicht ging ins Bläuliche, der Helm saß ihm schief. „Was willst denn Du,” rief er dem Nachzügler entgegen, „ich denk’, Du bist krank, geh zur Mutter!”
Ein betäubendes Krachen verschlang seine Worte. Ruder zerbrachen. Bord stieß auf Bord. Die „Marquesa” wurde geentert... Vorderschiffs nickten Turbane über dem Rand. Schon waren die Ersten auf Deck. Alles schlug und stieß sich dorthin, man stieg auf die Hände der brüllenden Sklaven. Die Angreifer stürzten ins Meer. Spanier stürzten mit, Leib rang mit Leib in den Wellen, an Rettung und Flucht dachte keiner. Einer, der auf dem Rücken schwamm, mit den Füßen stoßend, spannte den Bogen, Cervantes sah es, er sah sich als Ziel genommen, der Pfeil schwirrte ab, ein Mann neben ihm stürzte, durchs Auge geschossen. Da traf auch den Schützen ein Ruder und schlug ihn zu Tod. Die „Marquesa” schwamm frei.
Auflösung rings und Getümmel. Kein Plan, kein Gesetz. Regelloser und wütender Mord. Von fünfhundert Schiffen zugleich feuern Geschütze und Mörser, Arkebusen, Trombonen. Schiff um Schiff wird geentert, fünfmal ein jedes und zehnmal. Der Dampf der sechs Galeassen verdunkelt den Himmel. Ritterlich oder nicht — sie hausen übergewaltig. Mittag ist Nacht. Die sprühenden Funken zusammenschlagender Schwerter und Schilde, von Handkeule, Hellebarde und Dolch leuchten wie ein Gewitter. Niemand erkennt mehr, wer Feind und wer Bruder ist. Auf einem Türkenschiff weht plötzlich die Heilandsflagge, auf einer römischen Galeere kommandiert ein Ägypter. Die aufgewühlte See ist bedeckt mit blutigem Schaum. Schon stehen viele Schiffe in Brand, andere sinken, und über Trümmer und Leichen und im Tod sich verbeißende Ringer hinweg sausen die Ruder. Allah- und Cristo-Gebrüll, Wehrufe, Klatschen der Peitsche auf Sklavenrücken, hetzendes Pfeifengeschrill und Trompetengeschmetter.
Die „Marquesa” ist abseits geraten, in freieres Wasser. Nur schwächere Fahrzeuge umschwirren sie hier, Felucken, Tartanen, die leichte Mühe ihr fernhält. Ein Ausblick tut sich auf in das Zentrum der Schlacht.
Dort wird entschieden. Die beiden Admiralsschiffe liegen fest aneinander, die Feldherren selber sind handgemein. Hoch sind die Borde ihrer Schiffe, schwer übersteigbar. Sie werden überstiegen, wieder und nochmals. Die Mannschaft des Kapudan-Pascha ist Sultansgarde, sind Janitscharen, jeder kennt die seltsamen Mützen. Gnadenlos wühlen die krummen Säbel. Don Juans Elite sind Arkebusiere. Aber das kunstreich bediente Gewehr ist ihnen nichts nütze, sie greifen zum Handstahl. Der Admiral ficht unter ihnen im Silberharnisch. Seine feine Krause hat er auch jetzt, obwohl nicht sein Seidentrikot, das würde platzen. Er haut zu und stößt vor und er wütet mit Lust. Er ist kein Feldherr — ein mordender Knabe. Cervantes kann sehen. Alles sieht er.
Da erhebt sich um ihn gewaltiges Rufen. Die „Marquesa” greift an. Urbina hat den Verstand verloren, was will er gegen die schwimmende Burg! Vor ihm die hohe, vergoldete Galeere mit der Purpurstandarte am Bug — es ist das Staatsschiff von Alexandrien. Das will er entern! Aber die „Marquesa” ist niedrig, kaum sind die Bretter geworfen, stürzen die Türken in Klumpen herunter auf ihr Deck. Es gilt. Wie es gilt! Aufruhr und wildes Gemeng, Cervantes im Haufen, und blind schlägt sein Schwert. Neben seinem Kopf ist plötzlich der Kopf des einst gezüchtigten Gallego. Jetzt lacht er. Seine Tierzähne leuchten beim Morden. Er schreit Cervantes was bestialisch Freundliches zu, ein feines Schlachten sei das, so wünschte man’s immer! Und Cervantes freut sich, daß ihn das Vieh anerkennt, und schämt sich, daß er sich freut. Gnadenlos ist der Kampf. „Heilige Mutter Gottes!” stöhnt einer, den es getroffen hat. „Gott hat keine Mutter, Du Hund,” schreit der Moslem und gibt ihm den Rest. Kurze Theologie! denkt Cervantes noch. Da beißt und zerreißt ihn ein Schmerz, der Schild entfällt ihm. Es ist die Hand, seine linke. Kugelzerschmettert, als ein blutender Lappen, hängt sie herunter. Er hat nicht Zeit für die Hand. Die Seinen sind drüben.
An neuer Stelle, mit List, ist das Staatsschiff erklettert, bluttropfend, in der Rechten das Schwert, drängt er mit übers Brett. Schon spürt er nichts mehr. Nackte Halbmenschen pressen sich um die Gerüsteten: den Ruderern hat man die Ketten abgerissen, Waffen gegeben, Freiheit verheißen, nun taumeln sie auf in den Tod.
Mann ringt an Mann. Wo die Waffe zerbrochen ist, mordet die Faust. Reihenweis stürzen die Türken ins Meer. Ihre Purpurflagge wird von der Stange gerissen, johlend schwingt sie ein Spanier, ihm fährt ein Dolch in die Gurgel, andere packen das blutfarbene Tuch. Victoria! schreien sie, Victoria, vence Cristo! Ihnen gehört das Schiff.
„Das nenn ich doch den Geschundenen rächen!” Miguel spricht es laut, an die türkische Bordwand gelehnt. Die Hand, um die ein Fetzen gewickelt ist, brennt vom höllischen Feuer. Aber ihm ist leer und hell, ihm ist frei. Ringsum wird noch geschossen, ihm gilt das nicht... Da fliegen fast gleichzeitig zwei Kugeln in seine Brust. Die erste ist nichts, er fühlt es sofort, matt kommt sie, durchschlägt kaum den Koller. Aber die zweite dringt ein. Er weiß noch: es ist nicht das Herz. Und wie er niedersinkt an der Wand, reißt ihm ein tosendes Siegesgeheul nochmals die Augen auf... Dort in der Ferne, auf hoher Lanze, das blutende Haupt mit dem Bart, es ist das Haupt des Kapudan-Pascha. Sie haben ihn. Don Juan hat ihn. Es ist aus.
Dies war die Schlacht im Griechischen Meer, genannt nach dem Orte Lepanto, der den Alten Naupaktos hieß. Sie hatte drei Stunden gedauert. Zehntausend Osmanen waren gefallen, achttausend gefangen, hundert Galeeren erobert, fünfzig zerstört, stolz an Geschütz und an Fahnen die Beute. Zwölftausend christliche Rudersklaven standen frei aus ihren türkischen Ketten auf. Der Sieg war vollkommen.
Im Vatikan der Papst vergoß Freudentränen, schon sah er Jerusalem christlich. Venedig, vom Alp erlöst, lebte auf zu verdoppelter Weltlust. König Philipp allein blieb kühl, Türkenblut war nicht Ketzerblut, und allzu siegreich war Don Juan.
Der Nimbus des Halbmonds war dahin, seine Macht fast zerstört, sein Reich war zu brechen. Man tat aber nichts. Die Liga zerfiel. Lepanto blieb ohne Folgen.
Sie heilten ihm die Brust und die Hand in den Baracken von Messina und Reggio. An der Brust wußten die Chirurgen wenig zu tun, die heilte wirklich. Aber von Cervantes’ linker Hand blieb unter den Messern der Pfuscher nur ein unbeweglicher und fühlloser Stumpf.
Keine Möglichkeit gab es, Schmerz zu betäuben. Vor schlimmen Operationen machte man den Patienten betrunken und schwächte so sein Bewußtsein. Cervantes verschmähte das, er sah zu, wie die Messer in seinem Fleische wühlten. Es war ein Wunder, daß er hernach vom Starrkrampf verschont blieb. Die Kameraden um ihn starben wie die Fliegen im Herbst.
Monate dauerte die Rekonvaleszenz. Hinter dem Spital in Reggio lag ein kleiner Orangengarten, da saß er in der Sonne und las. Der Seelsorger des Spitals, ein Jesuit, hatte ihm einen Plutarch und einen Thukydides geborgt, beide in lateinischer Übersetzung; er erging sich in seinem Element, unter Brüdern. Der Tag der Schlacht hatte mit gewaltigen Griffen an seinem Innern geformt, nie würde jenes Fieber wiederkehren, dem er sich auftaumelnd damals entrissen hatte. Seine Seele war ruhig und stark, er war dem Tod kämpfend so nahe gewesen, hatte ihn so hundertfach neben sich wüten sehen, daß er ihm vertraut war und ihn nicht mehr schreckte. Erstaunlich war es, daß er noch lebte, ein eigentlich unerwartetes Geschenk; eine feste, gleichmäßige Heiterkeit hatte er als Lebensmitgift aus dem trunkenen Gemetzel davongetragen. Jedermann spürte das.
Der Hauptmann Urbina war mehrmals an seinem Lager erschienen und hatte ihm, im Auftrag des Feldherrn, Ehrengaben an Geld überbracht, einmal fünfzehn Dukaten, einmal zwanzig, dann wieder zehn. Cervantes hatte ihn im Verdacht, daß Don Juan von diesen Zuwendungen nichts wußte. Es stellte sich heraus, daß Urbina, jüngster in den Kriegsdienst verschlagener Sohn eines gelehrten und kultivierten Hauses, eine Zuneigung zu ihm gefaßt hatte. Auch vor der Schlacht hatte er ihn ja bewahren wollen, und die militärische Selbstüberwindung des Kranken hatte ihm Eindruck gemacht. „Ich habe es dem Feldherrn erzählt,” berichtete er, „ich habe es ihm mehrmals erzählt. Allernächstens kommt er und besucht Euch.” Aber Don Juan kam nicht. Er war glänzender beschäftigt. „Er wird Euch einen Empfehlungsbrief schreiben,” sagte Urbina, „er hat es mir zugesagt. Ich habe Eure Taten aufgezählt.”
„Was für Taten denn, Don Diego?”
„Redet nicht Unsinn! Wir wissen es beide. Der Empfehlungsbrief geht an den König. Mit dem reist Ihr nach Spanien zurück, der König macht Euch zum Hauptmann und gibt Euch eine Kompagnie.”
Das freilich wäre das Glück gewesen. Hauptmannsstellen waren höchst einträglich. Vater, Mutter, Geschwister hätten zu leben gehabt.
Die Nachrichten von Hause klangen vage und wenig befriedigend. Zwar die eine der Schwestern war für immer versorgt: sie hatte den Schleier genommen. Miguel versuchte, sie sich vorzustellen in ihrer Barfüßerinnen-Tracht, aber ihr Gesicht verschwamm ihm und entschwand. Wo Bruder Rodrigo sich kriegerisch umhertrieb, wußte er nicht. Den Lebenswandel der älteren Schwester Andrea umgaben Gerüchte; sie schien mit wechselnden Männern zu leben, nicht mehr im Elternhaus. Auch gab es kein Elternhaus mehr. Der kleine Besitz in Alcala war verkauft, schuldenhalber versteigert, wie Miguel vermutete. Nachricht kam aus Madrid, aus Sevilla, aus Valladolid. Der Vater, der in seiner Jugend einmal Rechtsstudien getrieben hatte, schien als eine Art Konsulent oder Winkeladvokat unstet sein Glück zu versuchen. Leicht fallen mochte es ihm nicht, denn jeder seiner Briefe klagte über zunehmende Taubheit. Die Mutter schwieg ganz. Sein Unvermögen, den alternden Leuten einen Abend ohne Sorgen zu schaffen, quälte Cervantes.
Endlich entließ man ihn als gesundet. Seltsam, doch keineswegs abstoßend anzuschauen, hing ihm der Handstumpf im Ärmel. Er sah aus wie ein Stück brauner Fels.
Welch ein Segen, daß es die Linke war! Man band sich eben den Schild am Arme fest... Frische Waffentaten gegen den Türken schienen in Vorbereitung. Vielleicht konnte er in neuer, glänzender Aktion das Glück an der Stirnlocke fassen.
Aber die Zeit des kriegerischen Gelingens war dahin, für ihn und für Don Juan. Planlos und ohne Stern wurden die Unternehmungen im Mittelmeer weitergeführt, verzettelt, mit immer unzulänglichen Mitteln. Mehrmals hielt man die Faust zum Schlag schon erhoben und ließ sie nicht niedersausen. Dann wieder schlug man wohl zu, aber ein zweiter Streich war vonnöten, der blieb aus, und kaum verletzt erhob sich der Gegner. Längst gab es wieder eine mohammedanische Flotte. Sie gefangen zu nehmen und abzutun war Gelegenheit im Hafen von Navarino; aber Uneinigkeit lähmte jeden Entschluß, und unverrichteter Sache ging die Armada der Christen zurück.
Unruhig trieb den Feldherrn sein Ehrgeiz umher. Tunis eroberte er. Er eroberte es für sich, als sein Königreich, und ließ durch den Vatikan Philipp seinen Wunsch unterbreiten. Philipp erschrak. Selbst unkriegerisch, sah er mit Argwohn auf den Stürmer von halbechter Geburt. Vorsorglich wies er zunächst seine Kanzleien an, Don Juan d’Austria in der Korrespondenz ja nicht mit „Hoheit”, nur mit dem Exzellenztitel anzureden. Dann entzog er ihm sacht seine Unterstützung an Geld und Reserven. Im nächsten Jahr ging Tunis wieder verloren, und diesmal auf immer.
Don Juan warf seine Blicke über die Staaten. Er wollte herrschen. Bei der Republik Venedig hatte er angesucht, ihm für geleistete Dienste einen Teil ihres Inselbesitzes als souveränes Fürstentum anzuvertrauen. Die Antwort war, daß Venedig mit der Pforte Frieden schloß. Die Türken erstarkten, übermütig kontrollierten die berberischen Raubstaaten weiter das Mittelmeer. Ihre Korsaren streiften an allen Küsten entlang, brandschatzten die Seestädte, überfielen die Schiffe, führten Menschen und Güter als gute Prise in ihre afrikanischen Nester hinweg.
Für die Truppen des Königs war selten der Sold da. Als überlästige Gäste lagen sie in den schönen Städten Italiens. War eben keine neue Unternehmung im Gang, so wurden die Regimentsverbände gelockert und die Mannschaften sich selbst überlassen. Truppweis durchzogen sie die Halbinsel, kühn anzusehen, stets das Wort Ehre im Munde, aber prahlerisch auch, ohne Achtung für Leben und Eigentum, düster und ausschweifend. Wahrhaftig, man liebte sie nicht.
Es kam ein Tag, da König Philipp seinen Generalissimus aus dem Südmeer zurückrief. In unklaren Ausdrücken wurden irgendwelche Aufgaben in der Lombardei in Aussicht genommen. Der Zeitpunkt war offen gelassen, als Sammelplatz der Truppen Genua bestimmt. Das Regiment Figueroa, dem Cervantes nun zugeteilt war, gehörte zu ihnen.
Ihm fehlte jede Lust, mit dem Haufen zu ziehen; ohne viel Beschwer erlangte er die Erlaubnis, sich allein von Neapel nach Genua durchzuschlagen. Jedes Maul, das nicht gestopft werden mußte, bedeutete eine Erleichterung für die bedrängte Heeresverwaltung.
Rasch war ein Pferd aufgetrieben. Ein neapolitanischer Ölhändler, der nach Rom wollte, beglückwünschte sich, für den unsichern Weg militärische Begleitung zu finden. Auf einem guten Rappen trabte Cervantes neben und hinter ihm drein die alte Via Appia. Am vierten Mittag durchquerte er auf hohem Damm den bläulichen Dunst der Pontinischen Sümpfe. Zur Rechten und Linken hoben aus dem giftigen Gras Büffel das zottige Haupt. Aber als es gegen den Abend ging, standen vor ihm in der goldenen Sommerluft die Hügel und Kuppeln von Rom.
Nachdem er dem Kaufmann sein Tier zurückgegeben, war noch die ganze Stadt zu durcheilen. Ihm klopfte das Herz. Jetzt erst wurde es ihm bewußt, wie sehr er sich freute, den Kanonikus Fumagalli wiederzusehen und den gütigen Aquaviva. Wahrscheinlich hatte er es nur darum durchgesetzt, einzeln auf dem Landwege zu reisen.
Alle Tore am Palast standen offen. Niemand kümmerte sich um den fremden Kriegsmann, niemand befragte ihn. Unter dem Papst, der jetzt hier residierte, schien Verkehrsfreiheit zu herrschen im Vatikan. Er stülpte sich den Eisenhut verwegen ins Gesicht, schob seinen Dolch im Gürtel nach vorn und stürmte die bekannten Treppen empor, um dem streitbaren Alten recht militärisch in die Arme zu eilen. Kleriker, die neben ihm herniederstiegen, blickten sich um und zuckten die Achseln.
Da war die Tür. Mit einem Ruck stieß er sie auf und stand still. Von seinem Betschemel erhob sich mit Indignation ein fremder Priester, jung, spitznäsig und pergamenten, und fragte gemessen nach dem Begehr. Cervantes stammelte. Sein Blick ging über das Zimmer. Noch hingen die Hannibalsteppiche an ihrer Stelle.
Der Priester wußte nichts. Vor ihm hatte ein Beamter der Index-Kongregation in diesen Wänden gehaust. Nicht einmal den Namen des Kanonikus hatte er jemals gehört.
Dann stand Cervantes vor dem Appartement Aquavivas. Er pochte schüchtern ans Vorzimmer. Niemand rief. Drinnen war alles leer, die Türen, die von einem Zimmer zum andern führten, standen offen. Es herrschte eine lebenslose Ordnung.
Ein Hauswart gab dem fremden Soldaten endlich Bescheid. Niemand lebte mehr. Bald nach dem strengen Papst war der Kanonikus Fumagalli gestorben, vor zehn Tagen aber der Kardinal. Im Lateran war sein Grab.
Der Pförtner suchte in seinem Pult. „Ich muß noch das Blättchen haben, Herr Soldat,” sagte er freundlich, „das sie nach seinem Absterben verteilt haben. Aber Ihr werdet es auch nicht lesen können, es ist lateinisch.”
„Gebt immerhin,” sagte Cervantes.
„Vix credi potest,” las er beim Öllämpchen mit verschleierten Augen, „quanto cum moerore totius urbis decesserit, tantam sibi benevolentiam et gratiam ab omnibus comparaverit, morum suavitate ac vitae innocentia.”
„Sanft war er und voller Unschuld, das ist wahr,” sagte er dann und reichte dem Mann das Seine zurück. „Die Seligkeit ist ihm gewiß.”
„Amen,” sagte der Pförtner.
Er schritt durch Galerien und dunkelnde Höfe und suchte den Turm, darin er gewohnt hatte. Er sah einen Stumpf vor sich. Sie rissen ihn ab. Lange stand er davor. In der sinkenden Nacht glich der Stumpf einer riesigen, abgebrochenen Säule auf einem Grabmal der Alten.
Obgleich heute nirgends der Ausgang verwehrt schien, suchte er sich durch zu der kleinen Porta Posterula, die in lehmiges Ödland hinausführte. Er Umschrift den Palastkomplex, fand Zäune und Gräben auf seinem Weg und gelangte durch die schweigenden Gassen des Borgo zur Engelsbrücke... In der nächsten Herberge warf er sich, ohne Licht anzuzünden, in seiner Kammer aufs Bett.
Am nächsten Morgen ganz früh zog er weiter, zu Fuß gegen Norden. Leicht war sein Gepäck. Einen kleinen Ledersack hatte er sich über die Schulter gehängt, daran baumelte auch sein Helm, fast anzusehen wie ein Kochtopf. Hiebschwert und Schild hatte er bei der Bagage zurückgelassen und trug nur Pistole und Dolch im Gürtel. Ein geknotetes Tuch schützte ihm das Haupt vor der Sonne, ein geschnittenes Holz schwang er als Wanderstab.
Nicht schnell kam er vorwärts. Er sah Viterbo mit seinen schönen Brunnen, Bolsenas Felsen im See, Siena das ernste und prächtige. Am zehnten Tag stand er im Toskanischen an einem Kreuzweg. Dort gleich zur Rechten lag Florenz, es war keine fünf Stunden hinüber. Doch es war nicht sein Weg. Er rastete ein wenig unter einer weitschattenden Platane, die dastand, und bedachte sich. Dann nahm er Sack und Stab wieder auf, ließ sich über den Arno setzen und wandte sich weiter schräg gegen das Meer.
Schön und friedlich war die Gegend, die sich da hinbreitete im sinkenden Licht. Sanfte Hügel überall, bedeckt mit Kastanie und Maulbeer, Reben an jedem Abhang, die Ebene angebaut wie ein Garten. Sorglos weitum verstreut Bauernhöfe und Villen, man sah es dem Lande an, daß hier seit Langem kein Krieg gewüstet hatte. Die Straße zog hügelan hügelab, eine Mondnacht war da, der einsam wandernde Soldat wurde müde. Da stand er ganz unvermutet vor Mauer und Tor. Über die Zinnen nickte ein Wald; kein Haus, kein Turm war drüben zu sehen. Vor dem Tor, im Schein einer Fackel, saßen Soldaten um einen Tisch und würfelten. Es waren deutsche Landsknechte, Cervantes sah’s an der Tracht.
Gleichmütig wiesen sie ihn ab und deuteten zur Erklärung an seinem Aufzug hinunter. Er begriff, daß hier für fremde Bewaffnete kein Einlaß war. Verständigung durch Worte war schwierig. Da nahm er lachend seine Pistole vom Gürtel und zielte mit gespielt hilfloser Geste auf die Stadtmauer. Sie verstanden, lachten auch und ließen ihn ein.
Der innere Wall war dicht mit Bäumen bepflanzt, dies war der Wald, der dem Nahenden die Türme verdeckte. Durch enge Straßen, sauber gepflastert, schritt er voran. Niemand war unterwegs. Er überquerte ein kanalartiges Wasser und stand schon wieder am Stadtrand.
In einem Häuschen, das etwas abgesondert lag, schimmerte zu ebener Erde durch die geschlossenen Läden noch Licht. Über der Tür ragte wagrecht ein geschmiedeter Arm mit einem Hut als Wirtszeichen, dessen schwarzer, frisch erneuerter Lack im Mondschein glänzte.
Er pochte. Beim vierten Mal erst ward aufgetan, und eine Kerze in der Hand stand die Wirtin vor ihm, ein junges, rundliches Weibchen mit erschrockenem Gesicht. Er bat um Quartier.
„So spät, Herr Soldat,” sagte sie ängstlich.
„Eben! So spät. Da muß man schlafen gehen.”
Noch immer zaudernd ließ sie ihn ein und geleitete ihn die Stiege hinauf. „Wollt Ihr mir noch ein Brot heraufschicken und ein Glas Wein?” sagte er in der Kammer.
Sie nickte. „Ihr seid ein Spanier?” fragte sie unter der Tür.
„Die habt Ihr nicht gern, will mir scheinen.”
„Wir kennen sie wenig. Hier kommen keine her. Einer war hier im vergangenen Jahr. Der war aber ganz anders.”
„Wie denn?”
„Gewaltig.”
Er hatte weiterziehen wollen am Morgen. Aber er blieb.
Im saubern und weichen Bett hatte er gut geschlafen wie lange nicht. In keiner anderen Herberge am Weg hatte es Fenster aus Glas gegeben und nirgends ein Waschgefäß.
Wie er hinunter kam, bemerkte er, daß der „Schwarze Hut” sich fast an die Stadtmauer lehnte. Nur ein Gärtchen trennte das Haus von dem baumbestandenen Innenwall. Zwei Steintische, eingerammt, mit steinernen Bänken, standen da. Cervantes bekam seine Morgensuppe.
„Da seid Ihr aber nahe am Feind,” sagte er zur Wirtin, die ihm gegenüber saß. „Wenn der kommt, springt er Euch gleich in den Garten.”
„Oh, zu uns kommen sie nicht. Uns schützt der Kaiser in Wien.”
„Wollen’s hoffen!”
„Wir haben auch unsere Freiheiten,” sagte sie stolz, „nicht einmal die Inquisition gibt es bei uns.”
Das ummauerte Örtchen, darin sich Cervantes befand, war die Stadt Lucca. Ein friedliches Gemeinwesen, das sich selber verwaltete, eine Art Republik oder ein Herzogtum ohne Herzog, unter dem Protektorat des Römischen Kaisers. Seine Landsknechte hatten vorm Tor unter der Fackel gewürfelt.
Zwei Kinder waren herangekommen, ein Mädchen von acht oder neun und ein Bübchen, das zwei Jahre jünger sein konnte. Es waren hübsche, saubere Geschöpfe, und sie sahen der Hausfrau ähnlich.
„Denen sieht man’s an, wer sie an der Brust gehabt hat,” sagte Cervantes, „die könnt Ihr nicht verleugnen.”
„Und doch irrt Ihr Euch, Herr Soldat. Bloß der Kleine ist meiner. Das Mädchen” — sie neigte sich vor und flüsterte — „hat meiner Schwester gehört, drüben in Massa, die ist seit vier Jahren tot.”
„Oh!”
„Die Besten müssen immer am frühesten fort. So einen guten Mann habe ich gehabt...”
„Ihr seid schon Witwe! So jung.”
„Mit siebzehn hab ich geheiratet. Er hat den Kleinen garnicht mehr gesehen. Jetzt bin ich vierundzwanzig. Da ist das Leben schon aus.” Sie seufzte beschaulich.
„Freilich, freilich. Mit vierundzwanzig — was soll da noch kommen!”
Sie lächelte unbestimmt. Etwas ungemein Gutmütiges, Zutrauliches ging von ihrer ganzen kleinen Person aus. Jetzt schon am Morgen war sie sorgfältig angezogen und hatte das braunrötliche, ein wenig krause Haar adrett aufgesteckt.
Der kleine Junge war auf die Bank geklettert. Er stand neben der Mutter und schaute in Cervantes’ linken Ärmel hinein.
„Was hast Du denn da,” fragte er, angezogen und furchtsam zugleich, und deutete auf den felsigen Stumpf, „garkeine Hand, oder was ist’s?”
Die Mutter war flammendrot. „So fragt man doch nicht, Domenico!” rief sie zornig.
„Laßt ihn doch... Da sind Deine zwei Pfötchen eben schöner,” sagte er zu dem Kind, und umschloß sie ihm sanft mit seiner Rechten.
„Was mögt Ihr alles erlebt haben! Ihr müßt uns erzählen.”
„Blutige Geschichten — was wollt Ihr damit!”
„Vielleicht heute Abend. Ihr seid doch noch da?”
„Ich werd’ schon noch da sein,” sagte Cervantes.
Er war auch am dritten und am fünften Tage noch da. Ein leichtes, heiteres, friedevoll geschäftiges Leben zog ihn in seinen Zauber.
„Ihr habt viel Vertrauen, Frau Wirtin,” sagte er einmal. „Woher wißt Ihr, daß ich’s bezahlen kann.”
„Wenn Ihr kein Geld mehr habt, nehm’ ich Euch Dolch und Pistole.”
„Dann kann ich ja garnicht mehr fort!”
„Dann bleibt Ihr eben,” sagte sie leise.
Übrigens war das Leben billig im „Schwarzen Hut”. Ein Glas von dem leichten, erfrischenden Wein kostete bloß einen Soldo. Deshalb ging das Geschäft auch vortrefflich, immer war die Schankstube voller Menschen. Aber am Abend, wenn es stiller wurde, saßen die Nachbarn lauschend um Cervantes herum.
„Das nenn’ ich erzählen, Frau Angelina,” sagte der Wagner Dinucci, als Cervantes gerade nicht dabei war. „Man greift alles mit Händen, ja man riecht es, wenn Ihr wißt, was ich damit sagen will. Das ist was anders als der Spanier, der im vorigen Jahr hier war...”
„Erinnert mich bloß nicht an den, Meister Dinucci! Mir tut noch mein Geld leid. Jeden Tag wollt’er ein Hähnchen, manchmal auch zwei, und dann war er fort und ließ mir ein Paar zerrissene Strümpfe im Kasten zu aller Bezahlung.”
„Ich seh ihn noch sitzen in Eurem Gärtchen mit seinen Bändern und Ketten. Wenn man dem glaubte, so gab’s keine Stadt bis nach Peru, die er nicht kannte, in allen Schlachten war er dabeigewesen und hatte mehr Ungläubige umgebracht mit eigener Hand, als in ganz Afrika wohnen. Ich Ich Ich, ging das immer bei ihm, und es klang als wollte er sagen: Ich Euer König. Habt Ihr den Don Miguel schon einmal Ich sagen hören? Mir scheint, er weiß garnicht, wie das Wort auf Italienisch heißt.”
„Trinkt das Glas auf sein Wohl,” sagte Angelina dankbar, „es kostet nichts.” Und sie goß ihm ein bis zum Rand.
Es konnte den harmlosen Leutchen nicht bunt und wild genug zugehen in Cervantes’ Geschichten. Nie kam eine gedruckte Nachricht zu ihnen. Vor allem die algerischen Seeräuber beschäftigten ihre Phantasie. Welch ein Glück, daß die benachbarte Küste unwirtlich und arm war! So war hier noch keiner gewesen.
Cervantes mußte von ihren Schiffen erzählen, die klein und leicht waren, mit gewaltigen Segeln. Blies kein Wind, so ruderten sie wie der Blitz. Die Sklaven am Ruder fielen tot um vor Ermattung und wurden ins Wasser geworfen. Nachts fuhren sie ganz ohne Licht und Geräusch und waren plötzlich da wie der Tod. Ungeheure Schätze brachten sie heim. Auf ihren Galioten und Felucken war der Mastbaum hohl und inwendig ganz voller Gold: Zechinen und Dublonen. Das war lauter gemünztes Christenblut. Cervantes kannte sie alle bei Namen, die hochberühmt und gefürchtet die Meere durchschnitten. Da war Djafer aus Dieppe, Hassan-Veneziano, Dali-Mami. Und der Berühmteste von allen war Chaireddin Barbarossa gewesen, der war Beglerbey und Herr über Afrika.
Aber Fröhlichkeit gab es und unendliches Lachen, wenn er die Janitscharen beschrieb, des Sultans Gardesoldaten, grausam tapfere Leute, nur sonderbar an Sitten und Tracht.
„Sie wohnen bei einander in ihren Kasernen, die fast sind wie Klöster. Keine Frau darf je zu ihnen hinein. Sie kochen sich selber und führen eine gemeinsame Wirtschaft. Das Essen muß ihnen das Wichtigste sein, denn nach der Küche heißen bei ihnen Würden und Rang. Oberkoch heißt einer, der bei uns ein Feldoberst wäre, da gibts Fleischröster, Bratenvorschneider, Brotbäcker und Küchenjungen. Kochmützen haben sie auf von verschiedener Gestalt, die sind mit Reiherfedern geschmückt. Und ihre Fahne — die ist ein Suppentopf.”
„Ein Suppentopf,” riefen sie alle, „ein richtiger, wirklicher Suppentopf?” Die Kinder, die nicht hatten zu Bett gehen wollen, schrieen am meisten, sie kletterten auf seine Knie.
Es war ein paar Stunden darauf in der Kammer. Die Kerze brannte noch. Das Fenster stand offen, man hörte den Brunnen. Angelina war eingeschlafen, ihr rechter Arm, sanft gepolstert, hing mit offener Hand über den Rand der schmalen Bettstatt. Aus ihrem krausen Haar kam ein Hauch von Orangenwasser, dem ganz schwach und nicht unangenehm ein kleiner Duft nach Gebratenem beigemischt war. Drüben auf dem Tisch, ein wenig zu nahe der Kante, sah Cervantes seinen Helm liegen, übermütig hatte Angelina ihn zuvor aufprobiert: den Eisenhut auf den rötlichen Locken, mit nackter junger Brust, hatte sie ausgesehen wie eine ländliche Halbgöttin auf einer gemalten Allegorie. Cervantes lächelte und zog ihr sacht das Kissen zurecht.
Zwei Wochen war er nun hier. „Wenn wir also dann heiraten,” hatte sie heute zum ersten Male gesagt, ganz ohne Aufhebens und so nebenbei, als verstünde sich diese Absicht von selbst.
Und war es nicht wirklich das Beste? Ein vertrauender, freundlicher Mensch bot sich ihm an, häusliche Zufriedenheit, bescheidener Wohlstand. Ein Gastwirt in Lucca, Bürger unter Bürgern in einem kleinen Staatswesen, das sich duckte unter den Stürmen der Zeit — gewiß, mit anderen Träumen im Herzen war er ausgezogen. Aber sechs Jahre trieb es ihn nun umher, und er war nicht einmal so weit, denen zuhause aus ihren Sorgen zu helfen. Kirche, Meer oder Königshaus, — er gedachte der glückverheißenden Dreiheit. An ihm schien der Spruch sich nicht zu bewähren. Als Soldat war er nicht weitergekommen. Don Juans Brief an den König, den der gute Urbina verheißen, er kam nicht. Er würde auch niemals kommen. Und ohne einen solchen Protektor waren die militärischen Aussichten gar zu gering. Um im üblichen Turnus Hauptmann zu werden, mußte man zehn Jahre lang als Fähnrich gedient haben; und er war noch nicht einmal Fähnrich. Auch von Dichterruhm hatte er einmal geträumt. Er lächelte nachdenklich. Leicht und gefällig waren ihm die Strophen aus der Feder geströmt, und Meister Hoyos war voller Lob. Das lag weit dahinten. Jeder junge Herr in Spanien dichtete so. Da wäre es in der Tat noch klüger gewesen, sich die Tonsur scheren zu lassen und auf eine Pfründe zu hoffen. Aber alle waren sie tot in Rom. Das war auch vertan und vergessen.
Er löschte die Kerze mit seinem unempfindlichen Handstumpf und schlief ein neben Angelina. Er träumte selten. Heute träumte er. Er stand vor seinem Vatikansturm in Rom, Gewölk hing niedrig, Donner rollte, blaue Blitze durchleuchteten die Nacht. Der Turm, überhängend schon, stürzte mit gewaltigem Krachen, Staub und Trümmerwerk wirbelte. Er aber stand aufrecht im Steinschlag. Und es hallten die Worte aus übermenschlichem Mund, Fumagallis Spruch: Si fractus illabatur orbis — Und wenn das Erdenrund zusammenkracht, so treffen einen Unerschrockenen die Trümmer!
Er saß aufrecht im Bett. Die Dämmerung war schon da. Die Eisenhaube lag am Boden und war ein Stück herangerollt bis zur Bettstatt. Auch Angelina wach, sie faßte nach seinem Arm. „Mir hat geträumt, sie schießen Dich tot,” sagte sie mit erschrockenen Augen.
„Der Helm ist heruntergefallen. Schlaf noch ein Weilchen!”
Zwei Stunden später stand er reisefertig vor ihr im Garten. „Was tust Du mit einem Krüppel und bettelarmen Soldaten,” sagte er. „Etwas Besseres verdienst Du und wirst es auch finden.”
Sie klammerte sich an ihn, sie weinte laut, unbekümmert, ob man es sähe, umschlang sie ihn und küßte ihm Brust und Mund. Er machte den Abschied kurz. Er sah sich nicht um. Er schritt davon durch das nördliche Tor, das ganz nahe lag.
Draußen erst machte er Halt. Aber schon war nichts mehr zu sehen, kein Haus, keine Kirche. Die hohen, dichten Bäume des inneren Walls verdeckten die Stadt. Vor dem Tor saßen Landsknechte um eine Trommel und würfelten, schon jetzt in der Frühe.
Kräftig wanderte er hin im Augustmorgen und gewann das Meer. Am vierten Tag konnte er in Genua sein, bei seinem Regimente.
Aber als er am zweiten den Hafen Spezia hinter sich hatte und auf einer geraden und baumlosen Landstraße ausschritt, sah er in der Ferne einen Heerhaufen ihm entgegenmarschieren. Als sie näherrückten, erkannte er spanische Tracht, gleich auch schon das Fähnlein, das der Vorderste trug: es waren seine Leute.
Er wechselte Gruß und kurze Fragen. Aus der lombardischen Aktion war nichts geworden, sie zogen auf dem Landweg zurück nach Neapel. Verdrießlich war es, dies plan- und nutzlose Hin und Her. Er reihte sich ein und zog mit. Die Hintersten begannen ein frommes Marschlied zu Ehren der Jungfrau, aber bei der zweiten Strophe wußte keiner recht weiter, und sie verstummten. Es ging gegen Mittag, beizender Staub wirbelte auf. Cervantes hustete, er wechselte seinen Platz und reihte sich vorn ein. Nun marschierte er neben der Fahne.
Der sie trug, war ein großgewachsener, breiter Mensch, gut einen Kopf höher als Cervantes. Wortlos schritt er neben dem her. Auf einmal fühlte er sich mächtig umschlungen und angehalten. Der ganze Zug kam ins Stocken.
„Wahrhaftig, er ist’s,” rief der Fahnenträger, und sein Baß bebte vor Wonne.
„Wer soll ich sein, bei allen Türkenschweinen!” rief Cervantes wütend und machte sich frei. Da erkannte er seinen Bruder Rodrigo.
Nichts geschah in Neapel. Die Stadt war voll von lungernden Truppen. Gerüchte von bevorstehenden Kriegstaten kamen Tag um Tag auf und zergingen wie Seifenschaum. König Philipp hatte den Osten vergessen. Die ketzerischen Niederlande waren der Stachel in seinem Fleisch. Schon drohten Holland und Seeland kühn mit dem Abfall, im Angesicht der ganzen ungeheuren spanischen Monarchie.
In der wimmelnden Südstadt lebte Cervantes traurige Sommertage. Sein Geld ging zur Neige. Zwar wäre das kein Unglück gewesen, denn Bruder Rodrigo war ihm zur Seite, den frischen lombardischen Sold in der Tasche. Den kümmerte nichts. Er drang ihm auf, was er hatte. Vom ersten Tage an hing er mit einer kindlichen Abgötterei an dem Bruder, fand unvergleichlich, was er getan, und prophezeite ihm Großes. Miguel mußte oft lächeln, wenn er ihn ansah. „Ich bin eine Ausgabe von Dir in Duodez,” sagte er einmal — ein buchhändlerischer Vergleich, den der ungelehrte Rodrigo wahrscheinlich garnicht verstand, der aber zutraf. Der Fähnrich sah seinem Bruder ähnlich, nur war alles an ihm, Gliedmaßen und Züge, vergrößert und vergröbert, die hochgespannten Brauen buschten sich waldig, und die Adlernase sprang vor wie ein Berg.
Nach einem Monat hatte Cervantes es satt. „Ich reise, Rodrigo,” sagte er unvermittelt. „Hoffentlich geht bald ein Schiff.”
Rodrigo war sofort einverstanden. „Wir reisen,” sagte er, „ausgezeichnet, mein Miguel. Nur sag mir, wohin.”
„Nach Spanien. Nach Hause. Du auch?”
Es war eine Bankerott-Erklärung. Nach sechs Jahren Abwesenheit, fünf Jahren Kriegsdienst, kehrte er heim, zum Krüppel geschossen, ohne Rang, ohne einen Dukaten, darauf angewiesen, in den Vorzimmern der Madrider Kanzleien zu sitzen, seinen Armstumpf zu zeigen und sich irgendein Ämtchen zu erbetteln. Von der prinzlichen Empfehlung war nicht ferner die Rede. Wenn ihm der Hauptmann Urbina begegnete, wurde sein rotes Gesicht noch röter und blickte beschämt zur Seite.
Mit der Heimfahrt übrigens traf es sich günstig. Man schrieb Mitte September. Am zwanzigsten waren drei Galeeren fällig nach Spanien; selten wagte ein einzelnes Schiff die Reise durch die bedrohten Meere. Cervantes meldete seinen Abschied dem Hauptmann. Der war verlegener als jemals.
Vom frühen Morgen an hielten sich die Brüder am Molo, in dessen Nähe die Schiffe ankerten. Das kleinste von den dreien, das ihnen bestimmt war, hieß etwas prahlerisch „El Sol”. Ihr Gepäck war gering, Waffen und Ledersack, das war alles. Andere Reisende fanden sich ein, eine farbige Gesellschaft. Das Militär überwog, aber es waren auch Beamte des Vizekönigs darunter, die heimkehrten, Kaufleute, Priester, Frauen und Kinder. Ein aufgeregtes Schwatzen und Lachen erhob sich. Fliegende Händler, aufdringlich, boten ihre Waren an, im seltsamen Wahn solcher Leute, der Reisende wolle sich durchaus mit unnützem Kram noch beschweren. Zwei Spielleute, Trommler und Pfeifer, musizierten betäubend. Einige Herren ließen sich auf offenem Landungsplatz noch rasieren.
Gleich hinter dem Molo lag das mächtige, alte, aragonesische Schloß. Dort wohnte der Vizekönig, und dort als sein Ehrengast logierte auch wieder Don Juan d’Austria. Weit war Lepanto, weiter die Flottenparade, da Cervantes den Kaisersohn zum ersten Mal erblickt hatte in elegantester Pracht.
Rechts, jenseits des kleinen Bassins, wurde gemetzt und gehämmert. Es war das neue Kriegsarsenal, das da in die Höhe stieg. Cervantes ertappte sich darauf, daß er mit einer Art Neid zu den Maurern hinüberblickte. Die sahen etwas entstehen unter ihren Händen, die wurden gebraucht!
Der Kanonenschuß vom Inselkastell verkündete Mittag. Auf den Galeeren stiegen die Flaggen. Einer nach dem andern booteten die Passagiere sich ein. Eine klare Sonne strahlte hoch am Himmel, aber milder Dunst lag über der Bucht. Die Felsenwände des entfernten Sorrent lagen in blauen Schatten.
„Auf was warten wir noch, Bruder,” sagte Rodrigo und war aufgestanden. „Schiffen wir uns ein wie die Andern.”
Cervantes zögerte ohne Sinn vor dem endgültigen Schritt. War erst der italische Boden verlassen, schien ihm jede Hoffnung vorbei. Er wandte sich im Sitzen um und blickte zurück auf die hochgestaffelte Stadt. So verharrte er lang. Sie waren fast schon die Letzten.
Da sah er um die Ecke des Schlosses und über den Platz, der jetzt beinahe leer war, einen kriegerisch gekleideten Mann auf sie zueilen. Er legte die Hand über die Augen und erkannte den Hauptmann. Schon von Weitem rief er und schwenkte Papier in der Hand, der Helm saß ihm schief wie am Tag von Lepanto.
Die Trompeter auf den Galeeren bliesen das erste Zeichen. Der Ruderer winkte. Urbina, mit triumphierendem rotem Gesicht, war heran.
Da alles nichts gefruchtet hatte und die äußerste Stunde gekommen war, hatte er alle militärische Regel beiseite geworfen. Den Harnisch gescheuert, mit Schärpe und Ordenskreuz, begab er sich zu dem Schloß der Könige von Aragon. Aber hier verließ ihn der Mut. Fast zwei Stunden wanderte er auf und ab vor dem Triumphbogen, der nach der Landseite den Eingang bildete. Die ehernen Torflügel waren geschlossen, im linken stak eine Geschützkugel, und es quälte Urbina, daß er nicht wußte, wie die dahin gekommen war.
Als der Mittagsschuß hallte, war nicht mehr zu zaudern... Urbina fand den Feldherrn in seinem Salon, trübe beim späten Frühstück. Er kannte den Hauptmann. Er wußte, weshalb er kam. Es handelte sich um diesen gewissen Cerveedra oder wie er nun hieß, zum vierten Mal schon behelligte ihn die Quisquilie. Als ob es so angenehm gewesen wäre, dem königlichen Bruder im Escorial mit einer Bitte zu kommen!
Aus matten Augen, unter denen sich Säcke zu bilden begannen, blickte er auf zu dem Offizier. Der legte seine Blätter auf den speisenbesetzten Tisch, zwischen die Teller. Der Einfachheit halber hatte er das Empfehlungsschreiben schon selber entworfen und zwar in doppelter Ausfertigung, einer ausführlichen und einer knappen. Die ließ er Don Juan zur Wahl. Untertänig, inständig jedoch erneuerte er seine Petition. Heute, gleich jetzt, segelte jener Tapfere, für den er bürge! Er fühle sich selber beeinträchtigt, von seinem Feldherrn an der Ehre verletzt, rief er zitternd vor Dringlichkeit, wenn sein Antrag wieder verworfen werde.
Keine Antwort kam. Apathisch kaute der Kaisersohn. Da tat der Hauptmann Urbina sein Äußerstes. Mit fliegenden Händen nestelte er sich sein Ritterkreuz von Santiago vom Hals und warf es scheppernd auf die Dokumente, zwischen Saures und Scharfes.
Der junge Herr sah auf und blickte in das ehrliche und erbitterte Gesicht. Dann winkte er seufzend dem servierenden Diener und unterschrieb mit dem dargereichten Kiel das nächste der Dokumente. Es war durch Zufall das kurze.
„Nun laßt mich essen,” sagte er matt, „und kommt mir nicht wieder!”
Aber als Urbina draußen war und glücklich wie ein Bräutigam die Treppe hinuntereilen wollte, stieg ihm entgegen mit militärischer Suite der Hausherr und Vizekönig, Grande von Spanien. Der Schwung des Erfolges riß den Hauptmann hin, alles dünkte ihn leicht. Er bog auf dem Podest sein Knie vor dem erstaunten Gouverneur, hob ihm das nicht unterzeichnete Blatt unter die Augen und berichtete in fliegender Kürze seinen Fall.
„Gern,” sagte der Grande, „folgt mir nur bitte ins Zimmer.” Es mochte ihm schmeicheln, daß seine Fürsprache neben der des prinzlichen Großadmirals noch für nötig gehalten wurde.
Wenig erfuhr Cervantes von all dem. Schon blies die Trompete zum zweiten Mal. Er hielt die gefalteten Schriftstücke in der verbliebenen Hand, und die Tränen strömten ihm übers Gesicht. Rodrigo stand ehrerbietig daneben, beseligt auch er, aber garnicht erstaunt, es war ja nur selbstverständlich, daß für Miguel jedermann sein Bestes einsetzte. „Geleit’ Euch die Jungfrau!” sagte der Hauptmann. Und das war alles.
Zur guten Zeit hatte sich ein Südwind erhoben und trieb das kleine Geschwader den richtigen Weg, am Kap Misenum vorbei, durch die Straße von Procida. Bald aber war Meeresstille. Eng beieinander sich haltend schlichen die drei Schiffe die italische Küste entlang gegen Norden. Das offene Meer ohne Not zu überqueren, wäre tollkühn erschienen.
So war es eine langsame, aber eine heitere Fahrt. Jedermann freute sich auf die Heimkehr, an Bord der „Sonne” schien kein Unglücklicher zu sein. Auch die Ruderer waren hier freie Matrosen, sie sangen sich auf ihren Bänken den Takt.
Von allen der Glücklichste war der Fähnrich Cervantes. Er konnte sich nicht sattlesen an den Dokumenten, die seines Bruders Ehre und Zukunft bedeuteten. Er wußte sie auswendig, er zitierte sie jedermann. „Ein Soldat, der bisher vernachlässigt war, der sich aber durch seine Tapferkeit, Einsicht und tadellose Aufführung die allgemeine Achtung erworben hat,” wiederholte vor Kaufleuten, Mönchen und Frauen sein entzückter Baß.
Der so Gekennzeichnete saß meistens still in der Nähe der Poppa und las. Nur als das Schiff an Toskana hinauffuhr, las er nicht, sondern blickte lange aufs Ufer. Wenige Meilen landeinwärts lag das ummauerte Städtchen des Kaisers mit den Bäumen am Wall.
Genua kam in Sicht, auf Tage dann der prangende Streif der ligurischen Küste, hinter dem unvermittelt und zackig die Seealpen aufsteigen.
Es war in der sechsten Nacht. Kein Lüftchen ging. Aber Morgen um Mittag mußte Marseille doch erreicht sein und wieder nach einem Tag spanisches Land.
In ihre Mäntel gewickelt lagen die Brüder nebeneinander auf Deck. Rodrigo schlief schon. Wie Cervantes sich auf die rechte Seite wandte, um auch den Schlummer zu suchen, knisterten auf seiner Brust die Briefe an König Philipp. Dies war der Wohlstand, war Geborgenheit der Seinen, war vielleicht der Ruhm. Offen standen die Pforten des Lebens.
Um Mittag aber erhob sich aus Südwesten der Sturm.
Trauerkondukte durchquerten Spanien, vom Norden zur Mitte, vom Westen zur Mitte, vom Süden zur Mitte. König Philipp erwartete sie.
Wie lange schon sehnt er sich, vereint mit dem Tode zu wohnen. Allzu langsam ersteht dieser Klosterpalast für die Abgeschiedenen seines Hauses. Finster und einsam ist der Ort, rauhes Felsengebirge umstarrt ihn, ohne Erbarmen wütet der Sturm. Seit zwölf Jahren wird hier gebaut. Seit zwölf Jahren überwacht König Philipp den Bau. Madrid sieht ihn selten. Er wartet.
In dem Weiler zuerst, der ganz nahe liegt. In einer der Hütten dort, eng beieinander, hausen die Mönche. Ein Gelaß haben sie zur Kapelle gemacht, auf die Kalkwand ein Kreuz aufgemalt, über den Altar eine Bettdecke gespannt, denn es regnet durch das schadhafte Dach. So schmal ist der Raum, daß bei der Messe der Ministrant mit den Füßen an den knienden König stößt.
Nicht besser wohnt er selbst, der erste Fürst dieser Erde. Das Pfarrhaus hat keine Fenster und keinen Kamin. Eine einzige Holzbank mit drei Beinen ist vorhanden als Sitz.
Nach acht Jahren ziehen die Mönche hinüber in das unfertige Schloß, König Philipp mit ihnen. Verderblich ist der feuchte Neubau für seinen gichtigen Leib. Die Granden, die um ihn sein müssen, sind völlig verzweifelt, die Mönche selber stöhnen geheim. Mönche lieben es, unter sich zu sein.
In ein paar dürftig möblierten Zimmern, nahe der vorläufigen Kirche, ordnet er aus seinen Papieren die Geschäfte zweier Hemisphären. Ringsum Getriebe und Baulärm. Wüst liegt noch alles. Um die aufsteigenden Quadern, dicht, wuchert die Jara, ein struppiges, zähes, kaum zu rodendes Unkraut. Gestein liegt umher. Schwere Karren, mit zwanzig, mit vierzig Ochsen bespannt, schleifen es aus den Brüchen herbei. Das Kreischen der zweirädrigen Krane, das Pochen auf dem Gerüst, das Zischen der Sägen, das Hämmern der Schmiede, der Schlag der Steinmetzen, die Axt der Holzfäller im nahen Wald — nichts stört den wartenden König.
Aber es dauert zu lang. Noch sind von dem ungeheuren Viereck nur die Flügel im Osten und Süden vollendet. Von der Grabkirche, die sich über den Toten wölben soll, ist wenig vorhanden. Da befiehlt er, alles zu lassen und in Eile die Gruft auszumauern. Übermächtig ist sein Verlangen. Er kann nicht mehr warten.
Viele Stunden sitzt er an seinem Tisch, studiert Karten und Meilentabellen und entwirft methodisch die Pläne zur Einholung. Weit verstreut wohnen die Toten seines Hauses. So und so viel Tage dürfen die Züge brauchen, da und da wird gewartet, dort übernachtet, an jenem Kreuzweg vereinigt sich Kondukt mit Kondukt, hier ist die Stelle, wo alle zu Einem verschmelzen, dies wird der Tag sein, an dem er selber — endlich — die Ankunft der Toten erlebt. Mit Sorgfalt wählt er die Großen aus, die bestimmt sind, sie zu geleiten. Herzog von Alcala, schreibt er auf, Herzog von Escalona, Bischöfe von Salamanca, Jaen, Zamora. Sie müssen zahlen für die unermeßliche Ehre, auf Kosten des auserkorenen Führers geht jeder Zug. Mystische Sehnsucht und Ökonomie verbinden sich seltsam.
Er hat Ursache, zu rechnen. Spaniens Blut stockt. Inmitten der Weltherrschaft vertrocknet das Stammland. Für Gott geschieht es.
Der König fragt nicht, ob die Welt ihn versteht. Es gibt keine Welt außer Habsburg. Keinem fremden Souverän gesteht er den Majestätsnamen zu. Majestät hat nur sein eigenes Haus. Nur die Toten, die er erwartet, sind Majestäten.
Sie kommen aus Kathedralen und Klöstern, darin sie geschlafen haben, aus Andalusien, aus Estremadura, aus Altkastilien und aus Madrid. Kein ehedem Glücklicher ist darunter. Einem jenseitigen Auftrag, nicht irdischem Leben und irdischer Freude, gehört dieses Haus. Es kommt Johanna, Mutter des Kaisers, die Schwermut und Wahnsinn in sein Geschlecht trug, es kommt die Kaiserin, Philipps Mutter. Es kommen die Königinnen von Ungarn und Frankreich, des Kaisers Schwestern, die draußen bauten an seiner Herrschaft. Die jungen Königinnen kommen, Philipps Frauen, hingeopfert allzu früher Mutterschaft. Es kommen die Kinder des Hauses, unkräftig zu leben. Es kommt Don Carlos, das Halbtier, entsühnt durch das Sterben, willkommen jetzt seinem Vater, der ihm zu leben verbot. Es kommt aus dem Kloster Yuste Kaiser Karl selbst.
Lang sind die Fahrten, die Straßen sind schlecht. Der Wartende im Escorial kennt jeden Meilenstein, an dem jeder Zug jede Stunde vorüberschleicht. Jeden Kondukt hat er selbst aufs Genaueste geordnet, hat die Zahl der Edelleute bestimmt, die voranreiten müssen, der Bettelmönche und der Kapläne. Auf den Mann genau, nach zeremoniöser Abstufung, ist den Leichen die Gardeeskorte zugemessen. Achtzehn Pagen hat jener Infant, vierundzwanzig hat jene Königin. Er hat berechnet, wieviel Ellen Flor die Pferde tragen. Auf dem Goldbrokat, der die Särge deckt, haben Kronreifen zu ruhen von unterschiedener Form, nach Rang und Gesetz.
Dürr, vom Sommer verbrannt, streckt sich das Hochland. Das Volk feiert und liegt an den Straßen im Staub. Alle Städte sind finster geputzt, das ärmste Dorf, ein Steinhaufen nur, zeigt die umflorte rotgelbe Flagge. In Kirchen, bei Sterbegesang und Gebet, wird übernachtet. Auf den Steinniesen liegt die Begleitung im Mantel und findet nicht Schlaf.
Dann ist das Warten zu Ende. Die Botschaft ist da: sie sind vereinigt, sie kommen. Es ist ein dunkler und häßlicher Tag. Zerrissene Wolken ziehen niedrig über dem Escorial. Der König tritt aus dem unfertigen Portal der unfertigen Riesengruft.
Noch ist der weite Platz nicht gepflastert, der Boden zerrissen, die Jara nicht weggerodet. Ein ungeheurer Katafalk, ganz schwarzer Samt und goldner Brokat, ist errichtet. Drei Stufen führen hinauf. Eine lange Tafel erwartet die Särge. Goldumwundene Säulen tragen den Baldachin.
Der König tritt ganz allein vor das Trauergerüst, in feierlichster Gala. Es sind Barett und großer Ornat vom Goldenen Vlies, die er trägt: der offene Talar, dessen Aufschläge in erhabener Stickerei oftmals das Lamm wiederholen. Er hält ein Kruzifix in den Händen. Sein Blick geht über die verbrannte Steppe, das traurige Herz seines Landes. Meilen um Meilen schweift er hin bis zu den fernen Bergen von Toledo. Als etwas unbestimmt Weißliches erschimmert in halber Weite seine Stadt Madrid.
Schon schallt Trauermusik und Gebet. Die Spitze nähert sich schon bergan. Nun zeigt sich die Adlerstandarte. Es ist Karls des Fünften Sarg, der als erster heraufschwankt.
König Philipp kniet nieder. Dies juwelenbesäte Kruzifix hat in Yuste sterbend der Kaiser gehalten. Mit ihm in den Händen will er selber einst sterben.
Er legt dem Vater Rechenschaft ab in dieser Stunde. Ach, die Hände, die sein Kreuz umspannen, sie können das Gottesreich der Erde nicht mehr zusammenfügen. Auf immer dahin sind die schönen glänzenden Zeiten, da Europa in gläubiger Gemeinschaft geeint war. Greuel läßt Gott geschehen, dunkel wird seine Welt. Auflehnung überall, Irrglaube und Wahn. England, Deutschland, der Norden, lang der Verdammnis verfallen, Habsburgs Niederlande in tiefem geistigen Aufruhr, Frankreichs König bereit, mit den Ketzern Frieden zu machen. Habsburgs Meer aber und der Süden und Osten ausgeliefert dem Heidenpropheten, vom Atlantik bis zum Heiligen Grab und vom Heiligen Grab bis vor Wien.
Doch er hat die Rechenschaft nicht zu scheuen. Er war immer bereit, Gott alles zu opfern. Der reinen Lehre zuliebe regiert er in Feindschaft mit allen Staaten, zücken seine Geschöpfe den Dolch nach dem Leben abtrünniger Fürsten, sind die besten Provinzen verwüstet, der Staatsschatz geleert, maurischer Kunstfleiß und jüdische Weisheit verbrannt und verjagt. Bald wird er allein sein mit den Toten seines Geschlechts, den Einzigen, mit denen er sich eins weiß, in der Glaubensburg, in die sie nun einziehen.
Aus dem unfertigen Innern beginnt die Orgel zu tönen. Salven herkommandierter Truppen hallen darein. Aus dem Tor, dem die Flügel noch fehlen, tritt mit dem Kreuze der Prior. Gesang von drinnen mischt sich mit dem Psalmodieren der Nahenden.
Nun sind die Könige angelangt auf dem weiten Plateau, vor ihrem Gruftschloß, das klaffend mit ungleichen Armen nach ihnen greift. König Philipp verharrt im tröpfelnden Regen und überwacht die Zeremonien, unter denen die Truhen von den Wagen geschafft und emporgetragen werden auf die Estrade. Orgelklang, Salven, Geläut und Gesang währen fort, die Bischöfe in Pallium und Inful segnen die Toten. Niedrig ziehen Weihrauchschwaden dahin in der Regenluft.
Nun ist es vollbracht. In langer Reihe, nach streng aufgezeichneter Ordnung, bedecken die Särge die gewaltige Tafel. Initial und Goldreif nennt jeden Schläfer. In der Mitte aber, majestätisch gesondert, wuchtet der Sarg, der die geschlossene Krone trägt, die Kaiserfahne zu Häupten, das Bahrtuch über und über bestickt mit dem Adler der Weltmacht.
In einer schweren Trunkenheit steht der Erbe. Oh könnte der Augenblick währen! Es ist sein größter. Nie wieder, auch in ihrer Gruft nicht, wird er sie so umfangen können mit Einem Blick, die seines Blutes waren, seiner Sendung, seines Schicksals, seiner Gewißheit. Diese Totenparade ist endlich Erfüllung, Erfüllung für den verzückten Glauben, Erfüllung zugleich für sein tiefes krankes unersättliches Bedürfnis nach Ordnung. Ordnung gewährt nur der Tod.
Da aber, wie ein reißendes Urtier aus seiner Höhle, aufheulend, bricht mit Orkansgewalt der Sturm vom Gebirge.
Er ist die Geißel des finstern Orts, die Mönche fürchten ihn, als einen körperhaften Satan sehen sie ihn an, der sein einsames Reich verteidigt gegen die aufsteigende Zwingburg. So aber wie heute hat die Teufelskraft niemals gewütet.
In einem einzigen Augenblick sind Pracht und Ordnung zerstört. Die Kronen kollern, die Fahne knickt, die Bahrtücher wirbeln herab. Der gewaltige Baldachin bläht sich auf, wie ein Segel auf hohem Meer, und zerreißt, die goldenen Säulen krachen zusammen. Schon ist von dem prunkenden Katafalk nichts mehr da als ein nacktes Gerüst. Die Tücher klatschen und sausen, lebensgefährdend, niemand wagt sie zu fassen. Riesenfäuste zerreißen die Sinnbilder von Habsburgs Macht in der Luft. Fetzen mit Adlern und Kronen wirbeln dahin über das steinige Feld, fort bis zum Wald. „Brokatblüten trägt unser Wald”, werden im Frühjahr die Holzfäller sagen, wenn sie Mittag machen unter den Steineichen.
Mitren der Bischöfe rollen im Schmutz. Der Ornat seines Ordens ist König Philipp von den Schultern gerissen. Im schwarzen Untergewand hält er sich mitten im Aufruhr, eine magere schwache Figur, vor den kahlen Särgen.
Von Spanien her kam der Sturm.
Sie hatten Marseille hinter sich und auch schon die Rhônemündung. Auf einem Landvorsprung wurde ein Dörfchen sichtbar, dessen graue Kirche, zinnenbewehrt, mit einer Art Wachtturm, sich ausnahm wie eine Festung. Ein Bootsmann nannte den Namen: Les Saintes Maries.
Auf dieser Höhe fiel der Südwest sie an. Er kam mit Stößen von solcher Gewalt, daß in einem Augenblick das kleine Geschwader auseinandergetrieben war. Die „Sonne” fand sich allein. Ein kalter, schräger, peitschender Regen fegte das Deck. Alles polterte die schmale Treppe hinunter. Oben verharrten nur der Kapitän und zwei Maate. Die Ruderer zogen sich die Mäntel über den Kopf und legten sich geduckt mit aller Macht ins Zeug, denn das kleine Schiff wurde mit fast unwiderstehlicher Gewalt der Küste zugetrieben. Es wurde immer finsterer, nun blitzte es auch, und ein krachender Donnerschlag folgte.
Unbehagen herrschte im Bauch des Fahrzeugs. Man wurde hochgehoben und niedergeschleudert, dann lag man seitlich, daß alle aufeinander kollerten, die Frauen stöhnten, Kinder heulten erbärmlich. Die Luft wurde immer schlechter.
Ein wilder Stoß. Ein Zusammenprall. Nun war man auf einen Felsen gerannt! Es war das Ende. Doch ein zweiter Stoß folgte, furchtbarer noch und aus anderer Richtung... Ein paar Männer stürzten an Deck, mit ihnen Cervantes. Sie kamen nicht weit. Die Treppe war schon besetzt, Pistolenmündungen starrten, es krachte ein Schuß, ein Spanier sank um, schlug nach hinten, die Anderen mit sich reißend, zurück in den untern Raum, den schon Jammern und Schreien erfüllte.
Widerstand war nicht möglich. Kaum einer hatte seine Waffen zur Hand. Wer sie hatte, konnte sie nicht gebrauchen im engen Raum. Cervantes gelang es, das Deck zu erreichen. Hier ward er Augenblicks niedergerissen, gebunden und wie ein Stück Vieh zur Seite geworfen. Unweit sah er den Kapitän der „Sonne” in seinem Blute liegen, auch ein paar von den Matrosen hingen tot überm Ruder. Der Sturm war gesunken, dünn fiel der Regen. Das Deck war angefüllt mit schwerbewaffneten Korsaren, die durcheinander brüllten.
Unter Deck Schüsse, Gepolter und Schreien. Dann tauchte aus der Treppenluke ein Passagier nach dem andern hervor, die Arme auf den Rücken gedreht. Seinen Bruder Rodrigo sah er nicht. Ein untersetzter Mensch, hinkend, in reicher Kleidung, die klatschnaß an ihm niederhing, eine Agraffe am Turban, schien das Kommando zu haben. Er führte eine sonderbare Keule in der Hand, eine Art von elastischem Totschläger, mit dem er seinen Befehlen freigebig Nachdruck verschaffte.
Cervantes richtete sich mühsam auf in seinen Stricken und spähte über den Schiffsrand. Die „Sol” war doppelt geentert worden: zwei Schiffe, durch Haken und Dreggen gehalten, lagen backbords und steuerbords an. Ein drittes Kaperschiff hielt sich ganz in der Nähe. Sie mochten aus den Schlupfwinkeln des Rhône-Deltas hervorgebrochen sein.
Es hatte zu regnen aufgehört, die Sonne kam durch. Der hinkende Kommandant legte eine Hand über die Augen und spähte umher. In diesem Augenblick fiel ein Kanonenschuß. Eines der spanischen Schiffe, Cervantes wußte es, führte zwei kleine Geschütze. Der Hinkende schrie einen Befehl. Man begann die Gefangenen über die Laufbretter zu treiben, auf die Raubschiffe. Da dies nicht rasch genug ging, griff man zur kürzern Methode. Man packte die Gebundenen bei Schultern und Füßen, gab ihnen Schwung und schleuderte sie hinüber. Auch Cervantes flog so. Mit dem Hinterkopf schlug er krachend auf die Ruderbank nieder und lag in Betäubung.
Als er sich sammelte, war das Fahrzeug in ruhiger Bewegung. Er lag auf dem Vorderteil, um ihn, geschnürt und aufgereiht wie Pakete, die Schicksalsgefährten, viele blutbedeckt. Das Wetter war klar und schön. Der Hinkende stand beim Mast, seinen Totschläger unter den Arm geklemmt, hielt ein Schreibheft in Händen, und machte sich mit angeekelter Miene Notizen. Er hatte ein feistes, weißes, keineswegs orientalisches Gesicht, das ein herunterhängendes Augenlid bösartig entstellte.
Unmittelbar neben Cervantes, zur Rechten, lag ein Jesuitenpater, mit einer Schramme auf der Stirn, der mit feiner, gesammelter Miene still vor sich hinblickte; auf seiner andern Seite eine elegante Dame in mittleren Jahren, Frau eines Madrider Hofbeamten. Ihre Frisur war aufgegangen, ihre Schminke über das nasse Antlitz fleckig verstrichen. Die ganze Situation, obwohl bekannt und gefürchtet, hatte etwas so unwahrscheinlich Verrücktes, daß Cervantes zu seinem eigenen höchsten Erstaunen einen Lachkitzel aufsteigen fühlte. Er konnte auch nicht widerstehen. Er bog sich in seinen Fesseln und lachte. Beide Nachbarn drehten ihm ungläubig ihre Gesichter zu.
Nachmittag und Abend gingen hin. Niemand sprach. Niemand brachte den Paketen etwas zu essen. Alle Segel waren gesetzt, unverhältnismäßig große Segel für ein so kleines Fahrzeug. Man fuhr ohne Licht. Das habe ich alles ganz richtig beschrieben in Lucca, dachte Cervantes. Die Galiote flog nur so über das offene Meer, Kurs nach Süden. In drei Tagen war man in Algier... Zur Rechten mußte die spanische Küste liegen. Da hatten ihn Zukunft und Ehre erwartet. Die Briefe raschelten an seiner Brust. Er zwang sich, mit einer äußersten Anstrengung, daran nicht weiter zu denken. Dann wieder wollte es ihn bekümmern, daß Rodrigo nicht sichtbar geworden war. Doch ein Gefühl von vollkommener Bestimmtheit beruhigte ihn. Eine kühle Sternennacht war da und die Zeit zu schlafen. Sacht zog er seinen linken Arm aus der Schlinge und vermochte nun, sich bequemer zu betten. Unter Umständen war es nützlich, nur eine Hand zu besitzen. Er schlief ein. Er schlief gar nicht schlecht.
Am Morgen wurde man mit Fußstößen geweckt. Man wurde jetzt ausgeraubt, und zwar methodisch. Zwei von den Freibeutern tasteten jeden der Wehrlosen ab, zwei andere hielten einen großen Sack offen, in den ohne Unterschied alles hineingestopft wurde: Geld, Mützen, Schmuck, Schnallen, Tücher, Dosen, Gürtel und Handschuhe. Der lahme Schiffsherr überwachte den Vorgang und sorgte dafür, daß kein Taler und kein Armreif daneben ging.
Einer der Handlanger, in grünem Hemd und überhängender schwarzer Kappe, kniete über Cervantes. Der blies ihm ins Gesicht, um seinen stinkenden Atem abzuwehren. Schnell war hier das Geschäft besorgt. Mit verächtlicher Gebärde hielt der Korsar ein paar Geldstücke und die kostbaren Papiere in die Höhe. Cervantes biß sich auf die Zunge, als die Fürstenbriefe in dem Allerweltssack verschwanden. Aus guter Überlegung sprach er kein Wort.
Die Beamtenfrau neben ihm hatte man aufstehen lassen. Sie jammerte und wand sich, als ihr der Sucher schonungslos über den Körper griff. Ihr Klagen klang nicht vollkommen echt, sogar jetzt noch war sie geziert. Aber Cervantes ertrug plötzlich seine Ohnmacht nicht mehr. Absonderlicher Weise vergaß er für diese wildfremde Komödiantin Beherrschung und Vernunft und stellte mit seinen gebundenen Füßen dem Korsaren ein Bein, so daß der in burlesker Art neben der Dame platt zu Boden schlug. Wütend richtete er sich empor, um auf den Angreifer loszustürzen, aber der Hinkende, grinsend über das weiße Gesicht, schrie ihn grob an und gebot ihm offenbar, sich lieber mit der Arbeit zu sputen. Im Weitergehen warf er einen Blick ausgesprochenen Wohlgefallens auf Cervantes zurück.
Einer von der Mannschaft kam und teilte Nahrung aus: grauen Zwieback, der aus Gerstmehl und Hafermehl zusammengerührt sein mochte, und dazu eine Handvoll schwarzer Oliven. Den Gefangenen wurden die Fesseln gelockert, einige standen schon auf und reckten sich, was hatte die schwerbewaffnete Mannschaft auch zu befürchten.
Cervantes, dem das leidige Mahl nicht übel schmeckte, sah die Beamtendame mit Ziererei in ihren Zwieback beißen. Er bemerkte aber auch, zu seinem Schrecken, daß sie aus ihrem verschmierten Gesicht heraus mit ihm zu kokettieren begann. Dazwischen seufzte sie jämmerlich. Er beschloß, sich von der Stelle zu rühren und nach Rodrigo zu suchen.
Schon von Weitem sah er ihn, mit noch gebundenen Füßen, wohlbehalten unter der Reifenbespannung der Poppa sitzen. Der gute Junge streckte die Arme nach ihm aus. Aber zwei Mann von der Deckwache trieben Cervantes drohend an seinen Ort zurück. Er vermied die unmittelbare Nähe der Dame und ließ sich zwischen dem Jesuiten und einem sardinischen Arkebusier an der Bordwand nieder.
Mit prächtigem Wind segelte man gerade an einer felsigen Insel vorüber. Im Hintergrund einer Bucht, auf kreidigem Gelände, erschien eine hübsche Stadt, ganz maurisch schon anzuschauen.
„Ibiza,” bemerkte der Jesuit. „Von hier aus hätte man es nahe hinüber ins Vaterland.” Cervantes nickte. Er sah sich bei Valencia ans Land steigen, Spaniens Boden berühren und küssen. Die Tränen wollten ihm aufschwellen. Er ward ihrer Herr, und sie kamen nicht wieder.
Es lag nicht in seiner Gewohnheit, sich selbst zu beobachten. Doch soviel hatte er festgestellt, daß ihn geringes Ungemach leichter erschütterte als großes. Irgendein Ärger, eine nebensächliche Widerwärtigkeit oder Kränkung, ging ihm tagelang nach. Schlug aber das Schicksal zu, traf ihn ein Unglück, so bot er die Stirn, fand sich ab und blieb ruhig. Sein Leben würde nicht in algerischen Ketten enden, er schwur es sich zu, er wußte es.
Gelassen blieb auch der Jesuit. Er freilich hatte Grund, für ihn war es ein Zwischenfall. Undenkbar daß ihn sein Orden im Stich ließ. In vier Wochen war das Lösegeld da, die Taxen für Kleriker waren festgelegt, es war ein Tarif. Er plauderte. Beiläufig nannte er auch den Namen des Schiffsherrn. Der Hinkende war Dali-Mami, der Albanier. Sie waren einem der berühmtesten von der Gilde in die Hände gefallen, übrigens auch einem der grausamsten. Der Jesuit bat Cervantes, sein Augenmerk auf die Rudersklaven zu richten, arme Teufel ohne kommerziellen Tauschwert, die nun bis zum Tode hier saßen. Dem einen fehlten die Ohren, dem andern ein Auge, Spuren flüchtiger Unzufriedenheit von Seiten Dali-Mamis. Ob der Bericht stimmte, wonach dieser Reïs gelegentlich einem trägen Ruderer den Arm abzuhauen und mit dieser Peitsche auf die übrige Bemannung einzuprügeln pflegte, wollte der Jesuit nicht entscheiden. Möglich war es durchaus, es gab da kaum Grenzen. Und am Beklagenswertesten schien, daß dieser Dali-Mami und nahezu alle seine Kollegen als Christen geboren waren, in Griechenland, Dalmatien, Italien und sonstwo, und daß eben diese Renegaten sich weit entsetzlicher aufführten als Türken und Mauren. Unausdenkbar die Strafen, die diese abtrünnigen Henker im Jenseits erwarteten...
Hier trat ein Mann der Besatzung auf Cervantes zu und bedeutete ihm mit auffälliger Höflichkeit, aufzustehn und zu folgen. Er führte ihn bis zum Hauptmast. Auf einer Holzkiste fanden sich hier ein Glas Wein und ein großes Stück kaltes Rauchfleisch bereit gestellt. „Dies schickt Euch der Reïs,” sagte der Matrose, „Fleisch und Wein, den Ihr ja trinken dürft, da Ihr ein Christ seid.” Er grinste. Es schien wenig wahrscheinlich, daß das Raubschiff eigens für gefangene Katholiken Wein mit sich führte. „Übrigens könnt Ihr frei umhergehen an Bord, läßt Euch der Reïs sagen.”
Nachdenklich trank Cervantes den starken Rotwein, nahm ein paar Bissen und beschloß, die größere Hälfte Rodrigo zuzuwenden.
Der Fähnrich war vollkommen heiter. Dankbar aß er. Er schien auch nicht im geringsten erstaunt über die Auszeichnung, mit der Miguel behandelt wurde, vielmehr lächelte er bedeutungsvoll und gewissermaßen stolz unter seinen waldigen Brauen hervor. Cervantes ahnte nichts Gutes.
„Willst Du mir erklären,” fragte er stirnrunzelnd, „was das alles bedeutet: Fleisch und Wein und Dein kluges Gesicht.”
Seine Ahnung bestätigte sich. Es war zum Verzweifeln. Beim Sortieren der Beute waren die Dokumente gefunden worden. Der Reïs ließ den Namen Cervantes ausrufen und zwar zunächst an der Poppa, dort wo Rodrigo in seinen Fußfesseln saß. Der meldete sich. Nein, nicht er sei Don Miguel, sein Bruder befinde sich vorn auf dem Schiff. Ganz richtig: ein Krieger mit einer Hand. Und allerdings könne man leicht aus dem Schriftstück ersehen, was das für ein Mann sei, nicht für einen Beliebigen schreibe der Oberbefehlshaber aller Christen an den spanischen König. Sie sollten sich hüten, dem Don Miguel de Cervantes Saavedra ein Haar zu krümmen, er rate ihnen gut! Was denn der Rang dieses Miguel sei, wurde zurückgefragt, für den die Oberhäupter der Christenheit korrespondierten... Rodrigo tat höchst geheimnisvoll. Aus seinen Andeutungen war jedenfalls auf einen sehr hoch gestellten Edelmann zu schließen, auf einen Granden in auserlesener Funktion. Und das, meinte Rodrigo, konnte sicherlich nur nützen. Miguel werde doch wohl mit ihm zufrieden sein.
„Unglücksmensch!” rief Cervantes, bereute aber sofort, legte dem Bruder die Hand auf die Schulter und fügte hinzu: „Du meinst es gut.”
Der Hinkende war nicht auf Deck. Cervantes suchte und ward zu ihm eingelassen. In einer winzigen Kabine saß er an einem Tischchen und schrieb.
„Ihr seid der Grande, ich weiß schon,” sagte er nicht ohne Wohlwollen, „Euer Fall wird sich ja in kurzem erledigen.”
„Ich bin kein Grande, von mir ist nichts zu holen.”
Dali-Mami ging hierauf garnicht ein. „Zweitausend Dukaten, das wird Euch recht sein? Es ist kein Preis für einen Mann wie Ihr.”
„Nein, wahrhaftig, das schaff’ ich bis morgen.”
„Bis nächsten Monat gewiß. Wollt Ihr gleich schreiben? Es wird sicher befördert.”
„Hört mich an, Kapitän,” wiederholte Cervantes, „Ihr irrt Euch. Ich bin kein Grande, ich bin nicht reich, ich habe keine Freunde, die ein Lösegeld zahlen können für mich. Ich bin ein völlig mittelloser Soldat, Gefreiter dem Rang nach.”
„Sehr glaubhaft! Für einen Gefreiten schreibt der Großadmiral an den König.”
„Ihr braucht ja den Brief nur zu lesen. Da findet Ihr alles bestätigt.”
„Wieso denn?” Dali-Mami nahm das neben ihm liegende Blatt zur Hand. „Hier steht eine dringliche, warme Empfehlung, nichts von Soldat, nichts von arm.”
„Das ist ein Blatt. Lest das ausführliche, das von dem Vizekönig.”
„Ah! der Vizekönig hat auch noch geschrieben. Und alles für einen Gefreiten. Ihr führt Eure Sache ja sehr geschickt.”
„Lest diesen zweiten Brief!”
„Ein zweiter ist garnicht da. Faule Ausflucht.”
„Laßt nach ihm suchen!”
„Der erste genügt mir.”
„Ihr seid ein Esel,” schrie Cervantes, „ein dickfelliger, blöder, bockiger Esel!” Es schien ihm viel wünschenswerter, jetzt auf der Stelle niedergehauen zu werden, als in korsarischer Sklaverei Jahre lang auf zweitausend Goldstücke zu warten, die niemals kommen konnten.
Der Reïs war auch wirklich in die Höhe gefahren. Die Augen schmal vor Wut, den Mund wulstig vorgewölbt, packte er sein elastisches Eisen. Aber er setzte sich wieder zurecht und atmete nur einmal tief auf.
„Jetzt habt Ihr Euch vollends legitimiert,” sprach er befriedigt, „nur ein sehr großer Herr ist so frech.” Seine Stimme klang geradezu süßlich vor Selbstbeherrschung.
Cervantes verließ ihn. Oh Rodrigo, Rodrigo! Aber schon keimte eine dunkle Lust in seinem Herzen, an dem Schicksal, das so wild mit ihm spielte. Ja, er besaß die innere Freiheit, sich zu fragen, ob dies Schicksal ganz unverdient sei. Bezahlte er so vielleicht die grausame Art, mit der er im Scheiden von Lucca Güte und Liebe hinter sich gestoßen hatte, wie einer mit dem Fuß den Nachen hinter sich stößt, der ihn freundlich ans Ufer getragen hat? Verhielt es sich so, dann bezahlte er teuer. Weggerissen ins Weglose im Angesicht beinahe der Heimat, das endlich erlangte Unterpfand des Glücks sein Verderben, die Liebe des Bruders Grab aller Hoffnung — er schwamm auf dunklem Meer, kein Nachen bot sich mehr dar. Nun denn, er bestand es! Wer verlernt hat, den Tod zu fürchten, ist stark.
Am vierten Mittag lag vor den Raubschiffen unter strahlendem Himmel eine hochaufsteigende Pyramide weißer, verschachtelter Häuser, von einer Zitadelle als Spitze bekrönt: die Stadt Algier. Ehrenschüsse und Freudengeschrei empfingen die Landenden, die Ankunft von Beuteschiffen schien ein Volksfest. „Zum Badistan! zum Badistan!” brüllten und sangen halbnackte Kinder.
Der „Badistan” lag ganz nahe dem Meer bei der Großen Moschee, ein hübsches Plätzchen, mit Pfählen und Zahltischen als Sklavenmarkt zweckdienlich ausgestattet. Unter allgemeiner Begutachtung wurden die Männer entkleidet, ein Berg von Garderobestücken türmte sich auf. Alles ging wie am Schnürchen, es war ein gewohnter, gesetzlicher Vorgang. Die übliche Kleidung ward ausgeteilt. Cervantes, Grande von Spanien, Schützling der Krone, erhielt was alle erhielten: das grobe Hemd, die plumpe Hose, eine Art Kaftan, der bis zu den Knien ging, ein paar Schlappen und eine rote Mütze. Auch eine kleine Wolldecke warf man ihm hin. Damit war er ausgestattet.
Alsbald begann die Versteigerung. Türken, Juden und Mauren bewegten sich zwischen der Ware und befühlten Schulter und Bein.
Cervantes ward abseits gehalten. Er stand nicht feil. Einige Herren von der Polizei, in langem grünem Mantel und weißem Filzturban, die auf eisenbeschlagenen Schlappschuhen dröhnend daherkamen, führten ihn ab, ihn und drei Schicksalsgenossen ins unferne Bagno.
Ein großer, gewölbter, halbdunkler Raum, darin es feucht und muffig roch, nahm ihn auf. Dann beluden ihn die Grüngekleideten sorgsam mit Eisen und Ketten. Er begriff, daß er auch diese Auszeichnung seinem Bruder Rodrigo verdankte. Sein Zustand konnte nicht unbehaglich genug sein. Umso eifriger würde er die Beschaffung der zweitausend Dukaten betreiben.
Das Seeräuber-Königreich Algier, kein leicht vergängliches Gebilde, da es dreihundert Jahre lang den Großmächten trotzte, hatte an Seltsamkeit in aller Geschichte nicht seinesgleichen. Es war Inbegriff wilder Phantastik und gleichzeitig florierendes Handelsgeschäft. Ein nüchternes Schauermärchen.
In dem weißen steinernen Dreieck, diesem eng verschachtelten, stinkenden Häusergewirr unter glühender Sonne, mochten fünfzigtausend Menschen zusammenhausen. Ihr Blut war von der verwegensten Mischung.
In diesem Lande schweifte seit sehr alter Zeit der Berber, der dunkle Numidier, dem nahe Verwandte am Nil und am Senegal wohnen. Früh stießen Phoenizier an seine Küsten, handelten, siedelten, bauten. Dann trat über Berber und Punier der verwaltende Römer. Die afrikanische Provinz ward Kornkammer, Obst- Wein- und Ölkammer seines Imperiums. Hier sprach man Latein. Hier sprach man Griechisch, als später der Caesar von Byzanz aus regierte. Aber der römische Name gab keinen Schutz mehr. Germanen gelangten heran, eroberten und zerhieben die Säulenstädte, wurden geschlagen, zerstreut, und gingen auf im Gemisch. Ostrom konnte noch siegen, zum Erhalten war es zu schwach. Beim ersten Einbruch arabischer Kräfte, bald nach dem Tod des Propheten, triumphierte der Islam. Er griff weit umher, griff nach Spanien hinüber, fand dort sein schönstes Reich und ward zur Kultur. Aber auf afrikanischer Erde mordeten sich seine Sekten. Noch war Roms Segen nicht völlig zerstört. Noch war das arabische Blut nur ein Tropfen im Mischkrug. Da brachen, im Morgen des neuen Jahrtausends, aus den Wüsten im Osten neue ungeheure Schwärme schweifender Krieger herein, zerstampfende, plündernde, würgende Wilde. Zehn Jahre lang währte das Blutfest. Dann war alle Gesittung getilgt, die Kornkammer leer, Nordafrika verödet auf immer. Der nationale Sieg war vollkommen, Arabisch herrschende Sprache, vom Berberischen dienend umflossen, von Lauten der Phoenizier, Römer, Hellenen nur dunkel noch unterspült.
Eine abenteuerlich gemengte Bevölkerung also, ein hungerndes Wüstengebiet, tausend Meilen felsiger Küste am Südmeer, die blühendsten Länder in Greifweite: die Geschichte der afrikanischen Raubstaaten konnte beginnen.
Es wäre Spaniens Sache gewesen, ihr früh ein Ende zu setzen. Man hatte die Mauren verjagt, war Herr im eigenen Hause, gebot über die indischen Schätze. Man griff auch an. Küstenstädte ergaben sich, man improvisierte Klöster, weihte Moscheen zu Kirchen um und ließ Garnisonen zurück. Aber damit war es genug. Afrika wurde vergessen. Die Truppen blieben ohne Proviant, ohne Munition. Einen nach dem andern verlor man die Häfen wieder, kaum hielt sich mühsam Oran.
Was Algier betrifft, so hatte man da ein Felsenriff befestigt, das dem Ufer auf Rufweite nahe lag. Auf diesem Peñon, dem „Dorn im Herzen Algiers”, lag ein spanischer Edelmann mit einer Handvoll Soldaten und wartete auf sein Verderben.
Chaireddin-Barbarossa brachte es. Er nahm den Felsen, schlachtete die Besatzung, ließ den Edelmann totprügeln, zerstörte das Fort, baute einen Damm bis zum Festland und schuf so den sichern Hafen, Hauptbasis aller Korsaren fortan.
Dem türkischen Sultan in Konstantinopel bot er auf seiner flachen Hand Afrika als Geschenk. Er wurde sein Kapudan-Pascha und Beglerbey. Er gebot über ein türkisches Heer. Er selbst war christlichen Blutes, Renegat, europäischer Auswurf.
Das waren auch die „Könige”, die von nun an in Algier regierten. Das waren die Reïs der Korsaren, Räuberaristokratie dieser Stadt. Das waren die Janitscharen des Sultans, ihre Offiziere und Generäle. Das waren im Serail in Konstantinopel die obersten Hofbeamten, das waren die meisten Vizekönige, Vezire und Admirale im weiten türkischen Reich.
In allen unterworfenen Ländern nämlich ließ der Großherr alljährlich christliche Knaben ausheben. Man nahm sie im zartesten Alter. Man nahm nur die schönsten und stärksten. Schnell vergaßen sie Eltern und Heimat, kannten kein Vaterland mehr als Kaserne oder Serail. Keiner strebte zurück. Sie hingen begeistert dem stürmenden neuen Glauben an.
Freiwilliger Zuzug von Halbwüchsigen und von Männern wimmelte hinzu. Was immer entgleist war, enttäuscht oder abenteuergierig, sammelte sich unter dem Halbmond. Man „wurde” Türke. Es war eine Karriere. Hier galt kein Vorurteil. Hier gab es keinen Geburtsadel, dessen Ansprüche der Tapferkeit, dem Talent des Niedrigerzeugten den Weg versperrten. Jeder Rang, jedes Glück stand einem jeden von ihnen offen. Auf diesen Renegaten ruhte das Reich. Als Moslem geboren zu sein, war kein Vorzug, eher raubte es die Anwartschaft auf das Beste.
Mächtig wirkte und band der wilde Zauber der kriegerischen Religion. Chaireddin-Barbarossa, den Sohn des griechischen Töpfers, suchte vergeblich Karl selbst zu verleiten, der große Kaiser, Herr der getauften Welt. Er bot ihm ein Bündnis an, spanische Truppen, die Souveränität, wenn er den Sultan verließe. Barbarossa blieb treu. Und als der Römische Kaiser nun mit sechshundert Schiffen vor Algier erschien, da widerstand ihm dies Raubnest. Er landete. Er ließ stürmen. Sein vorderster Ritter, Fahnenträger des Ordens von Malta, stieß seinen Dolch in das Osttor, das sich vor seinen Händen schloß. Es hatte sich auf Jahrhunderte geschlossen. Algier blieb uneinnehmbar.
Die vom Sultan eingesetzten Machthaber führten wechselnde Titel: Aga, Dey oder Pascha, das Volk nannte sie „Könige”. In Wirklichkeit waren diese Könige Pächter. Sie hatten das Piratengeschäft in Pacht, gestützt auf die Janitscharenregimenter. Kisten und Säcke voll Gold gingen mit Regelmäßigkeit nach dem Bosporus ab. Dem König gegenüber stand die Gilde der Reïs, der Schiffseigentümer und Raubkapitäne, der eigentliche Nährstand von Algier.
Denn dieser ganze Staat war ein Handelsgeschäft mit Menschenleben und geraubten Gütern. Hätten die Piratenfahrten versagt, man wäre Hungers gestorben. Es wurde ja nichts produziert. Das Land ringsum lag verödet. Man war angewiesen auf „Einfuhr”.
Zwischen Krone und Gilde waren Pflicht und Recht pedantisch geregelt. Nach einem Schlüssel wurde die Beute geteilt. Kein Handelskontor in Antwerpen oder in Augsburg wies genauere Buchführung auf. Mit noch blutigen Händen diskutierte man Tarife und Taxen. Man plünderte Städte, raubte die Schiffe, stahl ohne Wahl, fing die Menschen zusammen wie Vieh; aber zwölf Prozent von dem allen, und nicht elf oder dreizehn, gehörten dem König. Zwölf Prozent auch natürlich vom Lösegeld.
Gefangene aus aller christlichen Welt füllten diesen seltsamsten Speicher als Ware. Sie zählten nach vielen Tausenden, vom Tage der Einfuhr an waren sie Objekte der Spekulation. Man ersteigerte auf dem Badistan einen kräftigen Mann für fünfzig Dukaten, in Erwartung eines Lösegelds von dreihundert. Aber bis dahin mußte das Kapital sich verzinsen. Der Mann wurde also vermietet, als Taglöhner oder als Lasttier, und der Käufer bezog dafür drei Dukaten im Monat. Andere behielt er selber im Hause, und dies galt als Glücksfall. Im täglichen Umgang läßt sich ein Menschengeschöpf nicht dauernd als Ware betrachten, Beziehungen stellen sich her. Haben einmal die Kinder auf seinen Knien gesessen, so ist es schwer, es zu peitschen. Auserwählt aber erschien, wer in den Haushalt eines Juden geriet. Hier war Mißhandlung nicht denkbar, Strenge selten. Es gab Sklaven, die in jüdischen Häusern nach wenigen Wochen das Heft in der Hand hielten.
In den drei Bagni lebten die Sklaven, die dem König und die der Stadtverwaltung zugefallen waren. Ihr Los war beklagenswert. Höchst elend ernährt, wurden sie in Ketten zu schwerer Arbeit verwendet, an Bauten und Erdwerken, in Mühlen, im Hafendienst. Blieb das Lösegeld lange aus, so verfinsterte sich vollends ihr Los. Man ließ das wertlose Material auf den Ruderbänken verkommen. Ihre Daseinsgenossen aber im Bagno waren jene Gefangenen von Rang und Reichtum — oder von eingebildetem Rang und eingebildetem Reichtum — von denen man durch grausamen Druck rasch hohe Summen zu erpressen hoffte.
Frei gingen zwischen Ämtern und Sklaven die trinitarischen Mönche umher, die den Loskauf vermittelten. Die erlösenden „Almosen” zusammenzubringen, war von Alters her die Funktion ihres Ordens. Sie beförderten auch die Korrespondenz der Gefangenen, sie arbeiteten Hand in Hand mit ihren Familien; vor ihrer geschäftlichen Bedeutung machte der Fanatismus der Renegaten willig Halt. König und Kapitäne verkehrten mit diesen Mönchen wie die Chefs großer Firmen mit Handelsvertretern.
Die Räuberstadt war freilich ein Zentrum der Religion. Man zählte mehr als hundert Moscheen auf ihrem winzigen Raum. Aber wo das Interesse sprach, schwieg allenthalben der Glaube. Man sah es höchst ungern, wenn ein Sklave übertrat. Man verhinderte das. Man wollte keineswegs um den Blutpreis geprellt sein.
Flucht aber war höchstes Verbrechen. Wie? die Ware wollte sich selbständig machen! Gewinngier und Grausamkeit ahndeten jeden Versuch mit gräßlichen Strafen. Abschreckung vor allem; da durfte am Material nicht gespart werden. Die Mauerhaken außerhalb der Tore waren stets reichlich mit Christenköpfen garniert. Die Geier in Algier hatten es gut, Jahrhunderte lang.
Das alles, wahrhaftig, war Staatsraison. Denn von diesen unseligen Menschen, die da hungrig und verprügelt, fast nie ohne hemmende Kette, den Zins ihres Kaufpreises abschufteten oder im Bagno verschimmelten, von dem, was man ihnen gestohlen hatte und noch stehlen würde, lebten Staat, Stadt, Religion und jeder einzelne Bewohner von Algier.
Lebte der König, Dey, Aga, Pascha, in seinem Schloß mit der Halbmondflagge und der großen goldenen Schiffslaterne auf dem Dach. Lebten die Kapitäne in den Häusern der Unterstadt oder in ihren Villen vorm Tor, deren nackte abweisende Mauern so kühle Brunnenhöfe umschlossen, so reizvolle Interieurs, schimmernd in buntem Marmor, Fayencen und Boiserien. Von ihnen lebten die Kadis und Muftis, die Muderres, Muekkits, Imans und Chatibs, die in den Moscheen, sechs großen und hundert kleinen, Recht sprachen, Glaubensfragen entschieden, vorbeteten, vorsangen und den Kalender machten. Von ihnen lebten in ihren Klosterkasernen die Janitscharen, auserwählte Milizen, in ihren Küchenmützen und Weiberröcken halb albern, halb feierlich anzuschauen. Das hämmernde, schneidernde, färbende, sohlende, bratende, backende Gewerbevolk lebte von ihnen, das in der langen Suk-Straße nahe dem Hafen die offenen Buden besetzt hielt. Von ihnen die ganze ineinander verkrustete, lungernde Bastardbevölkerung in den unentwirrbar verschlungenen, schiefen und schlüpfrigen Treppengäßchen der im Dreieck steil aufschießenden Kasba. Die tausend hergeschwemmten Dirnen in leuchtenden Fetzen und blechern klirrendem Schmuckwerk, die in jedem Durchlaß und Torweg bereithockten, das Räubervolk auszuräubern; die Rudel geschmeidiger und parfümierter halbwüchsiger Jungen, die ihnen Konkurrenz machten und höher im Preise standen als sie. Und auch die zahlreichen Juden lebten von ihnen, die, aus Spanien verjagt und hier geduldet, in der Menge sich schwermütig abzeichneten, sie allein völlig schwarz gewandet im farbigen Trachtengeflirr.
Buntfleckig wie die Kleidung war auch die Sprache, die diese Gassen durchschallte, ein willkürlich kreischendes Stadtpatois, darin spanische, italienische, portugiesische Elemente mit Arabisch und Türkisch eine abenteuerliche Ehe eingingen. Griechische, gotische, phoenizische Erinnerung mischte sich in diese Lingua franca und häufiger noch der Berberlaut — der Laut von Jugurthas wilden numidischen Reitern.
Leicht und lustig lebte es sich in der Räuberstadt. Immer war Buntes zu sehen. Aufzug des Königs und seiner Trabanten, oder Janitscharenparade bei Trompeten- Pfeifen- und Klarinettengeschrill. Auspeitschung täglich vorm Schloß, sobald auf der Großen Moschee die weiße Fahne stieg und Mittag anzeigte, Hinrichtungen in kurzweiliger Variation vor Westtor und Osttor. Feste, die tobend gefeiert wurden, Hedschra-Gedenktag, Geburt des Propheten, großes Hammelfest, und die lustige Lichternacht, die den Fastenmonat beschließt. Nie war der Badistan leer, im Hafen immer Bewegung: Beuteschiffe schwammen an und Goldschiffe ab nach dem Bosporus. Mit heiterm Gewissen schlang man sein Rinds- und Hammelragout in Öl und mit scharfen Gewürzen, trank hinterher den starken, verbotenen Feigenschnaps und sah mit Gleichmut vor der Tür die gestriemten Bagnoleute im Abfall nach Brocken wühlen.
So beschaffen war die grausame, rechnerische und närrische Welt, in die Miguel Cervantes, ein gläubiger Mann von Mut, Phantasie und Erbarmen, sich als ein Opfer verschlagen fand.
Es ist mit der Genialität eines Mannes bestellt wie mit der Frauenschönheit: das Wort vermag sie nur zu behaupten, nicht sie spürbar zu machen.
Ein Mann hat nichts als Unglück gehabt, an großen Unternehmungen hat er teilgenommen, aber er blieb im Dunkel. Er ist verstümmelt und bettelarm. Ein Tor scheint aufzugehen in hellere Zukunft, aber vor ihm schließen sich die eisernen Flügel. Der Mann ist ruhmlos, unbekannt, eine Null im Haufen, und sein Los scheint es, in Ketten zu verkommen. Aber unterdessen ist mit ihm selber etwas Großes und Rätselhaftes geschehen. Aus seiner Person bricht eine wärmende und erhellende Kraft, die jeden anrührt, der ihm nahe kommt, die Vertrauen und Neigung erweckt wie die Aprilsonne Blüten auf brauner Ödnis, eine Kraft, der selbst die schachernden Henker nicht widerstehen können. Und so, dank einer geheimnisvollen menschlichen Herrlichkeit, bleibt er bewahrt in langer Gefahr, um dereinst die Frucht seines Lebens hervorzubringen.
Sein Glück, wenn es Glück war, begann damit, daß man ihn nach wenigen Tagen aus dem feuchten Gewölbe hervornahm. Er fand sich in einem oberen Stockwerk des Bagno. Hier ließ sich atmen. Die eine Längsseite des Raumes war völlig offen, ohne Sims noch Geländer.
Wo eigentlich befand er sich denn? Ein dreistöckiger Schuppen das Ganze, als Viereck angeordnet um einen Hof, in dessen Mitte ein Brunnen sprudelte. Die Sonne stand hoch, der Hof war leer, sein weißer Sand blendete die Augen. An den offenen Gelassen ringsum zeigte sich niemand. Kettenklingelnd wandte Cervantes sich um in das seine. Der Hintergrund war in Nischen abgeteilt, jede mit Mauerringen versehen und mit einer Streu. Es war wie ein Tierstall. Wenige Gestalten nur bewegten sich kauernd, es entstand ein Geräusch, wie wenn sich Pferde in ihren Geschirren rühren.
Bei Sonnenuntergang erst bevölkerte sich der Saal. Die auf Arbeit Geschickten wurden hereingetrieben. Graues Brot und eine dünne Suppe wurden verteilt. Dann verging eine Stunde mit dem Anketten für die Nacht. Die Wächter schienen Auftrag zu haben, gewissen Gefangenen durch komplizierte und schwere Bande den Schlaf zu verderben.
Cervantes saß in seinem Mauerwinkel, Arme und Beine schon vorgestreckt, seiner verdoppelten Nachtketten gewärtig. Aber die Grüngekleideten gingen vorüber. Süß war der Schlaf bei gestreckten Gliedern.
Er fuhr in die Höhe, weil ihm etwas Kaltes die Schläfe berührte, und sah vor sich in höchst elegantem Stadtburnus Dali-Mami, wie immer sein elastisches Eisen in der Hand. Es war völlig hell im Gefangenensaal.
„Gut geschlafen, Don Miguel, das freut mich. Obwohl nicht so gut wie in Euerm Himmelbett in Madrid. Schreit nicht! Ich weiß schon: Ihr habt kein Himmelbett, Ihr seid auch kein Grande. Aber wenn Ihr noch einmal Esel zu mir sagt, muß ich Euch leider totschlagen, trotz des Verlusts. Ich ertrag’ das nur einmal.”
Er gab über die Schulter zurück seinen Trabanten einen Befehl. Einer verschwand und kehrte fast sogleich mit einer kurzen und leichten Fessel zurück, die zum Reif geschmiedet war.
„Das laßt Euch anlegen, Don Miguel, und tragt es am Fuß. Es ist nur eine Andeutung, wie Ihr seht. Alles andere fällt. Die Tage im Gewölbe unten haben Euch wohl belehrt, wie es sein kann hier bei uns! Wozu soll ein Herr wie Ihr mit zwei Zentnern Eisen am Leibe verhungern, wenn am Hofe in Madrid Ehren und Damen auf ihn warten! Schreibt also lieber fünf Briefe statt zwei; hat ein Freund die zweitausend nicht flüssig, so schickt sie der andre. Und nun behagt Euch in Algier!”
Dazu war beinahe Anlaß. Als ein Mann, dem wenigstens ein dürftiges Nachtlager und Essen gesichert ist, mochte er sich bei Tageslicht umhertreiben und umschauen, mit einem etwas plumpen Schmuckstück am Bein. Nicht der ihm zugeschriebene Rang allein verschaffte ihm soviel Freiheit. Es saßen genug Herren von Stand in den drei Bagni, denen Aufsicht und Ketten nicht einen Tag lang gelockert wurden. Eine Art grimmiger Sympathie Dali-Mamis war mit im Spiel. Cervantes zuckte die Achseln, wie er’s bedachte, und machte sich auf, um in dieser wimmelnden Welt nach seinem Bruder zu suchen.
Am nächsten Tage schon fand er ihn, in einem Hause der Unterstadt, ganz nahe dem Bab-Azoun. Hier in einem langen dunkeln Flur, der von der Straße zum Innenhof führte, erschien von ungefähr Rodrigos mächtige Silhouette, schwarz gegen die Helle. Er zersägte Holz und pfiff dazu.
Cervantes stand einen Augenblick still. Dann trat er unter das geschnitzte Schutzdach, das den Eingang überhing, und rief seinen Bruder an.
Der Fähnrich berichtete, guten Mutes. Er war auf dem Badistan von einem jüdischen Ärzte erstanden worden, einem ältern Herrn, seit langem hier ansässig, Witwer, dem vor kurzem sein Sklave gestorben war. „Sehr gutes Essen, mein Miguel. Und der jüdische Hund äußerst freundlich, eigentlich kaum ein Hund, man sagt ja nur so. Er spricht Spanisch mit mir, ich habe ihm schon von Dir erzählt.”
„Du solltest nicht immer allen Leuten von mir erzählen, Rodrigo! Es ist nicht ganz nützlich.”
In diesem Augenblick trat aus dem Innenhof Doctor Salomon Perez, im Käppchen, unter dem silbern die Schläfenlocken hervorkamen, und im langen, schwarzen, seidigen Kaftan.
„Ich bin gerufen,” sagte er in reinem Kastilianisch, „Ihr müßt mir den Arzneikasten nachtragen, Rodrigo!” Und er richtete seine gewölbten, stumpfbraunen Augen auf Miguel Cervantes.
„Ihr seid der Bruder meines Hausgenossen, es ist am Gesichtsschnitt wohl zu erkennen. Wie haben es Euer Gnaden in Algier getroffen?”
Eine höchst gemischte Empfindung, Mitleid, Heiterkeit, Rührung, Scham, streifte bei der unterwürfigen Anrede an Cervantes’ Herz. Wie in einem Blitzschein tauchte für einen Augenblick aus der Nacht der Zeiten das niebedachte Schicksal dieser Geächteten. Was mußte mit den Vätern dieses gelehrten Mannes geschehen sein, daß er zu einem Sklaven so sprach!
Er tat schon den Mund auf zum gewohnten Protest. Aber eine sehr ungewohnte Regung von praktischer Klugheit mahnte ab.
War es denn vernünftig, seine Legende ganz und überall zu zerstören? Sie brachte Vorteile. Sie schenkte Bewegungsfreiheit. Sie gab Zeit, Pläne vorzubereiten, die sich dunkel schon regten. Was drängte er sich denn, im Stapel der billigsten Menschenware zu verschwinden!
Er sagte: „Ich danke Euch, mein Herr Doktor. Es geht mir leidlich. Und es erfreut mich, meinen Bruder im Hause des Gelehrten zu sehen. Wissen macht sanft.”
„Wenn es nicht hochmütig macht und unempfindlich,” sagte Salomon Perez und wiegte stark seinen Kopf.
Der Fähnrich hatte den umfangreichen Arzneikasten aus dem Hause geholt. Cervantes sah ihnen nach, wie sie beide davonwandelten, der zarte Greis im Seidenmantel voran, der Bruder mit der roten Sklavenkappe hinterdrein, den schwarzen Koffer am Riemen über der Schulter. Sie verschwanden nach links hinauf, der Stadtmauer entlang, in der Richtung der Kasba.
Eine Woche später war Cervantes die ganze verwinkelte Siedlung völlig vertraut. Auf vielen Stufen hatte er schon gesessen, schauend und im Gespräch. Und ungesucht war ihm alsbald ein Erwerb zugefallen.
Wieviel Sklaven lebten in Algier? Fünfzehntausend? Zehntausend gewiß. Alle fühlten sie das Bedürfnis, mit der Heimat Bericht zu tauschen. Aber des Schreibens kundig waren nicht viele. Wohl gab es öffentliche Schreiber, aber sie beherrschten die Sprachen nicht, waren teuer zudem, und ihre Briefe gar zu trocken und kalt.
Unter den Hufeisenbögen oder im Mauerschatten saß Cervantes und schrieb für die Wortlosen. In seiner raschen Feder ward jede Nachricht, jede Klage beredt und zum Greifen real, angemessen alles der Person des Senders und dessen, der die Botschaft empfing. Immer ließ er sich erst die fernen Freunde beschreiben, stellte jeden vor sich hin mit zeugender Einbildungskraft und erkannte vielerlei Schicksal.
Alle vertrauten sie ihm, sie hingen sich an seine Fersen in allen Gassen. Und als er sich, nach Monatsfrist, einen Standort wählte, war er oftmals umlagert. Kleine Münze nahm er als Entgelt, und von denen nur, die sie ihm aufdrängten.
Der Platz befand sich außerhalb der Mauer, vor Bab-el-Wed. Verließ man die Stadt durch dies Tor, so lag zur Linken auf einer Anhöhe eine Art Klösterchen mit der Grabstätte eines Heiligen, die Zawia Sidi Abd-er-Rahman. Hier unter einer hohen, alten, einzelnstehenden Zypresse saß Miguel Cervantes und schrieb seine Briefe an andalusische Bauern, mallorkinische Fischer, italienische Stadtbürger, an Protektoren, Kanzleien und Klöster.
Manchmal auch blieb er allein. Dann ruhte er, schaute und sann. Bab-el-Wed und die Stadtmauer waren durch Buschwerk völlig verborgen, und das, aus gewissen Gründen, war gut so. Über grünes Hügelland hinweg sah er das Meer. Dies Meer seines Lebens, über das er blindlings hin- und hergeschwemmt wurde. Dies Mittelländische Meer, Wiege der beiden großen Gedanken, von denen das Herz der Menschheit lebt: griechischer Freiheit und jüdischen Erbarmens. Dies Meer, heute von finsteren Mächten umlagert, die schreckensvoller wüteten als seine Stürme.
Zu Jahresanfang wurde es plötzlich kalt. Da verbrachte er einige Wochen „zu Hause” im Bagno, hielt sich in seinem Winkel oder saß vor den Stallnischen der Anderen. Eintönige Klagen empfing sein Ohr. Dann wieder erinnerte er sich des holden Zeitvertreibs seiner jungen Jahre, und er begann Verse zu schreiben. Es war nicht wie einst: kein Ehrgeiz, kein Preis beim Dichterturnier der winkte, kein Meister Hoyos, der den Schüler als einen künftigen Boscan oder Garcilaso lauteifernd rühmte. In Spanien, er wußte es wohl, war eine neue Literatur im kräftigen Emporblühen, unglaublich auch sollte der Zulauf sein, den neuerdings die Theatertruppen dort fanden. Aber er war abgeschnitten von alldem. Er wollte nur ein wenig vor sich hinsingen in seiner Gefangenschaft und sich erinnern. Der Gedanke gewann Gestalt in ihm, die Geschichte seiner eigenen letzten Jahre in einen Zyklus zu bringen, dieser Jahre, die sich vor Fülle zu dehnen schienen wie ein Jahrhundert. Er begann, da die Reihenfolge ja gleichgültig erschien, mit einer trochäischen Elegie auf den Tod des sanften Aquaviva, die Verse flossen ihm gelind und ohne Mühe, dann überlas er sie und zerriß seine Blätter. Es war alles rhetorisch und leer, niemand, der dies las, konnte angerührt werden von dem milden Zauber des Knaben im Purpur. Aber vielleicht gelang das Heroische besser? Er entwarf eine Ode auf den Sieg von Lepanto. Die Jamben stürmten. Es klirrte und blitzte. Einen Tag lang gefiel es ihm. Jedoch in der Nacht erwachte er an seinen eigenen Versen:
Der Herr, der seine starke Hand läßt schauen
Und lohnt des Fürsten gläubiges Vertrauen,
Zu seines heiligen Namens Ruhm und Ehren
Will Philipps Spanien diesen Sieg gewähren —
und er wußte auf einmal, daß sie einer Ode des Dichters Herrera fast Wort für Wort entlehnt waren. Sogleich im Morgengrauen revidierte er sein Werk, doch es geschah ohne Zutrauen. Alles erschien ihm ruhmredig und aufgeschwollen, ein fader Geschmack legte sich auf seine Zunge. „Was tut Ihr, Don Miguel,” fragte ein valenzianischer Priester, der unter den Gefangenen war, und blieb vor der Nische stehen, „schon am frühen Morgen schreibt Ihr und schreibt!” „Ich schreibe Verse, ehrwürdiger Vater. Es ist immer noch besser als Läuse suchen.” Aber selbst das war ihm zweifelhaft.
Als schon im Februar wieder eine milde, ganz frühlingshafte Sonne schien, bezog er aufs Neue seinen Platz bei Sidi Abd-er-Rahman. Selten aß er auch nur seine Suppe im Bagno. Er kostete nichts. Er blieb ungeschoren.
Dem Glauben an seine Abkunft und Stellung trat er nicht mehr entgegen. Er tat jetzt sogar Einiges dazu, ihn zu nähren und lebendig zu erhalten. Briefe, darin er mit Madrider Geschäftsfreunden die Art der Zahlung diskutierte, fingierte Antworten sogar, ließ er offen umherliegen. Einige Male verschwanden die Briefe. Dali-Mami, wenn er am Abend inspizierte, leckte sich die Lippen beim Anblick des saftigen Bissens. Daß zweitausend Dukaten, eine gewaltige Summe, nicht ohne Schwierigkeiten eintrafen, schien nur natürlich.
In Wirklichkeit, das versteht sich, hatte Cervantes nichts unternommen. Wer denn auch sollte ihn loskaufen! Eltern und Verwandte vielleicht, die in ihrer Dürftigkeit belassen zu müssen sein nagender Kummer war?
Aber sie bemühten sich längst. Rodrigo, obwohl es ihm strenge verwiesen worden, korrespondierte über den Freikauf. Es ging kein trinitarischer Mönch zurück übers Meer, der nicht mehrere seiner Briefe mit sich führte, orthographisch fragwürdige, aber eindringliche Schreiben. Er selbst sei leidlich zufrieden, hieß es da, aber das mit Miguel, das sei ein Unglück. Niemand in Spanien wisse, wie schrecklich das Bagno sei. So eilig wie möglich müsse der Bruder ausgelöst werden, in aller Interesse. Und verführerisch ließ er immer wieder Miguels berühmte Zukunft erschimmern. Er bekam Phantasie. Er log sogar, was seiner schlichten Natur eigentlich wenig entsprach. Aus Miguels plumpem Fußschmuck wurden Eisenbarren und schwere Ketten.
Der taube Rechtskonsulent Cervantes und seine stille Frau, die Tochter im Kloster und die andere, die sich mit Männern umhertrieb, sie sahen den Sohn und Bruder in Banden schuften und schwitzen. Miguels eigene Briefe, die weit tröstlicher klangen, schrieben sie seinem Stolz und der Schonung zu. Sie verkauften, was immer entbehrlich war, sie suchten Geld zu entleihen, die Schwester Luisa bemühte sich um eine Beihilfe bei ihren Oberen, die Schwester Andrea kaufte sich weder Kleider noch Schmuck mehr von den Geschenken ihrer Liebhaber, sondern legte Real auf Real; sie petitionierten, sie saßen ganze Tage in den Vorzimmern der königlichen Ämter, sie lebten fast nur von Zwiebeln und Brot.
Aber die Summen, die aufgebracht werden konnten, waren erbärmlich. Sie wagten garnicht, sie Miguel zu nennen. Auch hatte Rodrigo dies aufs Strengste verboten.
Cervantes wußte von nichts. Es ging ihm nicht schlecht. Er hätte zufrieden sein können.
Er war es nicht. Seit kurzem nicht mehr. Mit jedem Tag nahm seine peinvolle Unruhe zu. Er litt. Er fühlte sich, als das Frühjahr heran war, von Gram, Zorn und Elend völlig zerrissen.
Einst vor Lepanto hatte ihn der bloße Bericht von der zyprischen Greueltat aufs Fieberlager geworfen. Jetzt sah er Ähnliches täglich mit leiblichen Augen. Die Zeit war hart, er war ihr Kind und hart war er gegen sich selbst. Aber er war ein Mensch der Empfindung und Phantasie, qualvoll befähigt, fremde Qual mitzufühlen. Und was er sah, war zuviel.
Allenthalben war das Strafensystem von furchtbarer Strenge. Man verbrannte, räderte, schleifte zu Tod, ließ durch Pferde zerreißen, die Glieder einzeln zerbrechen. Für ein paar gestohlene Heller fiel eine Hand vom Block. In allen Christenstädten krochen die Krüppel der Justiz zu Hunderten herum.
Wie erst hier, in diesem Ausguß der alten Welt, worin ihr Menschenabhub trüb zusammenschäumte, und Habgier, Fanatismus und Grausamkeit sich mischten wie nirgends. Hinrichtung, Verstümmelung, Folter waren tägliche Kurzweil, das Wehgeheul der Gequälten so gewohnt wie Eselgeschrei und Geklingel der Wasserverkäufer, die Prügelstrafe, die fast immer zum Tode führte, eine regelmäßige Einrichtung wie der tägliche Markt. Kam man um Mittag vor der Djenina vorbei, darin der König wohnte, so sah man auf dem Platz die Delinquenten nackt ausgestreckt. Zwei Grüngekleidete hockten einem jeden auf Beinen und Hals, zwei andere prügelten mit schweren Stöcken in genauem Rhythmus auf ihn ein und riefen einander abwechselnd die Anzahl der Schläge zu: hundertfünfzig, zweihundertfünfzig, vierhundert. Dann wurde die blutende und zertrümmerte Masse zur Seite geschleift. Um halb zwei sank auf der großen Moschee die weiße Flagge, dann war Pause für heute.
Seit kurzem regierte in Algier ein neuer König. Der Pascha Ramdan war abberufen worden, und seine Stelle nahm ein italienischer Renegat ein, der einmal Andreta geheißen hatte und sich jetzt Hassan-Veneziano nannte, gewiß einer der fürchterlichsten Menschen des Jahrhunderts. Durch ungeheure Zahlungen an die Würdenträger des Serails in Stambul und an die Frauen des Sultans hatte er seine Berufung durchgesetzt und machte sich nun daran, diese Bestechungsgelder samt Zinsen aus seinem Pachtkönigreich herauszuwirtschaften. Wehe dem Gefangenen, der jetzt noch die Flucht vorbereitete! Neue, langsame, durchdachte Marterung war eingeführt. Zum Abschreckungszweck trat der besondere Geschmack des neuen Machthabers. Hier regierte die kalte, lustvolle, methodische Grausamkeit in Person. Es gab sogar Mauren und Türken genug, die sich offen entsetzten. Das herkömmliche Hängen, Köpfen, Erwürgen, Verbrennen bereitete ihm wenig Genugtuung. Er bevorzugte erlesene Prozeduren, das Pfählen zum Beispiel, wobei dem Delinquenten ein spitzer Stock der Länge nach durch den Körper getrieben wurde und der König seinen Trabanten Wetten darüber anbot, an welcher Stelle des Kopfes die Eisenspitze zum Vorschein kommen werde, durch Auge, Mund oder Wange. Gelegenheit zu dergleichen Belustigungen war stets reichlich vorhanden. Er sah etwa einer Sklavenkolonne bei irgendeiner Arbeit zu, erklärte sich unbefriedigt und befahl kurzerhand, sämtlichen Beteiligten die Ohren vom Kopfe zu schneiden. Befand er sich in humoristischer Laune, so ließ er ihnen die blutigen Muscheln auf die Stirne heften und ließ sie so, bei schrillender Janitscharenmusik, im Kreise um den Platz vor der Djenina traben.
Seine Härte machte übrigens nicht Halt bei den christlichen Sklaven. Er terrorisierte seine Miliz, brachte die Gilde der Reïs durch die bösartigsten Schikanen gegen sich auf, war verhaßt in ganz Nordafrika — und zugleich bewundert für seine wilde Tapferkeit, die so wenig Grenzen kannte wie seine Bestialität.
Er sah aus wie der Seeräuber des Märchens: hochgewachsen, hager und bleich, mit spärlich sprießendem rotem Bart und glänzenden rotunterlaufenen Augen. Die ihm nahe kamen, behaupteten, es gehe ein Blutgeruch von ihm aus.
Dies war der Mensch, dem der einhändige Sklave Miguel Cervantes Trotz bot, und den er, in gewisser Weise, bezwang.
Zunächst einmal freilich hatte ihn Hassan von seinem Platze bei der Zawia vertrieben. Die Schreibunkundigen fanden ihn nicht mehr. Zu fürchterlich belebt war jetzt der Hinrichtungsplatz vor Bab-el-Wed. Es nützte auch nichts, daß grünes Buschwerk Tor und Mauer verbarg. Immer war Geschrei der Opfer zu hören, man spürte den Dunst von verbranntem Fleisch oder den Verwesungsgeruch der Leichen, die man liegen ließ, unter Verbot der Bestattung. Jedem zur Warnung sichtbar, verfaulten hier die, die kühn und verzweifelt genug gewesen waren, der Hölle zu entfliehen.
Aber dies blieb das Ziel des Cervantes. Das Grauen warf ihn nicht mehr danieder aufs Fieberlager, die Zeit war vorbei. Fliehen wollte auch er, möglichst viele Genossen mit sich in die Freiheit reißen, und draußen in der christlichen Welt zum Ansturm aufrufen gegen die Hölle.
Die Stadt Oran war von Spanien besetzt. Zwölf Tagereisen waren es dorthin. Aber für einen Flüchtling verbot sich diese kürzeste Strecke am Meere entlang, die genau überwacht war. Auf weiten Umwegen, tief nach Süden hinuntertauchend und dann zurückstrebend zur Küste, konnte ein Tollkühner hoffen, in drei Wochen Oran zu erreichen. Doch es war noch keinem geglückt.
Pfade gab es hier kaum, Felsengebirg nur, verbrannte Öden und Räuberstämme. Ein Führer war unerläßlich.
Gegen das Frühjahr hin hatte Cervantes einen gefunden. Es war ein abenteuerliches Subjekt portugiesisch-maurischer Mischung, seit zwanzig Jahren unterwegs hier, in den Königreichen Fez und Tlemeen so gut zuhause wie in den Oasen des algerischen Südens; mager und flink, nicht weiter hübsch anzusehen mit seiner schmutzigen Gesichtsfarbe, die an vertieften Stellen ins Grünliche spielte, und einer zu kurzen Nase, die ein brutaler Daumen höhnisch zur Seite gedreht zu haben schien; nicht jung mehr im übrigen. Die gefahrvolle Führung der elf Gefangenen sollte ein letztes gewinnbringendes Unternehmen für ihn sein, dann gab er „das Ganze” auf — man wußte nicht genau was. Eingenäht in seinen Haïk trug er zehn Schuldverschreibungen mit sich: zehn, denn Cervantes, der sich mönchsarm wußte, hatte sich zu nichts verpflichtet, wohl aber Rodrigo heimlich für sie beide. Mit seiner Riesenfigur den ganzen Flüchtlingstrupp überragend, stapfte und stolperte er neben dem geliebten Bruder über Haldengeröll und durch trockene Flußbetten frohherzig nach Südwesten.
Vom vierten Tage an wurde die Anstrengung für die karg genährten Körper empfindlich. Felsenauf felsenab unter einer Sonne, die schon sommerhaft sengte, nirgends Schatten, keine Siedlung, die Erfrischung oder Obdach verhieß, eine Lehmhöhle mitunter, vor der dickbäuchige Kinder aus entzündeten Augen den Zwölfen nachglotzten, plötzlich einmal, hinter einer Felsnase statuarisch auftauchend, ein Gewaffneter auf dem Pferde, buntlappig gekleidet und finster.
Am sechsten Tage ging ihnen der Mundvorrat aus. In einer Niederung sahen sie vor ein paar Hütten Schafe weiden. Weiber hüteten sie. Man versuchte, eines der Tiere zu erhandeln; aber keine Einigung war möglich, Geld vielleicht unbekannt, jedenfalls unbegehrt. So nahmen sie den Hammel ohne Bezahlung. Alle freuten sich schon auf das Mahl.
Sie hielten es gegen den Abend am Rande der großen Meddada. Gleichmäßig gewachsen, in stolzem Abstand, bedeckten die Riesenzedern weithin den Abhang des Höhenzugs. In einer gewissen Höhe breitete ihr Nadelgeäst sich wagrecht aus, so daß in Domeshöhe eine ununterbrochene Decke entstand.
„Wo sind wir?” fragte Cervantes den Mageren, „was war das für ein Ort, um den Du uns heute herumgeführt hast, in weitem Bogen und geheimnisvoll?”
Der Führer schielte über seine schiefe Nase. „Teniet-el-Had hieß der Ort, Don Miguel, und seine Bewohner sind freche, gehässige Kabylen.” Und er entwich.
Der Hammel briet auf dem Feuer aus Zedernholz, dessen Harz im Verknistern ein durchdringendes Aroma ausströmte. Alles drängte sich um die Flamme, denn die Frühlingsnacht kam kalt im Gebirgsland. Noch war der Braten nicht gar, so riß man das Fleisch von den Knochen. Die europäischen Herren schmatzten und leckten die Finger. Bald sanken alle in Schlaf auf dem Waldboden, eingewickelt so gut es ging. Ein schwacher milchiger Schein erfüllte die hohe Meddada, vom Vollmond her, der über der Domesdecke im klaren Nachthimmel schwamm.
Als man im Morgenlicht die erstarrten Glieder reckte und rieb, war kein Führer zu erblicken. Man rief, man streifte, ratlos stand man beisammen, unfähig noch, der Situation ins böse Auge zu sehen. Bis plötzlich einer der Elfe, der ein Kaufmann aus Murcia war, einen Schrei ausstieß, sich über den Körper tastete, dann an seinem Schlafplatz zu wühlen begann und sich endlich, verzweifelnd, für bestohlen erklärte. Das Lederbeutelchen voll Dublonen, das er am Band auf der nackten Brust getragen, der mit unendlicher Schwierigkeit bewahrte Schatz, war verschwunden, mit ihm hatte der Grüngesichtige das Weite gesucht. Die geringere, aber greifbare Beute war ihm lieber gewesen als alle zehn Schuldverschreibungen zusammen. Und da ließ er sie nun in der weglosen Öde, sechs Tage von Algier, fünfzehn von Oran, ohne Landkunde, Nahrung und Waffen.
Ein Jammern und Anklagen erhob sich. Jeder wollte die Unverläßlichkeit des Menschen als Erster erkannt, jeder sich gegen das waghalsige Unternehmen am längsten gesträubt haben. Es fehlte nicht viel, und die Brüder im Unglück hätten einander geprügelt. Endlich aber wandte sich der vereinigte Unwille gegen Cervantes als gegen den wahren Anstifter und Vorbereiter, dem man auch ganz allein den saubern Pfadfinder zu verdanken habe.
Das sei alles vollkommen richtig, erklärte er sogleich, und nichts also natürlicher, als daß sie ihn mit der Verantwortung belüden und ihm als ihrem Führer nun weiter folgten nach Westen. Hier das Zederngebirg, er habe es auf den Karten gesehen, liege genau auf der Höhe des Ziels. Immer nur der wandernden Sonne nach müsse man wandern, unfehlbar führe einen die unter die Mauern von Oran.
Aber für alle gab es nur eine Losung: zurück. Sechs Tagereisen bekannten Wegs schienen ihnen besser als die weite Fahrt in das Ungewisse, und sie erhofften Verzeihung, da sie reuig zurückkehrten.
Eine Viertelstunde danach zogen sie ab. Die Brüder standen am Höhenrand unter den ersten Stämmen und blickten den Neunen nach.
„Wir werden viel rascher vorwärtskommen zu zweit,” sagte der Fähnrich, den der Gedanke entzückte, allein mit dem angebeteten Bruder der Freiheit zuzuwandern, „komm! worauf warten wir noch.”
Aber Cervantes sprach nicht und entschloß sich nicht. Die Zurückflüchtenden waren längst um ein Felsenmassiv verschwunden.
„Es geht doch nicht, Rodrigo,” sagte er endlich, „wir müssen ihnen nach.”
Der Fähnrich war sonst nicht der Mann, Andeutungen zu verstehen. Diese verstand er.
„Sie werden’s Dir nicht danken, mein Miguel!”
„Gewiß nicht.”
Und das war alles.
Der Empfang in der Sklavenstadt war nicht freundlich. Aber da die wütend vermißte, schon verloren gegebene Ware sich selber zurücklieferte, sah man vom Äußersten ab. Härtere Arbeit, schlechteres Lager, einige Prügel auch, dabei ließ man’s bewenden, zumal sie verführt waren. Nicht einer der Neune widersprach dem Cervantes, der sich als Anstifter bekannte. Dreihundert Stockschläge wurden ihm zudiktiert, und dies war so viel wie der Tod.
Aber Dali-Mami ließ die Strafe nicht vollziehen. Er ließ seinen einhändigen Sklaven eng anschmieden im Bagno; mit Eisen behängt und umwunden, wie eine Braut mit Rosen, saß Cervantes in seinem Winkel. Mehrmals erschien der Reïs, beklopfte Ketten und Barren kennerisch mit seinem Totschläger und hielt dem Rebellen düster prophetische Reden. Aber am fünften Tag nahm man ihm sämtliche Bande ab... Sein Anzug war in Fetzen gegangen auf der Flucht. Ein neuer lag bereit, reinlich und ungeflickt: Hemd, Hose, Kaftan, Schlappen und Mütze. Nur die symbolische Fußfessel hatte man vergessen. Sonst war alles ganz wie zuvor.
Verschlimmert hatte sich leider das Los des braven Rodrigo. Denn Doctor Salomon Perez hatte schon einen andern Knecht, und der Fähnrich sah sich unter die Sklaven des öffentlichen Dienstes versetzt. Miguel fand ihn, nackt unter Nackten, in glühender Sonne schanzend an einer neuen Bastion am Rande der Kasba.
„Nicht lang, Rodrigo, nicht lang!” flüsterte er ihm zu. Der Fähnrich lächelte, voller Vertrauen.
Ein Jahr hatte Rodrigo zu fronen. Kettenrasselnd stand er an jedem Morgen von seiner Streu auf, voll gespannter Hoffnung, ob nun wohl diesen Tag Miguel das Wunder der Befreiung vollziehen werde. Aber als dann die Freiheit winkte, da weigerte er sich.
Zwei Trinitarier mit Lösegeldern trafen ein. Dreihundert Dukaten kamen von der Familie Cervantes. Miguel erschrak. Seine klar arbeitende Phantasie stellte ihm vor, was diese Summe an Entbehrung und Demütigung für die Seinen bedeutete. Nun, jedenfalls bedeutete sie für den Bruder die Heimkehr.
Aber Rodrigo war gänzlich verstockt. Diese dreihundert Dukaten seien ein erster Grundstock für Miguels Lösegeld und nichts anderes. Inwiefern Grundstock? entgegnete Miguel, beinahe heftig. Zweitausend Dukaten, er habe es vielleicht vergessen, zweitausend verlange von ihm Dali-Mami. Und von wo aus aller Welt auch nur ein Goldstück noch kommen könnte, das sei unklar. Er trenne sich nun einmal nicht von dem Bruder, erklärte der Fähnrich, und nicht für ihn sei das Geld...
Miguel schaute ihm in das sanfte und störrische Gesicht und dann vor sich nieder in den blauen Schatten. Es war ein heißer Maimittag, und sie saßen beieinander unter einer hohen Mauer, die zu den Befestigungen über der Kasba gehörte. Rodrigo trug Eisen an beiden Füßen. Zu dieser Stunde hatten die Schanzenden Ruhe, weil ihre Aufseher die Hitze nicht ertrugen. Das Meer draußen flimmerte, daß man nicht hinsehen konnte. Auf der Großen Moschee nahe dem Hafen stieg eben die weiße Fahne hoch. Die täglichen Exekutionen begannen.
Miguel hob den Kopf. Es war kaum eine Minute vergangen. Aber ein schärferer Beobachter als Rodrigo hätte erkannt, daß in diesem Augenblick Entscheidendes in ihm vorgegangen war.
„Du wirst dieses Geld nehmen, Rodrigo,” sagte er höchst bestimmt. „Du kehrst nach Spanien zurück. Ich brauche Dich dort. Wenn Du alles mit Klugheit führst, bin auch ich in wenigen Monaten frei.”
„Laß hören,” sagte der Fähnrich, nicht ohne Mißtrauen...
Im August erst reiste er ab. So lange Zeit nahmen die Förmlichkeiten in Anspruch. Im letzten Augenblick noch wurde sein Schiff bis in den untersten Winkel durchsucht. Nichts Verdächtiges fand sich.
Dennoch ging etwas vor. Sklaven kamen abhanden. Nie viele auf einmal, in jeder Woche nur einer oder zwei. Unbegreiflich, wohin sie verschwanden. Der Verdacht fiel auf Miguel Cervantes, aber er ging harmlos umher, schrieb seine Briefe, äußerte überall nur Befriedigung über den Freikauf des Bruders.
Die Vermißten waren nicht weit.
Eine kleine Gehstunde westlich vor der Stadt, zwischen dem Meer und den Hügeln, erstreckte sich ein Stück Land, das El Hamma hieß, ein Ort der Überschwemmung und pflanzlicher Üppigkeit. Hier, dem Ufer entlang, hatte sich einer der oberen Stadtbeamten aus der Wildnis einen Garten herausgeschnitten, einen beinahe tropischen Park voller Palmen, Bambus, Myrte und Ginster. Fast niemals betrat der Herr sein abgelegenes Besitztum. Ein Südfranzose, ein fröhlicher Mann, Jean aus Navarra, tat für ihn Gärtner- und Wächterdienst: zumeist also schlief er in seiner Bretterhütte und ließ Gottes Pflanzen sich verschlingen und vermählen, wie sie wollten.
Diesen braven Tagedieb hatte sich Cervantes gewonnen. Stehe ihm der Sinn danach, sein Heimatland wiederzusehen, so sei er eingeladen, mit ihnen das spanische Schiff zu besteigen, das in einer nahen Nacht vor dem Garten kreuzen werde, hergesandt von Rodrigo.
Der Ort war kundig gewählt. Im verborgensten Teile des Parks befand sich eine natürliche Höhle, im Laufe der Zeit durch Menschenhand noch erweitert. In diese Höhle versickerten die Flüchtlinge, tropfenweise und spurlos. Sie hatten strenges Geheiß, niemals tagsüber ihre dumpfe Zuflucht zu verlassen. Jean aus Navarra hielt Ausschau für sie.
Aber wie sich verproviantieren? Im Garten wuchs, außer ein paar Wurzeln und Beeren, nichts Eßbares. Jeder scheute sich vor dem gefahrvollen Doppelgang nach der Stadt und zurück. Jeder war glücklich, als sich schließlich der Jüngste von allen, ein Florentiner, erbot, ihn an jedem dritten Tage zu wagen. Er war ein schöner und frecher Mensch, allen bekannt nur als der „Dorador”, obgleich niemand zu sagen vermochte, ob er wirklich einmal die Vergolderkunst ausgeübt hatte. In Tunis, hieß es von ihm, habe er mehrmals die Religion gewechselt; aber niemand wußte Bestimmtes.
Sie waren nun fünfzehn in ihrer Höhle. Cervantes, am Schärfsten beargwöhnt, sollte als Letzter erst zu ihnen stoßen. Den 20. September hatte er mit Rodrigo als den Tag der Befreiung errechnet. In der Nacht vorher verließ er die Stadt. Als er sich über das rückwärtige Hügelgelände dem Garten näherte, fiel ihm ein, daß er an einem 20. September auf der „Sol” von Neapel abgefahren war. Er hatte eine dunkle Ahnung zu verscheuchen.
Der Tag verstrich und die Nacht und sieben Tage und Nächte danach. Kein Schiff ließ sich sehen. Hatte der Bruder versagt? War dem Fahrzeug ein Unglück begegnet? Ohne Hoffnung wachten sie noch eine letzte Nacht heran, es war die mondhelle des 28. September. Und da zeigte sich um die elfte Stunde das Schiff.
Die es sahen, fielen auf die Knie. Es glitt heran auf dem völlig ruhigen Meer, ein kleiner einmastiger Kutter, von so geringem Tiefgang offenbar, daß unmittelbare Landung möglich war. Dafür lobte Cervantes bei sich den Bruder und auch für die Wahl des küstenkundigen Schiffers, der mit solcher Sicherheit dieses Gartenufer erreichte.
Alle standen mit erhobenen Armen oder winkend, doch ohne Laut. Schon glaubten sie das Plätschern der Ruder im mondhellen Wasser zu hören.
Da erhob sich vielstimmiges Schreien, kehlig, drohend und wild. Nicht unterscheiden ließ sich, woher es kam, ob vom Land aus dem Munde von Leuten, die so spät sich hier noch ergingen, oder vom Wasser her.
Das Fahrzeug entfernte sich. Zu rufen wagten sie nicht. Mit versagendem Herzschlag sah jeder den Retter entschwinden.
„Freunde, er kommt uns zurück,” sagte die Stimme des Cervantes, „er erwartet den Augenblick.”
Aber drei qualvolle Tage vergingen, ehe er kam. Ein letztes Mal hatte man den Vergolder auf Nahrung aussenden müssen. So war er nicht bei ihnen, als der Kutter wieder erschien — in einer Morgenfrühe, vor Sonnenaufgang. Vorsichtig kreuzte draußen das Schiff, ein Zeichen erwartend. Man sah am Vordersteven undeutlich einen hochgewachsenen Mann, der barhaupt schien.
Alle drängten, das Zeichen zu geben und sogleich an Bord zu gehen. Jede Minute sei kostbar.
„Und der Dorador?” fragte Cervantes.
„Warum ist er nicht da!”
„Weil er für uns sein Leben wagt, zum zwanzigsten Mal!”
Aber hatten sie denn nicht recht? Besser, es ging einer zu Grunde als alle. Es drängte ihn selber, das Zeichen zu geben, er lechzte danach... Er brachte es dennoch nicht fertig. Seine Phantasie stellte sich dem entgegen: er sah den Vergolder hereinhetzen zum Garten, ihr Brot in den Händen. Keinen findet er mehr. Höhle, Garten und Meerbucht sind leer und fünfzehn Schufte auf dem Weg in die Freiheit.
Murrend umdrängten sie ihn. „Wie lang wollt Ihr warten!”
„Bis die Sonne herauf ist. Er ist nie später gekommen.”
„Wenigstens gebt das Zeichen! Das Zeichen ist nicht die Abfahrt.”
„Das Zeichen ist die Abfahrt. Sind wir an Bord, so fährt der Schiffer auch ab.”
„Dann ist er gescheiter als Ihr!” sagte einer mit rüder Stimme.
Der Mann sprach die Wahrheit. Was war dieser Drang in ihm, ans Äußerste zu gehen, das Schicksal herauszufordern? Er hatte kein Recht dazu! Jetzt auch schon keine Macht mehr...
Denn sie gaben nun selber das Zeichen. Sie winkten. Sie gingen hinweg über ihn. Heimlich atmete Cervantes auf. Er blickte beiseite. Auch Jean aus Navarra trug eben sein Bündelchen aus der Hütte herbei, er wollte mit ihnen fahren.
Da entstand hinter ihnen im Garten Geräusch von knackendem Holz und Tritten zahlreicher Menschen. Es war Dali-Mami, der Reïs, mit einer Rotte Bewaffneter. Ihn führte der Dorador, der den Turban trug.
Ob ihm der Verrat schon länger im Sinne gelegen, ob er an dem Unternehmen verzweifelt, ob eine plötzlich aufschießende Bösartigkeit ihn so abscheulich gelenkt, wer wollte es sagen. Frech hielt er sich an Dali-Mamis Seite, der stillstand und die Situation genoß. Dies war, wahrhaftig, ein Bissen!
Die Wut der Verratenen brach los gegen Cervantes. So übergroß war ihre Empörung gegen den, der sie aus Treue zu dem Verräter nun alle ans Messer geliefert, daß sie fast den Verräter und fast das Schrecknis selber vergaßen. Die Fäuste erhoben, mit wilden Augen, unter Verwünschung und Fluch, umdrängten sie Miguel. Der schob die Fauchenden weg. „Dich würde ich gerne töten,” sprach er zu dem Dorador, und der Ausdruck dieses todgeweihten und zarten Menschen war so, daß sich der Andere rückwärts unter die Bewaffneten im Baumgang verkroch.
„Du wirst keinen mehr töten,” sagte Dali-Mami. „Man wird Dir auch Deine rechte Hand noch abhacken, bevor man Dich hängt. Und Deinen Spießgesellen die linke, damit sie künftig ihrem Anführer gleichen.”
„Andere als mich zu verstümmeln bringt Euch Verlust. Ihr habt das nicht nötig. Keiner wird mehr die Flucht wagen, wenn ich tot bin.”
Das war mit einem überzeugten und überzeugenden Ernst gesprochen. Er hatte abgeschlossen. Was er anrührte, mißlang. Er glaubte nicht mehr an seinen Stern. Durch seinen Starrsinn hatte er alle diese gefährdet. Und er würde wieder so handeln... Verhüllt, in unbestimmtem Kontur, zeichnete sich unter diesem Begebnis das Gesetz seines Lebens ab. An diesem Leben hing er nicht mehr.
Der Reïs gab ein Zeichen. Die Flüchtlinge wurden umringt und zum Ausgang getrieben. Am Ende des Zuges schlich im neuen Turban der Vergolder seiner erhofften Belohnung entgegen.
Der Reïs mit zwei Trabanten blieb zurück. Nachdenklich spazierte er vor dem stumm wartenden Cervantes auf und ab und ließ elegant seinen elastischen Totschläger wippen.
„Daß an Euerm Rang und an Euerm Kaufwert nichts ist, Miguel,” sagte er endlich, „weiß ich längst. Es hat mir gefallen, das bis heute aufrecht zu erhalten. Aber was Ihr nicht habt, das kann Euch werden.”
„Erhöhung durch den Strang, meint Ihr. Ich weiß es.”
„Unter den Korsaren einer der Größten, Horuk Barbarossa, Chaireddins Bruder, war ein einhändiger Mann so wie Ihr!”
Cervantes schwieg.
„Was winkt Euch bei den Euern? Was wollt Ihr in Spanien? Nehmet den Turban! Ich gebe Euch frei. Ich geb’ Euch ein Schiff. Ihr werdet von Eurer einen Hand guten Gebrauch machen. Schlagt ein!” Und er bot ihm die Rechte.
Cervantes nahm sie nicht.
„Was hindert Euch? Euer Gott? Er hat Euch bis heute nicht sonderlich begnadet. Euer König? Er kennt Euch nicht. Eure Gefährten? Ihr habt erlebt, wie sie mit Schmähungen über Euch herfielen. Glaubt mir, dies ganze Geschlecht verdient nichts anderes, als daß man ihm die Köpfe zertritt.”
„Was wird aus meinen Gefährten, Reïs? Ihr werdet sie schonen?”
„Schweigt doch von diesem Geziefer! Besinnt Euch! Ich werd’ Euch nicht noch einmal anbetteln.”
Er sah dem Cervantes ins Gesicht, machte kehrt, pfiff seinen Leuten, wie man Hunden pfeift, und ging ohne ein weiteres Wort.
Cervantes blieb allein in dem Garten zurück. Das Meer lag leer. Der Kutter hatte das Weite gesucht.
Am übernächsten Tage erfuhr Cervantes, daß doch Einer, von allen der Unschuldigste, Jean aus Navarra, zum Opfer gebracht worden war. Man hatte ihn an einem Fuße aufgehängt. Dali-Mami und jener Stadtbeamte, dem der Gärtner gehörte, waren unter dem Galgen auf- und abspaziert, und hatten zugesehen, wie sein eigenes Blut den Armen erstickte.
Die Lebenslage des Cervantes in den Jahren, die folgten, war eigentümlich, ja wundersam. Mehrfach des Todes schuldig im Sinne der Machthaber von Algier, ging er frei umher und niemand krümmte ihm ein Haar. Niemand auch zwang ihn zur Arbeit. Er hatte Wohnung im Bagno. Gefiel es ihm, fernzubleiben und anderswo, etwa unter den Sternen, zu nächtigen, so begrüßte ihn bei der Wiederkehr die Wache wie einen entbehrten Bekannten.
Höchst vielfältig war sein Verkehr: die Sklaven aller christlichen Zungen, das Schiffsvolk der Reïs, die schmuckbelasteten Weiber unter den Torbögen, Soldaten, Religionspersonal, Handwerker, Beamte, handelnde und gelehrte Juden machten ihn aus. Ihn kannten die Kinder. Er war in der Leute Mund. Daß ein Entsetzlicher wie Dali-Mami ihn schonte, ihn offenbar auf irgend eine Weise in sein düsteres Herz eingeschlossen hatte, erschien so tief erstaunlich, daß manche von Zauber murmelten. Sie waren nicht so weit von der Wahrheit.
Für seinen Unterhalt war gesorgt, zumal seitdem einer Anzahl von christlichen Kaufleuten das Privileg erteilt worden war, sich anzusiedeln und Handel zu treiben. Die Häuser Baltasar Torres und Onofre Exarque waren die angesehensten. Wenn hier Schwieriges aufzusetzen war, wurde Cervantes gerufen.
Er hätte zufrieden sein können. Aber sich mit Verhaßtem abzufinden, war seines Herzens Sache nicht. Noch nicht einmal an die Qualen der Lastesel hierzulande hatte er sich gewöhnen können. Sah er solch einen Kleinen vorüberkommen in den krummen Gassen, auf dem Rücken einen wanstigen Reiter, der schwerer war als sein Tier und ihm mit dem Eisenstachel die schon eiternde Flanke bearbeitete, so schoß ihm das Blut in den Schädel, und er meinte zuschlagen zu müssen. Wie hätte er ruhig den Anblick von König Hassans Greueltaten ertragen sollen, die sich täglich noch steigerten. Die Galgen wurden garnicht mehr leer, der Erdboden vor Bab-el-Wed war schlammig vom Blut, die Anzahl der besoldeten Folterknechte reichte nicht aus und wurde vermehrt, „kaum ein Christ hat hier mehr seine zwei Ohren am Kopf, und glücklich, wer noch aus zwei Augen blickt,” schrieb in diesen Tagen ein Neapolitaner nach Hause.
Vermutlich hätte Cervantes jetzt fliehen können, er als ein Einzelner, denn niemand kontrollierte ihn mehr. Sein Ziel aber blieb die Befreiung Vieler. Die Mißerfolge schreckten nicht ab. Er suchte hier eine Rechtfertigung für sein Dasein, das ihm kläglich, ganz ohne Größe und Wirkung zu verlaufen schien.
Genau zwei Jahre nach jenem letzten Versuch war es wieder so weit. Es war wieder und noch einmal der schicksalhafte Monat September.
Den angesiedelten Handelsleuten untersagten ihre Verträge streng jede Begünstigung christlicher Sklaven; brachen sie diese Klausel, so war ihre Niederlassung, ihr Eigentum, ja ihr Leben gefährdet. Aber der Kaufmann Onofre Exarque, ein Valenzianer, von allen der Reichste, widerstand nicht dem Einfluß seines einhändigen Sekretärs. Er rüstete ein Schiff für ihn aus.
Nicht ein armseliger, kleiner Kutter war es diesmal, sondern eine Fregatte, stattlich, bewaffnet, geräumig genug, um sechzig entweichenden Spaniern Raum zu gewähren. Aus Cartagena kam sie und am Cap Matifu sollte sie ankern, fünf Stunden von Algier — dort, wo Kaiser Karl einst sein zertrümmertes Heer eingeschifft hatte und sich als den Letzten.
In diesem Jahr fiel der Ramadan fast ganz mit dem christlichen September zusammen. Die 29. Nacht, die den Fastenmonat beschließt, Aid-es-seghir, die Lichter- und Festnacht, war zur Aktion bestimmt. Wenn bei Eintritt des Dunkels das große Schmausen begann, wenn die köstlich Gesättigten dann, vom Genuß noch glühend, sich in Haufen zu den Moscheen drängten, aus deren weitoffenen Pforten gelber Lichtglanz erstrahlte, jubelnd alle, zur näselnd grellen Musik freudig den heiligen Namen ausschreiend, mit Lippen, die vom fetten Honiggebäck glänzten und trieften, — dann war die Gelegenheit da, auszubrechen aus der schwärmenden Raubstadt, einzeln oder in Trupps, Mauern zu überklettern, aus dem Hafen zu schwimmen, ja harmlos vielleicht durchs Tor zu spazieren. Eine Stunde entfernt, am linken Ufer des Harrasch, sollte der Sammelplatz sein.
Größte Heimlichkeit schien bewahrt. Am Morgen vor der Lichternacht würde jeder durch ein Losungswort erfahren, daß alles bereit und daß keine Gefahr sei. Miguel Cervantes sollte überall selbst die glückverheißende Parole verbreiten. Sie warteten alle auf ihren Arbeitsplätzen seit Morgengrauen.
Sie warteten vergeblich. Das Wort erklang nicht. Keiner sah den Cervantes. Keiner verließ am Abend die Stadt.
Verrat war wieder im Spiel, Verrat, dem Cervantes so fremd, daß er ihn niemals einzubeziehen vermochte in seine Rechnung.
Der ihn übte, aus Neid und Eifersucht diesmal, war ein Spanier gelehrten Titels, der Doctor Juan Blanco de Paz, Dominikanermönch einst in Salamanca. Gelbfahl von Gesicht erschien er und häßlich beleibt, sein Blick, seine Haltung erweckten ein trauriges Mißbehagen. Übel und zweideutig war jedes seiner Worte, übel und eindeutig der Mundgeruch, der jedes begleitete. Sogar in dieser Stadt voller ungewaschener Sklaven fiel er auf damit, und wenn jemand vom „Stinkenden” sprach, so wußte man, wer gemeint sei. Dabei aber plagte diesen Benachteiligten ein unzähmbarer Drang, zu gefallen und Freunde zu gewinnen. Cervantes, den einnehmenden, behenden Mann, den Staunen umgab, haßte er giftig. Nur um zu verraten, hatte er sich in den Fluchtplan gedrängt. Am vorletzten Tage des Ramadan meldete er, was er wußte, Hassan-Veneziano, dem König.
Miguel, gewarnt durch Freunde aus der Djenina, denn er hatte sie überall, eilte durch Hintergassen zum Hause des Kaufmanns Exarque. Exarque starb beinahe vor Schreck. All seine Würde, der ganze Anstand des begüterten Herrn, verließ ihn im Augenblick. „Wer kennt meinen Namen,” war sein erstes Wort. „Wer außer Euch? Ihr habt mir geschworen, niemand werde ihn erfahren.”
„Es weiß ihn auch keiner, Don Onofre.”
„Ihr schwört mir das bei der Jungfrau und Euerm Heil?”
„Seid getröstet.”
„Getröstet! Ihr werdet ihn ausschreien, den Namen, wenn sie Euch die Glieder einzeln zerbrechen oder sie langsam ausschälen aus den Gelenken!”
Er verbarg sein Gesicht in beiden Händen und lehnte sich gegen die Wand. Cervantes wartete.
„Es ist über Menschenkraft,” hörte er endlich die bleiche Stimme, „Ihr könnt nicht schweigen. Verschwindet!”
„Verschwinden? Wie das, Onofre?”
„Es muß eben sein. Ich eile zum Reïs. Ich zahle, was er verlangt. Seid Ihr losgekauft, so ist keine Gefahr mehr. Ihr stellt mir ein Scheinchen aus über das Geld!”
„Das wäre ein lügenhaftes Scheinchen, Onofre. Nie könnt’ ich es einlösen. Auch wär’s ein Unsinn. Denn dieser Handel lenkt erst auf Euch den Verdacht.”
„Ihr wollt nicht?” fragte Exarque mit einem Gesicht, das dumm war vor Staunen und Angst. „Was wollt Ihr denn? In der Folter verrecken?”
„Onofre, es ist nicht so weit.”
Es war nicht so weit. Er verbarg sich. Mitten in der Stadt, in ihrem lautesten Teil, an der Suk-Straße, suchte er sich sein Versteck. Hier saß er drei Tage lang bei einem jüdischen Flickschneider, dem er einmal gefällig gewesen, in einer Art Kellerloch, und befragte sich über sich selbst.
Hatte vielleicht Exarque nicht recht, wenn er dumm ausschaute vor Staunen? Was eigentlich stachelte ihn, die Dinge so auf die Spitze zu treiben, immer wieder ein neues und äußerstes Mal sich dem Schicksal zu stellen? Woher dieses geheimnisvolle Gefühl, auch dies noch werde sein Ende nicht sein, es werde nichts an ihn rühren? Für welches Unbekannte denn glaubte er sich aufgespart... Er beugte sich über sich selbst wie über ein Wasser, und er sah nichts in der Tiefe.
Er hatte es eng in seinem Loch. Über sich hörte er die Kunden feilschen und die wimmelnde Familie seines Gastfreundes übermäßig ausdrucksvolle Gespräche führen. Zweimal am Tage brachte man ihm kräftig gewürztes Essen; sein Gelaß roch gewaltig nach Zwiebeln.
Eben hatte man ihm wieder das Mittagsmahl heruntergereicht, da behielt er den Bissen im Munde. Denn von der Gasse her vernahm er, laut ausgeschrieen, seinen Namen, begleitet von der knarrenden Rassel des öffentlichen Ausrufers.
Der Sklave Miguel Cervantes wurde gesucht. Er sei des Verbrechens schuldig, jeder der ihn verberge, sei es auch und verwirke sein Leben... Wieder die Rassel. Und Stille.
Die Falltür ward aufgehoben. Gegen die Helle zeichnete sich schwarz der runde Kopf und der Kinnbart des jüdischen Gastfreunds. „Ich hab’ es gehört, Elias,” sagte Cervantes, „ich komme.”
Droben legte er abschiednehmend und wie segnend den beiden ältesten Knaben die Hand auf den Scheitel — und zwar die linke, die glorreich verstümmelte — und stand eine Minute danach im Mittagslicht vor der Djenina.
Bewaffnete Wächter König Hassans standen umher auf dem Platz. Er ward ergriffen. Sie banden ihm auf dem Rücken die Arme zusammen. Sie legten ihm einen Strick um den Hals, als einem dem Galgen Verfallenen. Er ward abgeführt in das Innere und eine kurze Weile darauf vor Hassan-Veneziano geleitet.
Im Hintergrund des gewaltigen Innenhofs, in dem drei Brunnen sprangen, unter den Mittelsäulen der Schmalseite, war dem König ein Lager aus gelben und grünen Lederkissen bereitet. Zu seinen Seiten, aufrecht, hielten sich Dali-Mami der Reïs, ohne Totschläger jetzt, und ein Hofbeamter, den Cervantes an seiner besondern Kleidung erkannte: es war der Aga von den zwei Monden. Rückwärts verbarg sich halb in den Schatten der Bögen, der ihn verraten hatte, der Stinkende.
König Hassan war mit gesuchter Einfachheit gekleidet. Zum weißen Burnus aus ordinärem Gewebe trug er gelbe Schlappschuhe und um den Fes einen weißen Turban ohne jede Agraffe. Offenbar liebte er es nicht, durch Äußerlichkeiten von der Wirkung seiner Person abzulenken. Ruhig musterte er aus seinen glänzenden, rotunterlaufenen Augen den eher schwächlichen Mann, der da vor ihm stand. Dann wandte er mit hochgezogenen Brauen seinen Blick dem Dali-Mami zu, hob die Schultern, als wollte er sagen: das ist also das Ganze? und begann sein Verhör.
Es stellte sich sogleich heraus, daß der Dominikaner übertrieben hatte. Zweihundert Sklaven, wußte der König durch ihn, könne die Fregatte aufnehmen, und so viele seien auch Willens gewesen zu flüchten.
„Du warst also, Du verwegener Dieb, im Begriff,” sprach Hassan, „uns die ungeheure Summe von vierzigtausend Dukaten zu stehlen. Gibst Du das zu?”
„Der Lumpenhund, der mich verraten hat,” antwortete Cervantes, „hat aufgebauscht, um seinen Lohn zu erhöhen. Die Fregatte bietet Raum für sechzig Gefangene.”
„Schuldig also bekennst Du Dich?”
Cervantes neigte das Haupt. Der Strick glitt von seinem Halse herab und blieb geringelt zu seinen Füßen liegen. Ein Diener sprang herzu, um ihn Cervantes von neuem umzulegen; aber Hassan winkte ihn weg.
„Diese Sechzig wirst Du uns alle bei Namen nennen. Beginne!”
Der Aga von den zwei Monden trat vor, eine Schreibtafel in Händen.
„Du wirst uns ferner den Mann oder die Männer nennen, die dies Unternehmen bezahlt haben. Viel Geld muß im Spiel sein.”
Miguels Miene war freundlich, beinahe demütig. Aber jeder fühlte sofort, daß die Mauer dieses Schweigens unübersteigbar sei.
Der König winkte. Es traten unter den Hufeisenbögen der linken Längsseite zwei Grüngekleidete hervor, von rechts aber zwei in violettem Gewand mit schwarzem Turban, seltsam geformte lange Instrumente in den Händen.
„Dies betrachte!” sprach Hassan. „Wenn Dich die Dreschflegel erst zwanzigmal befragt haben, wirst Du uns antworten.”
Es waren in der Tat Dreschflegel, deren oberes, bewegliches Teil dicht mit spitzigen Nägeln besetzt war. Beim bloßen Betrachten spürte man schon die tiefen Bisse im Fleisch.
Cervantes wurde von hinten ergriffen. Mit geübter Geschwindigkeit riß man ihm die Kleidung vom Leibe und warf ihn nackt hin auf die Steinplatten, das Antlitz nach unten gekehrt. Schon knieten die Handlanger ihm auf Füßen und Hals.
Er schloß die Augen. Nicht Furcht und Entsetzen waren in ihm, wohl aber Erstaunen. Er hatte nicht geglaubt, daß dies geschehen könne... Nun, da es dennoch geschah, versuchte er den Beistand der Heiligen anzurufen. Mit Grauen erkannte er, daß er seinen Sinn nicht auf sie zu richten vermochte. Bin ich kein Christ mehr? fragte er sich erschauernd, und warum lieg’ ich dann hier? Er atmete tief, so tief er’s vermochte unter den Schenkeln des Schergen, und erwartete den ersten Zubiß der Folter.
Nichts kam. Er fühlte sich vom Gewicht befreit. Er öffnete seine Augen und richtete sich auf seinen Ellbogen empor.
„Du bist zu schwächlich,” hörte er die Stimme des Königs. „Bei Dir wäre die Folter auch gleich die Hinrichtung. Steh auf!”
Cervantes stand auf. Völlig nackt, blinzelnd im Licht, stand er fünf Schritt entfernt vor dem Kissenlager.
„Höre Du! Ich sichere Dir Dein Leben, wenn Du die Schuldigen nennst. Jeder von ihnen hätte Dich hundertmal verraten, sei dessen gewiß. Wer also sind sie?”
„Vier edle Spanier, längst in Freiheit alle vier und längst in der Heimat.”
„Die Namen!”
Und Cervantes schnarrte mit großer Geläufigkeit eine Anzahl Namen herunter, phantastisch zusammengeholt, hochtönend, unwahrscheinlich, durchaus nicht zu merken. Man hörte nur immerfort: omez, antos und igo.
Und nun geschah das Unglaubliche. Hassan-Veneziano, der Bluthund, wurde vom Lachen ergriffen. Er schämte sich dessen, wollt’ es nicht wahrhaben; er hielt seine rotbehaarte Hand vor den langen krummen Schlitz seines Mundes, die blutigen Augen wurden schmal vor Vergnügen, und Laute brachen hervor, die mehr einem rostigen Fauchen glichen als einem Menschengelächter. Sein langer, hagerer Oberkörper ward hin- und hergeschüttelt. Alle, auch Dali-Mami, blickten ungläubig auf das Phänomen.
„Ich kauf ihn Euch ab, Euern Ritter!” sagte er endlich. „Nicht zu viel habt Ihr mir da erzählt. Vierhundert Dukaten — es gilt?” Dali-Mami neigte den feisten Kopf.
Hassan winkte über die linke Schulter, und der Verräter trat unter den Bögen hervor.
„Du hast uns Dienste geleistet, Stinkender. So will ich Dich herrlich belohnen.”
Er nestelte in seinem Gürtel und zog ein Goldstück hervor, ein einziges. Das hielt er zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rotbewachsenen Rechten, ließ es in der Sonne erfunkeln und warf es ihm vor die Füße.
„Das ist noch nicht alles! Geh zu meinem Küchenmeister. Er soll Dir ein Töpfchen Butter geben. Das magst Du ausschlecken nach Deiner Lust... Ein ganzes Töpfchen Butter,” wiederholte er genießerisch, und Gott mochte wissen, was gerade in dieser Art von Belohnung so besonders Höhnisches und Verächtliches lag. „Bück Dich,” schrie Hassan, „nimm den Dukaten auf mit dem stinkenden Maul und krieche zurück in Dein Loch!”
Aber wie er den Verräter enttäuscht hatte, so enttäuschte der König auch in gewisser Art den Cervantes. Er nahm ihn in enge, eigentümliche Haft. Im untern Teil des großen Hofes, gleich links, wenn man eintrat, unter dem zweiten Hufeisenbogen, wurde er angekettet. Kissen und Decken sorgten für seine Bequemlichkeit, geschützt war sein Lager vor Sonne und Regen, wenn auch in freier Luft. Eine lange, dünne Kette ließ ihm Freiheit, sich in den Hof hinauszubewegen. Diese Kette war eigens für Miguel angefertigt worden. Sie war aus Silber.
Hassan hielt sich den einhändigen Sklaven wie ein edles, nicht zähmbares Tier. „Mein berühmter Leopard,” sprach er zu den Besuchern, wenn er sie an die Nische heranführte, darin Cervantes schreibend saß. Denn er ließ ihn sich nach seinen Wünschen beschäftigen, alles Material wurde ihm aufs Beste geliefert. Täglich auch wurde ihm die Kette gelöst, damit er sich an einem der Brunnen nach Bedürfnis waschen könne. Und in jeder zweiten Woche erschien der Barbier und stutzte dem Leoparden den Bart.
Betrachtete der Blutduftende den Cervantes als eine Art Talisman? Ein Diener hinterbrachte eines Tages die Äußerung, die der König bei Tafel getan, „Stadt Algier, Schiffe, Sklaven und Güter seien verwahrt, solange er nur den Einhändigen unter seinen Augen verwahre.”
Da saß er und hatte allstündlich unter seinen Augen das innerste Leben der weltberüchtigten Djenina, kannte die buntscheckigen Chargen des Räuberhofstaats, das Zeremoniell, das aus Abend- und Morgenländischem grotesk gemischt war, ließ sich dreimal am Tag von den Trommlern, Trompetern und Klarinettisten der Königsmusik das Ohr zerreißen, sah Gericht abhalten und Folter dort oben vor den gelbgrünen Kissen, sah verstümmeln, pfählen, enthaupten, sah nachher die Steinfliesen abwaschen und den Blutduftenden sich auf ihnen ergehen in der Abendkühle. Vernahm auch Manches vom wüsten Staatsgeschäft, was sonst Keiner vernahm.
Früher auch als die Stadt wußte er, daß Hassans Abberufung bevorstand. Er war neugierig, was dann aus ihm selber würde.
Man schrieb das dritte Jahr von des Venezianers Königs- und Pächterschaft. Frühzeitig hatten diesmal in Stambul die Palastintriguen begonnen. Der Name des Nachfolgers ward schon genannt. Djafer war es, der mit gewaltigen Bestechungssummen und mit Anklagen gegen Hassan am Sultanshof für sich wühlte.
Aber mancher Monat verging noch, und der Leopard hing an seiner silbernen Kette.
Viel fein zugespitzte Kiele waren verbraucht. Es häuften sich die Blätter des Manuskripts. Was da entstand, war ein Schauspiel oder etwas doch, was dem ähnlich sah, und sein Titel lautete: „Handel und Wandel in Algier.” Er schrieb auf, was ihn marterte: die Leiden der Gefangenen in dieser Stadt. Sollte nicht Andere ergreifen, wovon er selbst seit fünf Jahren täglich ergriffen ward? Er träumte davon, die Handschrift auf geheimem Weg übers Meer zu schmuggeln. Eine der berühmten Theatergesellschaften Spaniens würde sein Stück aufführen, dem König, den Großen, würden die Augen aufgehen, vielleicht gab sein Drama das Signal zu einem Kreuzzug, der den afrikanischen Pestherd vertilgte.
Aber es war nicht an dem. Er sah es bald selbst. Wirr und willkürlich, allzu lebensnahe, liefen seine Schicksale durcheinander, schwach verknüpft, Kräftiges und Eindrucksloses dilettantisch beisammen. Ach, nicht mit dem Kiel, nicht mit dem Schwert war ihm bestimmt, die Größe zu erreichen! Noch immer war er das Schülerlein aus Meister Hoyos’ Akademie. Noch immer und für immer ein bettelarmer Invalid.
Aber um die Mauern der Djenina brandete und schwoll seine Legende. Die Briefe nach Spanien, Italien und Frankreich sprachen von ihm. Damals war er geliebt und berühmt.
Die vier Königsschiffe lagen zur Ausfahrt bereit im Hafen von Algier.
Tagelang hatte man Kisten und Säcke in ihre Bäuche verladen, Hassan-Venezianos unermeßlichen Gewinn aus dreijähriger Generalpächterschaft. Die Galeere, die er selber besteigen wollte, die größte von allen, hochbordig, die Flanken über und über mit goldenen Schriften bedeckt, an der purpurnen Poppa den flatternden Halbmond, lag schon vollzählig bemannt der Kaimauer an. Von den zwei Landungsbrücken des Schiffs wurde nur eine benutzt. Die andere, die mit einem roten Teppich belegt war, blieb frei und erwartete Hassan. Von ihr lief der rote Teppich weiter über den Platz, an der Großen Moschee vorbei zum Tor der Djenina, wie eine Straße aus Blut.
Auf einer der Bänke nahe dem Hauptmast war Cervantes angekettet neben den Rudersklaven, doch zuinnerst am Gang, da er nicht taugte, den Riemen zu führen. Als er sich auf das Datum besann, fand er den 19. September. Es wurde Nacht. In der Morgenfrühe des 20. würden sie segeln. In ihm war ein dunkles Gelächter über diese Gesetzmäßigkeit.
Um ihn auf den Bänken und zwischen ihnen fanden die Ruderer hockend und kauernd den Schlaf. Die Eisen klirrten. Ihn hatte man nur mit seiner Silberkette gebunden. Er schlief nicht. Er sah seine Lage... Er hatte getrotzt wie ein Knabe, hatte die eigene Rettung oftmals verschmäht, sich aufgeworfen zum Retter für Viele. Nun war es zu spät. Algier versank. War er jetzt nach Stambul verschwemmt, so ließ sich keine Heimkehr mehr absehen. Irgendwo im weiten türkischen Reich zu verkommen, schien ihm bestimmt.
Er wußte genau, was geschehen war. Seitdem der Tag von Hassans Abberufung bekannt geworden, hatte sich die trinitarische Brüderschaft doppelt bemüht. Fray Juan Gil, Generalprokurator des Ordens, war selbst nach Algier gekommen und hatte in zäher Verhandlung viele von Hassans Sklaven losgekauft. Knapp waren die Mittel, um jede Dublone wurde gefeilscht. Doch endlich waren mehr als hundert Christen frei. Längst wohnten sie wieder überm Meer, in ihren Dörfern und Städten.
Den Miguel de Cervantes herzugeben, weigerte sich König Hassan. Er spielte mit dem Generalprokurator. Er erhob den einhändigen Mann mit gewaltigen Sprüchen, pries seinen Mut, seine Seelenstärke, seine Gelehrsamkeit, sein feines Betragen. Die alte, ausgediente Sage von Miguels hoher Abkunft mußte wieder heran. Würden tausend Dukaten bar auf das Brett gezählt, so ließe sich vielleicht reden, und selbst dann wäre der Handel noch schlecht...
Der neue Tag war heran, blaustrahlend und köstlich. Ohne Unterlaß, durchdringend, schmetterten von allen vier Schiffen die Trompeter das Abschiedssignal. Geschütz erdröhnte. Cervantes blickte aufs Ufer zurück, das von Menschen bunt war. Er sah ein letztes Mal die blendende Mauer der Großen Moschee, die düster gedrungene Djenina, von deren Dach die goldene Laterne verschwunden war, die pyramidisch weiß aufschießende Kasba; und fast war es ihm, als ließe er mit diesem Ort vieler Leiden eine Heimat zurück.
Zwei Schiffsleute machten Halt vor ihm. Der eine bückte sich und löste die Silberkette von der Bank. Sie bedeuteten ihm, zu folgen.
Unter der Purpurbespannung der Poppa saß der scheidende König, prächtig gewandet wie niemals zuvor, eine mit Juwelen besetzte, kurze und krumme Hiebwaffe auf seinen Knien.
Hassan sah den Cervantes nicht an. Er schien seine Gegenwart nicht zu bemerken. Er blickte über seinen Leoparden hinweg auf das Meer, das ihn fortführen sollte von seiner Herrschaft.
Ein Janitscharen-Aga in Weiberrock und Küchenmütze, der sich neben dem König hielt, tat den Mund auf:
„Cervantes, Ihr schuldet den Offizieren an Bord neun Dublonen.”
Das war nach altem Herkommen die Steuer, wenn ein Ruderer frei wurde. Den Brauch kannte jeder. Cervantes kannte ihn auch. Und so wußte er denn, daß er frei war.
Er sagte: „Ich habe kein Geld.” Und dies war sein erstes Wort in der Freiheit.
„Gib Deine silberne Kette,” sagte der Aga. „Wir werden sie in neun Stücke zerreißen.” Seine Antwort klang wie vorher beredet und ausgemacht.
Cervantes legte die Kette ab. Er wartete. Da niemand mehr sprach, wandte er sich weg und beschritt die Laufbrücke. Es war die nächste, die mit dem Königsteppich. Kaum hatte er das Ufer erreicht, so ward sie zurückgezogen. Das Ende des roten Teppichs glitt ab und klatschte ins Wasser. Ein Schreien erhob sich am Kai, das die schmetternden Trompeten hoch übertönten, und er sah, daß König Hassans Schiff fuhr.
Als der Befreite eine Stunde danach vor den Generalprokurator trat, der im Hause des Kaufmanns Torres Quartier genommen, empfing ihn der Mönch ohne Güte. Hassan, erfuhr er, hatte sich in letzter Stunde mit fünfhundert Dukaten zufrieden gegeben. Der trinitarischen Brüderschaft schuldete Miguel nun also fünfhundert Dukaten. Er stellte den Schuldschein aus. Dies war sein erstes geschriebenes Wort in der Freiheit.
„Beinahe hätte ich Bedenken getragen,” sprach Fray Juan Gil, „den Orden für Euch in Anspruch zu nehmen, da mir an Eurer Würdigkeit Zweifel gekommen sind. Ihr werdet Euch zu rechtfertigen haben.”
Zu rechtfertigen? Gegen wen wohl? Gegen den Stinkenden!
Man hatte den Dominikaner losgekauft. Alsbald, um ihn für Ausgestandenes zu entschädigen, war er in Spanien zum Mitglied der Heiligen Inquisition ernannt worden. Ungeschwächt saß der Groll dem Übelgeratenen noch im Blut. Das Töpfchen Butter war unvergessen. Vor allem aber fürchtete er, sein Verrat werde bekannt werden, wenn Cervantes zurückkehrte. Er kam ihm also zuvor. Der in der Djenina noch Angekettete ward Gegenstand seiner giftigen Anklagen. Verhöhnung der Religion, Hinneigung zur Afterlehre des Propheten, aber Betrug auch, Unzucht und wüstes Treiben jeder Art warf er ihm vor. Den Generalprokurator, der sich um Miguels Auslösung bemühte, erreichte ein Befehl der Heiligen Kammer, zuvörderst alle jene Anklagepunkte zu erforschen.
Laut sprach in Algier die öffentliche Stimme für den Beschuldigten. Die Abfahrt nach Stambul drohte. Juan Gil erlegte den Kaufpreis. Aber Rechtfertigung zu Händen der Inquisition mußte sein. Zu seiner eigenen Entlastung mußte der Mönch sie verlangen.
So also begannen die Jahre der Freiheit für Miguel Cervantes. Statt freudig heimzukehren ins Vaterland, mußte er wochenlang das allzubekannte Pflaster noch treten, mußte sich Zeugnis auf Zeugnis erbetteln, mußte umständlich, in demütig geölter Sprache dartun, daß er kein Ketzer sei, kein heimlicher Moslem, kein Fälscher, kein Hurer, kein Knabenschänder. Ein getreuer Sohn seiner Kirche vielmehr und von guten Sitten. Ein langes, gewundenes, gesalbtes Schriftstück kam so zu Stande. Zeugen nach Zeugen marschierten darin auf. Las es einer, der den Cervantes nicht kannte: nicht einen mutigen, frohherzigen, freien Mann hätte er daran erkannt, sondern einen ängstlich korrekten Ducker und Schleicher. Dies aber wurde verlangt. Dies war die Waffe, den Stinkenden zu bekämpfen.
Mitte Oktober erklärte der Generalprokurator Juan Gil sich befriedigt. Am vierundzwanzigsten segelte Miguel Cervantes nach Spanien ab. Fünf Jahre und einen Monat war er in Algier gewesen. Sein Herz war ohne Freude, mühsam nur hoben Hoffnungen noch ihre Flügel.
Das kleine Schiff des Kapitäns Anton Frances trug außer ihm noch fünf andere, spät erst befreite Gefangene. Fray Juan Gil fuhr selber auch mit.
Glatt ging die Fahrt von statten und rasch. Was war dies für ein bescheidenes Rinnsal, das das Sklavenland abtrennte von der spanischen Küste! Ein guter Wind brachte sie schon am zweiten Abend in Sicht. Eine mächtige Bergkuppe hob als das Erste sich aus der Flut.
„Der Mongo,” sagte Meister Frances zu Cervantes, der sich neben ihm hielt. „Schlägt Euch das Herz?”
Es schlug Cervantes nicht höher. Die Wochen des Wartens, Bittens, Protokollierens, hatten ihn mehr erschöpft als jemals Gefahr und Entbehrung.
„Mongo?” fragte er nur. „Wo also fahren wir ein?”
„In Denia, wo ich zuhause bin,” sagte der Schiffer.
Miguel erinnerte sich nicht, den Namen gehört zu haben. Es mußte ein winziger Hafenplatz sein.
Ob ihn jemand von den Seinen erwartete? Die Schwester Andrea vielleicht? Der taube Vater? Er wollte sich freuen auf das Wiedersehen. Er wollte sich auch zwingen, an Zukunft und Ehren zu glauben. Noch war er nicht alt.
„Ist der König wohl in Madrid, Meister Frances, wißt Ihr es zufällig?”
„Nicht in Madrid. Der König ist an der Grenze von Portugal. Seine Königin liegt dort krank an der Pest. Vielleicht ist sie inzwischen schon tot.”
Die Königin? Welche Königin? Stand die Zeit still? Hatte er gestern sein Totengedicht verfaßt...
„Welche Königin?” fragte er laut.
„Welche!” Der kleine, bauchige Mann mit der hellblauen Schärpe sah ihn aus gescheiten Augen von der Seite an. „Die Österreicherin, seine Vierte, mit der er zehn Jahre verheiratet war. Habt Ihr das nicht gewußt?”
Cervantes gab keine Antwort. „Ist Don Juan d’Austria bei ihm?” fragte er wieder.
„Don Juan — warum?”
„Der war mir einmal gewogen.”
„Don Juan d’Austria ist tot.”
Es traf Cervantes wie ein Schwerthieb. Aber warum? Doch nicht, weil mit Don Juan eine vage Hoffnung zerbrach. Oder weil sie beide vom gleichen Alter gewesen, und nun war das stürmende Leben des Andern schon aus. Was ging er ihn sonst an, der eitle prächtige Herr, dies letzte leere Glanzbild spanischer Ritterschaft...
Der Schiffsherr gab Auskunft. Er war gut unterrichtet.
Ein Jammer wahrhaftig! So große, vielfache Pläne und dies das Ende. Afrika, Griechenland, Genua, nichts schien ihm zu hoch, er griff danach: nach der Krone von Frankreich, der Krone von England. Endlich hatte man ihn zu den Niederländern gesandt. Unbestimmt schimmerte auch hier eine Krone. Er scheiterte. Er mußte scheitern. Vielleicht — aber nur eine Andeutung war dies im Munde von Meister Frances — hatte man ihn darum entsandt. Mit dreiunddreißig wurde er müd wie ein Greis. Schon war seine einzige Bitte die um ein Grab neben den Gebeinen seines Vaters, des Kaisers. Damit seien alle seine Dienste bezahlt.
„Das ist ihm gewährt worden?”
„Das ist ihm gewährt worden.”
„Und starb er in Spanien?”
„In Flandern, Don Miguel. In einer Hütte auf freiem Feld, mitten unter seinen Soldaten.”
„Das war gut.”
„Ja...” sagte Anton Frances etwas gedehnt, „das war gut. Seine Haut war übrigens schwarz, als er starb, wie vom Brande geröstet. Und die ihn öffneten, fanden sein Herz wie ausgedörrt.”
„Aber jetzt liegt er im Escorial?”
„Man mußte den Körper in Stücke teilen. In vier Stücken kam er heimlich nach Spanien zurück. So verhaßt war er schließlich. Ja, jetzt liegt er im Escorial.”
Es dunkelte. Die armen Lichter von Denia waren ganz nahe. Und es war Cervantes, als beträte er nach zwölf Jahren sein Heimatland durch eine Hintertür.
Die Wohnung war herzbeklemmend. Die Eltern in bescheidenen Umständen zu finden, hatte er erwartet, aber nicht eine Unterkunft wie diese drei dunklen Löcher zu ebener Erde, deren glaslose Fenster auf einen wüstliegenden Hof hinter der Calle de Atocha hinaussahen.
Es gab ein Festmahl zu Ehren von Miguels Heimkunft, ein warmes Abendessen; er erinnerte sich, welch auszeichnende Seltenheit das bedeutete. Der dicke Fleisch- und Gemüsebrei, den man mit beinernen Löffeln aß, duftete stark nach Kohl und Knoblauch. Es gab sogar Wein. Die Trinkbecher paßten nicht zu einander. Dieser kleine Umstand tat Miguel, unvernünftiger Weise, besonders weh.
Weh tat es auch zu sehen, mit welcher Gier der Vater sich über den Teller hermachte, er schien über dem Festgericht beinahe den Anlaß vergessen zu haben. Er war ganz weiß geworden, ein knochiger, kleiner Alter mit fahrigen Bewegungen, nahezu völlig taub. Miguel erschrak, wenn er brüllen mußte, um verstanden zu werden. Da ihm einfiel, dies sei vielleicht nicht die rechte Methode, dämpfte er seine Stimme und bewegte krampfhaft ausdrucksvoll seine Lippen, aber nun war das Ergebnis noch schlechter. Eingeschüchtert schwieg er bald ganz. Die Mutter, die ebenfalls kleiner geworden und schon eine Greisin schien, obwohl sie die Mitte der Fünfzig kaum überschritten hatte, nickte ihm oftmals zu und bekam dabei Tränen in ihre großen, nachtdunklen, herrlichen Augen, die im Flackerlicht der zwei Kerzen erglänzten.
Bruder Rodrigo wiederzusehen, hatte er sich gefreut. Aber Rodrigo war fort. Eingereiht in sein altes Regiment, war er mit dem König in Portugal oder „auf den Inseln”, man wußte nicht recht auf welchen. Er bekam einsilbige Auskunft über Rodrigo, so als wäre der unter Mißhelligkeiten von den Seinen geschieden. Die Mutter begann von Luisa zu erzählen... Miguel erschrak. Die Existenz dieser im Kloster verschwundenen Schwester hatte er gleichsam vergessen, mit genauer Not erinnerte er sich ihres geistlichen Namens: Sor Luisa de Belen. Eindringlich fragte er nun, um der Mutter eine Freude zu machen. Die Mutter richtete sich auf im Erzählen, sie schien größer und jünger zu werden.
Luisas Kloster, genannt La Imagen, war eines von der strengsten Regel. Seine Nonnen, barfüßige Karmeliterinnen, lebten nach den Vorschriften der großen Teresa von Avila. Von grobem Tuch war ihr Kleid, ihr Lager eine Matratze aus Stroh, Brot und gesalzener Fisch ihre Nahrung, ihr langer Tag Gebet und Arbeit. Kein Geschenk, keine Freundlichkeit war erlaubt, sie durften einander nicht einmal die Hände reichen im Kloster. Unter dieser Regel lebte Luisa schon viele Jahre. Sie war eine besonders gottesfürchtige Nonne, hoch angesehen für ihre Sinnesart. Als im vorigen Jahr die alte Teresa nach Toledo gereist war, da hatte sie eigens den Umweg gewählt, um in Alcala die fromme Schwester Luisa von Bethlehem zu sehen. Und ihrer verhältnismäßigen Jugend zum Trotz hatte man sie heuer zur Subpriorin ihres Klosters erwählt.
Miguel Cervantes betrachtete seine Mutter. Die wundervollen Augen erstrahlten, während sie von den verdienstlichen Entbehrungen ihres Kindes berichtete. Er war lange von Spanien fortgewesen, doch wie gut begriff er auch heute noch, daß nicht er und nicht Rodrigo, sondern allein diese Entrückte in der Klosterzelle die mütterlichen Wünsche stillte... Das Unbedingte! Das fast Unmögliche! Das war sein Volk. Dieser Teresa und denen, die ihr folgten, genügte nicht Kirchengläubigkeit, auch die strengste nicht. Durch Glut und Verzückung wollten sie Wunder erzwingen gleich denen der Heiligen in christlicher Frühzeit. Zerreißen mußten alle Dämme kühler Vernunft und gelassenen Lebens. Einsame Kasteiung stieß die Pforten des Himmels ein. Grenzenlose Vereinigung mit Gott war das Ziel.
Miguel verstand seine Mutter. Der asketische Wandel der Barfüßerin war ihr Stolz und ihr Trost. Er war in ihren Augen Ausgleich und Sühne für das weltliche Leben ihrer anderen Kinder: der zwei Söhne, die auf ihren soldatischen Wegen gewiß zu wenig ihres Heils gedachten, und ihrer ältesten Tochter, für die ganz sicherlich ein Gleiches galt.
Sie war da. Andrea saß mit bei Tische. Sie war eine Frau von 36 oder 37 Jahren, voll gewachsen, ein wenig schwer schon, mit regelmäßigen Zügen, deren Teint nur leider von der Schminke ziemlich verdorben war. Ihre Kleidung zeigte modischen Schnitt: eng und streng Taille, Ärmel und Krause, der Reifrock gewaltig gebauscht, mit Bändern, Borten und aufgenähten Perlen alles überreichlich versehen. Nur hielt diese Eleganz einer genaueren Prüfung nicht stand, alles Material war billig und halbecht und alles schon abgetragen.
Auch von ihr wußte Miguel nur wenig. Eines Tages hatte ein Brief nach Neapel ein Töchterchen erwähnt, das jetzt acht oder zehn Jahre alt sein mochte. Auch der Vater, ein Herr Figueroa, war darin flüchtig genannt worden, so daß Miguel die Schwester eine Weile für verheiratet halten konnte. Aber ein paar Jahre später hieß seine kleine Nichte auf einmal Costanza de Ovando. Daraus hatte der schweifende Soldat geschlossen, daß Andrea mit mehreren Männern nacheinander in einer Art wilder Ehe lebte. Es verhielt sich aber noch anders mit ihr; zu vielerlei Schicksal hatte Miguel kennen gelernt, um sich da leicht zu täuschen. Bei dieser müden Frau war die Liebe zum Handwerk geworden, er spürte es deutlich. Es gab ihm einen Stich... Trug er nicht Schuld hieran, eine Mitschuld zum wenigsten? Ein Teil der Lösegelder, er wußte es doch, war von Andrea gekommen.
Mit einem vollen, herzlichen Blick sah er sie an. Sie schlug die Augen nieder und wurde flammendrot über das schwere Gesicht. Genau so war sie vorhin errötet, als Rodrigos Name gefallen war. Hatte der sich sittlich entrüstet in seinem recht schlichten Sinn und hatte ihr Szenen gemacht? Und fürchtete sie jetzt ein Gleiches? Gewiß, es war so... Da saß sie in Angst vor ihm, dem älteren Bruder. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er ergriff Andreas Hand und umschloß sie fest mit der seinen. Andrea, ohne Übergang, fing sofort an laut zu weinen und lehnte sich schluchzend an seine Brust. Mißtrauisch schaute der Vater zu der Gruppe herüber und erkundigte sich schreiend nach dem Anlaß. Niemand antwortete. Die Mutter bewegte murmelnd ihre Lippen.
Nach Tische schaute sich Miguel in der Wohnung um. Da war wenig zu sehen. Das Licht seiner Kerze flackerte über einen spärlichen Zufallshausrat, über die lieblos gehaltenen Möbel von Leuten, die häufig den Aufenthalt wechseln. Schließlich winkte ihn der Vater mit geheimnisvoller Miene beiseite und öffnete eine kleine Kammer. Miguel stand erstaunt vor primitiven medizinischen Apparaten und mancherlei Fläschchen. „Mein Laboratorium,” sagte der Alte mit Stolz, „das hättest Du auch nicht geglaubt, daß ich in meinen Jahren noch die Wissenschaft wechsle.”
Als Rechtskonsulent hatte er in der Tat kein Auskommen mehr gefunden. Nachdem er nacheinander in Sevilla, in Burgos, in Valladolid vor der Überzahl gelehrter Konkurrenten das Feld geräumt, war er im unsoliden Madrid zu seinem kühnen Entschlusse gelangt. Aderlaß und Purgieren und die Namen von fünfzehn Medikamenten, das ließ sich auch im Alter zur Not noch erlernen. Das Geschäft gehe ganz gut, vertraute er seinem Sohne an. Sein Geheimnis sei die enorme Billigkeit seiner Behandlung. Aderlaß zwei Realen, um diesen Preis arbeite in Madrid kaum ein Bader. Reichtümer natürlich seien so nicht zu gewinnen — Reichtümer etwa nach Art der hochbetitelten Schwindler, deren Kuren unter der Einatmung von verdampftem Gold ja garnicht erst anfingen. Und größte Heimlichkeit, natürlich, sei auch vonnöten.
Miguel hätte sich am liebsten gleich auf das Lager geworfen und seine Augen in die Tücher versteckt, um nichts mehr zu sehen. Diese armen, hilflosen Menschen hatten große Geldsummen für ihn aufgebracht! Sie und die Schwester, die soeben an seiner Brust geweint hatte, zum Dank für seine Verzeihung. Verzeihung? Wahrhaftig, er hatte viel zu verzeihen! Hatte er sich nicht wirklich allerhand zu gute getan auf seine standhaften und verwegenen Großtaten draußen in farbiger Welt, und inzwischen war es denen hier um seinetwillen so ergangen, daß sie nicht vier gleiche Trinkbecher besaßen, um sie auf den Festtisch zu setzen.
Nur diese ungleichen Becher und der Wein standen jetzt noch dort. Sonst war abgeräumt. Man erwartete, daß er erzähle. Er kam sich wie ein Verbrecher vor. Und als er sah, daß die Mutter, die jetzt neben ihm saß, auf seine linke Hand niederblickte, zog er den glorreichen Stummel zurück und versteckte ihn hinter seinem Rücken.
In den Jahren der Gefangenschaft hatte er mitunter davon geträumt, wie er am ersten Morgen nach der Rückkehr die wohlbekannte Hauptstraße von Madrid mit Behagen entlangspazieren wollte. Dieser geplante Spaziergang war für ihn eine Art Inbegriff und Sinnbild der Heimkunft geworden.
Es ist aber selten, daß sich Menschenträume buchstäblich erfüllen. Der erste Morgen brachte abscheuliches Wetter, ein kalter Sturm peitschte den Regen durch die kotigen Gassen. So blieb er zu Hause in dieser elterlichen Armeleutewohnung, die sich im grauen Novembertageslicht womöglich noch trauriger präsentierte als im Kerzenschein, und hielt den Fragen einiger Nachbarn stand, die sich einstellten, um den Herumtreiber zu beschauen.
Als er am andern Tag, früh schon, die paar Schritte hinüber zur Puerta del Sol getan, war das Tor nicht mehr da. Sie hatten es abgerissen. Mit einem Gefühl des Unbehagens und der Enttäuschung blickte er auf die Stelle, wo es einmal gewesen, und auf die breite, sumpfige Vorstadtstraße, die jenseits im Entstehen war. Diesen Weg war er oftmals von Alcala hereingekommen und zwar durch schönen, dichten, hochstämmigen Wald, der bis an das Tor heranreichte. Von dem Wald war nichts mehr zu sehen. Ringsum war auf das Wüsteste abgeholzt. Offenbar um Baumaterial zu schaffen, schlug man ohne Rücksicht und Verstand alles nieder.
Was der Zurückgekehrte an diesem Vormittag wahrnahm, war die beginnende Umwandlung Madrids in eine Residenzstadt. Dem Namen nach war es das freilich schon seit zwanzig Jahren, in Wirklichkeit aber immer noch ein elender Flecken mit lauter ganz mißlichen Gassen. Die Königslaune Philipps des Zweiten ging ja auch nur auf den Umstand zurück, daß ihm das herrliche alte Toledo, in dessen maurischen Straßen die Leute noch immer Arabisch sprachen, verdächtig und heidnisch erschien.
Er selbst übrigens zeigte sich kaum in seiner „Unica Corte”. Mit jedem Jahre seltener verließ er die Klosterburg. Nur seinen Hofstaat siedelte er hier an.
Zahlreich war dieser Hofstaat und kostspielig. Tausende von Menschen wurden aus der königlichen Speisekammer ernährt. Braten, Geflügel und Wildbret, Fisch, Brot, Früchte, Schokolade, Eis und Öl, alles kam ihnen vom König. Die Kerzen allein, die sie verbrannten, kosteten ihn sechzigtausend Taler im Jahr.
Nun hätte man denken sollen, die Bedürfnisse so vieler anspruchsvoller Bewohner wären zum Ansporn geworden für Industrie und Gewerbe. Aber davon war wenig zu merken. Man führte, was man brauchte, vom Auslande ein. Im ganzen Madrid gab es zwei kleine Fabriken, die eine stellte Geschirr her und die andere Teppiche. Gearbeitet wurde eigentlich garnichts in der Unica Corte und in den übrigen spanischen Städten nicht viel. Die Schätze von den indischen Inseln, aus Mexico und Peru, flossen durch das Land hindurch, ohne es zu befruchten, und ergossen sich in dynastische Unternehmungen ohne irdisches Maß. Der Bauer aber grub seine steinharte Erde und erlag in unausdenklicher Armut.
Madrid, fressendes Willkürprodukt der Krone, blieb das Zentrum der Ämter und Gnadenkanzleien, der Stellenjäger und Pfründengänger, der vornehmen Faulenzer und prahlenden Schwindler. Es blieb freilich auch und wurde erst recht der Ort der Humanistenschulen und Akademien, der Maler, Dichter und Komödianten.
Vom Theater vor allem sprach jedermann. Denn nicht mehr schlugen jetzt herumziehende Schauspielertruppen bald da bald dort vor den Toren ihr Brettergerüst auf: seit anderthalb Jahren besaß die Stadt ein regelrechtes öffentliches Theater, darin Sommer und Winter fast täglich gespielt wurde. In der Djenina von Algier schon, an seiner Silberkette, hatte Cervantes davon erzählen gehört.
Gern wäre er hingegangen. Ein ständiges Theater! Dreihundert Spieltage im Jahr! Was für Hoffnungen! Aber er hatte das Geld nicht. Er besaß ja die paar Realen nicht für Essen und Unterkunft. Es blieb ihm nichts übrig, als den Eltern weiterhin auf der dumpfen Stube zu liegen.
Schlecht traf es sich, daß der König in Portugal war, von dem zuletzt doch alle Gnaden erflossen. Aber sein Vater beruhigte ihn... Er war wahrhaftig nicht müßig gewesen. Alles war vorbereitet. Durch ihn wußten von Miguel und seinen Verdiensten die Mitglieder sämtlicher Ratskollegien, die Finanz- und die Oberste Kriegskammer, wußten der Präsident von Kastilien, die Kabinettssekretäre des Königs, die Herren vom Geheimen Staatsrat sogar. Es konnte nicht fehlen. Eine hohe Anstellung war Miguel gewiß, nur noch nicht entschieden, ob militärisch oder zivil.
Aber als sie nun ihre Gänge antraten und die Treppen zu den Kanzleien zu ersteigen begannen, der Invalide und sein tauber Vater, da erschien doch alles ganz anders. Allerdings, man kannte den alten Cervantes. In allen diesen Vorzimmern und Schreibstuben mußte er dutzende von Malen gewesen sein. Die Kanzlisten zogen die Brauen hoch und blickten einander vielsagend an, wenn er auftauchte. Dem schmächtigen und bescheidenen Mann in seiner Begleitung, von dem er ihnen so Ungeheures erzählt hatte, schenkten sie eine flüchtige und ironische Aufmerksamkeit. Drang man aber wirklich zu den Gewaltigen vor, zu einem der nachgeordneten Räte vielleicht, so stieß man auf vorbereitete Redensarten und ward auf den schriftlichen Weg verwiesen. König Philipps „schriftlicher Weg” schien in der ganzen spanischen Verwaltung das große Wort.
Miguel wunderte sich, wie gelassen ja heiter sein Vater diese Behandlung ertrug. Er wünschte augenscheinlich die Illusion. Zudem schützte ihn auch seine Taubheit vor Enttäuschung; er hörte nicht viel von den Ausflüchten und lauen Bescheiden. Unverdrossen nannte er neue Amtsstellen, die noch zu besuchen seien. Unverdrossen, laut schreiend, so daß sich Miguel vor Verlegenheit zu krümmen begann, zählte er seine Verdienste und Taten auf: Lepanto war, wenn man ihn hörte, ohne das Eingreifen seines Ältesten eine vernichtende Niederlage. Wer aber kümmerte sich heute in Spanien um jene Seeschlacht! Alte Geschichten! Es war eher verdächtig, an ihnen Teil zu haben, seitdem der prinzliche Admiral von damals in mehr als halber Ungnade aus dem Leben geschieden war. Und dann: man hatte Überfluß an Helden. In allen Kneipen aller spanischen Städte standen sie hoch in der Kreide und ödeten die zahlenden Gäste mit ihren Rodomontaden. Tunesische und algerische Abenteuer gar waren wohlfeil wie Zwiebeln. Zu Bergen häuften sich in allen Schreibstuben die Gesuche an den König: „que Vuestra Magestad me haga merced.”
Nach drei Wochen wußte Miguel Cervantes genug. Wieder einmal verließen sie nach dreistündigem Warten die Geschäftszimmer des Rats von Kastilien im Untergeschoß des Palastes. „Wir kommen nicht weiter, Vater,” sagte er an seinem Ohr. „Du hast wahrhaftig das Deine getan. Laß Dir danken! Aber diese Schreiber dienen uns nicht. Ich gehe zum König. Ihm werfe ich mich zu Füßen. Ich reise nach Portugal.”
Der Vater war ganz betroffen. Er verdüsterte sich. Diese Kanzleigänge waren ein Bestandteil seines Lebens geworden. Ungern gab er sie auf.
Ich reise nach Portugal — leicht war das gesagt. Sogar Miguels Anzug war allzu schlecht, den er sich gleich nach der Landung bei einem Trödler in Denia billig erstanden. Und wo sich Geld borgen? Man glaubt nach langer Abwesenheit in eine Stadt voller Freunde und guter Bekannter zurückzukehren, und ist am dritten Tag schon allein.
Er suchte seinen Lehrer auf, Don Juan Lopez de Hoyos. Meister Hoyos war tot. Sein Nachfolger, ein gesprächiger Herr, erzählte die näheren Umstände. Jetzt vor drei Jahren war es geschehen, bei versammelter Klasse. Er hatte eben aus dem Gedicht vom „Cid” die Eroberung von Alcocer rezitiert und war bis zu den Schlußversen gelangt:
Gott, der da oben waltet, sei Preis und Dank gebracht,
Daß wir den Sieg gewannen in einer solchen Schlacht...
da brach er krachend über seinem Lehrpult zusammen, daß es fast klang, als stürze in seiner Rüstung ein Ritter.
Mit den Studienkameraden von ehedem hatte Miguel wenig verbunden. Übrigens waren sie verstreut über das weite spanische Reich. Traf er hier am Ort einen in Amt und Würden, so benahm er sich wie jener Ratssekretär, auf den er in der Obersten Kriegskammer stieß, und der sich ganz besonders förmlich und unzugänglich gab, als er den abgetakelten Soldaten erkannte. Verstreut, unauffindbar waren auch die Mitgefangenen aus algerischer Sklaverei. Die Bekanntschaft seiner Eltern bestand aus lauter ganz armen Leuten. Ohne einen Maravedi in seiner Tasche ging er umher in der Unica Corte.
Da gedachte er seines Schauspielmanuskripts und machte sich auf, daraus Geld zu schlagen. Aber die Firma Pablo de Leon, die einst sein Schäfergedicht „Filena” gedruckt hatte, existierte nicht mehr. Als er sich dem Häuschen an der Calle de Francos näherte, trat ihm aus der Tür eine alte Frau entgegen, die ihm die Vorzüge ihres Etablissements anpries: sechs sehr hübsche Mädchen seien augenblicklich verfügbar, darüber hinaus aber lasse sich aus der Nachbarschaft Liebesware jeden Alters in Kürze herbeischaffen. Sie wollte mehr ins Detail gehen, verstummte aber, nachdem sie Miguels Kleidung gemustert. Er fand es bemerkenswert spaßhaft, daß aus der Wiege seines verschollenen Erstlings gerade ein Freudenhaus geworden war, und begab sich, „Handel und Wandel in Algier” unter dem Arm, auf die Suche nach einem andern Verleger.
Das Haus Blas de Robles war ihm von Titelblättern her bekannt. Herr de Robles empfing ihn sofort. Ein Drama, sehr schön! wo denn die anderen seien? — Welche anderen, fragte Cervantes. — Nun, so unvertraut werde er doch mit den literarischen Sitten kaum sein, nicht zu wissen, daß gewöhnlich zwölf Komödien in einem Bande vereinigt würden, das ergebe dann ein stattliches Buch, das sich auch kommerziell auswerten lasse. — Wenn sich das so verhalte, meinte Cervantes, dann werde er wohl in elf Jahren wiederkommen müssen, denn zur Abfassung seines algerischen Schauspiels habe er beinahe ein Jahr gebraucht. Allerdings seien die Umstände nicht ganz die eines freien Schriftstellers gewesen... Und er erzählte Herrn Robles ein wenig vom König Hassan und seiner silbernen Kette.
„Versuchet doch eine Aufführung zu erreichen,” sagte Robles. „Das ist der Weg, rascher zu Geld zu kommen. Wart Ihr bei Geronimo Velazquez?”
Cervantes blickte ihn fragend an.
„Sonderbarer Dramatiker seid Ihr! Alltäglich läuft ganz Madrid zu seinen Aufführungen im „Corral”, und Ihr wißt nichts von ihm. Ihr müßt doch die zeitgenössische Produktion kennen lernen. Lope vor allem, Lope!”
„Ich weiß nicht, Don Blas, wie hoch dort das Eintrittsgeld ist. Für mich ist es auf alle Fälle zu hoch.”
Der Buchhändler griff in seine Lade und holte zwei Kronentaler hervor, sehr ansehnliche, dicke und schwere Münzen.
„Für die sechzehn Realen, Don Miguel, könnt Ihr viele Male hingehen. Ihr braucht ja nicht gerade ein Logenfenster zu nehmen. Es ist kein Geschenk, wir verrechnen es beim ersten Geschäft, das wir miteinander abschließen. Und Euren „Handel und Wandel in Algier” bringt dem Velazquez nur gleich mit ins Theater! Er hat immer Bedarf.”
Als Cervantes gegen die zweite Nachmittagsstunde den „Spielhof zum Kreuz” betrat, war das Theater schon voll. Erstaunt, gefesselt, blickte er sich um. Das war etwas völlig anderes als die Jahrmarktsbuden, darin er als Knabe die verschollenen Komödien Ruedas hatte aufführen sehen.
Der Raum war, ganz dem Namen entsprechend, ein richtiger großer gepflasterter Hof, der durch die Hinterwände besonders hoher Häuser gebildet wurde. Die Bühne, um vier Fuß erhöht, nahm die eine Schmalseite ein. Sie war vorn offen und leer. Grob bemalte Vorhänge schlossen sie auf drei Seiten ab und stellten im Hintergrund eine Landschaft mit einem maurischen Schloß, links ein vornehmes Zimmer, rechts einen Garten dar. Eine Versenkung im Boden, mit einer Klappe versehen, repräsentierte den technischen Apparat.
Cervantes stand eingekeilt in eine dichte Masse von Männern, die, schwatzend und lachend und schon ungeduldig zum Teil, das längliche Viereck erfüllten. Ringsum an drei Wänden zogen sich erhöhte Stufensitze entlang. Alle Hinterfenster der Häuser waren Logen. Und Scherze, nicht von der feinsten Art, flogen zum ersten Stockwerk des einen Querhauses hinauf, wo sich, käfigartig vergittert, die Frauengalerie vorwölbte. Ein lichtes Flirren war dort von weißen Krausen, grell geschminkten Mündern, schlagenden Fächern.
Was für eine Menge müßiger Menschen am hellen Nachmittag! Alle schienen sich untereinander zu kennen. Cervantes stand ziemlich einsam, unterm rechten Arm sein dickes Manuskript. Hie und da ging ein Ruck und Stoß durch die Menge, so daß man aufeinander taumelte, jedesmal dann, wenn einer der fliegenden Händler mit Früchten und Gebäck, deren helle Rufe nicht abrissen, sich den Weg zu einem winkenden Kunden bahnte.
Es war eine Komödie angekündigt, deren Titel lautete: „Liebeslist ist nie verlegen”, und als Verfasser war in den handgeschriebenen Anschlagzetteln am Eingang Herr Lope Felix de Vega Carpio genannt und unterstrichen. Nicht von dem Buchhändler allein hatte Miguel in diesen Tagen den Namen gehört. Er sollte ein noch ganz junger Mensch sein, dieser Lope, fruchtbar begabt bis zum Wundersamen, eines Tages hervorgetaucht aus dem Nichts als ein wahrer dramatischer Stern erster Größe.
Der ungeduldige Lärm des Stehpublikums hatte sich auf das Wüsteste verdichtet. Im Diskant und im Baß stieg der Ruf „Anfangen, anfangen!” aus einem hundertstimmigen Johlen und Blöken. Neben Cervantes stand ein ziemlich verwegen und verwahrlost aussehender, stämmiger Bursche, der in geringen Abständen so überschrill auf zwei Fingern pfiff, daß sein Nachbar meinte, das Trommelfell müsse ihm zerreißen. Mit einem Mal aber wandte sich der selbe Mann im blumigsten Kastilianisch an Cervantes und erbot sich, ihm sein Manuskript zu halten, da, wie er sich ausdrückte, „der Herr durch besondere Umstände das Tragen eines Pakets als Last empfinden müsse.” Miguel dankte überschwenglich, wagte aber nicht anzunehmen. Schließlich trug er da seine letzte Hoffnung im Arm... Sie wandten beide ihre volle Aufmerksamkeit der Bühne zu.
Dort hatte, nach einem einleitenden Liedvortrag zu Gitarre und Harfe, und nachdem ein Sprecher im Pagenkostüm die Zuschauer durch eine dick auftragende Lobrede günstig zu stimmen versucht, die Komödie begonnen.
Was in diesen drei Akten vor sich ging, war ein wirbelndes und wirres Versteckspiel aller mit allen, darin in jedem Augenblick jeder die Existenzform tauschte, der Edelmann zum Arzt, zum Stierkämpfer oder zum Müller wurde, das Fräulein zum Zigeunerknaben oder zur Gärtnerin, die Gärtnerin zum Mohren oder Studenten, der Student zum Gespenst, das Gespenst zum buckligen Stummen, bis endlich, nach einer unversieglichen Springflut von Vers und Reim, von Terzinen Quintillen Romanzen Redondillen, durch Dazwischenkunft von Feen Göttern Ministern und Drachen, vier frischverlobte Paare glückatmend dastanden und an der vorhanglosen Rampe ihre heiteren Schlußreime sangen.
Miguel Cervantes erschien das alles als ein recht geschickter und bunter, aber doch auch leerer und etwas alberner Zeitvertreib für die großen Kinder im Parterre, die jede Überraschung und jedes Witzwort mit lärmenden Zurufen begrüßten. Dagegen setzten sofort die Pfiffe und Schmähungen wieder ein, wenn eine der Larven da oben sich in längerer Versrede erging. Das wollten sie nicht, die „erzenen Hörer”, die „Infanteristen”, die „Musketiere”, von denen im Vorspruch mit so schmeichlerischer Komik die Rede gewesen war. Rasende Handlung und Verwandlung wollten sie, und die Zauberklappe im Boden sollte nicht stillstehen. Aber sie hatten wohl Unrecht, die Lärmenden. Gerade in jenen kunstvollen Reden schien Cervantes der eigentliche Wert des Ganzen zu ruhen. Da klangen Strophen auf von einer beseligenden Anmut und Harmonie, rührend, voller Weisheit, wehmütig-heiter, daß ihm klar wurde, dieser Herr Lope sei offenbar doch mehr als ein einfallsreicher Hanswurst.
Es wurde etwas geboten für das billige Eintrittsgeld! Pausen gab es hier nicht. Kaum war nach einem Akt die Bühne frei, so begann auf ihr eine Zwischenkomödie, dazu bestimmt, den Zuschauer nicht Atem schöpfen zu lassen. Es waren ganz primitive, blitzschnell sich abspulende Szenen: die nach dem ersten Akt spielte zwischen einem Sterndeuter, einem Polizisten und zwei Vagabunden und endete damit, daß der Astronom ohne Fernrohr, der Polizist ohne Säbel und Bandelier dastand; die nach dem zweiten machte auf Sinn überhaupt keinen Anspruch, sondern war einfach ein Rüpelspiel, das sich an groben Flüchen und Pöbelwitzen und an einer wüsten Balgerei als Krönung genug sein ließ.
Man hatte gute drei Stunden gestanden, als „Liebeslist ist nie verlegen” mit jenem Chorliedchen an der Rampe schloß. Die Sonne war schon hinunter. Es wurde kühl.
Cervantes mit seinem Manuskript hatte sich auf eine der erhöhten Bänke im Hintergrund zurückgezogen und sah zu, wie der dämmernde Spielhof sich leerte. Der Direktor Velazquez, war ihm gesagt worden, hatte irgendwo in dem hohen Häuserviereck auch seine Wohnung.
Aber ihn aufzuspüren, blieb Cervantes erspart. Kaum nämlich hatten die letzten Zuschauer den Corral verlassen, so zeigte sich auf der Bühne, hervorgetreten aus den Vorhängen, eine Gruppe von drei Männern. Zwei von ihnen waren in bürgerlicher Kleidung, der dritte einer der Schauspieler und noch im Kostüm. Er setzte ein Windlicht auf den runden Tisch, der vom letzten Akt her noch dastand. Die beiden Anderen nahmen rechts und links Platz.
Die ganze Länge des Hofes lag zwischen ihnen und Cervantes. In der nun fast völligen Dunkelheit konnte man ihn schwerlich bemerken. Unbeweglich saß er, um kein Aufsehen zu machen. Er war von dem, was er sah und vernahm, sogleich völlig gefesselt.
Nicht der aufrecht stehende Schauspieler in Bürgermeistertracht mit der Kette zog ihn hauptsächlich an, auch nicht der Herr zur Linken, der augenscheinlich der Direktor selbst war, ein schwerer, schlau aussehender Bürger. Er verwandte seine Augen nicht von Herrn Lope Felix de Vega. Der habe, war ihm berichtet worden, im fünften Jahr seines Lebens Lateinisch gelesen und im zwölften Komödien verfaßt. Nun, da er sah, daß diesem Erfolgreichen wirklich kaum der Bart sproßte, schien das nicht mehr so unglaublich. Quecksilberig warf er sich droben auf seinem Stuhle umher, krähte mit einer hellen, metallischen Stimme und lachte ein Lachen, das noch nicht recht fertig war. Aus dem Vorhang im Hintergrund war noch eine Frau zu den Dreien getreten, ein schönes, großes, vollbusiges Frauenzimmer, nicht tugendhaft anzusehen, das schweigend ihrem Gespräch zuhörte.
Bei dem Stück des Abends hielt man sich nicht lange auf. Es handelte sich um die Gestaltung des Spielplans in den kommenden Wochen. Das Bürschchen Don Lope — der Lauscher im Dunkel nahm es mit Beklemmung wahr — schien es für selbstverständlich zu halten, daß ungefähr dieses ganze Repertoire von ihm allein bestritten würde...
Wenn man Hirtenstücke wolle, etwa nach Art der Komödien, die von den Italienern hergestellt würden, damit könne er dienen. Er persönlich halte zwar von dieser Gattung nicht viel, da man die rechte Kraft und den rechten Witz darin nicht zeigen könne, sich auch von der Wirklichkeit allzu weit entfernen müsse, aber auf einen Ausflug in dies Gebiet komme es ihm nicht an. Und er hielt einen Papierstreifen nahe vor das Windlicht und las einige Stücktitel ab, die er notiert hatte: „Die Liebe des Albanio und der Ismenia”, „Belardo rast”, „Das Schäferspiel vom Hyazinth”.
Sehr schöne Titel, unterbrach ihn Velazquez, aber ob man nicht von den Stücken etwas zu sehen bekommen könne?
„Ihr braucht nur zu bestellen, Don Geronimo, das wißt Ihr doch! Ihr gebt mir die Zahl der Rollen an und ein wenig den Charakter des Ganzen, ob Ihr mehr Gefühl wünscht oder mehr Burleske, und in drei Tagen, wenn nötig in zweien, habt Ihr das Stück. Wobei sich das Honorar im Falle besonderer Dringlichkeit von 60 auf 80 Taler erhöht, denn meine Nächte gebe ich nicht gern umsonst her, für die hab’ ich bessere Verwendung.” Und er schickte einen ziemlich frechen Blick an der vollen Figur der zuhörenden Dame empor.
Er persönlich, fuhr er offenbar sinnlich inspiriert fort, habe allerdings augenblicklich weit größere Lust, ein paar Amazonenstücke zu schreiben — Dramen, in denen speziell Doña Elena Velazquez Glanzrollen fände, es sei ja ein Jammer, wie wenig Freude sie in letzter Zeit am Auftreten zeige.
Da war der Direktor allerdings völlig der Meinung des Herrn Lope! Er sah nicht ein, worauf eigentlich seine Tochter wartete mit ihrer Ziererei. Vermutlich auf die Jahre, da sie ohne Maske zahnlose Kupplerinnen spielen würde.
Lope parierte galant. Bis dahin seien es immer noch vier oder fünf Jahrzehnte. Jedenfalls: sie habe nur zu befehlen, und augenblicklich präsentiere er ihr auf seinen Knien ein Schauspiel über die berühmte Dame Lucinda, die ihre beleidigte Ehre am König von Arkadien rächt, oder über die schöne Räuberin von Estremadura, die in den Bergen auf ihren Schlössern haust und alle Männer, die dort ihres Pfades ziehen, erst betört und dann ermordet, bis auch ihr Herz das Schicksal ereilt.
Sehr beliebt, meinte der Vater, seien neuerdings in Valencia und Sevilla Stücke gewesen, in denen ein Ungläubiger, ein Maure oder ein Türke, die Hauptrolle spiele. Von solch einem Plan habe doch der Herr Verfasser jüngst etwas fallen lassen — oder irre er sich?
Der lebendige junge Herr ließ sich keinen Augenblick bitten. Gut, daß man ihn daran erinnerte! Etwas Wirksameres als das Verbrecherdrama vom Mohren Hamet, das er fix und fertig in seinem Schädel trage, lasse sich allerdings schwerlich erdenken. Und er skizzierte — während dem Namenlosen mit seinem algerischen Manuskript dort hinten vollends der Mut schwand — eine Geschichte vom stolzen und edlen Seeräuber Hamet, der in die Gefangenschaft der Christen gerät, aus wilder Sehnsucht nach seiner verlorenen, dunklen Geliebten furchtbare Greuel verübt, dann entflieht, eingeholt wird, überwältigt, und schließlich durch den Henker ein gottseliges Ende nimmt, nachdem er bereut und sich zum Christentum bekehrt hat. Ein besonders ergreifender Zug, unterstrich der Autor, von dem er sich viel verspreche, werde es sein, wenn gerade jener Spanier ihm als Taufpate diene, dem er in seinem Liebeswahn die schöne Gattin erstochen habe.
Sehr fein, bemerkte Velazquez, verliebt, blutig und fromm, eine überaus glückliche Mischung! Das sei ein Stück, das auf alle Fälle geschrieben werden müsse, und bald. Wenn nun zum Phantastischen noch ein realerer Stoff träte, dann wäre für viele Wochen gesorgt, einer aus jüngster Vergangenheit etwa, national dazu, was ja immer Furore mache, ein Feldzug, ein Sieg...
„Mich braucht Ihr nicht lang zu kitzeln, damit ich lache! Was sagt Ihr zu einer Belagerung von Maastricht?”
„Ausgezeichnet!” riefen seine drei Zuhörer, alle zugleich. Die Belagerung von Maastricht war ein Ereignis vom Vorjahr.
„Ich werde da,” erklärte Lope, „einmal das ganze Heer auf die Bühne bringen — habt keine Angst, Velazquez, Ihr mietet Euch fünfzehn Straßenlümmel für ein paar Maravedis und laßt es hinter der Szene tüchtig krachen, was auch billig ist — die ganze großartige Aktion durch den Herzog von Parma wird aufgerollt, man hört die Soldaten durcheinander fluchen und schreien, spanisch flämisch französisch und welsch, der Herzog nimmt selber die Schanzschaufel in die Hand und greift in die Radspeichen, um die Kanonen vorwärts zu bringen, alles ist Pulverdampf, Eisengeklirr und Staub von den Hufen, und mittendrin, das muß sein, laufen zwei Frauenzimmer herum, eine aus Spanien und eine Flämin, und schleppen Munition, beide in Mannskleidern, beide verliebt, und während die Geschütze donnern, führen sie einen spitzigen, geistreichen Liebeskrieg gegeneinander, wobei die Spanierin — er sah wieder zu dem Busen der reizvollen Elena empor — zuletzt mit der Zunge obsiegt wie der Herzog mit seinen Kanonen.”
Hier wurde, zum ersten Male, der Schauspieler gesprächig. Er war ein großer, bauchiger Mann mit ungemein gutmütigen Zügen und einer ziemlich vertrunkenen Baßstimme. Das leuchte ihm ein, diese Belagerung von Maastricht! Das werde nun wirklich einmal ein Drama nach seinem Herzen, hier sei auch mit der Rolle des todesmutigen und genialen Herzogs Alexander endlich die ideale Aufgabe für ihn gefunden...
Alle lachten. Er entrüstete sich. „Laß gut sein, Gutierrez,” erklärte der Direktor, „Schauspieler sind verrückte Menschen, das weiß ich am besten. Aber so verrückt doch nicht! Was? den schlanken, feinen, scharfen Herzog willst Du spielen, den jeder Mensch in Madrid von Angesicht oder von den illustrierten Flugblättern her kennt! Die Parterre-Infanterie reißt mir ja die Bühne in Fetzen. Was meinen Sie, Lope?”
„Ich will das keineswegs sagen! Herr Gutierrez verfügt über ein so eindrucksvolles Talent, daß es physische Unterschiede vergessen macht. Aber schade wär’s, wenn er den Prinzen spielte!”
„Schade?” fragte Gutierrez stirnrunzelnd, „wieso denn schade?”
„Weil das jeder kann. Ein Held, ein hübscher, siegreicher Prinz, das ist was für fade Puppen. Für Euch hätt’ ich da etwas anderes...” Und er entwarf mit farbiger Beredsamkeit eine Figur, die ihm ganz offenbar erst in diesem Augenblick entstand: einen alten knurrigen Kriegsoberst der Spanier, bauernschlauen Abgott des Lagers, voll von grobem Humor, den schließlich seine Soldaten, als Fleisch von ihrem Fleisch, in seinen Gichtstiefeln im Triumph über das Schlachtfeld tragen...
Es war kalt geworden. Dort oben trennte man sich.
Leute kamen und nahmen die Vorhänge ab, so daß die nackte fugenlose Mauer erschien, hinter der vermutlich Direktor Velazquez wohnte. Dann trugen sie Tisch, Stühle und Windlicht hinweg.
Cervantes, das Manuskript „Handel und Wandel in Algier” auf seinen Knien, blieb allein im dunkeln Spielhof zurück. Er saß noch eine Weile. Der Gedanke, dem Direktor sein Stück vorzulegen, tauchte garnicht mehr auf. Er saß vor einer nackten, hohen, fugenlosen Mauer... Ihm blieb nur der König. Der König war in Portugal.
In der elterlichen Wohnung schien man zu schlafen. Er hatte sich sein Lager in der Medizinkammer des Vaters gerichtet. Als er sich ausstreckte, spürte er unter der Kopfrolle etwas Hartes. Es waren acht Goldstücke, in ein Stückchen rotes Tuch gewickelt. Nur von Andrea konnte das kommen. Es war die Reise nach Portugal.
Er errötete heftig, obwohl er allein war, küßte das Tuch und löschte sein Licht.
Die Winterreise durch Kastilien und durch die öde, menschenleere Estremadura war hart. Aber in Portugal blühten im Februar schon die Orangen. Eine mildere, zärtliche Luft umwehte den Geprüften. Hier war gut atmen. Eine Ahnung von Ausruhen, Sorglosigkeit, von Glück umfing sein Herz.
Er fand den König in Tomar.
In Trauerkleidung war Philipp in Portugal eingezogen. Aber wenn er Trauer fühlte, so hielt sie nicht Stand. Der größte Erfolg seiner Laufbahn, unabsehbar noch in den Ausmaßen, war ihm zu Teil geworden. Er hätte glücklich sein müssen, er war es beinahe. Jetzt und hier, zum ersten und einzigen Mal, hielt er inne und ließ seine Hände sinken.
Die lusitanische Landschaft, weich und innig, der wilden Kontraste Spaniens entratend, sprach auch zu ihm, dem aktenhäufenden Mönch. Er sah Portugal wie ein Mensch, der Augen hat um das Schöne zu sehen, eine Brust um den Duft der Schöpfung zu atmen. Die Briefe an seine Kinder daheim waren voll von Ausflügen, Blumen und Nachtigallen. Manchmal freilich erzählt er dazwischen von einer Ketzerverbrennung und schickt ihnen auch die Liste der Ketzer, „damit sie wissen, welche es waren”.
Er hatte kaum nötig gehabt, sein neues Reich zu erobern. Dieser Zug nach Portugal war ein Spaziergang in Waffen.
Hier war ein junger König, vor Unternehmungslust tollkühn, im Kampf gegen die Marokkaner gefallen, kurz nach ihm erlosch auch sein Haus. Unter den Thronanwärtern war Philipp. Seine Ansprüche waren nicht schlechter als die der anderen, seine Macht überlegen. Leicht zersprengte sein Heer jede feindliche Ansammlung, der Adel des Landes trat zu ihm über, Portugal war Spaniens Provinz.
Wie im Traum, wie im Spiel, war hier Großes erreicht. Geschlossen die Halbinsel nun als ein Königreich, nach fast tausendjähriger Zerspaltung ein Mann Herr zwischen dem Pyrenäenwall und den Meeren. Aber viel mehr noch: Portugals Kolonien fielen König Philipp anheim.
Ein unermeßliches Weltreich war so gebildet. Zu Westindien, Mexico und Peru tritt neuer, breiter, kostbarerer Besitz. Brasilien wird spanisch. Rund um ganz Afrika weht Philipps rotgelbe Flagge; in Arabien Maskat, in Persien Ormuz, in Ostasien Goa, Kalkutta, Malakka, Java, Macao sind sein. Lissabon ist nun seine zweite Hauptstadt: nach Paris die volkreichste christliche Siedelung, der bedeutendste Handelsplatz auf der Erde. Nicht allein die Gold- und die Silberländer gehören ihm jetzt, ihm zinst das Holz aus Brasilien, Madeiras Zucker, der Teppich aus Persien, die chinesische Seide, Indiens Gewürz. Erschrocken blicken Elisabeth in Westminster, die Medici im Louvre, der venezianische Doge, auf diese Zusammenfassung von Macht und Reichtum in eines Menschen Hand.
Denn dies schien unbesieglich und unzerstörbar. Wer konnte aufstehen gegen ein Großspanien, das durch Berge und Wogen und durch ein eisernes Heer geschützt war, gegen einen Großkönig, der buchstäblich über die Schätze der ganzen Erde gebot! Was konnte — dennoch — diesen Weltherrscher dahin bringen, daß er um Geld betteln mußte bei seinen Untertanen, Bergwerk und Ernte verpfänden, daß in Lyon und Mailand, in Antwerpen, Augsburg und Genua es kein Bankhaus gab, in dessen Buch er nicht stand, daß er in zwanzig Jahren zweimal Staatsbankerott ansagte und das ganze Finanzsystem Europas mit sich in den Abgrund riß, daß er, der übergenaue, pedantische Rechner, sein Volk in beispiellose Armut stieß, es ausgeblutet, erledigt, als ein Bettlervolk hinterließ? Was mußte geschehen, um das zu erreichen? Welchen Geistes mußte man sein?
Nun eben des Geistes allein und nicht des Lebens! Des Geistes, dem irdische Wohlfahrt und irdisches Glück nichts gelten, überhaupt das Irdische nicht. Der Pflug und Hammer verschmäht, nur Kreuz umklammert und Schwert, der in phantastisch verzücktem Ehrgeiz ein Ziel nur kennt: Einheit und Reinheit des Glaubens über die Völker hin, den universalen Sieg des heiligen Buchstabens.
König Philipp war ein Weltreich mehr in den Schoß gefallen. Aber wie wenig ist das, wie gar nichts, wenn man das Unbedingte will, das ganz Unmögliche, wenn man ein Leben lang gegen Übergewaltiges anrennt, bis zur Erhabenheit und bis in den Wahnsinn!
Cervantes fand den König in Tomar.
Aus dem winzigen Städtchen, das voll von Militär und Hofleuten war, blickte er hinauf zu der thronenden Ordensburg der Christusritter, wo Philipp Quartier genommen, und das Ohr des Königs schien ihm so unerreichbar als jemals. Aber die ersten Personen, die ihm im Städtchen entgegentraten, waren zwei Edelleute in bevorzugter Stellung, mit denen er aus Algier vertraut war. Und er befand sich noch nicht zwei Stunden am Ort, so begegnete er jener eleganten Madrider Dame, Frau eines Palastbeamten, die mit ihm zugleich in Dali-Mamis Hände gefallen war. Sie erkannte ihn sogleich — zu seinem Schrecken, denn ihre Ziererei war mit den Jahren nicht verlockender geworden. Sie präsentierte ihn ihrem Gatten und brachte geläufig, nicht zum ersten Mal offenbar, sein ritterliches Verhalten auf Deck der „Sol” in Erinnerung. Cervantes lächelte: er sah sich wieder jenem Korsaren ein Bein stellen, so daß der platt neben der Dame zu Boden schlug... Ihr Ehemann verbeugte sich tief vor Cervantes und bot aufrichtigen Tons seine Dienste an. In Madrid hatte ihn niemand kennen wollen, hier in Portugal fand er sich am ersten Abend im Mittelpunkt eines freundwilligen Kreises. Jeder dachte für ihn. Man wies ihm die Wege.
Am dritten Tage schon wurde ihm eine Gnadengabe des Königs in Höhe von fünfzig Dukaten überreicht.
Sie mochte seinen Empfehlungen zu verdanken sein, einer milden Regung des Königs, ein wenig dem Zufall. Aber eine Woche darauf erfolgte mehr. Er erhielt einen königlichen Auftrag. Der Auftrag war ehrenvoll.
Der Gouverneur von Oran sollte zum Ordensritter von Santiago ernannt werden. Cervantes sollte das Handschreiben überbringen. Hundert Dukaten Reisegeld wurden ihm ausbezahlt.
Es war die Mission eines Botschafters — oder die eines Briefträgers, man hatte die Wahl. Cervantes zweifelte nicht. Dies konnte nur eine Vorstufe sein, der erste Schritt zu bedeutender Stellung im Dienste der Krone! Er war ein Mensch der schweifenden und ausschweifenden Phantasie. Sein Glaube an das Leben, immer Lügen gestraft und endlich zurückgedrängt, brach mit aller Kraft vor. Er wurde nun reich. Reich zu sein würde er nicht mehr aufhören. Die 150 Goldstücke, die er empfangen, waren nichts als eine winzige Anzahlung, weniger als das: ein Taschengeld. Er sah sich mit einem hohen Ratsposten belehnt, als Diplomaten, als Inhaber eines Regiments. All dies waren so hoch bezahlte Stellungen, daß auch den Seinen eine überreichliche Existenz gewährleistet war. Andrea... Er war seiner Sache so sicher, daß er nicht daran dachte, jetzt Geld nach Madrid zu schicken. Was er besaß, das brauchte er für den Augenblick. Es war sogar wenig.
Um den Hof in Tomar hatten sich sehr rasch die Luxuskrämer gesammelt, Genuesen zumeist. Er kaufte einen flandrischen Überkragen mit Spitzenbesatz und einen besonders eleganten Hut, dazu versilberten Degen und versilberten Dolch. Er reiste für seinen Monarchen, vermittelte zwischen ihm und dem afrikanischen Statthalter, es wäre sehr unschicklich gewesen, sich im Äußeren zu vernachlässigen. Ihm war die Last vieler Jahre von den Schultern gefallen. Er trank den ersten Becher des Glücks erhitzt, wie ein ungeduldiger Knabe.
Sein Schiff ging von Cartagena. Er flog, mit gestellten Pferden, durch Andalusien, sah wie unter rosigen Blitzen die Städte Sevilla und Cordoba. In tiefeingeschnittener Meerbucht lag seine Galeere bereit. Nur auf ihn schien gewartet worden zu sein. Als er an Bord trat, grüßte die gesamte Besatzung mit dem dreimaligen Uh-Ruf, der hochgestellten Personen galt. Einen Nachmittag und eine Nacht strich man durch sanfte, schmeichelnde Fluten, im Morgenlichte lag man vor Oran.
Dies war die Stadt, die er in langer Felsenwanderung einst vergeblich zu erreichen gehofft hatte. Nun trug ein Windhauch ihn her oder der Worthauch eines fürstlichen Beschützers. Endlich war aller Qualen ein Ende. Nie war er so leicht geschritten wie die steile Hafengasse hinauf und auf schwankender Brücke über die Schlucht, zur „Roten Festung”, dem Sitz des Gouverneurs.
Der gebrechliche alte Offizier bewillkommnete Cervantes wie einen Himmelsboten. Dieses Handschreiben brachte ihm mehr als nur eine Ehrung. Er befand sich in ewiger Geldnot, eine zahlreiche und nichtsnutzige Familie in Spanien zehrte an ihm. Mit dem Rang als Jagoritter aber war der Genuß einer jährlichen Rente verbunden, viertausend Taler in seinem Fall. Das war ein sorgloses Alter, war die gestillte Familie. Tränen flossen dem General in seinen gefärbten Bart.
Am Abend gab es ein Festmahl. Man trank einen feurigen Valdepeñas, seit Langem aufgespart. Don Miguel de Cervantes Saavedra saß bequem und selbstverständlich unter den Herren, mit höchster Aufmerksamkeit angehört und bedient.
Nach Tisch nahm der Gouverneur ihn beiseite, um ihm sein Herz auszuschütten. Endlich war die Gelegenheit da! Er zweifelte nicht, daß dies der gerade Weg sei zum Ohr der Majestät. Er wollte ganz aufrichtig sein: man lebte in Oran wie in einer belagerten Festung. Noch immer führten die Gouverneure den Titel eines „Generalkapitäns für das Königreich Tlemeen”. Aber er hätte nur einmal wagen sollen, sich in Tlemeen zu zeigen! Keine zehn Meilen weit, keine drei, traute er sich mit seinen Soldaten hinaus aus Oran. Er war schon glücklich, wenn er mit genauer Not noch die Stadt hielt. Allzusehr wahrhaftig wurde man von Madrid aus vernachlässigt. Der Sold für die Truppen blieb aus, seit Monaten war man fast ohne Munition, siebzigjährig waren die meisten Kanonen, man durfte sie überhaupt nicht bewegen, sonst krachten Gestelle und Räder zusammen. Wie es denn zu erklären sei, daß gerade an Oran so gespart wurde? Der Herr Gesandte möge es doch nicht fehlen lassen an ehrerbietiger Vorstellung!
Cervantes hörte, stimmte zu und versprach. Er wußte am besten, was an Afrika versäumt wurde. Er hatte es am eigenen Leibe erfahren. Abhilfe war nötig, er sah es ein. Er glaubte, so ernst wie der Gouverneur, an seine Mission.
Seine Einbildungskraft trug ihn weit. Nachts im gewölbten, steinernen Schlafgemach träumte er deutlich, der König habe ihm eine Flotte vertraut, um Afrika zu erobern. Algier, Dschidschelli, Tabarca, Tunis entriß er dem Halbmond... Er sah sich selber wie eine Galionsfigur auf seinem Admiralsschiff die Küste entlangfahren, und das rotgelbe Banner in seiner Faust streifte die Felsen.
Der König war in Lissabon, als Cervantes zurückkehrte. Er begab sich in das weitläufige, schlecht gebaute Palais. Ein Hofsekretär nahm ihm das Dankschreiben des Gouverneurs ab, schenkte Cervantes einen zerstreuten Blick und versah den Brief mit Aktenzeichen und Nummer.
Er zog sich zurück. Er wartete. Nichts mehr erfolgte. Er meldete sich. Er bat um Audienz. Er erhielt keinen Bescheid. Er suchte die oberen Ämter auf. Man kannte ihn nicht. Er stieg zu den Subalternen hinab. Man hieß ihn im Vorzimmer warten. Er saß viele Stunden wie vordem sein Vater.
Er erinnerte sich seiner adeligen Freunde. Sie waren kühl. Er suchte den Palastbeamten und seine Gattin. Sie waren zurück in Madrid. Er wechselte sein Quartier, suchte ein billiges auf, endlich eine Spelunke. Er ging umher im volkreichen Lissabon, ohne einen Maravedi in seiner Tasche. Die Spitzen an seinem Kragen gingen in Fetzen. Er trennte sie ab. Er verkaufte seinen silbernen Degen und seinen silbernen Dolch, um das Reisegeld nach Madrid zu bekommen. Es reichte nicht. Er borgte mühselig, was noch fehlte.
Er war kein Botschafter gewesen, nur ein Briefträger. Mit 150 Dukaten galt er als endgültig abgefertigt. Wahrscheinlich war die ganze Mission nach Oran nur ein Vorwand gewesen, um die Zuwendung ordnungsmäßig buchen zu können.
Als er in Madrid die Hofwohnung hinter der Calle de Atocha aufsuchte, wohnten fremde Leute darin, ein Schuhmacher mit seiner Familie. Man gab ihm Bescheid: wieder waren die Eltern verzogen, nach Toledo diesmal. Gott mochte wissen, ob der Vater dort als Quacksalber oder als Winkeladvokat neue Hoffnungen ersah. Ein Bündel mit Miguels Habseligkeiten war zurückgelassen. Er nahm es, dankte und ging.
Er fand eine Kammer am Matute-Platz, gleich hinter dem Kollegium von Loreto. Hier mietete er, ohne zu wissen, wie er bezahlen sollte. Als er sein Bündel auseinandernahm, lag obenauf seine rote Sklavenmütze aus Algier.
Er setzte sie auf und betrachtete sich in einem zersprungenen Spiegel, der dahing. Sein Gesicht sah recht eingefallen und welk aus, im Kinnbart und an den Schläfen schimmerte es schon grau. Er trug seine Mütze noch immer zu Recht, sie war mehr als ein Andenken. Er hatte wahrhaftig nur eine Sklaverei gegen die andere eingetauscht. Auf unabsehbare Zeit wußte er sich verschuldet. Verschuldet, tief, an die Eltern, an die arme Andrea, an die Oberen der frommen Schwester im Kloster, an die Leute in Portugal. Verschuldet an die trinitarische Brüderschaft, die ihn freigekauft, verschuldet für das Schiff, das einst Bruder Rodrigo gechartert, verschuldet an den Kaufmann Exarque für seine Fregatte. Verschuldet, verschuldet, verschuldet. Mit einer Art von satirischer Selbstquälerei ließ er auch die entferntesten Gläubiger aufmarschieren, während er das graue Gesicht unter der roten Kappe beschaute. Er wußte sehr genau, daß keine Rede davon war, sie je zu bezahlen. Ihm fehlte für morgen das Brot.
Es war eine seltsame Gegend, in der er gemietet hatte. Der kleine Platz gleich in der Nähe hieß neuerdings „Lügenbank der Komödianten”. Ganz offiziell hieß er so. Ein Bohêmeviertel war hier aufgeschossen. Der Spielhof zum Kreuz lag nicht weit. Eine zweite Bühne, das „Fürstentheater”, war eben eröffnet worden. Es war täglich voll wie das erste. Ein Schwarm von Schauspielern, bettelhaft, bunt und lärmend gesellig, besiedelte all diese Gassen. Musikanten, Tänzer, Gaukler und ein überaus zahlreicher weiblicher Anhang wirbelten her. Literaten gab es zu Hauf. Alles lebte von Zufallsgewinn, borgte, saß in den Kneipen herum und spielte sich auf.
Eine scharfe Note gab dieser Bohême der landesübliche Ehrenpunkt. Überall war ja das alte Rittergefühl schon ganz ins Äußerliche gewendet. Für einen schiefen Blick fuhren die Degen aus der Scheide; alle paar Tage fand man frühmorgens Edelleute erstochen im Straßenschmutz. Aber hier um die „Lügenbank” war man womöglich noch kitzliger. Hysterische Eitelkeiten rächten sich blutig. Ein Schauspieler, dem der andere die Rolle wegspielte, ein Versemacher, den der Kollege hämisch glossiert hatte, hielt einen Dolchstich für die bündigste Widerlegung. Die Ehre irgendeiner leichten Person, mit der man seit zwei Wochen lebte, wurde verteidigt wie die einer jungfräulichen Herzogin. Ein unzähmbarer Snobismus schnitt seine Grimassen. Falschspieler, die einander die Tricks ablernten, grüßten mit langen Zeremonien, nannten sich Euer Gnaden und sprachen nur in der dritten Person. Die Renommage vollends kannte kein Maß. Ein jeder von diesen Läpperpoeten und Reimschmieden hatte Iliaden und Äneiden auf seinem Amboß. Man log einander schamlos ins Gesicht, jeder tat, als glaube er dem andern, und erwartete sich ein Gleiches. Das Theater aber war für alle die große Hoffnung, war der reale Magnet. Denn dort war ja ernstlich Geld zu verdienen, fünfzig, siebzig Taler für ein einziges Stück.
Nur, wahrhaftig, das Publikum war allzu schwierig! Und also waren die Direktoren es auch. Selbst Autoren von Namen, ein Artieda oder Armendariz, brachten es selten dahin, daß man sie spielte. Eigentlich gab es nur Lope.
Er war ein ungeheuerlicher Einzelfall. Das ganze Theater der Zeit begann von dem einen Jüngling zu leben. Sechs Schauspielertruppen, die Spanien durchzogen, spielten beinahe nur ihn. In Valencia, Sevilla, Burgos, beherrschte er das Repertoire. Theaterkönig, Wunder der Natur, Phoenix von Spanien hieß er den Leuten. Die Direktoren schickten ihm von weither Boten ins Haus, mit Bestellungen, Mahnungen, Bargeld. Diese Boten belagerten seine Wohnung, sie warteten hinten im Gärtchen, bis sein Stück fertig war. Er stand erst am Beginn seiner Laufbahn und fing schon an, sprichwörtlich zu werden. „Wie von Lope”, hieß es von einer Sache, die besonders gut aussah, klang oder schmeckte. Auch Leute gebrauchten den Ausdruck, die garnicht recht wußten, wer Lope und was ein Theater war.
Cervantes sah ihn beinahe täglich. Denn was am unbegreiflichsten schien: der Mann brachte es fertig, zwischen zwei Sonnenaufgängen ein Stück von dreitausend Versen zu vollenden, in weniger Zeit als ein Abschreiber brauchte, um solch einen Text zu kopieren, und dabei blieb ihm noch Muße zu leben! Seine Weibergeschichten kursierten rings um die Lügenbank. Sie waren zahlreich, trotz seiner Beziehung zu der üppigen Elena Velazquez, die übrigens geheiratet hatte und jetzt Osorio hieß. Täglich saßen die Beiden im „Wappen von Leon”, und nie sah es aus, als ob Lope nach Haus und vors Tintenfaß drängte. Im Gegenteil: er gefiel sich hier. Der Brodem von unterwürfigem Neid, der ihm entgegenschlug, schien seinen Nüstern zu schmeicheln. Den eher stillen Miguel Cervantes hatte er zuerst überhaupt nicht beachtet, es saß da irgendein älterer Mann mit nur einer Hand, ohne erkennbare Profession. Auch als man einander häufiger traf und sich Gespräche ergaben, bezeigte Lope geringe Sympathie. Irgend etwas an Cervantes bereitete ihm Unbehagen.
Miguel bedauerte das. Er bewunderte den Berühmten aufs höchste. Jenem ersten Theatereindruck waren stärkere gefolgt. Außerdem erschien von Lope alle paar Wochen ein neuer Band, mit zwölf Stücken jeder. Wahrhaftig, hier war Genialität! Möglich zwar, daß keines von allen diesen Schauspielen die Vollendung erreichte, aber alle enthielten zum mindesten Szenen, vor deren echter und großer Poesie das Herz einem aussetzte. Alles war da, was den Menschen bewegt und erheitert, ein breiter und schäumender Strom von Tragik, Humor, Narrheit, Weisheit, Phantastik und realistischer Klugheit zog vorbei. Nichts glich dieser Vielfalt. Der Mann nahm seine Stoffe, wo er sie auftrieb. Ihm war jeder Anlaß gleich gut: ein Königsmord oder eine Novelle oder ein Stadtklatsch vom gestrigen Tag, Ariost oder Tasso, ein illustriertes Flugblatt, eine Heiligenlegende oder ein grober Spaß, den ein Kneipengenosse erzählte; Spanien, Griechenland, Deutschland, Persien, Polen, Amerika, jedes Land war ihm recht.
Nichts von Würde war an dem jungen Mann. Jäh wechselten seine Launen, in nichts hielt er Maß, jeden Augenblick gab es Skandal wegen der schönen Osorio, eitel war er bis zum Absurden, keine Schmeichelei erschien ihm zu plump, gutherzig und freigebig zeigte er sich im einen Moment und gleich darauf von giftiger Bosheit. Stellte man ihn, so kostete es ihn wenig, das eigene Wort zu verleugnen. Schon wußte er nichts mehr davon. Das hatte ein Andrer gesagt... Ein Andrer war er wirklich von Stunde zu Stunde, ein hundertgestaltiger Proteus.
So erschien auch sein Schöpfertum dem Cervantes. Ihm war, als habe man es bei dieser ungeheuerlich flutenden Zeugung garnicht mehr mit einem Schriftsteller und mit einzelnen Werken zu tun. Dies wirkte weit eher wie eine ununterbrochene Eruption der Natur selbst, die ja auch nicht auf Grenzen und Folge bedacht ist, sondern aus ihrem strudelnden Schoß die Larve und das Geschöpf verantwortungslos und unversieglich hervorwirft.
Aber Natur oder nicht, gewiß war, daß diese Produktion den Zeitgenossen und ihm den Weg zur Bühne versperrte. Längst natürlich hatte er die Bekanntschaft des Unternehmers Velazquez gemacht und auch die seines Konkurrenten Gaspar de Porres. Aber sprach er ihnen schüchtern von seinen Arbeiten, einem Verwandlungsstück „Die Verwirrte”, das halbfertig dalag, einer in Konstantinopel spielenden Tragödie „Selims Tod”, so blickten sie ihn wohlwollend an und gedachten der fünf oder zehn türkischen und Verwandlungsstücke, die von Lope in Aussicht standen. Seine Lage wurde immer bedenklicher. Der Wirt zum „Wappen von Leon” schenkte ihm den Becher nur noch halb voll. Schon dachte er wieder daran, seine Briefschreiberkünste fruchtbar zu machen, aber wer, der nicht schreiben konnte, korrespondierte in Madrid! Ab und zu verdiente er sich ein paar Realen mit Lobgedichten, wie sie die Schriftsteller ihren Büchern als Einleitung voransetzten. Er schrieb eines für einen dichtenden Karmeliterpater, eines auch für einen Menschen namens Juan Rufo, der das Leben des Don Juan d’Austria in langweilige Verse gebracht hatte. Fünf endlose Gesänge waren allein dem Sieg von Lepanto gewidmet... Es war ein wenig peinlich für Cervantes, als sich nachher das ganze Epos, das er überschwänglich gepriesen, als ein ziemlich schamloses Plagiat herausstellte. So ging es nicht weiter.
Er faßte sich ein Herz und suchte aufs neue Herrn Robles auf. Der wohlwollende Kaufmann überlegte ein wenig. Ob er schon einmal daran gedacht habe, einen Schäferroman zu verfassen? Nein, kein Gedicht, einen Roman in der Art der berühmten „Diana”. Davon könne das Publikum noch immer nicht genug bekommen. Von der Diana seien erst kürzlich wieder drei Neudrucke erschienen, und bei den Fortsetzungen und Nachahmungen sei der Erfolg nicht geringer. Die von Gil Polo liege jetzt schon in fünf oder sechs Sprachen vor. Sogar eine lateinische Übersetzung werde vorbereitet, für die Klöster vermutlich. Ob Cervantes sich dergleichen zutraue? Es empfehle sich nur, auf alle Fälle einen klassischen Weibernamen als Titel zu wählen, damit sich jeder sofort an die unerreichliche „Diana” erinnert fühle.
Eine Art Vertrag kam zustande. Cervantes erhielt einen kleinen Vorschuß.
Er ging sogleich ans Werk. In seiner halbdunklen Kammer versaß er die Tage und feilte an Prosa und Vers, denn diese „Galatea” sollte nach bewährter Tradition eine Mischform von beidem darstellen. Freude machte die Arbeit nicht. Diese parfümierte Welt ohne Wirklichkeit, dies falsche Arkadien, bot keine Atemluft, diese lüstern züchtigen Nymphen mit Bogen und Schleier, diese girrenden Schäfer waren ein trostloser Umgang. Während er süßliche Reize ausformte und seine Paare spitzfindige Dialoge führen ließ, wußte sein Blut nicht, wovon die Rede war. Mit Leidenschaft, wie der Mann sie fühlt, hatte dies preziöse Gezirp und Gejammer, hatte diese pedantische Liebesrhetorik nichts zu tun. Er stellte Modeware her. Er hätte lieber Schuhsohlen geschnitten, wenn er’s gekonnt hätte.
Er ging gegen die Vierzig. Sein Leben war leer gewesen von Liebe. Enttäuschungen seiner Jugend lagen weit. Er hatte Weiber umarmt in allen Städten, in die ihn das Abenteuer verschwemmte. Meist waren es solche, die man vergaß, noch während sie einem an der Brust lagen. Spürte er, daß eine sich an ihn schloß, die ihm gefiel, so riß er sich los. Das war nicht zu brauchen, was sollte der Soldat, Krüppel, Bettler, mit Anhang und Fessel.
Jetzt aber, gerade jetzt, während er um des Brotes willen dies leere Geliebel reimte und leimte, schoß wie ein Raubvogel aus dunklem Gewölk die Liebe auf ihn hernieder und schlug ihm die Fänge ins Herz.
Sie behauptete, die Tochter eines Herrn vom Hofe zu sein, und nannte sich de Rojas, Ana Franca de Rojas. Wahrscheinlich aber war ihr Vater ein deutscher Soldat gewesen, die Leute behaupteten es, und ihr blondes Haar sprach dafür. Ihre Mutter verkaufte unechten Schmuck und billigen Weiberputz in einem Durchgang an der Calle de Toledo. Das wurde Cervantes gleich am ersten Abend ins Ohr geflüstert.
Er hütete sich sonst vor den Frauen im „Wappen von Leon”, aus Furcht, eine einladen zu müssen. Heute stieg er ohne Weiteres über zwei Männer hinweg, die neben ihr auf der Bank saßen, schob die Erstaunten beiseite und begann zu reden. Geschmeichelt von einer so augenscheinlichen Wirkung ihrer Person, lächelte die Blonde ihn an. Er ließ sie nicht erst zu Wort kommen, das hatte Zeit, und unterhielt sie in einem erprobten Ton zwischen Huldigung und Ironie. Er bestellte Früchte und Kuchen und dazu einen süßen Tarragona, und er tat es so ungezwungen, daß der Wirt zu der Meinung kam, er könne bezahlen, und alles herbeibrachte. Man war still geworden am Tische und hörte verwundert diesem sonst schweigsamen alten Soldaten zu, der eine lustige oder aufregende Geschichte nach der andern erzählte. Mit Entzücken atmete er ihre Nähe ein, den Duft ihrer hellen Haut und den eines billigen, etwas scharfen Parfums, das ihm köstlich erschien. Sie war stolz zu sehen, in welche Unkosten sich dieser fremde Herr für sie stürzte, es dauerte keine Stunde, so fühlte er unterm Tisch ihr Bein an dem seinen. Es durchfuhr ihn, daß er den Atem verlor und sich zurücklehnen mußte.
Im ersten Moment, noch unter der Tür, hatte er geglaubt, die Venezianerin Gina zu sehen, an die er gewiß zehn Jahre lang nicht gedacht hatte. Aber die Venezianerin Gina war jetzt schon alt. Die hier war jung, herrlich jung, keine zwanzig. Auch stellte sich die Ähnlichkeit gleich als oberflächlich heraus. Das helle Gesicht hier war nicht so breit, Nase und Mund viel eigenwilliger gezeichnet, auch das Blond war ein andres, ein trockenes Lichtgold. Etwas Verwandtes lag vielleicht in den graugrünen Augen oder vielleicht nur im Blick. Dieser Blick hatte eine sonderbar erregende, messende Kälte, von Güte sprach er nicht.
Es wurde spät. Die Posada war fast schon geleert. Sie standen miteinander auf. Als sie bei der Tür waren, näherte sich der Wirt mit einem fragenden, beinahe drohenden Gesicht. Miguel griff in die Tasche, raffte zusammen was da klapperte, und drückte es ihm in die klebrige Hand, ohne zu wissen, ob es zu wenig war oder zu viel.
Es war eine Septembernacht, und der Mond schien. Wie sie neben ihm herging, sah er, daß sie kleiner war, als er geglaubt hatte. Sie erschien schlank, aber unter dem alten Schal, in den ihre Büste gewickelt war, unter dem unmodisch engen Rock, ahnte man eine feste und volle Frau. Sie ging mit jener federnden Leichtigkeit, die Wollust verspricht. Als man vor dem schlechten Tor ihres Hauses angelangt war, blieb er vor ihr stehen und umschlang sie. Sie leistete gar keinen Widerstand. Zum ersten Mal seit langer Zeit betrauerte er seine Hand. Es schien ihm bitter, nur mit der einen umfassen und streicheln zu können.
Man fand leicht zueinander und verließ einander leicht in diesen Gassen rund um die Lügenbank. Am dritten Tage schon wohnte sie in seiner Kammer am Matute-Platz, eine zweite, noch kleinere, die anstieß, hatte er hinzugemietet. Da der Hausherr Vorauszahlung wollte, schrieb er die beiden ersten Gesänge seiner „Galatea” ins Reine, eilte damit zu Robles und brachte zehn Taler zurück.
Ana Franca hatte offenbar keinerlei Beziehung zu lösen gehabt, als er sie zu sich nahm. Alles ging rasch und verantwortungslos. Sie war eine von den losgerissenen Kreaturen, die die Männer einander zuwarfen wie bunte Bälle; mit fünfunddreißig war man dann plötzlich alt und erledigt, tat Hehler- und Kupplerdienst oder verkaufte Kram an den Ecken. Die Ana Franca brauchte eine ganze Weile, um zu erkennen, daß hier etwas Ernstliches vorlag, daß einer sie liebte.
Er saß in der Seitenkammer und schnitzte an seinem Roman. Zum Verzweifeln langsam ging diese Arbeit. Da gab es Sätze, die er siebenmal umschrieb. Und mit den Versen war es noch schlimmer. Was er da zusammenreimte, blieb holperig und ohne Melodie. Jedoch ein Dichter war nur, wer Verse zu schreiben wußte. Und also war er kein Dichter. Keine innere Beziehung zu seinem Gegenstand stellte sich ein. Das war auch nicht möglich, und er verlangte es nicht. Er wollte Erfolg haben. Er wollte bezahlt sein. Er träumte von einem gestickten Reifrock für die Ana Franca, von einem Schminkkasten, den sie sich wünschte.
Sie lag nebenan im Bette und knabberte billiges Zuckerwerk. Das war die Existenz, die sie liebte, und darüber hinaus gab es nichts. Ihr war es fast schon zu viel, daß sie gegen Mittag aufstehen mußte, sich notdürftig ankleiden und Rüben, Gewürz und ein wenig Hammelspeck einkaufen, um dann auf der Herd-Ecke bei der Hausfrau irgendetwas zusammenzurühren.
Ihm schien es genug, daß sie da war. Ein nicht zu zähmendes Verlangen riß ihn immer von neuem zu diesem frischen und kernigen Frauenleib, den auch der Müßiggang nicht erschlaffte. Er trank sich nicht satt an ihrem Geruch, der von einer scharfen Süße war. Und der immer fremde und messende Blick dieser graugrünen Augen stachelte ihn zu langer Raserei, die kaum mehr seines Alters war.
Er legte sich nicht die Frage vor, ob dies dauern könne, was einstmals übrig bleiben werde nach dem Begehren. Es würde nicht verebben, dies war ewig. Er hatte die Frau seines Lebens gefunden. Er hielt das Glück.
Ihr armes und enges Gespräch unterhielt ihn wie Weisheit und Witz. Nie fiel es ihm ein, von seiner Beschäftigung zu ihr zu reden. Wochen vergingen, ehe er wußte, ob sie überhaupt lesen konnte. Sie hatte es einmal gelernt und es beinahe wieder vergessen.
Es kümmerte sie nicht im Geringsten, was er dort drinnen trieb in der Kammer. Männer schaffen auf irgend eine Art das Geld zur Stelle, das die Frauen verbrauchen. Dieser schrieb mit der ihm verbliebenen Hand.
Anders verhielt es sich mit dem Theater. Das war ein Begriff für sie. Ein halbes Jahr war es her, da hatte sie bei Velazquez auftreten dürfen. Man hatte ihr eine englische Sklavin zu spielen gegeben, vermutlich ihrer blonden Haare wegen. Eigentlich war es kaum eine Rolle. Sie hatte nur halbnackt zu knien gehabt und Geißelhiebe zu empfangen, die eine eifersüchtige Favoritin ihr zudiktierte. Aber diese zehn Bühnenminuten an zwei Abenden hintereinander hatten genügt, um eine dauernde Lüsternheit nach dieser Welt in ihr zu hinterlassen. Theaterspielen, das hieß: in fremdartigen Gewändern oder noch besser entblößt da oben agieren, während ein heißgedrängtes Parterre von Männern die Augen aufriß und stumme Hochzeit mit einem feierte.
Miguel glaubte ihr eine Freude zu machen, wenn er ihr einen Platz auf der vergitterten Galerie erstand. Aber sie kam jedesmal in schlechter Laune zurück und beklagte sich über die frechen Frauenzimmer, die sich nach vorne gedrängt hätten, so daß sie nichts hatte sehen können. Von den Stücken, die da gespielt wurden, wußte sie weniger zu sagen. Und als sich Cervantes eines Abends überwand und sie, nicht ohne eifersüchtiges Herzklopfen, im „Wappen von Leon” dem großen Lope gegenübersetzte, da blieb dieser Berühmte ganz ohne Eindruck auf Ana Franca. Wahrscheinlich dachte sie, daß die lustigen oder traurigen Gespräche, die die Schauspieler da oben führten, von ihnen selber zusammengestellt würden. Denn die Komödianten, die in der Kneipe verkehrten, verfolgte ihr Blick mit scheuer Bewunderung, ihre tönenden Stimmen fand sie schön, ihre feierlichen Gesten von großer Vornehmheit. Und öfters tauchte in ihren Reden der Name eines gewissen Alonso Rodriguez auf, der eine Weile im Spielhof zum Kreuz aufgetreten war, aber nun nach Valencia abgegangen. Dieser Rodriguez hatte ihr damals auch die Statistenrolle verschafft, auf die sie als auf den glänzenden Höhepunkt ihres Daseins zurückblickte.
Ein Nachmittag kam und ein Abend, da kehrte Ana Franca nicht nach Hause zurück. Miguel wartete. Er verwartete auch den folgenden Tag, ratlos, trostlos, geschlagen. Es war kein Grund zu ersehen, kein Streit war vorausgegangen. Endlich am dritten Mittag erschien sie, das Gesicht notdürftig hergerichtet, fremden Geruch in den Kleidern. Sie verbitte sich jede Szene, erklärte sie augenblicklich und vorbeugend, dazu besitze er nicht das mindeste Recht. Er biete ihr nichts. Ob das eine Art sei, wie sie herumlaufen müsse. Wozu es tauge, da draußen in der Kammer zu hocken und immer mit tintenklecksigen Fingern ins Bett zu kommen, wenn sie heute, nach vier Monaten, noch kein neues Kleid, keinen Schal, keinen noch so kleinen goldenen Ring aufzuweisen habe. Nein! er möge jetzt gefälligst seine eine Hand von ihr weglassen.
Es war klar, daß sie nachplapperte. Man hatte ihr eingeheizt, die Mutter vielleicht, eine Freundin, oder ein zufällig aufgetriebener Galan.
Und da fiel Cervantes das Elend an. Er zitterte vor Eifersucht und vor Beschämung, nicht geben zu können. Ihm kam zum Bewußtsein, an wen sein Herz da gefallen war. Aber es war zu spät, er konnte nicht los. Hier half kein Ruck und kein Schnitt. Und so begann er, zu reden. Niemals hätte er gedacht, daß er eines Tages so reden würde. Er drang in sie. Er rüttelte an ihr. Er suchte umsonst aus dieser verführerischen Form einen Funken zu schlagen. Sie schaute ihn aus ihren messenden Augen verwundert an. Sie verstand garnicht, was er meinte. Endlich zog sie ihn mit geringschätziger Gewährung an ihre feste, weiße Brust. Was konnte er mehr wollen, wovon sonst redete er. Und er, sogleich besiegt und voll Scham, nahm durstig, was sie ihm hinbot.
Als er am andern Tag über dem dritten Buch der „Galatea” saß, merkte er plötzlich, daß er eine Weile fast ohne Bewußtsein und Kontrolle fortgeschrieben hatte. Eine der üblichen zierlichen Liebesklagen hatte er einfügen wollen. Nun überlas er, was dastand, ein Gemisch aus drängender Prosa und kunstlos stockenden Versen. Eine Liebesklage war es geworden, gewiß, aber eine wirre und wilde, stoßweise hervorbrechend aus verwundeter Brust. Da umgirrte kein preziöser Schäfer eine pedantische Nymphe. Da rüttelte und riß ein gefesselter Mann an der dumpfen Materie, im Wahn, sie zu tönendem Leben zu bringen.
Kein Wort war zu brauchen. Das ganze dünne Gewebe seines Romans wäre in Fetzen gegangen. Er zerriß die drei Blätter.
Es war wieder einmal kein Kupferstück mehr im Hause. Er schlich umher um die Lügenbank, stellte den Kollegen nach, kleinen Literaten, die ehrgeizig waren und Geld hatten, und bot ihnen Lobverse mit ihrem Namen an, die er unterbringen würde in seinem Werk. Er werde sie mitnehmen in seine Unsterblichkeit. Er sprach wirklich von Unsterblichkeit, ungläubig und voller Hohn, um fünf Realen zu verdienen. Aber es reichte doch niemals. Mit bedauernder Entschiedenheit lehnte der Buchhändler Robles es ab, neuen Vorschuß zu gewähren. Das sei in des Autors eignem Interesse, der ja sonst nichts mehr zu erwarten habe, wenn das Buch endlich erscheine.
Da ging Miguel zu seiner Schwester Andrea. Sie lebte mit ihrem Töchterchen in etwas geregelteren Umständen, in zwei reinlichen Zimmern, die ein Mann ihr bezahlte. Sie war ganz stolz auf ihre Häuslichkeit, sah etwas gealtert und ordentlich aus, wie eine kleine Bürgersfrau. Aber Geld war wenig im Haus, der Freund gab ihr nur eben das Nötige und rechnete wöchentlich genau mit ihr ab.
Andrea kniete vor ihrem Schranke nieder und holte tief aus seinem untersten Fach mehrere Rollen Stoff hervor. Kniend, mit einem guten Lächeln, hielt sie eine davon auf ihren Armen dem Bruder hin. Es war ein schöner, besonders dauerhafter Tafft, das wertvolle Geschenk eines früheren Liebhabers, das sie als eine Art Notreserve verwahrte. Der Genuese Napoleone Lomelin, der auf Pfänder lieh, würde bestimmt zwanzig Dukaten dafür geben, dreißig vielleicht. Er kannte die Rollen; sie waren schon einmal bei ihm gewesen.
Cervantes borgte sich in der Nachbarschaft einen kleinen Ziehwagen aus, denn die fünf Ballen waren zum Tragen zu schwer, und fuhr sein Pfand zu dem Kaufmann. „Bringt Ihr’s zum Fahnenmacher?” fragten ihn die Straßenjungen unterwegs, denn der Tafft war rotgelb gestreift. Er hätte zu fünfzig kastilischen Bannern gereicht.
Es gab neue Wäsche für Ana Franca, die Schulden im Viertel wurden bezahlt, auch die im „Wappen von Leon”, wohin sie sich nicht mehr getraut hatten. Ana Franca war guter Laune. Jener bedenkliche Ausflug wiederholte sich nicht. Es waren für Cervantes Wochen eines armen, kleinen, elenden Glücks.
In der üblichen Weise begann er für sein Buch noch vor dem Erscheinen Reklame zu machen, las daraus vor, ließ Teile in Abschrift zirkulieren und suchte nach einem Gönner in hoher Stellung, der geneigt wäre, die Widmung anzunehmen und später zu honorieren. Er fand ihn, nach manchen Versuchen, in Ascanio Colonna, Abt von Sankt Sophien, aus dem römischen Fürstenhaus, einem etwas zimperlichen Herrn, der hauptsächlich durch die Mitteilung gewonnen wurde, Cervantes habe vor Jahren in der Hofhaltung des verewigten Aquaviva einen Posten innegehabt. Dies müsse, verlangte er, in der Widmung ausdrücklich hervorgehoben werden. Cervantes versprach es.
Als er in der Freude über seinen Erfolg heimkehrte, fand er Ana Franca in kalter Wut. Sie war schwanger.
Ihr Zustand war schon weit vorgeschritten. Beschwerden hatte sie wenig gehabt, auch wohl ihre Augen verschlossen, seit heute herrschte nun Klarheit. Ihr Gefühl war ganz eindeutig: nichts sah sie vor sich als Entstellung, Schmerzen und Last.
Dies steigerte sich. Mit kaum verhohlenem Haß betrachteten ihre graugrünen Augen den Mann, der Urheber dieses Mißgeschicks war, den Einhändigen, den Habenichts, den Papierverderber. Eines Tages kam sie halbtot nach Hause; sie hatte, in so vorgerückter Phase noch, versucht die Bürde abzuwerfen, und es war natürlich mißglückt. Der Arzt und die Heilmittel verschlangen das letzte Geld. Doch sie gesundete. Die Natur bestand darauf, die Unmütterliche zur Mutter zu machen.
Cervantes pflegte sie. Er war von unermüdbarer Sanftmut. Ganz heimlich freute er sich. Da es denn sein sollte, so würden sie heiraten. Vielleicht wurde sein Kind ein Sohn. Ein kleiner Sohn, der ihm gehörte, viel mehr als der Mutter. Er würde ihn belehren, ihn formen. Er würde ihm auch die Abenteuer seines Lebens erzählen, die sonst keiner mehr hören wollte, von Don Juan d’Austria, von Dali-Mami, vom König von Algier. Ein kleiner Sohn, das war eine kleine Unsterblichkeit, da er ja von der großen längst nicht mehr träumte.
Aber in den Wochen, die der Geburt vorangingen, packte ihn wieder, so stark wie noch nie, die Angst um das Brot. Solange man einsam schweifte, mochte man arm und verschuldet sein; aber ein bettelnder Familienvater war unter dem Himmel das elendeste Geschöpf. Wie nun, wenn der Buchhändler nichts mehr bezahlte. Wenn Colonna noch absprang. Er fürchtete auch die abfällige Mundkritik, die einen Autor zu töten vermochte, vor allem die giftig zustechenden Zungen der Kollegen. Dem mußte vorgebeugt werden. Da kam ihm ein Einfall...
Alle miteinander wollte er ködern. Nicht bloß den einen und andern mit Lob einfangen in seinem Roman, sondern Alle auf einmal! Ein ungeheures dampfendes Weihrauchfaß würde er aufstellen für die ganze spanische Literatur. Wenn dann jedem Einzelnen, noch dem albernsten Reimer, die dicken Schwaden um die Nase zogen, dann würde sie sich zum Grinsen verziehen, und die „Galatea” war gerettet!
Er machte sich wirklich ans Werk. Mit saurer Mühe stellte er eine Liste zusammen, grub in seinem Gedächtnis nach, ergänzte immer von neuem. Dann ging er ans Reimen. Im letzten, dem sechsten Buch seines Romans ließ er im Mondschein die Muse Kalliope auftreten und vor versammelten Schäfern und Schäferinnen zur Harfe das Lob der spanischen Dichtkunst singen...
Es wurden einhundertelf Oktaven, 888 gereimte Verszeilen ganz genau. Jeder Autor bekam seine eigene Strophe, jeder dieser Baca, Bivar, Garay und Vargas, dieser Pariente, Romero und Maldonado. Auch der große Lope bekam nicht mehr als die andern. Er wohnte in der einundvierzigsten Strophe. Er hieß nicht einmal „Orpheus” oder „Neuer Euripides”, an ihm war eher gespart. Vielleicht wollte der arme Lobschreiber das wirkliche Talent durch diese ehrerbietige Nüchternheit auszeichnen.
Das Ganze war beinahe großartig in seiner Gottverlassenheit. Die unwürdigste Waffe in der Hand rannte er gegen Übergewaltiges an, gegen Mißgunst, Bosheit und Dummheit, die über den Weg jedes wahren Menschen ihre riesenhaft wechselnden Schatten werfen.
Unversehens war Ana Francas Stunde herangerückt. Und was Natur so vielen mütterlichen Frauen nur gegen Blutzoll und zerreißende Qualen gewährt, gab sie ihr mit schenkender Hand. Ganz leicht waren die Wehen und kurz. Dann lag neben der kaum Ermatteten ein grüngeäugtes Geschöpf mit einer adlerhaft gebogenen, kleinen Nase und schrie beinahe nicht. Es war ein Mädchen.
Vier Tage danach wurde es auf den Namen Isabella getauft. Die Mutter war weit genug hergestellt, um selbst in der Kirche zugegen zu sein. Ihre starre Miene fiel sogar dem Geistlichen auf. Daheim dann mußte Miguel sie erinnern, als es Zeit war, die Kleine zu stillen.
Er war dennoch fröhlicher Laune. Das Erscheinen seines Buches stand unmittelbar bevor, und es schien ihm von glücklicher Vorbedeutung, daß so zwei Geburten beinahe zusammenfielen. Vielleicht war Galatea doch besser, als er zu glauben gewagt hatte, und trug seinen Namen ein Stück weit in die Zukunft.
Der Buchhändler Robles erwies sich als ein gewissenhafter Geschäftsmann. Für einen Mittwoch im Mai war das Erscheinen in Aussicht genommen: am Montag bezahlte er den ganzen Rest des Honorars, einhundertsiebenundsechzig Taler. Cervantes bekam die Summe in Silber, in einem Ledersäckchen.
Sein erster Gang war zu Andrea. Sie nahm weniger an, als ihr zukam, und umarmte ihn unter freudigen Tränen.
Mit dem stattlichen Rest siegerhaft rasselnd trat er bei Ana Franca ein. Sie saß völlig angekleidet auf einem Stuhl und schaute aus ruhigen Augen gerade vor sich hin. Neben ihr auf dem Tisch lag in einem Kissen die kleine Isabella, und blickte aus denselben grünen Augen ebenso ernsthaft umher.
Ana Franca nickte nur, als sie das Geld sah. Seine Freude sank. Er warf den Beutel klappernd in die Schublade des Tisches, auf dem das Kind lag.
Am Mittwoch war er schon früh in der Buchhandlung. Noch waren die Exemplare der „Galatea” nicht da, aber sie mußten jeden Augenblick kommen. Herr Robles erwartete sie mit der fahrenden Post von Alcala, wo sie gedruckt worden waren. Endlich hielt wirklich der Karren vor dem Hause, bis oben vollgepackt mit den Büchern. Alle machten sich an das Ausladen, der Kutscher, zwei Angestellte der Firma, Herr Robles selbst und auch Miguel, soweit er sich nützlich machen konnte mit seiner einen Hand. Der ganze Verkaufsraum füllte sich mit den dicken und schweren Quartbänden.
Dann saß Cervantes mit einem von ihnen im Hinterzimmer des Ladens, einem Bretterverschlag nur, und genoß jenes Glück, das jedem Autor bekannt ist. Er genoß es mit schlagendem Herzen, denn dies war im eigentlichen Sinne sein erstes Buch, die früheren Publikationen waren nicht mehr als löschpapierene Hefte gewesen.
Blas de Robles und sein Drucker hatten das Ihre getan. Gutes Papier, ein klares, schönes Druckbild, nicht zu viel Text auf der Seite, Prosa und Vers geschmackvoll voneinander abgesetzt. Auf dem Titelblatt groß das Familienwappen des Gönners Colonna: die Fürstenkrone über dem Säulenschaft, mit der stolzen Devise in schlechtem Latein: „Frangi facilius quam flecti”. Cervantes blätterte in seinem Buch, las ein paar Sätze hier, dort eine Strophe. Er war zu kleinmütig gewesen... alles war schön! Nur als sich am Ende des Bandes jener „Canto de Calliope” von selber aufschlug, verweilte er nicht, sondern blätterte hastig zurück.
Er kam nach Hause, sein Buch in den Händen. Ana Franca war nicht da. Eigentümlich leer wirkten die Zimmer. Er blickte sich um. Er öffnete den Schrank. Ana Francas Kleider und Handgerät waren verschwunden. Er öffnete auch die Schublade unter dem Tisch. Die Hälfte des Geldes war fort, genau abgezählt nach Taler und Real. In einer Ecke auf dem Fußboden lag im Kissen die kleine Isabella und blickte aus ihren grünen Augen ernsthaft zu ihm empor.
Sieben Stunden war er schon unterwegs, bald auf dem Maultier, bald nebenher. Es ging gegen Mittag. Wenn man ihm in der Stallung gut berichtet hatte, mußte jetzt bald der Weg nach Toledo abzweigen.
Er hatte einen Umweg gemacht, um ein Stück weit die Straße nach Aranjuez zu benützen. Aber das war ein Unsinn gewesen. Denn obgleich der Hof sie fuhr, war auch sie voll tiefer Löcher und so kalkstaubig, daß er auf den Flanken seines Maultiers hätte schreiben können.
Man hatte ihm ein hübsches, kräftiges Tier vermietet, mit ganz ausnehmend langen Ohren, die es im Hinschreiten ausdrucksvoll bewegte, Kopf, Mähne und Schweif mit Troddeln geschmückt und mit Bändern durchflochten, die frühmorgens buntfarbig gewesen waren, jetzt aber alle ein gleichmäßiges Weißgrau angenommen hatten.
Vielleicht hätte er doch in dem Wirtshaus bleiben sollen, um die kühlere Tageszeit abzuwarten. Aber es war eine jammervolle Baracke gewesen, ein nacktes schadhaftes Ziegelloch mit einem kahlen Tisch und drei Schemeln, und die Wirtsleute ein so schmutziges, strolchhaft anmutendes Gesindel, daß er seine sechs Maravedis „fürs Niedersitzen” im Stich gelassen hatte und weitergezogen war. Nicht jede Unterkunft durfte ihm heute recht sein. Er reiste nicht allein.
Etwas regte sich in dem linken der beiden Tragkörbe, die seitlich vor dem Sattel herniederhingen. Er schlug im Gehen die leinene Überspannung zurück. Ganz niedlich angezogen lag da die kleine Isabella. Sie hob ein wenig das Köpfchen und blinzelte in das weiße Licht.
Sie war der Anlaß zu dieser beschwerlichen Reise. Cervantes brachte sie nach Toledo.
Seit jenem Mittag im Mai, da er sich plötzlich allein mit dem Säugling gefunden hatte, waren noch nicht drei Monate vergangen. Verschwunden blieb Ana Franca. Auf zweifelhaften Umwegen hatte ihn einmal unbestimmte Nachricht erreicht, danach sollte sie in Gesellschaft jenes Rodriguez in andalusischen Städten gesehen worden sein. Das war alles. Das blieb auch alles. Man konnte im weiten, schlecht verwalteten Spanien vorzüglich untertauchen. Jede größere Stadt hatte ihr berüchtigtes Viertel, um das die Polizei einen Bogen machte. Wo überall hätte Cervantes sie suchen sollen? In Valencia um den Olivenmarkt, in den Percheles von Malaga, am Fohlenbrunnen von Cordoba, in Granada bei der Rotunde? Das war aussichtslos. Noch aussichtsloser war, sie zurückzugewinnen, wenn er sie fand. Am aussichtslosesten, mit ihr zu leben.
Er hatte allmählich Übung darin, die Zähne zusammenzubeißen. Es war sogar nicht ohne Humor, so allein dazustehen mit einem Wickelkind im Arm. Er fand eine Amme. Isabella gedieh. Als aber die Bäuerin merkte, daß dieser Hidalgo an seinem Töchterchen hing, begann sie unverschämt zu fordern.
Andrea bot sich an. Sie werde das Kind mit der Flasche großziehen. Es lägen von ihrer eigenen Kleinen her noch Kleidchen und Wäsche im Schrank.
Aber das wollte er nicht. Er liebte die arme Andrea, und Vorurteile waren ihm fern, und ihren Tafft hatte er auch versetzt. Aber dies wollte er nicht. Andrea begriff, unter Tränen, die immer locker bei ihr saßen.
Da war, sehr gelegen, Nachricht aus Toledo gekommen. Die Mutter schrieb. „Bring das Kleine zu mir her, mein Miguel,” schrieb sie, „es wird mich an die vergangene Zeit erinnern, da Du selber klein warst und ungebärdig. Auch aus einem andern Grunde wäre es gut, wenn Du kämest. Es könnte von günstiger Wichtigkeit für Dein Leben sein.”
Das klang verheißend. Eine „günstige Wichtigkeit” konnte er wahrlich gebrauchen. Die „Galatea” hatte geringen Erfolg gehabt, gerade in diesem Jahr kaufte das Publikum wieder mehr Ritterbücher als Schäferromane. Der Gönner Colonna hatte sich auch als ziemlich schäbig erwiesen. Miguels Geld ging zu Ende.
Er hatte sich mit seinem Letzten ein Reittier gemietet, hatte in den linken Sattelkorb Isabella, in den rechten einen Schlauch mit Milch und einen mit Wein, dazu Brot und Käse gepackt, und war um vier Uhr morgens von Madrid aufgebrochen.
Da war nun die Kreuzung. Rechts ging es ab nach Toledo. Man konnte den schlechten Weg weithin verfolgen über die schattenlose, gewellte Fläche hinweg. Sieben, acht Stunden Reise lagen noch vor Cervantes. Es war, um mutlos zu werden.
An der Kreuzung stand eine einzelne, vom Sturm schräg gekämmte Pinie, die einen dünnen Schatten warf. Er machte Halt und nahm behutsam die Tragkörbe herunter. Das befreite Maultier machte sich sogleich daran, die verbrannten Gräser zu rupfen. Die staubigen Troddeln und Bänder fielen dem Tier über seine dunklen, feurig schielenden Augen.
Cervantes nahm Isabella auf den Schoß, stützte ihr Köpfchen mit seinem Handstumpf und gab ihr Milch. In langen, ruhigen Zügen trank das Kind. Es hatte ein merkwürdig fertiges Gesicht, das aber nicht hübsch zu heißen war. Allzu hart stieß das mütterliche Element mit dem väterlichen zusammen. Die runden, grünen Augen, die sehr nahe neben dem kräftig gebogenen Näschen lagen, gaben dem kleinen Gesicht etwas Vogelhaftes, das beinahe unheimlich wirkte.
Isabella schmatzte befriedigt, als sie getrunken hatte. Cervantes legte sie in ihr Kissen zurück und bettete sie an die kühlste Stelle. Dann hing er dem Maultier den Futtersack um.
Er wollte sich auch selber ein wenig stärken. Aber er war zu müde dazu. Er setzte sich nieder und lehnte den Kopf an den rissigen Stamm.
Es war eine harte und starre Landschaft, über die sein entfremdeter Blick ging. Fahl, eintönig alles, von einem gnadenlosen Sommer die Erde zerrissen und zerklüftet. Hier sengte die Sonne wie über afrikanischen Steppen, hier raste Eissturm fünf Monate lang. Kein freundlicher Übergang, nichts von Milde und Güte, nur ein Äußerstes kannte dies Land. Selten, geduckt, ein Lehmziegelhaus, selten ein nährendes Feld, im Juni schon abgeerntet. Piniengruppen manchmal, mit schiefliegenden niedrigen Stämmchen. Dürre Flecken am Boden von Spartkraut, Salzkraut und Glaskraut, wie Flecken einer zehrenden Krankheit.
Dies war Kastiliens verbranntes Herz. Kastilien war von Spanien das Innerste. Vielleicht war der Kreuzweg hier zwischen Toledo, Aranjuez und Madrid genau Spaniens Mitte. Um Spanien aber kreiste die Welt. Er saß hier mit seinem Kinde im unerbittlichen Herzen der Welt.
Der glühende Mittag drückte ihm die Lider zu.
Unbestimmtes, gleichmäßiges Geräusch drang in seinen Halbschlaf, ein leierndes Summen, das sich zu nähern schien. Hundert Schritte entfernt, nach Aranjuez zu, hob sich die Straße ein wenig und ging über einen staubigen Hügel. Von dorther kam es. Und schon zeigte sich auch, herübertauchend über die Welle, eine farbige Spitze.
Es war auf hohem Grauschimmel ein Wappenherold, der das rotgelbe Banner trug. Über sein schönes Gesicht unter der hängenden Samtkappe lief in glänzenden Strömen der Schweiß. Von seinen Schultern hing steif und viereckig ein bunter Brokatüberhang, darauf in schräger Anordnung zweimal der Löwe von Leon und zweimal der kastilianische Turm golden hervortraten. Er hielt sein Pferd im langsamsten Schritt. Denn hinter ihm kamen nur Fußgänger. Mönche zuerst, sechs an der Zahl, barfuß und barhaupt, jeder das Kreuz in den Händen, im Singsang ausharrend auf ihrem glühenden Wege. Und dann kam die Sänfte.
Sie war einfach ein lederbezogener Tragstuhl mit einer leinenen Plane darüber als Schutz; vier Diener trugen sie. Mönche schritten auch wieder zu ihren Seiten, ihre betenden Gestalten hielten ein wenig den Staub ab von dem, der hier reiste. Ablösungsbereites Gesinde folgte. Ein Pikett von Gewaffneten machte den Schluß.
Cervantes hatte sich auf ein Knie niedergelassen und erwartete so den Zug. Deutlich sah er, mit welcher Vorsicht die tragenden Diener verfuhren: behutsam, immer den Blick auf dem löcherigen Boden, setzten sie ihre Füße und preßten die Lippen zusammen vor Konzentration.
Bei der Kreuzung, unmittelbar vor Cervantes, hielten sie an. Ohne daß ein Kommando zu hören war, vielleicht auf ein Zeichen des Herolds, setzten sie sacht den Tragstuhl zu Boden, traten zurück und ließen der Ablösung ihren Platz. Die Litanei der Barfüßer dauerte fort. Der auf dem Tragstuhl schlummerte und erwachte nicht.
Cervantes hätte nicht gedacht, daß er ein Greis sei. Der Bart, den er ziemlich lang trug, war schon ganz weiß, krankhaft entfärbt das Gesicht, die geschlossenen Lider wie vom Weinen gerötet. Sein linkes Bein, in schwarzem Strumpf und Schuh, hing herunter, das rechte aber, das wohl gichtkrank war, lag dick umwickelt gerade vor ihm ausgestreckt. Sonst war er an diesem brennheißen Reisetag angekleidet wie für den Staatsrat, schwarz war die Seidenmantille über dem schwarzen Samtrock, schwarz der sehr hohe, randlose Zylinder aus geripptem Filz, der gerade und steif auf dem wächsernen Haupte saß. So wurde Der, dessen Antlitz er oft vergeblich gesucht hatte, schlafend vor Miguel Cervantes hingestellt.
Der Aufenthalt dauerte nur einen Augenblick. Schon hoben, mit einer gleichmäßigen, festen und sanften Bewegung, vier neue Träger die Sänfte. Das Pferd des Wappenherolds griff langsam aus. Ein leises Scheppern und Klirren ward hörbar, als am Ende die Gewaffneten vorüberschritten. Auf den knienden Landfahrer unter dem Baum hatte niemand geachtet.
Da aber schrie Isabella. Sie hatte in ihrem Kissen den Kopf etwas aufgerichtet und stieß ein kreischendes Gejammer aus. Sie schrie sonst beinahe niemals. Dies war ein Anfall. Schon war das kleine Gesicht rot angelaufen, sie riß den Mund auf, man sah ihren rosigen Rachen.
Er wollte sie aufnehmen, sie beschwichtigen. Aber ihr ganzer kleiner Körper bäumte sich und machte sich steif, mit einer Kraft die erschreckend war. Wie außer sich, völlig verzweifelt, brüllte sie hinter dem Königszug her, der sich in einer weißen Staubwolke betend und waffenklirrend entfernte.
Er sollte verheiratet werden. Das war die „günstige Wichtigkeit”.
Der Vater, der seine verschämte Heilkunst weitertrieb, hatte zweimal einem Geistlichen zur Ader gelassen, der aus einem unfernen Dorfe der Mancha nach Toledo gekommen war. Der schlagflüssige Herr fühlte sich wirklich erleichtert und war voller Lob. Das nächste Mal kam er als guter Bekannter und brachte, außer Wein und zwei Hühnern, auch seine junge Nichte mit, ein noch nicht großjähriges Bauernfräulein, das auf den Namen Catalina de Salazar y Palacios hörte. Sie war ein großes, etwas plump gewachsenes Mädchen, über dessen regelmäßigem und leerem Gesicht eine schwere Fülle von glänzend schwarzem Haar lastete. Ihr Vater war tot, die Mutter verließ niemals ihr Dorf Esquivias.
Auch sie selber war zum ersten Mal in der Stadt und sah mit einem etwas dumpfen Erstaunen die maurisch verschlungene Gassenwelt, die Paläste, Türme, Kirchen und Brücken der alten Residenz. Mit dem Onkel saß sie am Abend in dem saubern kleinen Innenhof bei den Eltern Cervantes. Die wohnten hier weit besser als in Madrid, in einem Häuschen am „Gemüsemarkt”, gleich hinter der Kathedrale. Die Mieten waren billig in dieser tausendjährigen Stadt gotischer, arabischer, kastilischer Herrscher, die sich langsam schon zu entvölkern begann. Auch hatte der Vater mit seinen Kuren mehrmals Glück gehabt. Er hielt sich jetzt für einen großen Arzt. Über die Krankheit jedoch, an der er selber litt, eine rasch ansteigende Wassersucht, schien er sich nicht im Klaren zu sein. Mit kreischender Stimme verkündete er große Zukunftspläne.
Er war es auch, der dem Pfarrer von Esquivias und dem Fräulein von seinen Söhnen erzählte, von dem braven Offizier Rodrigo, der jetzt unter dem Herzog von Parma gegen die flandrischen Ketzer focht, vor allem aber von seinem Ältesten. Dessen Kriegstaten und heroische Leiden darzustellen, war er von seinen Bittgängen her geübt; mit Vergnügen sah er die gläubige Bewunderung seiner Zuhörer. Besonders Fräulein Catalina lauschte mit offenem Mund. Die Welt ihrer Lieblingsbücher schien ihr endlich fleischliche Gestalt zu gewinnen. Denn vom berühmten „Amadis von Gallien” über die Geschichte seines Sohnes Esplandian, Kaisers von Konstantinopel, bis zu der seiner Enkel, Urenkel und Urgroßneffen, hatte sie diese ganze Ritterliteratur verschlungen und in ihrem armen Kopf einen Traumbau unsäglicher Wunder, übermenschlicher Tapferkeit und Keuschheit aufgerichtet, dem in ihrem täglichen Dorfverkehr wahrhaftig garnichts entsprach.
Der alte Cervantes hatte wahrscheinlich ganz ohne Absicht ins Blaue hinein renommiert. Die schweigsame Mutter jedoch dachte weiter, als sie in den Augen des Landfräuleins ein staunendes Interesse an ihrem Ältesten aufflackern und wachsen sah.
Sie nahm den geistlichen Herrn ein wenig beiseite. Es war offenbar: eine Heirat lag nicht aus der Möglichkeit. Vielleicht sogar hatte man vage an dergleichen gedacht, als man Dona Catalina zum ersten Mal in die Stadt reisen ließ. Schließlich, sie hatte das Alter, und, wie jedermann sehen konnte, alle Vorzüge, um einen Mann zu beglücken. Die Familie war gut, ausgezeichnet sogar, bei den Salazars wie bei den Palacios Generationen weit kein Tropfen maurisches oder Judenblut. — Dies war schätzbar, gewiß, Miguels fromme Mutter war die Letzte, es nicht anzuerkennen. Aber wie es denn im Greifbaren stand? Helden pflegen in dieser Welt nicht reich zu werden. Auch ihr Sohn war nicht reich. Die Verdienste und Vorzüge, die er mitbrachte — seine glorreiche Verstümmelung gehörte dazu — wollten aufgewogen sein. Ein Held hat Anspruch auf etwas Wohlstand und Wohlbehagen. — Auch in diesem Punkt konnte der Onkel beruhigen. Doña Catalina war das einzige Kind, war Erbin eines hübschen Grundstücks mit anständigem Haus, Obst- und Olivengarten, drei Joch Acker dazu, sehr gutem Hausrat, 18 Ziegen auch, 45 Hennen und einem Hahn. Es war alles vorhanden, um glücklich zu sein. Wenn man den Gesamtwert des Erbguts bescheiden anschlug, tausend Golddukaten erreichte er immer.
Miguel Cervantes war mürbe. Er hatte sich vor dem Ausgefragtwerden gefürchtet, als er kam, und saß nun dankbar und müde in dem kleinen Hof, unweit der Mutter, die sein Kind neben sich hatte. Mit keinem Wort hatte sie nach Ana Franca gefragt, mit keinem Wort übrigens auch behauptet, daß das Enkelkind ihr gefalle. Mit einer sachlichen Sorgsamkeit hatte sie sich gleich seiner angenommen. Eine Nachbarsfrau hatte ihr eine Wiege geborgt, die hielt sie mit dem Fuß in sanfter Bewegung.
Sie begann zu reden. Miguel hörte zu. Er war mürbe. Wenn dieses Mädchen nur kein Abscheu war und kein Teufel, würde er unterkriechen. Es war ja doch alles umsonst. Während die Mutter von Haus und Hausrat erzählte, gedachte er seines „Sangs der Kalliope”, dieser verzweifelten Huldigung vor der gesamten Literatur, dieser gunstheischenden Erniedrigung in Bausch und Bogen. Gar nichts hatte das alles genützt. Man wollte ihn nicht. Er war am Ende. Das Dorf in der Mancha, schweigsame Bauern, die von Madrider Erfolg oder Mißerfolg nichts wußten, Ölgarten und Acker, eine einfache Frau als Gefährtin, es verlockte ihn fast. Vielleicht ließ sie ihn Ana Franca vergessen, die ihm immer noch schlimm im Blute saß. Er sagte nicht Nein.
Er ritt hinüber, sich vorzustellen. Als er ankam, ging es gegen den Abend, und das kahle Esquivias präsentierte sich leidlich im sinkenden Licht. Er fand alles etwas bescheidener, als es ihm dargestellt worden; aber Catalina mißfiel ihm nicht. Nach den Erfahrungen, die er gemacht, übte ihre verschwärmte und etwas törichte Unschuld eine freundliche Anziehung auf ihn aus.
Sie von ihrer Seite sah ihn wohl nicht recht. Er hätte noch schmächtiger und weniger glänzend sein können, er war der tapfere, edle Weltfahrer für sie, hervorgestiegen aus einem ihrer Romane. Aber ein gleiches Vorurteil umschleierte keineswegs die Augen der Mutter, Señora de Palacios. Zwischen ihr und Miguel herrschte Abneigung vom ersten Blick an. Sie war eine große, stattliche Frau seines eigenen Alters, von steifer Haltung. Man sah ihr die Kirchenfrömmigkeit an, und ihr schmaler Mund mit den nach innen gezogenen Lippen verriet Habgier.
Die Salazars und die Palacios waren Landedelleute der geringsten Sorte, von den Bauern kaum durch Anderes unterschieden als durch ihren Dünkel. Drei Knechte und eine Magd saßen an einem zweiten Tisch. Nach dem Gebet erst erschien eilig schnaufend auch der geistliche Onkel und begrüßte gutmütig den Freier.
Stockend ging das Gespräch. Miguel fühlte, daß er hätte erzählen sollen, aber unter dem abschätzenden Blick der Hausfrau verging ihm das Wort. Nur einmal, zu seinem eigenen Erstaunen, tauchte er weit in seine Erinnerung zurück und berichtete vom sanften Kardinal Aquaviva und vom Kanonikus Fumagalli. Das tat er, um den Oheim zu unterhalten. Er war glücklich, als Hammelsuppe, Käse und Dankgebet hinter ihm lagen.
Man ließ ihn mit Catalina ein wenig allein. Mit einer Kopfbewegung von geheimnisvollem Stolz winkte sie ihn nach der Ecke, wo ihre Schätze aufgereiht standen, dreißig oder vierzig zerlesene Bände, alle die Amadis, Felixmarte und Clarian, deren Turnieren und Drachensiegen er Catalinas keimende Neigung verdankte.
Zwei Wochen später wurde der Besuch erwidert. Señora de Palacios erschien mit Tochter und geistlichem Bruder in dem Häuschen am Gemüsemarkt.
Der alte Cervantes war bettlägerig. Mit großer Mühe erhob er sich, geschwollenen Leibes und schon gezeichnet im abgemagerten Gesicht, und begrüßte schreiend die Gäste. Aber bald entstand Unfriede, ja Skandal. Denn Miguel Cervantes erschien mit der kleinen Isabella im Arm, die seine Mutter weislich hatte verbergen wollen, und erklärte unmißverständlich, dieses Töchterchen bringe er mit in die Ehe.
Frau Palacios schien augenblicks aufbrechen zu wollen. Wahrscheinlich war ihr der Vorwand willkommen. Mit Anstrengung beschwichtigte man sie. Ihr Bruder, seinem Stande zum Trotz, nahm die Überraschung weit menschenfreundlicher auf. Catalina selbst war errötet. Wortlos beugte sie sich über das grüngeäugte Geschöpf. Wer mochte sagen, was hinter ihrer unbeschriebenen Stirne vorging. Womöglich hielt sie das kleine, unheimliche Mädchen für das Kind irgendeiner Fee oder Prinzessin.
Man schied in bedeutendem Unbehagen, und nichts war beschlossen. Die Mutter schüttelte den Kopf. Sie verstand ihren Sohn nicht. Was hinderte denn, daß sie selber ihr Enkelkind großzog? Die Zeit war leider nahe, wo sie für niemand mehr zu sorgen haben würde.
Aber Miguel blieb eigensinnig. Ohne Isabella keine Ehe, es war darüber kein Wort zu verlieren. Er hatte nun einmal die Frau geliebt, die so unwürdig davon gegangen war. Was ihm blieb von ihr, dies lautlose unschöne Geschöpf, wollte er unter seinen Augen bewahren.
Er kehrte zurück nach Madrid. Nachricht würde ihn bei Andrea erreichen. Er hatte noch viel zu ordnen in Madrid!
Er hatte garnichts zu ordnen. Er hatte auch nicht zu leben. Er mied die „Lügenbank”. Nach dem Mißerfolg seines Buches scheute er den Umgang mit den Kollegen. Es ist ein schwer erträgliches Gefühl, sich umsonst gedemütigt zu haben. Das „Wappen von Leon” betrat er nie. In noch bescheidenerer Schenke saß er manchmal mit einem Violinspieler namens Guzman zusammen oder mit einem Theatermaler, der Covarubbias hieß. Eine feste Wohnung besaß er nicht, er nächtigte, wo der Zufall es gab. Als Kopist, als Briefträger zwischen Verliebten, als Stellenvermittler, verdiente sich der Held von Lepanto und Algier manchmal ein paar Realen.
Dann, Ende November, kam ein Brief von der Mutter. Es war alles geregelt. Catalina war fest geblieben. Am zweiten Sonntag im Advent sollte die Hochzeit stattfinden.
Auf einem Esel ritt er die vereiste Straße nach Toledo. Ohne Umweg reiste er diesmal. Da ihm das kleine Tier leid tat, stieg er bald ab und zog es am Halfter hinter sich her.
In der kahlen, kleinen Kirche von Esquivias gab der Pfarrer und Oheim die Verlobten zusammen. Der Dezembersturm pfiff durch die Tür, die nicht schloß, und es war so dunkel, daß vom Altarbild, das eine Himmelfahrt darstellte, nichts erkennbar blieb als die durchleuchteten Wolken zu Häupten der Jungfrau.
Niemand sonst war zugegen von beiden Familien. Miguels Mutter nicht, weil sie sich nicht getraute, ihren schwerkranken Mann allein zu lassen. Die Brautmutter nicht aus Protest. Wenn sie die hundert Schritte zur Kirche hinüber sich sparte, dann mußte es jedermann deutlich sein, wie sehr diese Heirat gegen ihren Verstand und Willen geschah. Aber es kümmerte sich niemand darum, man war nicht neugierig in den Dörfern der Mancha.
Als Trauzeugen fungierten drei ernste Bauern, von denen Cervantes nur einen kannte. In den Bänken des Hintergrunds knieten ein paar alte Weiber, das war seine Hochzeitsgemeinde.
Die Braut schlug ihren obersten Rock über den Kopf, als man die Kirche verließ. Den halben Weg gingen sie beide rückwärts, zum Schutz gegen den tobenden Sturm. Zu Hause gab es kein Mahl. Frau Palacios hatte sich eingeschlossen. Miguel und Catalina versorgten das Kind, nahmen von einem kargen Imbiß, der dastand, und mochten einander gehören.
Es stand nun ein Feind auf gegen Miguel Cervantes, furchtbarer als fanatische Türken und blutlüsterne Renegaten. Ein laut- und gestaltloser Feind, gegen den keine Waffe zur Hand war: Langeweile.
Er fand sie in den Armen Catalinas. In ihrer ersten Umarmung erschrak er. Denn wenn dieses Band nicht geknüpft werden konnte, wie würde ein Leben möglich sein, darin Einer so völlig auf den Andern verwiesen war. Jetzt an ihrer Brust erst kam es ihm völlig zu Bewußtsein: dies große Mädchen, von dem er nichts wußte, als daß sie kindische Bücher las, war von nun an seine ganze Welt. Mit angstvoller Zärtlichkeit, mit allen wissenden Künsten, suchte er den Weg zu ihrer Empfindung. Aber hier lag vermutlich der Irrtum. Der Landfahrer, der durch viele Abenteuer gegangen, dessen Sinne verwöhnt waren, begriff nicht die einfache, ganz unerschlossene Natur dieses Landmädchens, das halb so alt war wie er selbst. Er begann zu fragen, zögernd und tastend, er klagte sich an. Sie blieb freundlich. Sie konnte nicht antworten. Und als diese Kämpfe vorüber waren, von denen wahrscheinlich nur er allein wußte, blieb eben Langeweile zurück, Langeweile Leibes und der Seele.
Er fand sie überall. Langeweile, formlos brauende, allgegenwärtige, wurde sein Dasein. Er kleidete sich am Morgen an, und eigentlich war nun sein Tagwerk schon aus. Er schaute auf die Dorfstraße hinaus, auf der fast niemals ein Mensch sich zeigte. Ging man hier zweihundert Schritte weiter, so stand man am Ende, und draußen war es die Mancha. Endloses, flaches, kaum gewelltes Land, darüber eisiger Sturm blies. Der Blick hing sich an acht oder zehn Mühlen, die den Horizont umstellten, runde Windmühlen mit drehbarem, spitzem Dach, deren stillgelegte Flügel in den Scharnieren ächzten.
Hatte man das einmal gesehen, so kannte man es für immer. Und auch die Dorfstraße kannte man für immer, ihre schmutzigen Rinnen im verharschenden Schnee, die dieselben sein würden in allen künftigen Wintern, ihre weißen, niedrigen Hütten ohne Fenster.
Nur das Haus der Salazar y Palacios, in dem er wohnte, hatte ein Fenster nach vorn. Es hatte auch eine Art Giebel und ein Hoftor aus siebartig geschnitztem Holz, neben dem rechts und links vereiste Maiskolben niederhingen. Dafür eben waren sie Hidalgos. Auch er selber war ein Hidalgo und Doña Catalinas Mann. Er durfte nichts arbeiten im Hause. Dafür waren die Dienstleute da. Aber hätte er ihnen Aufträge erteilt, sie wären schwerlich befolgt worden. Ihre Brotherrin war Frau de Palacios. Es war ein Irrtum gewesen zu meinen, er werde etwas besitzen. Vielleicht hätte er darauf bestehen sollen, vor einem Notar diese Fragen zu regeln. Er hatte nicht darauf bestanden. Er war nur sterbensmüde gewesen und darein ergeben, unterzukriechen. Dafür saß er jetzt am Hidalgofenster und wußte, daß aus der Hütte links gegenüber um zehn Uhr die Alte herauskommen würde, um fünf Häuser entfernt sich ihr Gerstenbrot abzuholen, daß aber die Hütte rechts immer verschlossen blieb bis zur Stunde des abendlichen Kirchgangs.
Die Frauen seines eigenen Hauses hingegen gingen täglich zweimal zur Kirche. Einige Male begleitete er sie, dann ließ er’s, aus Scham und aus Langeweile. Der Reverendo Palacios, nachsichtiger als seine Schwester, nahm ihm dies Erlahmen keineswegs übel. „Ein Mann wie Ihr, Neffe, hat das nicht nötig vor Gott”, sagte er mit Zuvorkommenheit. Und es war so weit mit Cervantes, daß ihm dies Wort eines unwissenden Dorfpfarrers balsamisch ins Herz fiel.
Ein Mann wie Ihr! Als ein Unnützer und Geduldeter saß er in der gemeinsamen Wohnstube herum, die allein geheizt war. Frau Palacios ging ab und zu, wachte über die Küche und über das Kleinvieh. Ihre trockene Stimme schalt draußen mit dem Gesinde. Dann wieder nahm sie beim Ofen Platz, spann oder strickte wie Catalina. Und beide sorgten sie für das Kind.
Denn dies war Cervantes’ Trost, und er hatte es nicht zu hoffen gewagt: Mutter und Tochter liebten die kleine, häßliche Isabella. Es war für beide wie eine gleichzeitige Mutterschaft, Hauptinhalt ihrer Gespräche. Er, der diese grünäugige Mitgift ins Haus gebracht, war dabei ausgeschaltet, daß er der Vater war, beinahe vergessen. Selten einmal, schüchtern, trat er an die Wiege heran und versuchte es mit den ungeschickten Liebkosungen und Schmeichelworten der Männer. Dann war es ihm, als ob ihn sein Kind mit Abneigung betrachte. Vermutlich war dem Geschöpfchen nur sein bärtiges Angesicht ungewohnt; er aber sah in Ana Francas grünen Augen Ana Francas Mißachtung und Zorn. Ja, auch die hatte er nicht zu gewinnen vermocht, das Sinnenwesen so wenig wie die unerschlossene Catalina.
Denn von ihrer Neigung, die sie so hartnäckig auf dieser Ehe hatte bestehen lassen, war nicht mehr viel übrig. Sie hielt auch Miguel nicht mehr für einen zweiten Florimon oder Olivante. Es war ihr sogar nur oberflächlich ins Bewußtsein gedrungen, daß sie nun eine verheiratete Frau sei. Es war ja auch so wenig verändert! Sie saß unter der Obhut der Mutter wie ehedem. Der schmächtige Mann mit der einen Hand, dessen Lieblingsplatz das Fenster war, vor dem es nichts zu sehen gab, störte nicht sehr.
Niemand nötigte ihn, zu Hause zu bleiben. Aber wohin hätte er gehen sollen. Die Gespräche mit dem geistlichen Herrn waren bald erschöpft; immer früher kehrte Miguel von seinen Besuchen dort heim. Um fünf Uhr wurde es Nacht. Ein einziges Öllämpchen war angezündet, außer dem, das vor dem Marienbild brannte.
Er suchte das Wirtshaus auf. Es war eines von der bescheidensten Sorte, zu trinken gab es nichts als einen mäßigen Wein aus der Gegend. Der Wirt aber, ein ruhig verständiger Mann, unterschied sich angenehm von jenen Beutelschneidern an den großen Straßen, deren tückische Geldgier die Reisenden fürchteten. Von seinem Schlage waren auch die Bauern von Esquivias, die sich um seinen Tisch her versammelten. Cervantes kam es mit einem Mal zum Bewußtsein, daß er manche Stände in Spanien gekannt hatte: Soldaten, Beamte, Priester, Gelehrte, ein wenig den Hof und den Adel, aber nichts vom spanischen Volk. Das hatte keine Stimme. Man trat es wie die Erde, über die es gebückt stand.
Er hatte in anderen Ländern Bauersleute gesehen. So aber waren sie nicht gewesen wie diese, die im dunkeln Kittel, gegürtet mit einem Strick, auf ihren ungegerbten Schuhen hier zur niedrigen Türe hereintraten. So felsig umrissene Gesichter hatten sie nicht gehabt, auch diese große Haltung von Freien nicht, nicht diesen Klang der Wahrheit auf der wenig gelenken Zunge.
Sein Erscheinen erweckte erst Unbehagen. Nie war das geschehen. Ein „Sohn von jemand Rechtem” setzte sich nicht unter Bauern. Einige verspürten Mißtrauen, alle warteten ab, mit einer zurückhaltenden, ernsten Höflichkeit. Cervantes kam wieder, saß unter ihnen, trank seinen Becher. Keiner deutete an, er ahne auch nur, was ihn hertrieb an ihren Weintisch. Das Mißtrauen schwand. Sie sprachen wie je von ihren Geschäften, mit langen Pausen dazwischen. Vom schlechten Markt, davon, daß in den Städten ein Hühnerei mit vier Maravedis bezahlt werde, während ihnen selbst nicht mehr verblieb als ein halber. Nein, es blieb ihnen nichts! Von dem Goldstrom, der sich durch Spanien ergoß, netzte sie nicht der letzte Tropfen. Niemand dachte für sie, sie waren verlacht und verachtet. Einst war es anders gewesen, zur Zeit der Großväter. Damals war der Bauer frei, erwählte selbst seine Bürgermeister, ihm gehörte das Land, und es gab ein Recht für ihn. Heute gehörten drei Viertel der Mancha zwei vornehmen Herzögen, die um den König lebten. Ihre Beamten und Einnehmer preßten die Bauernschaft. Wer dem Namen nach noch ein Gütchen besaß, der erlag unter Steuern, Abgaben, Zinsen.
Dies alles vernahm Cervantes. Längst sprachen sie vor ihm wie vor Ihresgleichen. Er blickte ihnen auf die gemeißelten Brauen und dachte, daß ein wahrhaft adeliger Adel, ein Fürst mit freiem, unverstelltem Gemüt, aus diesem Volk das herrlichste der Erde hätte bilden können.
Sie wußten jetzt gut Bescheid über ihn, hatten gehört, was sein Handstumpf bedeutete, und Einiges noch dazu. Es gefiel ihnen, daß er nicht prahlte. Ihm tat es wohl, unter diesen zu sitzen. Nie trank er einen zweiten Becher, aus Sorge, daheim um Taschengeld bitten zu müssen. Das wenigstens wollte er nicht. Er erlangte an diesem ungestrichenen Tisch ein wenig zurück von Freude und Sicherheit. Hatte man ihn denn nicht immer gern gehabt, wenn er irgendwo in der Welt unter wirklichen Männern saß. Da gehörte er hin.
Übrigens waren ein paar in der Gesellschaft, die sich von der ernsten, gemessenen Mehrzahl unterhaltlich abhoben. Gutmütige, behagliche Burschen, obwohl von den ärmsten, Spaßmacher, Geschichtenerzähler. Es war nicht vom feinsten Geist, was sie vorbrachten. Aber lieber war es ihm immer noch als der Kulissen- und Poetenklatsch im „Wappen von Leon”.
Lieber auch, er gestand es sich ein, als die Unterhaltungen, die ihn zu Hause erwarteten.
Seit Jahren pflegte Frau Palacios ihrer Tochter zweimal wöchentlich vorzulesen, und zwar unveränderlich aus dem selben Buch, dem Hausschatz, auf den sie schwur: aus der „Vollkommenen Ehefrau” des Augustiners Luis de Leon. Diese Gewohnheit, die mit der Hochzeit eine Unterbrechung erfahren, hatte sie neuerdings wieder aufgenommen, so als wollte sie dartun, daß sie diese Ehe als bedeutungslos und Catalina noch immer als ein bildungsbedürftiges junges Mädchen betrachte. Übrigens war das Buch, das in Briefform abgefaßt war, wirklich vortrefflich, voller Kenntnis des weiblichen Herzens und jeden häuslichen Geschäfts. Aber es zeigte sich leider, daß Frau Palacios immer die gleichen Kapitel bevorzugte. Auf gewisse Kernsätze des Augustiners kam es ihr an, mit denen sie jedesmal schloß: Warnungen vor auffallendem Putz und übermäßigem Schminken, vor Liebeskorrespondenz, heimlich im Busen verwahrten Gedichtchen, vor allem aber und immer wieder vor dem hochbedenklichen Lesen der Ritterbücher.
Das fand sie vielleicht jetzt besonders am Platz, nachdem diese Narrheit ihr einen so fragwürdigen Schwiegersohn ins Haus geführt hatte.
Aber hier endete ihr Einfluß. Catalina lebte und webte weiter in ihrer Welt. Die Reihe ihrer Ritterromane verlängerte sich. Jeden der fliegenden Händler, die mit ihren Eselkarren die Mancha durchzogen, fragte sie gierig danach, und beinahe jeder zog unter Stoffen und Schals irgend ein neues derartiges Produkt hervor.
Wieder einmal, an einem Sonntag im Frühjahr, fand Cervantes sie über einem jüngst erstandenen Band. Dieser sei nun, erklärte sie mit brennenden Backen, seit langer Zeit der schönste und glänzendste. Er habe aber auch den Lieblingsenkelsohn des großen Palmerin von Oliva zum Helden, und sie müsse gestehen, daß vor seinen Taten und seinem Edelsinn selbst die seines Ahnherrn verblaßten.
Miguel nahm ihr schweigend das Buch aus der Hand. Er wußte längst, wie ernst sie das alles nahm. Hier ging es nicht um spielerische Unterhaltung. Sie hielt diese ganze Welt für genau so bewiesen wie die, die sie mit Händen griff. Diese götterähnlichen Ritter in goldenem Harnisch, diese unsäglich holden Prinzessinnen, keusch wie Eis, sie lebten wirklich für Catalina. Sie lebten für hunderttausend Catalinas im Lande. Dies Gefasel von Riesen und Drachen, Schutzgeistern, Hexenmeistern und gütigen Feen, von Flügelrossen, Flügellöwen, Palästen aus Kristall, schwimmenden Inseln und brennenden Seen, war ihrer aller tägliche Nahrung. Die Phantasie eines ganzen Volkes griff nach dem Unmöglichen.
Cervantes blätterte in dem Band. Ein Brodem von Irrsinn schlug ihm entgegen.
„Das gefällt Dir wirklich, Catalina?” fragte er endlich. „Du siehst nicht, daß einer von diesen Schmierern immer vom vorigen abschreibt und nur versucht, ihn durch neuen Aberwitz zu übertrumpfen?”
„Du bist bloß neidisch!”
„Warum? Meinst Du, ich brächte es nicht fertig, dergleichen zusammenzuphantasieren?” Und er dachte flüchtig an seine „Galatea”, dies vergleichsweise harmlose Modeprodukt.
Aber er hatte seine Frau nicht verstanden. Sie meinte nicht Neid auf literarischen Ruhm. Davon wußte sie nichts. Sie meinte den Neid auf Taten. Denn Buch und Tat waren dasselbe für sie.
„Neidisch, jawohl! Was ist Deine Türkenschlacht gegen Palmeranths Kampf mit den fünfzehn dreiäugigen Riesen! Das ist Heldenmut!”
„Das ist Heldenmut?” rief Cervantes zwischen Lachen und Zorn. „Ich werde Dir einmal zeigen, was Heldenmut ist!”
Er wußte, wovon er sprach. Es war ein kaum noch umrissener Plan. In diesem Augenblick kam er zur Reife.
Aus der kleinen Bibliothek, die der Pfarrer Palacios besaß, hatte er sich vor Wochen eine Anthologie antiker Klassiker ausgeliehen. Hier stieß er auf einen gewissen Bericht des Historikers Appian. Der griechische Text war in schlechtes Latein übersetzt, aber kein Mangel der Darstellung war im Stande, den Glanz dieser Tatsachen zu verdunkeln.
Es handelte sich um jene denkwürdige Belagerung der Feste Numantia. Zehn Jahre lang haben dreitausend todesmutige Spanier der dreißigfachen römischen Übermacht widerstanden und bereiten schließlich, da alles verloren ist, sich und ihrer Stadt selber den Untergang...
Cervantes hatte nichts vorzubereiten. An einem einzigen Tag, auf einem weiten Gang durch die Mancha, die spärlich grünte, schoß ihm das ganze Gewebe seiner Tragödie zusammen.
Vom nächsten Morgen an saß er hinten im Gärtchen vor einem wackeligen Tisch, und die Dienstleute sahen mit Verwunderung den Gatten des Fräuleins, der da ohne aufzublicken, wie in einer stillen Raserei, Seite auf Seite vollschrieb. Hühner pickten und gackelten unter seinen Füßen. Ein Ziegenbock stellte sich vor ihn hin und sah ihn aus gelben Teufelsaugen lange starr an. Frau Palacios kam schlüsselrasselnd durch den Garten, machte Halt, zuckte die Achseln und ging ins Haus zurück.
Neben ihm lag aufgeschlagen der Text des Appian. Andere Hilfsmittel besaß er nicht. Er brauchte auch keine. Er kannte die Gesichter seiner numantinischen Helden. Es waren einfach die felsigen Gesichter der Bauern von Esquivias. Mochten siebzehn Jahrhunderte vergangen sein, mochte lateinisches, gotisches, maurisches Blut durch das ihre geflutet sein, sie waren wie einst! Dieses ernste und harte Land unter unerbittlicher Sonne erzeugte ewig das gleiche stolze und freie Volk. Er aber war nun sein Mund. Dies kam aus unterirdischen Quellen. Es brach mit solcher Gewalt hervor, daß die Hand kaum zu folgen vermochte. Es war Dichtung, was da entstand. Er war ein Dichter. Zum ersten Mal ganz.
„Heute also wirst Du sehen, was Heldenmut ist,” sprach er lächelnd zu Catalina, als er sich zum Vorlesen bereit machte. Zu dritt saßen sie um ihn im Garten, Catalina, die Mutter und der geistliche Oheim. Es war an einem warmen Nachmittag, schon gegen Abend.
Er begann und hatte augenblicklich vergessen, wo und vor wem er las. Er las ausgezeichnet. Seine Stimme, nicht tief zwar, doch klingend und von männlicher Wärme, ließ den Gedanken klar und energisch hervortreten.
Er las die furchtbaren Endkämpfe der Belagerung, zeigte das Lager, malte die Stadt. Die seit zehn Jahren Eingeschlossenen flehen die Götter an. Ihre Priester wollen das Opfer darbringen, doch die Oberen verschmähen die Gabe. Der Erdboden klafft auseinander, ein Dämon steigt auf, streut das heilige Gerät umher und reißt den Opferwidder mit sich in die Tiefe. Finstere Zeichen sind dies. Aber die Stadt will völlig ihr Schicksal kennen, offenen Auges will sie den Untergang leiden. Ihr Magier Marquinus, in der Rechten die schwarze Lanze, in der Linken sein Buch, öffnet das Totenreich. Er ruft einen Knaben ins Leben zurück, der heute starb. Widerwillig, mit Ächzen, kehrt die schon wissend gewordene Seele nochmals in ihren Leichnam zurück und verkündet der Stadt den Untergang durch ihrer Bürger eigene Hände. Wenn die letzte Hoffnung dahin ist, wird Numantia Asche sein. Den Überwindern wird nichts zur Beute werden, kein Weib zur Sklavin, kein Armreif zum Schmuck. Schon schichtet sich auf dem Markte der Scheiterhaufen, der alle Schätze verzehrt:
Die bleiche Perle, die aus Ost gelandet,
Und Gold, zu schlanker Vasen Form gehämmert,
Demant, Rubin, Smaragd, der waldgleich dämmert,
Und Purpur, der des Feldherrn Leib gewandet...
Inzwischen ist die gemeine Not auf das Höchste gestiegen. Verhungernde liegen zu Hauf. Kinder saugen Blut statt Milch aus den Brüsten der entkräfteten Mütter. Da stürzen, das nackte Schwert in Fäusten, zwei junge Numantiner aus der Stadt, sie dringen ein in das Lager der Römer, sie rauben aus ihren Zelten das Brot. Der eine fällt, sein Freund, todwund, erreicht das Tor, die blutigen Brote tragend...
So weit war Cervantes gelangt. Er atmete hoch auf. Diese blutigen Brote, er wußte es, waren ein großes und ein neues Sinnbild.
Er hob seine Augen. Er sah seine Hörer.
Der Pfarrer schlief friedlich, den dicken Kopf zur Seite geneigt. Aber zwischen den Frauen ging ein Blick des Einverständnisses, den Cervantes auffing. Catalina lächelte dümmlich dabei. Das habgierige Gesicht ihrer Mutter jedoch war entstellt zu einer schnöden Grimasse. Mit unsäglicher Mißachtung waren die Winkel der dünnen Lippen nach unten gezogen. Eben schien noch der Mund das Wort „blutige Brote” mit lautlosem Hohn nachzubilden. Alle Niedrigkeit satten und bösartigen Dünkels war in diesem Weibergesicht versammelt.
Ihm fielen die Blätter aus den Händen. Wie ein Gelähmter, mit hängendem Kinn, saß er da. Es ging ihm furchtbar auf, wohin er verschlagen war. Er erhob sich und ging in das Haus.
In der Nacht verließ er Esquivias. Er hatte mit niemand gesprochen. Hier war das Wort ohne Sinn. Sein Kind würde er fordern... Er wanderte über die Feldpfade, die sich langsam erhellten, gegen Toledo.
Als er die Tür seiner Eltern aufklinkte, roch das Haus nach Weihrauch. Soeben war sein Vater gestorben.
Philipp, Großkönig der katholischen Welt, Herr der Schiffahrt im Osten, Fürst der Inseln und Meere im Westen, war ein Greis und war krank. Eine bösartige Gicht lähmte und quälte ihn, sein erschöpftes Blut fing an, in Geschwüren auszubrechen, die nicht mehr heilten. Das Ende seines irdischen Weges war abzusehen. Aber noch hatte er nicht erfüllt, wozu ihn Gott in die Herrschaft berufen. Die Zeit war da.
Er war nicht müßig gewesen. Der Einheit und Reinheit des Glaubens über die Länder hin hatte seine lebenslange, schwere Mühe gegolten. Wo immer gegen den neuen Geist Hände sich erhoben, die Hand mit dem Kriegsschwert, die goldgefüllte Hand der Bestechung, die Meuchlerhand mit dem Dolch, immer hatte der kränkliche, leise Herr im Escorial sie gelenkt. Er allein hatte Frankreich in Bürgerkrieg und Elend gestürzt, die Niederlande zerfleischt und ihren großen Oranien gemordet, immer wieder den Stahl gezückt nach dem Leben der abtrünnigen Königin auf dem Throne von England.
Aber sie lebte. Das Mißlingen der letzten Verschwörung hatte Maria Stuart auf dem Schafott bezahlt; auch sie war für Philipp gestorben. Jetzt raffte er, am Abend seiner belasteten Tage, die Kräfte und Schätze der ihm anvertrauten Völker zusammen gegen dies England.
Nirgends so unangefochten wie dort regierte der Ketzergeist. Und er griff in die Weite! War nicht die Herrschaft über das Weltmeer Gottes Geschenk an Kastilien? England bestritt sie. Schon brandschatzten seine Kapitäne die spanischen Küsten, sie erschienen in Afrika und Westindien, sie zerschnitten durch ihre tollkühnen Streifen den gottgewollten Zusammenhang der katholischen Weltmonarchie... Krieg gegen England! Philipp, König von England! War erst diese Insel der Schemel unter seinen Füßen, dann stand er in seiner letzten Stunde so hoch, wie er sollte, und bot Gott in den Wolken eine gerettete, reine, katholische Welt auf seinen Händen dar.
Jahrelang hat der König gezögert. Jetzt auf einmal kann er nicht mehr warten. Seine Minister und Generale warnen. Erst müssen die Niederlande völlig bezwungen sein. Ein Sturm oder sonst ein Unglück sind immer möglich, dann bedarf man der holländischen Häfen als Zuflucht. Aber der König hört sie garnicht. Da es Gottes Sache ist, die er führt, wie sollte Gott Sturm oder Niederlage zulassen! Er treibt zur Eile. Er, so gemessen, so höflich sonst, verliert seine Fassung, er schilt und kränkt seine Diener. Ihre Vorsicht ist Lauheit, ist mangelnder Eifer für Gott.
Unter den Zögernden, Warnenden, ist der Marquis von Bazan, sein Admiral. Der König verletzt ihn so tief, daß der Kriegsmann es nicht erträgt. Ein hitziges Fieber befällt ihn. Er stirbt. Die Armada ist ohne Führer.
Doch wozu ein kundiger Führer, da Gott selber führen wird. Ein frommer Christ, ein edler Name, mehr ist nicht vonnöten. Und er ernennt zum Großadmiral seiner Flotte den Don Alonso Perez de Guzman, Herzog von Medina-Sidonia.
Der Herzog erschrickt. Er ist ein eleganter Grande von ganz besonders unbestrittener Reinheit des Bluts, unermeßlich reich auch, einer von jenen beiden, denen die Mancha gehört. Aber er ist gar kein Seemann. In einem langen, jammervollen Brief fleht er seinen König an, ihn zu entheben. Er verstehe wenig vom Krieg und überhaupt nichts von Schiffahrt, er werde auch immer gleich seekrank. Es hilft ihm nichts. Die Armada hat ihre Spitze, „statt des eisernen Admirals einen goldenen.”
Auf den atlantischen Werften wird fieberhaft gebaut. Viele Schiffe, große schwere Schiffe, ausladend und pomphaft. Zwar weiß man, daß sie unpraktisch sind. Man kennt die flachen, wendigen Kähne der Engländer. Aber man wird diesen ketzerischen Freibeutern die Ehre nicht antun, sich anzupassen. Mächtige, geschmückte Galeeren, mit einer Bemannung schwer gerüstet wie Ritter zur Landschlacht, das ist Gottes würdige Garde.
Doch sie ist teuer. Prunkschiffe und gegossene Kanonen sind teuer. Zehntausend Matrosen, zwanzigtausend Soldaten wollen zu essen haben, und am besten essen wollen die vielen Freiwilligen aus dem Adel, die sich zu der gottgefälligen Unternehmung drängen und jetzt schon glänzend und prahlerisch in den Seestädten herumliegen, einstweilen mit Duellen und Frauenjagd standeswürdig beschäftigt.
Die Kassen sind leer. Der gichtbrüchige Herr im Escorial sitzt Tag und Nacht über Erlassen und Korrespondenzen, um sie zu füllen. Er erhöht seine Einfuhr- und Ausfuhrzölle: auf Waren von und nach Indien, auf Waren von einer Provinz in die andere, zwanzig und fünfundzwanzig Prozent, es kommt nicht darauf an. Den Kaufleuten, die aus den Kolonien kommen, beschlagnahmt er einfach ihr Geld und gibt ihnen dafür Anweisungen auf seinen Schatz, der nicht da ist. Er verkauft meistbietend seine Beamtenstellen und schafft neue zu diesem Zweck, er verkauft Kommenden, Adelsrechte, Posten von Regidoren und Corregidoren, Alcalden und Sekretären. Siebzigtausend Posten hat König Philipp zu verkaufen. Er nimmt Geld auf, wo er’s bekommt, und verpfändet, was schon verpfändet ist; bedenkenvoll betrachten die Bankherren in Frankreich, Deutschland, der Lombardei, die königlichen Wechsel. Sie halten sich vorsorglich schadlos an ihren Spesen: eine Tratte von Madrid über Genua nach Flandern kostet Philipp dreißig Prozent. Geld! Geld! Aber nichts ist genug. Dieser König, der das gesamte Silber und Gold der Welt kontrolliert, muß mehr als einmal seine nächtliche Aktenarbeit vorzeitig abbrechen, weil kein Geld mehr vorhanden ist, um neue Kerzen zu kaufen.
Sein Land, das erdbeherrschende Spanien, hungert. Wie ein riesiger Polyp liegt über den sieben Millionen Menschen, die arbeiten, die eine Million adeliger und geistlicher Müßiggänger. Erbarmungslos pfändet der Steuerbeamte die Lebenssubstanz. Her mit der Nahrung! Her mit Weizen, Gerste und Mais, mit Öl, Wein, Zwieback und Käse. Man wird euch bezahlen, wenn Gottes Sache geglückt ist, hier ist ein Zettel. Zwölftausend Zentner Zwieback hat Andalusien zu liefern, sechstausend Faß Wein die Stadt Sevilla, viertausend Arrobas Öl dieses Städtchen, achttausend Liter Getreide dies Dorf.
Auf ihren Maultieren durchreiten die Proviantkommissare des Königs das erliegende Land, sie pressen aus den Ausgepreßten das Letzte. Wo sie auftauchen, ist dumpfe Verzweiflung und Wut. Sie erbrechen Scheuer, Schuppen und Keller. Sie lassen dem Bauern nicht Korn mehr für seine Aussaat. So will es Gott.
Und einer von ihnen ist Miguel Cervantes.
Man hat ihm das Amt hingeworfen wie einem herrenlosen Hund einen Knochen. Er war am Ende. Nichts glückte. Es gab im weiten spanischen Reich für ihn nicht den täglichen Bissen Brot. Vorbei die armen Glücksfälle der Literatur. Niemand wollte „Numantia” auch nur lesen. Er war ohne Grad, ohne Rang, ohne Protektion. Er wäre gern Taglöhner geworden, Maurer, Anstreicher, Lastträger; er hatte nur eine Hand.
Er graste die Städte der Halbinsel ab, um Gotteslohn mitgenommen von langsamen Fuhrwerken. Die Stadtviertel, wo das Gesindel sich umtrieb, waren die seinen. Tausende von Taschendieben, Falschspielern, Zuhältern, wimmelten in diesen Tiefen, Angeber für die Polizei dazwischen, Spitzel für die Inquisition. Die Versuchung, sich dorthin sinken zu lassen, trat heran, klingelnd mit Beuteln voll Kupferstücken. Ein Amt zu finden, ein Staatsamt, war ein fast unmöglicher Traum.
Wenn er nach Madrid kam, saß er in den Vorzimmern herum, mehr um die Zeit hinzubringen, denn aus Hoffnung. Die Schreiber hoben die Köpfe nicht mehr, wenn sie seine Stimme erkannten. Und er begriff zuerst nicht recht, es war ein nicht mehr erwartetes Wunder, als man ihm eines Tages in der Kriegskammer bedeutete, eine Aussicht sei da.
Die Behörden konnten nicht wählerisch sein. Provianteinkäufer für die Armada, wahrhaftig, die Posten waren nicht sehr gesucht. Jeder wußte, was sie bedeuteten. Man brauchte rüde Burschen dafür. Irgendein Rechnungsrat mochte geäußert haben, es sei da ein gewisser Cervantes, alter Soldat aus den Zeiten Don Juans, hartgehämmert in Afrika, der eigne sich sicher dafür, den Bauern das Fell abzuziehen.
Er hatte sich Herrn de Guevara vorzustellen, dem Generaleinkäufer und Hauptkommissar. Er scheute diesen Besuch, denn seine Kleidung war nicht anständig mehr, er sah aus wie ein Landstreicher. Aber der vornehme Beamte schaute ihn gar nicht an. Mit gekniffenen Nüstern, um den Armeleutegeruch nicht zu spüren, sprach er aus unerreichlicher Höhe herab zu Cervantes. Er habe sich sogleich nach Sevilla zu begeben. Im dortigen Bezirk sei sein Tätigkeitsfeld. Weitere Instruktion durch Herrn de Valdivia, Provinzkommissar für Andalusien. Gehalt zwölf Realen pro Tag.
Zwölf Realen. Es war doppelt so viel, als ein Zimmermann verdiente oder ein anstelliger Hafenarbeiter. Es war genug, um zu leben. Genug, um der Mutter etwas zukommen zu lassen, die wieder nach Alcala gezogen war und sich dort in der Nähe ihrer frommen Tochter kränkelnd von Klosteralmosen fristete.
Genug auch, um nach Esquivias etwas Geld für die kleine Isabella zu schicken. Denn die beiden Hidalgas hatten Isabella nicht hergegeben. Unvermutet war er einmal im Dorfe erschienen, verwahrlost anzuschauen, und es hatte Skandal gesetzt. Aber er hatte die Kleine mit schlechtem Gewissen gefordert. Wollte er in der spanischen Unterwelt mit ihr umherziehen? Sie schien glücklich zu sein bei den Frauen. Sie gedieh. Den fremden, staubigen Mann, der sie küssen wollte, sah sie böse an, machte sich steif und wand sich aus seinen Armen. Geld aber wollte er hinschicken. Isabella sollte von ihm existieren. Es war ein letzter, armer Ehrgeiz.
Seit Monaten war er nun unterwegs auf den staubigen Straßen im Süden. Das Maultier war ihm von der Verwaltung gestellt. Er sah nicht mehr aus wie ein Strolch, er war gut gekleidet, in ein hochgeschlossenes Wams aus dunklem Samt, mit feiner Krause und einem leichten Tuchmantel darüber, wie es dem königlichen Beamten zukam. Auf diesen Anzug war der größere Teil seines Vorschusses draufgegangen. An der linken Flanke des Maultiers baumelte in zwei Lederschleifen das Zeichen der ihm übertragenen Gewalt: der lange Stab mit der vergoldeten Krönung. Manchmal trug er ihn auch unter den Arm geklemmt, daß er aussah wie eine Lanze.
Tiefer ging es nun nicht. Er hatte den Boden erreicht. Leuteschinder und Armenpresser: er machte sich keine Illusionen über sein Amt. Entschuldigungen gab es, gewiß. Er wäre fast Hungers gestorben, gewiß. Er handelte für den König, gewiß, war außer Verantwortung. Und trieb nicht er dies Geschäft, so trieb es ein Anderer und wahrscheinlich härter. Gewiß, gewiß. Aber das war alles ganz einerlei. Er hörte wieder die Männer von Esquivias, wie sie am Wirtstisch über die Steuerbeamten und Exekutoren sprachen, die ihnen den letzten Tropfen Blut wegsaugten. Solch ein Blutsauger war er jetzt selbst.
Er zog durch das Land im Osten Sevillas, von Marchena nach Estepa, von Aguilar nach La Rambla, von Castro nach Espejo, und es war überall dasselbe. Wo er ankam, sperrten die Bauern die Scheunen zu, verrollten die Fässer, nahmen die Räder von den Karren ab, die zum Abtransport dienen konnten. Manche machten die Sensen scharf. Die Weiber heulten vor ihm. In den Nächten schlief er in irgend einer Amtsstube, die Pistole in Reichweite, halb nur entkleidet.
Er hatte die Hölle, für zwölf Realen am Tag. Er war gar kein Mensch mehr. Er war ein Werkzeug in diesem klappernden, schadhaften Staatsmechanismus. Ein scharrender, raffender Rechen für die Armada. Nicht denken! Denken war tödlich. Fing er zu denken an, so war diese Existenz nicht zu führen. Es gelang ihm auch, nicht mehr zu denken. Er ließ in sich einen eisernen Vorhang herunter. Dahinter lag alles, was er einmal gewesen. Mitunter, auf einsamer Rast, klopfte er seinem Maultier den Hals, griff ihm liebkosend ins rauhe Stirnhaar, blickte in das sanfte Feuer der langgeschnittenen, schönen Augen. Dies war, was ihm noch von Empfindung verstattet blieb.
Auf der Straße von Cordoba her näherte er sich dem Städtchen Ecija, einem Ort von fünf- oder sechstausend Menschen, wo es Arbeit gab für mehrere Tage. Es war Ende Juli und Mittag. Er hatte Mantel und Wams vor den Sattel gehängt und ließ sich im Schritt hin- und herwerfen, völlig benommen, in einem Hitzerausch. Vor Ecija war er gewarnt worden, man komme dort um vor Glut, „Bratpfanne” hieß der Ort in ganz Andalusien.
In weißem Dunst sah er jenseits des Flusses das mauerumgebene Städtchen liegen, angelehnt an runde, beackerte Hügel. Die Brücke über den Genil war hüben und drüben mit starken Tortürmen bewehrt.
Wie er den ersten durchritt, machten die Wachtsoldaten finster unbeteiligte Gesichter und grüßten nicht zurück. Jenseits, im zweiten Tor, kehrte sich der Stadtzöllner ausdrucksvoll nach der Wand. Seine Anreise war schon bekannt, er sah es. Solche Empfänge war er allmählich gewohnt.
Niemand zeigte sich in den engen, buckelig gepflasterten Gassen. Der stolpernde Tritt seines Reittiers hallte wider von den fensterlosen Mauern. Dann stand er auf einem kochenden Platz. Die grün und blau glasierten Ziegel des Kirchturms brachen augensengend das Licht. Er beschloß einzukehren.
In der Posada summten die Fliegen. Brot, Speck und Käse und ein guter, leichter Wein wurden ihm vorgesetzt. Die Wirtin, eine üppige, noch ganz anziehende Vierzigerin, setzte sich zu ihm. Er stellte obenhin ein paar Fragen. Seufzer waren die Antwort.
Man tue gern alles für seinen König. Man sei auf dem Laufenden hier, Ecija sei ja kein Nest. Man wisse, um was es gehe. Aber der Herr werde selber schon sehen, hier lasse sich nichts mehr holen. Die Stadt sei kahlgefressen. Solch ein Brot, wie er’s da eben unter den Zähnen habe, hätte sie ihm vor zwei Jahren auch nicht vorzusetzen gewagt! Er persönlich sei ja ganz gewiß anders, aber seine Vorgänger hätten vor garnichts Halt gemacht. Sie allein kenne acht — nein, sie müsse nachrechnen, zehn Familien — so ausgeplündert im letzten Jahr, daß sie jetzt der Gemeinde zur Last fielen. Er solle sich nur in Acht nehmen hier am Ort! Die Leute seien rabiat. Sie habe geradezu Angst um ihn.
Sie war näher gerückt. Der Blutsauger, der ihr Städtchen bedrohte, schien ihr nicht zu mißfallen. Er war todmüde. Er sank ein wenig zurück und schloß die Augen. Sein Kopf lehnte gegen den reichen Busen der Wirtin. Zwischen den beiden hohen Kissen lag er eingebettet. Die Fliegen summten um den Rest Wein, der im Becher geblieben war. Sie blickte auf den felsigen Handstumpf des Mannes, auf seinen hohen Amtsstab, der an der Wand lehnte, und schüttelte mit träumenden Augen den Kopf, sie wußte selbst nicht, warum.
Es sah wirklich recht hoffnungslos aus in Ecija! Scheuer, Vorratskammer und Keller leer, die Bauern, denen die Requisitionszettel vom Vorjahr noch nicht eingelöst waren, zum Widerstand deutlich entschlossen. Es war hier nicht der stolze, ruhige Schlag wie in Kastilien, sondern eine geschmeidigere Rasse, viele Köpfe arabisch geprägt, klug und lebendig. Unter Gebärdenspiel folgten sie ihm, während er prüfte, unterhandelte, von Scheuer zu Scheuer schritt. Zwei Polizeidiener stapften hinter ihm drein, die er mit Mühe requiriert hatte; sie machten verlegene Gesichter. Ihr Bürgermeister war nicht in der Stadt. Vorgestern, hieß es, sei er nach Osuna verritten; ungewiß, wann er zurückkam, vielleicht heute, vielleicht nächste Woche.
Der Haufe, der auf seinem Inspektionsmarsch hinter Cervantes herzog, wurde immer dichter. Er spürte um sich, auf seinem Rücken, den scharfen und bittern Hohn dieser Ausgeschöpften. Ja, nicht wahr, hier hatten einmal die Majestät und sogar der Himmel ihr Recht verloren! Cervantes war es klar, daß sie ihn etwas betrogen. So völlig garnichts konnte schwerlich vorhanden sein. Aber die Wahrheit genügte. Und wenn er daran dachte, daß ihm Kriegsamt, Auditeurshof und Rechnungskammer und außerdem Herr de Valdivia noch persönlich eingeschärft hatten, aus Ecija unweigerlich 500 Fanegas Mehl und 4000 Arrobas Öl zu ziehen, mußte er innerlich lachen. Er lachte sogar wirklich, unerwartet und laut, so daß ihn sein hämisches Gefolge erschrocken betrachtete. Hatte man ihnen zur Abwechslung einen irrsinnigen Kommissar geschickt?
Sie waren am Ufer des Genil angelangt. Hier lagen, außerhalb der Stadtmauer, drei Vorratshäuser dicht nebeneinander, völlig gleich und stattlich erbaut. „Aufmachen!” sagte Cervantes und stieß mit dem untern Ende seines Stabes gegen das erste Tor. Getuschel und unterdrücktes Gelächter ward hörbar. Das werde sich der Herr Kommissar wohl zweimal überlegen, hieß es dann. Zwar zu holen sei hier noch allerhand, hier habe keiner gepfändet. Aber alles sei kirchliches Eigentum, seien Vorräte des Klosters La Merced, dem ja weit herum die besten Landstücke gehörten.
Und schon sah Cervantes von der nahen Stadtmauer her mit fliegender Sutane einen Geistlichen heraneilen, gefolgt von zwei Brüdern des Klosters. Er winkte von Weitem mit beiden Armen.
Herangelangt, grüßte er kaum. So wenig, erklärte er gleich, kenne doch wohl der Herr Beamte seine Instruktion nicht, um an geistliches Gut seine Hand zu legen. Er warne vor Übergriffen!
Die Leute waren im Halbkreis zurückgewichen. Gespannt wartete man auf den Ausgang. Manche grinsten fatal. Ach nein, er würde sich’s nicht getrauen, der Herr Staatseinnehmer! Es war ja auch alles Spiegelfechterei, abgekartet womöglich. Staat und Kirche, das waren Verbündete, das war dasselbe. Gemeinsam schnitten sie Riemen aus der Bauernhaut.
Von Übergriffen sei nicht die Rede, erklärte Cervantes. Die Requisitionen geschähen zu einem frommen Zweck, für den Kreuzzug gegen England. Wer da mehr zur Beihilfe veranlaßt sein könne, als eben die Kirche?
Aber der Pfarrer war gut beschlagen. Verächtlich zur Seite blickend, legte er dar, daß ja gerade die Kreuzzugsbeihilfe König Philipp in diesem Fall wieder zugestanden worden sei. Auch der Zehnte von allem geistlichen Einkommen werde natürlich weiter erhoben. Und bis auf den Scudo genau zeigte er sich über die Summen unterrichtet, die Seine Heiligkeit, Sixtus der Fünfte, in Ansehung des Zwecks noch selber gespendet hatte. Nichts sei versäumt worden. Nun müsse eben die Bevölkerung steuern.
Die Bevölkerung habe gesteuert, gefront und geblutet, erwiderte Miguel in einer nervösen Erbitterung, über die er sich selber verwunderte. Nicht das Korn für die Aussaat habe man Vielen gelassen. Es könne nicht christlich und nicht gottgefällig heißen, wenn der Klerus, sitzend auf vollen Kisten und Säcken, dem zuschaue. So bitte er denn um die Schlüssel!
Die habe er nicht, erklärte der Geistliche.
„Aufbrechen!” befahl Cervantes den Polizeidienern. Die schauten einander unschlüssig an. Das war ein sehr schwieriger, kniffliger, ein kitzeliger Fall.
Cervantes hob seinen rechten Fuß und trat mit voller Kraft gegen das Tor, daß es krachte. Zwei solcher Stöße noch, und es sprang auf.
„Da kommt unser Bürgermeister!” rief einer der Polizisten und atmete laut auf, wie erlöst aus schwerer Gewissenspein.
Cervantes wandte sich um. Dort kam er vom Stadttor her, ein kleiner Herr in dunkler Gewandung, auch er von ferne schon winkend wie vorher der Pfarrer.
„Die weltliche Hand wird Euch zurechtweisen,” sagte der mit wiedergefundener Würde.
Cervantes, auf seinen Stab gestützt, ließ den Alcalden herankommen. Es war ihm ganz klar: er hatte seine Instruktion überschritten. Aber das Gefühl gegen Unrecht, verschüttet durch den schrecklichen Zwang seiner Funktion, war wieder lebendig in ihm. Es war nicht bloße Anteilnahme an den Leuten von Ecija, die gefielen ihm gar nicht besonders, es war das weite, starke und großmütige Gefühl wie in alten Tagen — in den alten, den guten Tagen der Sklaverei und der Rebellion.
Der Bürgermeister war heran. Er brachte erst seinen Atem in Ordnung und schloß die Augen dabei, die in einem verknitterten, aber noch nicht alten Gesicht wie zwei kleine Wasserpfützen lagen. Als er sie wieder auftat und auf diesen Kommissar richtete, um dessentwillen man ihn alarmiert hatte, da weiteten sie sich plötzlich in einem gewaltigen Erstaunen, das rasch in Entzücken überging. Cervantes, Pfarrer, Mönche, Gendarmen und Volk sahen, höchst verblüfft, den Alcalden die Arme ausbreiten. Ein seliges Lächeln erschien auf dem verliebt zur Seite geneigten Gesicht. Er tat den Mund auf. Er sprach in Versen:
„Und es hüllt ein Strom von Gnaden
Cristobal Mosquera ein,
Mit Talenten reich beladen,
Könnt er selbst Apollo sein!”
Der Pfarrer runzelte die Stirn. Es war klar, daß hier der Verstand gelitten hatte. Ein Sonnenstich wahrscheinlich auf dem glühenden Wege von Osuna her. Denn wie anders erklärte es sich, daß der Mann in offenbar bester Absicht hier ankam, dann aber nach diesem frechen Beamten die Arme ausstreckte und ihm Verse zusäuselte, in denen sein eigener Name so lächerlich figurierte.
„Herr de Cervantes! Don Miguel! Euer Gnaden erkennen mich nicht?” rief er jetzt wieder.
Cervantes kam eine Ahnung. Flüchtig wurde er rot.
„Erst müssen wir unser Geschäft bereinigen, Herr Alcalde,” sagte er offiziell. „Ich handle hier kraft meiner Vollmacht.”
„Kraft seiner Vollmacht, Don Bartolomé!” wiederholte der Bürgermeister mit bedauerndem Achselzucken, „liefert die Schlüssel aus!” Er konnte es kaum erwarten, hier zu Ende zu kommen.
Der Geistliche winkte mit entstelltem Gesicht. Einer der Mönche brachte die Schlüssel zum Vorschein. Ohne ein Wort machten sie alle drei kehrt, man sah ihre dunklen Gestalten im Stadttor verschwinden.
Die Speicher taten sich auf. In schöner Ordnung waren die breiten und tiefen Räume gefüllt mit Kisten, Säcken und Fässern, bis in den dämmerigen Hintergrund.
„Das wird genügen für alle,” sagte Cervantes. Ein Flüstern und Murmeln flutete gegen ihn her. Jeder wollte es gleich erkannt haben: dieser Mann mit der einen Hand war kein Kommissar wie die anderen! Man sah es am Auftreten. Man sah es an der feierlichen Art, wie der Bürgermeister ihn begrüßte. Man hörte, wie er ihn jetzt dringlich und ehrerbietig zu Gast lud. Er sei zwar Junggeselle, äußerte er, aber er lebe bequem.
Inzwischen war Cervantes ganz ins Klare gekommen. Wahrhaftig, dies war ein seltsamer Scherz! Dieser Bürgermeister war der Lizentiat Cristobal Mosquera de Figueroa, einer von den hundert Poeten, für die er in seiner „Galatea” das große, allgemeine Weihrauchfaß aufgestellt hatte. Wahrscheinlich hatte ihm seine Familie den Posten hier im Süden gekauft, um ihn loszuwerden und zu versorgen; aber auf die Literatur und den Lügenhof schaute er mit Sehnsucht zurück. Das war die große Zeit seines Lebens gewesen.
Als sie im Amtshaus angelangt waren, führte Mosquera seinen Gast in die Wohnstube. „Ich habe die Ehre in Ehren gehalten,” bemerkte er formelhaft und wies auf eine Stelle der Wand, wo eingerahmt ein gedrucktes Blatt hing. Ein Lämpchen war darunter angebracht wie unter einem Heiligenbild. Es war das Blatt aus der Galatea, wahrhaftig, die Seite 328. Cervantes las:
„Manche hat Apoll begnadet,
Daß sie ihm als Dichter taugen,
Manchem hat er Stirn und Augen
Im kastalischen Quell gebadet.
Und so hüllt ein Strom von Gnaden
Cristobal Mosquera ein,
Mit Talenten reich beladen
Könnt er selbst Apollo sein.”
Als Cervantes gelesen hatte, stand er noch eine Weile davor. Er wagte nicht, sich umzudrehen, denn seine Augen standen voll ungewohnter Tränen. Das also war herausgekommen bei seinem Dichten: daß ihm ein Dorfschulze beim Steuereintreiben half. Das war das Ende von Mühen und Demütigungen. Das war sein Lebensresultat. Und für den kleinen Mann da hinter ihm war dieser Zettel der Inbegriff von Ruhm, Geist und schönerer Jugend. Vor diesem bißchen kaltherzig gespendeter Druckerschwärze verrichtete er seine Andacht. Sie war das Beste in seinem Dasein... Nun, jedenfalls behielten auf diese Weise die Leute von Ecija etwas zu essen!
Das requirierte Kirchengut ging auf dem Genil hinunter bis Palma del Rio, dann auf dem Guadalquivir zum Ozean, und war am dritten Tage in Lissabon, wo sich ein Teil der Flotte zusammenzog.
Aber schon am Tage vorher, der ein Sonntag war, wurde Miguel Cervantes in der Klosterkirche La Merced von der Kanzel herab feierlich exkommuniziert.
Der Spruch war vom Domkapitel in Sevilla ausgegangen. Er eilte hin.
Zwar hatte ihn das Anathema nicht im Herzen getroffen. Die Zeit seiner jugendlichen Buchstabenfrömmigkeit war lange dahin. An Kirchenformel und Ritual hing er nicht mehr. Aber diese Ausstoßung aus der Gemeinschaft der Gläubigen vernichtete seine Existenz. Undenkbar war in Spanien ein Beamter, der mit dem Klerus zerfallen war.
Er beriet sich mit seinem Freunde. Dieser Freund war sein Wirt, der Gastwirt zur „Griechischen Witwe”, Thomas Gutierrez, einstiger Schauspieler.
Weit lag der Abend, da er Cervantes zum ersten Mal erschienen war, oben auf der verlassenen Bühne, zwischen Lope und dem Theaterdirektor. Sein Ehrgeiz hatte die Richtung gewechselt. Er dachte nicht mehr daran, in historischen Stücken die scharfen, feinen Prinzen zu spielen. Sogar auf die alten Kriegsobersten hatte er verzichtet, die seiner Figur mehr gemäß waren, auf die Polterer, die betrogenen Gatten, die komischen Väter. Unmäßig dick geworden und völlig asthmatisch war er vom Morgen bis in die tiefe Nacht auf den walzenförmigen Beinen; laut, immer vergnügt und ungeheuer gutmütig, wachte er über Küche, Trinkstube, Keller und Stallung. Sein Gasthof war der beste in der volkreichen Vorstadt Triana. Man aß vortrefflich in seiner „Griechischen Witwe”, und jeder mochte hier treiben, was ihm gefiel, solange kein Blut floß.
Miguel Cervantes kannte er schon von der „Lügenbank” her, und er liebte ihn. Einfache, lebenskräftige Männer hatten ihn immer geliebt, ob es nun Fumagalli war oder Rodrigo oder der Hauptmann Urbina oder die Leute um den Tisch in Esquivias.
Immer war in der „Griechischen Witwe” Quartier bereit für den fahrenden Kommissar. Mochte das Wirtsgeschäft so drängend gehen wie es wollte, mochten Kaufleute und Kapitäne, Gouverneure und Abenteurer, Offiziere und Wechsler, ehrbar begleitete und galante Damen hier ab- und zufluten, Cervantes fand sein Bett und seinen Teller, wenn er von den Exekutionen müde und angewidert zurückkehrte. Bald haperte es zum ersten Mal mit der Bezahlung. Er sprach vom Ausziehen. Aber der Wirt und Freund deckte dieses ganze Problem mit einem gewaltigen, rostig rasselnden Baßlachen zu, einmal für immer. Von diesem Tage an ließ er für Cervantes beim Essen ein Tischtuch auflegen, eine Verwöhnung, die sonst nur besonders vornehmen Reisenden zu Teil wurde. Er verpflegte sein Maultier, er ließ für ihn waschen, er lieh ihm Geld, er stand für ihn gut. Und er wußte auch jetzt, in dieser kirchlichen Angelegenheit, sogleich vortrefflichen Rat.
Ein gewisser Fernando de Silva ward aufgeboten, „Confidente” der Inquisition, ein zweideutiges und gefürchtetes Individuum, das in bürgerlicher Kleidung mit einem großen, blanken Metallkreuz vor der Brust herumlief. Er wußte, was Wenige wußten, und zu brauchen war er für alles. Am fünften Tage schon brachte er Nachricht, der Spruch gegen Cervantes sei aufgehoben. Neben den verhängten Kirchenbußen: Gebet, Sonderfasten, Pilgerfahrt — Gutierrez zuckte die mächtigen Schultern — sei natürlich auf Wiedererstattung des gepfändeten Gutes erkannt worden. Miguel brach in ein Lachen aus: fünfhundert Fanegen und viertausend Arrobas, das sei ja für ihn eine Kleinigkeit! Aber Herr de Silva vollführte eine geistlich beschwichtigende Geste und brachte die Quittung zum Vorschein... Billig konnte diese Bestechung nicht gewesen sein. Das werde die Griechische Witwe wohl noch aushalten können, erklärte Gutierrez.
Aber als dies abgetan schien und Cervantes eben im Begriff war, nach dem Bezirk von Ronda abzureiten, erreichte ihn eine neue, bedenklichere Botschaft. Man gab keine Ruhe. Man wollte ihm dennoch zu Leib. Er wurde zur Blutsprüfung vor die „Reinheitskammer” zitiert.
Silva ward noch einmal bemüht. Er hob die Achseln. Hier sei er unvermögend. Aber auch ohne ihn werde es Herrn de Cervantes Saavedra sicherlich leicht fallen, nachzuweisen, daß er aus alter christlicher Familie stamme, in die seit vier Generationen kein maurisches oder Judenblut eingeflossen sei. Dieser Nachweis werde nun einmal im spanischen Reich vom Beamten gefordert. Und er empfahl sich mit schiefem Blick.
Es war eine verdammte Schikane. Denn dieser Nachweis wurde keineswegs von jedem Beamten gefordert, man hätte sonst keinen gefunden. War aber einmal der Zweifel erhoben und wurde nicht widerlegt, dann freilich war es mit der Amtsfähigkeit aus.
Selbstverständlich war die Idee von der Reinheit der Rasse gerade in Spanien absurd. Durcheinander gemengt war hier das Blut von Iberern, Basken und Kelten, von Phöniziern, Römern, Vandalen, von Juden und Goten, Arabern, Berbern. Das Ergebnis war ein herrliches Volk, das den Erdkreis bezwang. Selbstverständlich wußten auch viele, wie sehr alles Unsinn war. Die Juden zum Beispiel waren vertrieben; aber es gab kaum eine Grandenfamilie, durch deren Adern kein jüdisches Blut floß. Beim hohen Klerus war es dasselbe. Bischöfe schlichen sich nachts auf den Friedhof und gruben heimlich die Gebeine ihrer Vorfahren aus, die da nach jüdischem Ritus bestattet lagen.
Selbstverständlich widersprach die Rassenidee auch dem hohen Sinn der katholischen Kirche. Aber die herrschende These war nun einmal, daß die Reinheit des Blutes die Reinheit des Glaubens bedinge. „Estatutos de limpieza”, Rinheitsstatuten, wurden erlassen, man setzte Prüfkammern ein und schickte Examinatoren im Lande herum, die Jahrhunderte weit rückwärts forschten. Das kostete alles viel Geld, und die Angezweifelten mußten es bezahlen. Da aber schließlich überhaupt kein Mensch mehr als unanfechtbar hätte gelten können, die Examinatoren nicht, die geistlichen Richter nicht, die Kardinäle nicht und das Königshaus nicht, so hatte man sich auf gewisse Spielregeln geeinigt.
Wer von Vater- und Mutterseite her Mitglieder der Inquisition in seiner Familie zählte, galt als rein. Und wer keine Fleischsteuer zahlte, galt auch als rein. Der hohe Adel nämlich zahlte sie nicht. Hierüber existierte ein Nachschlagewerk, eine dicke Liste. Und wer nicht hochadelig war, der ließ es sich schweres Geld kosten, dennoch in die Liste hineinzukommen.
Die Familien de Cervantes und de Cortinas, wahrhaftig, standen nicht in dem heilspendenden Katalog. Sie waren arm. Ihr Adelstitel wog keine Unze. Miguel würde darauf verwiesen sein, vor den Reinheitsrichtern auf seine Kämpfe für den Glauben zu pochen, wieder einmal Lepanto herauszustreichen, seinen Handstumpf zu zeigen. Ungewiß, ob das half! Und es war ihm tödlich zuwider, er schämte sich. Schwadronieren und sich demütigen in einem Atem — und wofür? Um ein Amt zu behalten, das ihm gleichfalls verhaßt war, dies Presser- und Schinderamt, hinter dessen Verwalter die Flüche herzogen wie Schwaden.
Auf seinem Weg zu Gericht machte er Halt auf der Schiffsbrücke, die von Triana zur Altstadt hinüberführte. Weithin abwärts war der Guadalquivir mit Schiffen bedeckt, Barken, Felucken und festverankerten Wohnbooten. Die großen Seeschiffe, die mit der Flut heraufkamen, lagen zur Linken beim Goldturm. Alles erschien heiter und glänzend im Sommermorgenlicht; er aber sah es wie durch einen schmutzigen Schleier. Er hatte die größte Lust, seinen Amtsstab, den er des Ansehens wegen mitgenommen, überm Knie zu zerbrechen und die Stücke in das lehmgelbe Wasser zu werfen.
Er ging aber weiter, verdrossenen Schritts über das jenseitige Ufergelände und am großen Gefängnis vorbei. Wie immer ging es hier munter her. Durch das weit offene Tor strömten Besucher ab und zu, sehr viel reglementierte Weiber darunter, kenntlich am kurzen Flanellmäntelchen mit der vorschriftsmäßigen Falte. An den großen Gittern standen Gefangene und unterhielten sich schreiend und lachend mit den Passanten. Es war ein ziemlich seltsamer Kerker, und Cervantes ging sonst niemals vorüber, ohne sich aufzuhalten. Heute schlich er mit saurem Gesicht um den Block und erreichte durch arabisch verschlungene Gassen den erzbischöflichen Palast, wo ihn seine Richter erwarteten.
In einem niedrigen, völlig unmöblierten Raum zu ebener Erde mußte er lange warten. Durch das bauchig vergitterte Fenster sah man auf eine Seitenfront der Kathedrale hinaus und auf die himmelhohe Giralda, das gewaltige Minarett. Cervantes bog sich zur Seite, um hinaufschauen zu können. Oben hatten sie eine christliche Figur draufgesetzt, die in der Hand eine Fahne hielt. Aber was half’s! Orientalisch blieb der großartig elegante Bau, an dem jede Fläche durch Hufeisenfensterchen, gebrechliche Säulchen, schleierndes Netzwerk so entzückend aufgeteilt war. Alles, was schön war an dieser Stadt, kam aus dem Orient. Mauren und Juden hatten nach Spanien das Beste gebracht; das Schöne die einen, und die andern Wissen und Weisheit. Angenehm müßte es sein, das den Blutsprüfern zu erzählen, statt mit Lepanto zu renommieren!
Endlich ließ man ihn vor.
In dem weiten und feierlichen Raum war der Tisch mit den drei Richtern ganz in den Schatten gerückt. Aber den Vorgeladenen traf voll das Licht aus zwei hohen Fenstern. Erstens irritierte ihn das, und sodann ergab es die Möglichkeit, seine angezweifelten Züge nach orientalischen Merkmalen zu durchforschen.
Wie alle begann das Verhör, das anders als alle endigen sollte. Der Kapitular in der Mitte, mit hysterischen Augen unter glänzend schwarzem, strähnigem Haar, nahm seine Papiere zur Hand.
„Ich werde den Eröffnungsbeschluß übersetzen,” bemerkte er in einem ordinären Kleinbürgerdialekt, „da ja Latein schwerlich verstanden wird.”
„Latein geniert mich nicht,” sagte Cervantes.
Der Kapitular schenkte ihm einen Bück und begann, im Ton etwas höflicher:
„Über Verfügung der zuständigen Behörden und unter Beachtung aller Regeln wird eine genaue Durchforschung der Abstammung angeordnet für den Proviant- und Steuerkommissar im Königlichen Dienst Miguel de Cervantes Saavedra, Sohn des Rodrigo de Cervantes Saavedra und der Leonor de Cervantes Cortinas, ehelich geboren zu Alcala de Henares, getauft daselbst in der Kirche Santa Maria la Mayor am 9. Oktober 1547...”
Eine Bewegung entstand. Der Lesende unterbrach sich. Einer der beisitzenden Dominikaner, der zur Linken, war so heftig von seinen Aktenstücken in die Höhe gefahren, daß der Richtertisch ins Schüttern geriet. Ein gelbfahles, fettes Gesicht starrte den Examinanden an, mit aufgerissenen Augen, in Angst und Entsetzen.
„Nicht möglich! Der Stinkende!” rief Cervantes.
Alles erstarrte bei dem beschimpfenden Wort.
Offenbar hatte der Dominikaner den Fall nicht gekannt. Diese Prüfungen wurden im Dutzend erledigt. Nun traf ihn der dreimal wiederholte Name Cervantes wie Posaunenschall des Jüngsten Gerichts.
„Der Stinkende!” wiederholte Cervantes, langsam und fröhlich. „Wie geht’s Eurer Lumpigkeit? Das Töpfchen Butter schon ausgeschleckt? Der Dukaten verhurt? Ein schäbiger Hund war der König von Algier!”
„Was bedeutet dies, Doctor de Paz,” fragte hitzig der Kapitular. „Was meint dieser Mensch mit seinem Geschwätz? Ist er besessen? Kennt Ihr ihn?”
Aber der Doctor Juan Blanco de Paz ließ ihn nicht aussprechen. Ihm lag alles daran, zuvorzukommen. Denn wenn dieser Verdammte nochmals den Mund auftat, dann erzählte er von dem Schandstreich in Algier, von den sechzig ans Messer gelieferten Christen! Und dann war alles aus, Karriere und Richteramt, dann saß er selbst im Inquisitionskerker für seinen Lebensrest.
„Scherze, hochwürdiger Herr,” begann er quäkend vor Angst, „Scherze wie unter Freunden gebräuchlich! Ein alter Spaß zwischen uns, das mit der Butter. Denn der Herr ist mein Freund, in der Tat! Unzertrennlich sind wir gewesen in den Bagni von Algier. Wär’ mir sein Name vor Augen gekommen — wahrhaftig, ich hätte den Richtern die Mühe erspart. Nicht wahr, Don Miguel, bei Euch, da obwaltet kein Zweifel. Ein Gottesstreiter wie einer, Held in christlichen Schlachten, zeigt Eure Hand, Ihr gabt sie im Kampf für den Glauben! De Cervantes Saavedra, Ihr Herren, das ist bester alter reiner christlicher Adel, vor acht Jahrhunderten schon im Pyrenäengebirge bewährt. Ich zeuge persönlich! Ich bürge! Ich beantrage Niederschlagung, ehrenvolle Einstellung des Verfahrens.”
Würde das dem Feinde genügen? Angstvoll starrten die trüben Augen. Der Atem ging laut, sein ekler Geruch zog über den Tisch. Die beiden anderen Richter blickten mit zusammengezogenen Brauen auf den erregten Verteidiger. Hier war nicht alles im Lot, das sah jeder. Doch sein Zeugnis war zwingend. Und was lag schließlich auch an dem einen Prüfling unter zehntausend!
Cervantes ließ sich Zeit. Es war eine genußreiche Minute. Stark wandelte die Versuchung ihn an, nicht klug zu sein, den Glücksfall nicht zu benutzen, sondern diesem Verräter, der sich im Richteramt spreizte, mit peitschenden Worten sein Teil zu verabreichen.
Er bezwang sich. Er schwieg. Er hob nur seinen Amtsstab, zielte genau und stieß mit der vergoldeten Spitze den Stinkenden vor den Bauch. Es konnte zur Not als rauhe Liebkosung gelten. Aber eigentlich war es, als hätte er ihm geradeswegs in das feige Gesicht gespien.
Ohne ein Wort, ohne jemand zu grüßen, verließ er den Saal.
Gutierrez daheim war voller Entzücken. Nicht satthören konnte er sich an der guten Geschichte. „Mit dem Stock! Vor den Bauch! Nicht übel, mein Miguel!” Er holte aus dem Keller seinen feurigsten Aledo. Aber als sie bei der dritten Flasche waren, wurde Cervantes einsilbig.
„Du hättest nicht etwas Schreibpapier, Thomas? Irgend ein Heft.”
Gutierrez brachte ein Ausgabenbuch vom Vorjahr herbei, abgegriffen und ziemlich fleckig. Die Rückseite der Blätter war unbeschrieben. Cervantes stieg etwas unsicher die Treppen zu seiner Kammer hinauf. Er schloß sich ein. Er blieb unsichtbar.
Am Abend überreichte er Gutierrez sein Werk. „Lies es nur gleich! Dich geht es auch an.”
„Mich?”
Im gepflasterten Höfchen draußen war es noch hell. Gutierrez setzte die Brille auf. Nicht lange, so hörten seine Gäste ihn unmäßig lachen. Die Tränen liefen ihm herunter vor lauter Vergnügen.
Mit ausgebreiteten Armen kam er auf Cervantes zu, als er zu Ende war. „Mein Miguel, was für ein Meisterstück! So etwas von Witz, von gespitzter Satire! Wem da nicht die Haut brennt! Und alles natürlich und fein, garnicht rüpelhaft, alles nur Geist. Das hätte mir unter die Finger kommen sollen, als ich noch Schauspieler war. Den Schlaukopf Chanfalla, den hätt’ ich wohl spielen mögen!”
„Du sollst ihn spielen.”
„Nicht Dein Ernst! Ich! Heute! Als Gastwirt! Mit dieser Figur!”
„Was weiter? Ein dicker Schlaukopf! Umso besser zu leiden.”
Es gab auch wirklich gar keine Schwierigkeit. Der Direktor, der eben im „Corral del Rey” ein Gastspiel absolvierte, war entzückt. Der satirische Sinn und die komische Wirkung des kleinen Werks sprangen sofort in die Augen. Und Gutierrez, einst als Komödiant populär, jetzt als Wirt, bedeutete eine Anziehung mehr.
„Und die Zensur,” fragte Cervantes gewissenhaft, „sie wird Euch nicht kratzen?”
„Braucht ihr nicht vorgelegt zu werden, Don Miguel. Zwischenspiele bekümmern sie nicht. Solang Ihr’s nicht drucken laßt...”
Langer Aufschub war nicht vonnöten. „El retablo de las maravillas” war mit zwei Proben einstudiert. Am Montag war es niedergeschrieben worden, am Freitag den 12. August sollte die Aufführung sein.
Es war ein strahlend heißer Tag. Über den ganzen Spielhof war hoch oben ein Sonnendach aus Segeltuch ausgespannt, eine Neuerung, die aber heftig kritisiert wurde, denn sie machte eigentlich den Aufenthalt nur noch dumpfer. Die Vorstellung begann, jetzt im Sommer, um vier.
Ausnahmsweise spielte man einmal kein Stück von Lope, sondern aus lokalpatriotischen Gründen eines von Juan de la Cueva, der ein Sohn der Stadt war. Seit Jahren lief er den Direktoren das Haus ein, beklagte sich über Neid, Mißgunst, schnöde Zurücksetzung, hatte sogar die Behörden mobil gemacht. An einem Logenfenster über der Frauengalerie zeigte man ihn sich: einen gelbgesichtigen Herrn mit bitteren Zügen, der sich schon jetzt bei Beginn unablässig den Schweiß abwischte.
Sein „Tod des Ajax” hatte vier Akte statt der üblichen drei. Auf diese Neuerung war er stolz. Aber leider beherrschte Cueva sein Handwerk nicht. An Stelle kräftiger Handlung gab es lange Berichte, statt des Zusammenpralls der Gefühle pathetische Deklamation. Das Publikum langweilte sich tödlich. Einzelne Pfiffe ertönten. Aber für energische Kundgebungen war es glücklicherweise zu heiß.
Die Zwischenspiele nach den ersten zwei Akten waren witzlose Rüpelszenen, die auch keinem Spaß machten. Der dritte Akt bestand überhaupt nur aus wirren Ergüssen. Die Leute stöhnten. Scharf roch es nach Schweiß.
Cervantes hielt sich im Haufen, nahe der Bühne. Niemand wußte von seiner Autorschaft, die Anschlagzettel am Eingang erwähnten sein Stückchen gar nicht. Nur Gutierrez’ Neuauftreten war am untern Rande vermerkt. Manche waren seinetwegen gekommen.
Als er sich nun auf der Szene zeigte, im roten, geflickten Gewand eines fahrenden Hanswursts, brach gleich Klatschen und Rufen los. Er schmunzelte geruhsam. Sein Rock war ihm vorne durch den ungeheuern Bauch viel zu kurz, und er wirkte wie eine schwangere Frau. Mit dem Lärm einer Schmiede brach seine Stimme aus dem gewaltigen Leib.
Es war die Geschichte von dem Schmierendirektor, der eben mit seiner Frau und einem buckeligen Musikanten im Städtchen ankommt, ohne Truppe, ohne Kostüme, ohne Kulissen, und der sich vornimmt, sein Publikum trotzdem zu schröpfen. Er hält sich an die Honoratioren. Er kennt ihre Rassennarrheit, ihre manische, panische Angst um das reine Blut. Er verspricht ihnen eine Vorstellung voll der rarsten Wunder. Allerdings werde nur der seine Freude dran haben, der wirklich ganz rassenrein ist. Maurenabkömmlinge, Judenstämmlinge, die sehen nichts!
Und nachdem er vorausbezahlt worden, schlägt Direktor Chanfalla sein Zaubertheater auf. Schnell ist das geschehen. Nichts trennt das Nichts seiner Bühne vom auserlesenen Publikum. Der Bürgermeister ist selber zugegen. Gemeinderat Juan Castrado sodann, der aussieht so wie er heißt. Benito Kohlkopf, der Stadtrichter, „drei Finger hoch Altchristenfett auf den Rippen.” Herr Strohkorb, der Ratsschreiber. Zusamt ihren Damen.
Und er zeigt ihnen, was noch keiner erschaut hat, weist ihnen seine Wunder auf einem leeren, kahlen, nackten Brett. Gehorsam sehen sie alles. Denn sähen sie nichts, so wäre ihr Stammbaum verdächtig.
Mit anpreisendem Baß, unter gutmütig-frechem Spiel seiner breiten Züge, führt ihnen Gutierrez zuerst den biblischen Simson vor, wie er halbnackt und riesenstark die Säulen des Tempels einreißen will.
„Großartig!” ruft der Herr Strohkorb, „ich sehe tatsächlich den Simson, als wär’ er mein christlicher Großvater. Ich muß doch wahrhaftig ein ganz feiner Altchrist sein!”
„Aufgepaßt! der wütige Ochse! Ihr wißt schon: vorigen Monat hat er in Salamanca den Lastträger aufgespießt. Achtung, da kommt er!”
Und alle werfen sie sich zu Boden, als hätten sie Angst vor dem Ochsen. Aber sie haben nur Angst vor einander.
„Eine Herde von Mäusen! Da! Weiße, scheckige, himmelblaue, karierte. Hunderttausend Mäuse sind da!”
Und die reinblütigen Damen retten sich kreischend.
„Jordanwasser, Jordanwasser! Ein Sturzbad von Jordanwasser!” Gutierrez greift mit gespreizten Händen zum Himmel. „Macht alle Weiber schön, aber die Mannsbilder kriegen fuchsrote Bärte!”
Und alle tun, als liefe ihnen das Wasser schon den Buckel hinunter und bis in die Hosen, und jeder zweifelt an seiner Rasse und schielt nach den Anderen und schreit umso lauter.
Gutierrez steigert sein Tempo. „Ein Herkules,” dröhnt er, „Herkules mit dem Schwert in der Faust! Ein paar Dutzend Honigbären! Und Löwen dazu! Tiger! Zwei feurige Drachen! Macht Euch nur dünn, versteckt Euch, kriecht unter die Stühle!”
Und in zitternder Angst um ihre „Limpieza”, mit Gezier und Gemaul und Gemecker, flüchten Kohlkopf, Kastrat und Strohkorb samt Weiblichkeit vor der leeren Luft.
Als dann zuletzt ein leibhaftiger Offizier auftritt, mit einem Quartierzettel für seine Kompagnie, da glaubt der Bürgermeister nicht, daß er wirklich ist. Endlich sieht er etwas! Endlich sehen sie alle etwas. Vielleicht haben sie doch kein jüdisches Blut! Und sie treiben ihren Spaß mit dem Offizier, ganz ausgelassen vor Rassenglück, so lange, bis dem die Geduld endlich reißt, und die ganze reinblütige Gesellschaft ihre Prügel bezieht. Denn mit Prügeln muß ein Zwischenspiel enden...
Jubelgeschrei und Bravogelächter. Ein tosendes Durcheinanderreden erhob sich aus dem Parterre. Das war etwas für die „Musketiere”! Die standen nicht im Fleischsteuer-Katalog! Am liebsten hätten sie das ganze Stückchen gleich nochmals gehört. Es dauerte lang, bis der letzte Akt des „Ajax” beginnen konnte.
Auf den vornehmen Plätzen verhielt man sich zurückhaltend und verstimmt. Hinter seinem Logenfenster sah man den bittern Cueva mit empörtem Mienenspiel gestikulieren.
Cervantes wartete das Sterben des Ajax nicht ab. Von niemand beachtet verließ er den Spielhof und wartete draußen, hinter der Häuserwand, auf Gutierrez. Bald erschien er auch, schwitzend, schlecht abgeschminkt, umarmte Cervantes und verabreichte ihm einen schallenden Kuß auf die Stirn.
Dann zogen sie Arm in Arm durch die abendlich volkreichen Gassen und über die Brücke nach Haus. Sie waren in strahlender Laune, fast wie berauscht, und sie sangen:
„Limpieza, limpieza,
Gran burrada y torpeza.”
Es war ein schlichtes Liedchen, soeben erfunden, und sein Text bedeutete ungefähr:
Rassenrein, rassenrein
Will heut jeder Esel sein.
Sie sangen es viele Male.
Aber als sie in der „Griechischen Witwe” anlangten, empfing sie in der Schankstube laute Aufregung. Ein Reeder aus Lissabon war da und hatte Nachricht von der Großen Armada gebracht. Sie war unter ihrem reinrassigen, nur leider nicht seefesten Admiral entsetzlich zu Grunde gegangen.
Man hatte Vieles voraussehen können: die Hilflosigkeit der schweren Galeeren, die Gefahr einer fehlenden Basis in Holland, die Schwierigkeit des Zusammenschlusses mit dem flandrischen Landheer. Furchtbare Stürme fielen Philipps schwimmende Festungen an. Aber die letzte Entscheidung kam von den englischen Seeleuten. Des Kampfes um die bürgerliche und religiöse Freiheit klar bewußt, unter geschickten und verwegenen Kapitänen, schlugen sie die plumpe Streitmacht des alten Glaubens in Trümmer.
Als unfähig hatte Admiral Medina-Sidonia sich selber bekannt. Doch er erwies sich zudem als feige. Als noch Vieles zu retten war, ergriff ihn die Todesfurcht, und er floh sinnlos nach Norden. Um seine Flotte kümmerte er sich nicht ferner. Halbzerstört, leck, ohne Lotsen, trieb der Rest der spanischen Kolosse hilflos an Schottlands, Irlands, Norwegens Küsten entlang.
König Philipp hob kaum den Kopf von seinen Papieren, als er im Escorial die zerschmetternde Nachricht empfing. Seine Beherrschung blieb sich auch in der Folge gleich. Er trug die Schuld. Er wälzte sie nicht auf Andere. Gnädig empfing er den heimkehrenden Admiral. Und er ließ Gott in den Kirchen danken, ganz als wäre ein Sieg erfochten. „Es macht nicht viel aus,” war seine gelassene Äußerung, „daß sie uns die Zweige abgehauen haben, so lange der Baum bleibt, aus dem wieder neue hervorgehen.”
Aber es war nicht an dem. Der Stamm war getroffen. Für immer war es aus mit der spanischen Seemacht, mit katholischem Weltregiment.
König Philipp hatte sein Alles auf die eine unfehlbare Karte gesetzt. Die militärischen und die materiellen Kräfte seiner Völker waren geopfert.
Zwanzigtausend der besten alten Soldaten lagen auf dem Grund des Kanals. Dort lagen die adeligen Herren, die sich die Zeit vor der Ausfahrt so prahlerisch und standeswürdig vertrieben hatten. Dort lagen übrigens auch die Scharen von spanischen Ammen, die auf der Kampfflotte mitgenommen worden waren, damit die englischen Säuglinge keine Ketzermilch mehr, sondern gleich Papistenmilch zu trinken bekämen.
Zwanzig Millionen Dukaten waren vertan. Es war kein Real in den Kassen. Philipp wandte sich an seinen Vizekönig in Peru um rasche Entsendung von Hilfsgeldern. Aber dort beherrschten Piraten das Meer, Räuber die Landstraßen. Es war nichts zu bekommen. Neue Anleihen also bei den europäischen Bankiers, ganz gleich zu welcher Bedingung! Allein der Großkönig der katholischen Welt hat keinen Kredit mehr. So hält er sich an das eigene, schon weißgeblutete Volk.
Alle Steuern, direkte und indirekte, werden erhöht, die Ämter beauftragt, mit verdoppelter Schärfe vorzugehen.
Wie ein Verdammter zieht Miguel Cervantes seines unseligen Wegs. Ihm ist, als wäre er ihn immer gezogen. Zwischen Malaga und Jaen, zwischen Granada und Jerez gibt es keinen steinigen Pfad, den die Hufe seines Maultiers nicht kennen. Immer wieder kommt er die selben Straßen, er scheint sich selber entgegenzureiten wie ein Gespenst.
Er kassiert seine Gelder ein, requiriert Naturalien, kämpft mit den Ortsbehörden, wird handgemein mit den Bauern, gibt plötzlich nach, von Erbarmen, Müdigkeit, Düsternis überwältigt. Er läßt selber das Korn mahlen, steht an der Waage, versteckt bares Geld, das er eingenommen hat, schläft nicht, weil er für seine Vorräte fürchtet. Auf kurze Tage kehrt er immer nur ein in Sevilla, betrübt sieht Gutierrez, wie von seiner frohen Laune das Letzte verschwindet, er lebt in einem Wust von Rechnungen, Quittungen, Auszügen, Listen, Verzeichnissen, Referaten, Bittschriften, Denunziationen und Protokollen. An seinen Vorgesetzten findet er nie eine Stütze. Ewig ist er in Konflikt mit der Bureaukratie von Sevilla. Der vornehme Guevara vollends in der Residenz ist der Feind seiner ausführenden Organe. Ängstlich und eng will er nur Eines: um des Himmels willen kein Aufsehen! Wie er stirbt, ist sein Nachfolger Isunza nicht besser. Seine privaten Geschäfte sind undurchsichtig, stets weiß er den Verdacht so zu lenken, daß er auf seine Einnehmer fällt. Wenn die Bevölkerung gegen sie losbricht, läßt er sie freudig im Stich. An einem Septembertag in Castro del Rio — einem zwanzigsten — wird Miguel Cervantes in den Schuldturm gesteckt, auf Weisung irgend einer Instanz. Kein Mensch weiß genau, warum. Nach wenigen Tagen schon wird er entlassen, wieder weiß niemand, warum. Auf den habgierigen Isunza folgt Herr de Oviedo, ein unerträglicher Pedant. Wegen eines Läpperbetrags gehen Aktenstöße zwischen Madrid und Sevilla hin und her. Ein geübter Rechner selbst kennte sich in diesen verwickelten Zahlenkolonnen nicht aus. Und Cervantes hat keinen Sinn für Zahlen. So schließt er die Augen. Ein Fehlbetrag von 70 Talern wird angemahnt. Er schickt seine Quittungen. Auf einmal sind aus den 70 Talern 450 geworden, niemand erklärt ihm, wodurch. Er antwortet gar nicht, pilgert weiter seines höllischen Weges. Er hört auch nichts mehr. Die Sache schläft ein. Er weiß selbst nicht mehr, ob seine Rechnung in Ordnung war oder nicht.
Wie soll er es wissen! Sein Gehalt wird nicht pünktlich bezahlt, Monate lang bleibt es aus. Und es ist ihm nicht erlaubt, Gehalt und Reisediäten von den Steuergeldern in Abzug zu bringen. Er tut es dennoch. Alle machen es so. Wovon hätte man existieren sollen! Aber nun ist er völlig im Netze gefangen. Unmöglich, das verfluchte Amt jetzt noch hinzuwerfen, er wäre sofort der Unterschlagung verdächtigt. So wird er denn ewig weiterziehen, bis ihn einmal sein Ende in irgend einem Dorfwirtshause ereilt.
Immerhin, es gab doch noch Leute, die groß von seiner Staatsstellung dachten. Einen zum mindesten gab es. Auf Umwegen erreichte ihn ein Brief seines Bruders Rodrigo, der noch immer in Flandern diente, im Regiment Villar. Er war immer noch Fähnrich, ein bald fünfzigjähriger Fähnrich. Und vom Einfluß des angebeteten Bruders fest wie je überzeugt. Schüchtern, schamhaft fragte er an, ob denn Miguel nicht irgend etwas zu seiner Beförderung tun wolle. Es werde ihm doch ein Leichtes sein. „Du, mein Miguel, als Generalintendant...”
Einmal, ein einziges Mal, versuchte der Geplagte dennoch, der Tretmühle zu entkommen.
Die Mitglieder des „Rates für Indien” waren vermutlich erstaunt oder fanden es komisch, als sie in ihrem Einlauf das Gesuch eines gewissen Cervantes fanden, der seine unbekannte Person für wichtige Kolonialämter vorschlug.
Was für Mühe hatte es ihn gekostet, die vier erledigten Posten in Erfahrung zu bringen, die in dieser Eingabe figurierten! Es waren sehr verschiedene Ämter: Gouverneur der Provinz Soconusco in Guatemala. Zahlmeister für die Flotte in Neu-Cartagena. Richter der Stadt La Paz. Finanzminister für das Königreich Neu-Granada. Wie gestochen war das Gesuch ins Reine geschrieben, sauber gefalzt, spatiiert, adressiert an den Ratspräsidenten.
Er machte sich auf monatelanges Warten gefaßt. Der Geschäftsgang der Kammern war schleppend. Wenn nur inzwischen die vier Posten nicht alle besetzt wurden! Er träumte von einer neuen, reineren Welt, einer erneuerten Jugend.
Aber schon nach wenigen Tagen war der Bescheid da. Er war kurz und war schnöde.
„Soll sich hierzulande was Anderes suchen. Dr. Nunez Morquecho, Referent,” stand am rechten, untern Rande der Bittschrift.
Etwas Anderes? Es gab unter den siebzigtausend Ämtern, die König Philipp zu vergeben hatte, für Miguel Cervantes kein andres als das ihm verhaßte. Und auch in diesem hing er von kleinlicher Willkür ab. Denn als er von seinem nächsten Einnehmerritt in die „Griechische Witwe” heimkehrte, fand er die Mitteilung vor, sein Gehalt sei von zwölf Realen am Tag auf zehn herabgesetzt worden. Beliebter Einsparung halber.
In diesen Tagen starb seine Mutter. Sie starb nicht in Alcala. Sie starb in Madrid bei Fremden, in der Wohnung eines Gerbers und Lumpenhändlers.
Es war nicht logisch, daß Miguel diesen Tod mit seinem verringerten Beamtengehalt in Zusammenhang brachte. Es war sogar unsinnig. Aber er wurde den Gedanken nicht los. War es nicht, als wollte die Mutter ihrem gehetzten Sohn nun nicht länger zur Last fallen? Genau die sechzig Realen, um die man ihn monatlich verkürzte, waren ihre regelmäßige Rente gewesen.
Seltsame Vorstellungen und Verknüpfungen, Schrullen beinahe, traten jetzt häufiger bei ihm auf. Gutierrez beobachtete den Freund mit Sorge, mit Kopfschütteln.
Der Vertrag zum Beispiel, den er mit dem Theaterdirektor Osorio abschloß, konnte kaum als das Werk eines verständig-praktischen Mannes gelten.
Es war derselbe Osorio, der die schöne Elena Velazquez geheiratet hatte, Lope de Vegas Geliebte. Er besaß einen Namen in der Theaterwelt, das Gastspiel, das er augenblicklich hier in Sevilla veranstaltete, war Tag für Tag ausverkauft. Er hatte für diese Zeit Quartier in der „Griechischen Witwe” genommen, in Begleitung von Elena, die, sehr in die Breite gegangen, gleißend und schweigsam neben ihm zu sitzen pflegte, die schönen Augen leer träumend in eine Ferne gerichtet.
Mit ihm also schloß der Steuerbeamte Miguel Cervantes seinen Kontrakt. Es muß gesagt werden, daß die Paragraphen zu Stande kamen, als viel getrunken worden war. Mit mißtrauischen Augen beobachtete der servierende Gutierrez das Paar in der Ecke.
Cervantes, so wurde bestimmt, soll sechs Komödien für Herrn Osorio schreiben. Herr Osorio verpflichtet sich, alle sechs aufzuführen, stets binnen zwanzig Tagen nach Ablieferung des Manuskripts. Honorar je 50 Dukaten. Aber nur dann soll dieses Honorar zu entrichten sein, wenn sich bei der Aufführung eines Stückes herausstellt, „daß es eines der besten ist, die man jemals in Spanien gespielt hat.”
Dies zeigte Cervantes voller Stolz Gutierrez. Der blickte bald in sein Gesicht, bald auf diesen Vertrag, an dem Illusion und Trotz so seltsam gleichmäßigen Anteil hatten.
„Mein armer Miguel,” sagte er nur. Glaubte der Freund denn wirklich, hier etwas in Händen zu halten? „Eines der besten” — das hieß doch garnichts. Wer entschied denn über den Wert? Das Publikum? Oder Osorio selbst? Dort hinten in seiner Ecke saß er beim Wein, die schöne, fette Frau stumm neben sich. Lachte er nicht? Gewiß er lachte. Er lachte den armen Miguel aus.
Nie wurde eines von den sechs Stücken geschrieben.
So hatte er denn aller Dichtung völlig den Rücken gewendet? Das nicht. Da gab es zum Beispiel in Saragossa ein Poetenturnier zu Ehren des heiligen Hyazinth: er schickte Verse hin und gewann drei silberne Löffel. Er schrieb auch noch Anderes. Für den Doctor Diaz etwa ein Einleitungsgedicht zu seinem Buch über Nierenkrankheiten. Für schwachbegabte Liebhaber Kanzonen fürs nächtliche Ständchen, zu zwei Realen die Strophe. Er schrieb auch, um Gotteslohn Romanzen für Straßenbettler.
Einmal, ein einziges Mal, erhob der Geschlagene zu anderem Ton seine Stimme.
Vor Cadix überfiel eine englisch-holländische Flotte spanische Schiffe, vernichtete sie und drang in den Hafen ein. Klägliche Gegenwehr! Die Kanonen brachen zusammen vor Altersschwäche wie einst in Oran, keine Kugel paßte zum Kaliber der Rohre, unverteidigt überließ man die reiche Stadt dem plündernden Feind. Aber als alles zu Ende war, Cadix geräumt, die Engländer fort, da zog wie ein Triumphator, unter Vorantritt von Bannerträgern und geputzten Toreros, der ein, der sie hätte beschützen sollen: der „Generalkapitän des Ozeans und der andalusischen Küsten”, Herzog Medina-Sidonia, vom König noch immer geehrt und befördert.
Das Sonett, das diesen Vorgang glossierte, formvoll, von einer leise sausenden Ironie, wurde nicht sogleich gedruckt. Auf geschriebenen Handzetteln ging es in Cadix und Sevilla von Kneipe zu Kneipe. Es stand kein Name darunter, doch Manche wußten, daß es einen gewissen Cervantes zum Verfasser haben sollte, der angeblich sogar Beamter war.
Beliebter hatte er sich schwerlich gemacht. Die großen Herren hingen zusammen, waren versippt und befreundet, Jagd- und Bankettgenossen. An den vorgeordneten Stellen suchte man nach Gelegenheit, dem verdächtigen Subalternen am Zeuge zu flicken. Gelegenheit bot sich.
Wieder einmal war er zur Rechnunglegung nach der Hauptstadt beschieden. Da die Straßen unsicher waren, deponierte er den abzuliefernden Betrag bei dem Bankhaus Freire de Lima, gegen Wechsel auf Madrid. Als er anlangte, war bei dem dortigen Korrespondenten keine Deckung vorhanden. Freire de Lima hatte Bankerott gemacht und war durchgebrannt. Ein Vermögensrest war vorhanden. Mühsam erreichte Cervantes, daß seiner Forderung, die öffentliche Gelder betraf, ein Vorrang zugestanden wurde. Er bezahlte den Fiskus. Er atmete auf.
Aber nun tat man an oberer Stelle, als hätte er schuldhaft doch irgend etwas mit diesem Fallissement zu schaffen gehabt. Er wurde vom Amt suspendiert.
Gutierrez tröstete ihn. Das Bett und der Teller Suppe seien immer für ihn vorhanden, er möge doch froh sein. Er war auch beinahe froh. Er schlief sich aus, fand wieder Lust an Gesprächen, wärmte in der guten Sevillaner Sonne seine alternden Knochen.
Allein in Madrid ruhte man nicht. Ganz unversehens ordnete die Oberrechnungskammer eine Nachprüfung aller seiner Konten aus dem Jahr 1594 an. 1594 — das lag vier Jahre zurück.
Jetzt hätte er wach und exakt sein müssen. Methodisch die Dokumente und Zettel sichten, die in seiner Gasthofstruhe in Bündeln vergilbten. Wie war das damals in Salobreña? In Baza, in Loja, in Almuñecar?
Doch er vermochte es nicht. Er war sterbensmüde. Es ging gewiß alles in Ordnung, die Quittungen mußten ja da sein. Es wäre geraten gewesen, sofort wieder nach Madrid zu reisen. Er stellte sich taub. Er blieb in Sevilla.
Da erfolgte der Donnerschlag. Eine königliche Verfügung langte an, zu Händen von Don Gaspar de Vallejo, Rat am Obergericht für Andalusien.
Der gewisse Cervantes Saavedra habe sich auszuweisen über Steuereingänge in Höhe von 2 557 029 Maravedis. Ein Fehlbetrag sei bereits konstatiert: 79 804 Maravedis. Der Cervantes habe sich binnen drei Wochen vor der Oberrechnungskammer persönlich zu stellen. Für sein Erscheinen dort und für die geschuldete Summe seien unverzüglich Bürgen zu benennen. Mangels tauglicher Bürgen jedoch sei Cervantes zu arretieren und sofort in Schuldhaft zu setzen.
Die Beträge sahen gewaltiger aus, als sie waren. Die Gesamtsumme stellte sechstausend Taler dar, der Fehlbetrag noch keine zweihundert.
Gutierrez eilte zu Herrn de Vallejo. Die zweihundert Taler sei er bereit zu bezahlen.
Herr de Vallejo sah ihn feindselig an. Nicht darum handle es sich. Es handle sich um den ganzen Steuerbetrag, um Bürgschaft für 2 557 029 Maravedis.
Das war offenkundiger Unsinn, eine mit Willen bösartige Deutung des königlichen Edikts.
Gutierrez kam in sein Gasthaus zurück. „Sie verlangen Sicherheit für sechstausend Taler, mein Miguel. Nicht schlimm eigentlich. Wenn ich die „Witwe” hypothekarisch ein wenig belaste...”
Miguel war schon dabei, seine Sachen zu packen. Er richtete sich auch nicht empor, vielleicht um seine Augen nicht sehen zu lassen. Er murmelte, über die Truhe gebückt:
„Etwas zu essen kannst Du mir manchmal schicken und ein Quart Wein! Die Verpflegung soll miserabel sein in Euerm berühmten Gefängnis.”
Es gab im spitzbubenreichen Sevilla keinen Ort, wo so planmäßig und ohne Mitleid gestohlen wurde wie im königlichen Gefängnis. Auch hieran, in klarer Verkettung, trugen König Philipps Unternehmungen Schuld.
Zur Armada-Zeit nämlich, in drückender Geldnot, hatte er einem reichen andalusischen Granden, dem Herzog von Alcala, diesen Kerker verpfändet. Der Herzog war ein zu vornehmer Herr, um das anrüchige Objekt selber auszubeuten, er verpachtete es an den Meistbietenden weiter. Dieser Pächter, der nun Direktor war, nützte seine zweitausend Sträflinge nach Kräften aus. Nie sank diese Zahl. Jahrzehnte lang wurden hier zweitausend Menschen geschröpft und bestohlen und bezahlten so nachträglich ein paar von Philipps Prunkschiffen, die auf dem Grunde des englischen Kanals verfaulten.
In diesem Gefängnis war nichts umsonst. Wer etwas essen wollte außer dem schlechten Brot, mußte bezahlen. In dem riesigen Bau befanden sich vier Kantinen: Wein und Speisen lieferte der Direktor. Mehrere Läden verkauften Grünzeug und Früchte, Essig und Öl, Kerzen, Tinte, Papier: von jeder Zwiebel, von jedem Federkiel hatte der Direktor seinen Gewinn. Erhielt jemand Eßwaren von außerhalb, so war ein Zoll zu entrichten. Alles war tarifiert. Das Bodenausfegen, das Entflohen der Betten, das Reinigen der Wände von Wanzen, die Erlaubnis zum Lichtbrennen, alles hatte seinen genauen Preis. Die Wächter forderten unverhohlen, und wer nicht freiwillig gab, dem wurde das Seine genommen. Man zog dem Gefangenen einfach die Kleider aus und versteigerte sie in dem Trakt, der ganz öffentlich „Trödelmarkt” hieß.
Überhaupt wurden hier alle Dinge beim rechten Namen genannt. Drei hintereinanderliegende Tore besaß das Gefängnis: das goldene, das silberne und das von Kupfer, so benannt nach den Bestechungssummen, die bei der Ankunft erlegt wurden. Je nach Bezahlung war dann das Quartier. Man konnte sehr gut wohnen in diesem Kerker, in behaglichen Einzelzimmern des Oberstocks, und man konnte höllisch wohnen, zu zwei- und dreihundert beisammen in stinkenden Menschenpferchen.
Cervantes, der von diesen Bräuchen wenig wußte und auch mit Geld schlecht versehen war, sah sich in die „Eisenkammer” versetzt, einen großen, niedrigen Raum im ersten Stockwerk, dessen viel zu kleine Fenster auf die schmale Posamentergasse hinausgingen.
Hier lag Strohsack an Strohsack. Gezank, Geschrei und Gelächter rissen nicht ab. Eine zweideutige und verrückte Lustigkeit herrschte. Ringsum wurde gespielt. Unter wüstem Gefluche nahmen die Ärmsten sich ihre Kupferdreier ab oder „auf Ehrenwort” ihre zukünftige Beute. Zunächst aber kostete jeden das Glücksspiel nur Geld. Denn Karten und Würfel verlieh der Direktor.
An diesem ersten Tag rührte sich Miguel Cervantes viele Stunden lang nicht von seiner Bettstatt. Starb man nicht Hungers hier oder wurde von den Läusen aufgefressen, so hatte man für Wochen zu schauen. Es war ein ungeahntes Menschengemisch.
Denn hier existierte kein Unterschied nach dem Grunde der Haft. Sträfling, Untersuchungsgefangener oder Schuldhäftling — alles galt völlig gleich. Der Kaufmann, der einen Wechsel nicht einlösen konnte, schlief neben dem abgeurteilten Räuber. Der Stutzer, der seinem Schneider schuldig geblieben, wurde vom Muttermörder gehänselt, für den im Hof schon der Galgen gerichtet war. Einbrecher und Raufer, Fälscher und Falschmünzer, Sodomiten und Kinderschänder lebten mit Leuten, die garnichts getan hatten und das erst beweisen sollten, in phantastischer Gemeinschaft. Durch einen vergitterten Schacht blickte man in das Weibergefängnis, das unterhalb lag. Diese Öffnung war immer belagert. In zehn Stunden lernte Cervantes mehr plastisch unflätige Redensarten kennen, als ihm sonst sein Wanderdasein in zehn Jahren vor die Ohren gebracht hatte.
Die Tür zur „Eisenkammer” stand offen. Die Insassen gingen ab und zu. Besuch aus der Stadt erschien jeden Augenblick und wurde tobend empfangen. Aber als Cervantes aufstand, um draußen irgendwo frische Luft zu schöpfen, wurde ihm mit gekreuzten Hellebarden der Austritt verwehrt. Hierfür mußte bezahlt werden, einmal für immer. Auch die Ärmsten im Saal hatten dafür bezahlt — für das Recht, die Kloake aufzusuchen.
Er schloß Bekanntschaften an diesem Tag. Sie schlichen um ihn herum, setzten sich neben ihn, hauchten ihm ihren allzu würzigen Atem ins Gesicht und nannten würdevoll ihre Zunftnamen. Mit Achtung betrachteten sie seinen Stumpf, im offenbaren Glauben, er habe die Hand auf dem Richtblock verloren. „Schlechte Arbeit!” bemerkte einer, „Anfängerarbeit, verhunzt und verschrumpelt!” Miguel fühlte sich zur Aufklärung keineswegs bemüßigt; allzu oft hatte er von Lepanto erzählen müssen. „Gambalon”, stellte sich der Andere vor, „auch der Schinken genannt, seit vorgestern Sklave Seiner Majestät”. Das sollte heißen, daß er seit vorgestern zur Galeere verurteilt sei.
„Weswegen denn?” fragte Cervantes mit Höflichkeit.
„Straßenraub.”
„Ah!”
An der Türe entstand Bewegung. Jemand wurde wie tot hereingetragen. Seine Freunde tränkten hastig ein Leintuch mit Wein und schlugen es um ihn.
Gambalon erhob sich, indem er sich formvoll entschuldigte. Dies sei Polarte, ein besonders guter Kumpan, zu wöchentlich zweimaliger Auspeitschung verurteilt. Das Geld sei leider nicht aufzubringen gewesen, um den Foltermeister zu kaufen. — Was denn das Vergehen des Herrn Polarte gewesen sei? — „Hat gesündigt mit dem, was man braucht.” Und als Cervantes ihn fragend ansah: „Mit dem, was sich abnützt,” variierte er kurz und empfahl sich, von so viel Unkenntnis etwas peinlich berührt.
Nacht und Schlafenszeit kam, aber deshalb noch keine Ruhe. Durch den riesigen Bau schallte der Wächterruf: „Torschluß! Torschluß! Torschluß zum dritten!” Getrampel draußen, Gelächter, Geschrei. Ein Trompetenstoß folgte. Donnernd schlugen die Tore zu.
Der Saal übervölkerte sich. Viele von denen, die jetzt erschienen, hatte Cervantes tagsüber noch nicht erblickt. Alles drängte sich vor einen primitiven Altar, der ein mit Safranfarbe bemaltes Marienbild trug und darunter ein Lämpchen. Ein stämmiger Mensch, der seine Capa so drapiert hatte, daß sie fiel wie eine Sutane, zündete zwei Wachskerzen an. Mit Erstaunen bemerkte Cervantes eine kurze Peitsche in seiner Hand. Wer sich noch auf dem Strohsack lümmelte oder sein Würfeln nicht unterbrach, den jagte er auf. Endlich sangen sie Alle einstimmig das Salve mitsamt den Responsorien. Dann befahl der mit der Peitsche ein Avemaria und vier Paternoster. Und die befremdliche Veranstaltung endete damit, daß der Chor aus vollem Halse brüllte: „Herr Jesus Christ, der Du Dein teures Blut für uns vergossen hast, habe Mitleid mit mir, denn ich bin ein armer Sünder!”
Es hallte und schallte gewaltig, die Worte schienen aus allen Mauern zu dringen. Es war auch so. Alle Gemeinschaftssäle waren gleichzeitig Schauplatz der gleichen Zeremonie. Dann klatschte der Chorführer mit seiner Peitsche, und im selben Augenblick öffnete sich auch schon die Tür und herein stürzte, eine Moschuswolke vor sich her treibend, ein Schwarm von dreißig oder vierzig Weibern, feinster Ausbruch von den „Compas” und von der Calle del Agua. Es war offenbar, daß sie schon gewohnt waren, Nächte hier zu verbringen, zu kurzweiligem Trost.
Unmöglich für den Neuling zu schlafen. Es herrschte nicht die mindeste Aufsicht. Jeder tat hier, was ihm gefiel, und tat es öffentlich, mit Prahlerei. Licht kam vom Altar her und von zwei Heiligenbildern, links und rechts neben der Tür. Jede halbe Stunde riefen die Wächter draußen hallend einander an wie die Schiffswachen: „Vela! Vela! Ahao!” und stießen mit durchdringendem Klirren ihre Hellebarden auf die steinernen Böden.
Endlich war er doch eingenickt. Da traf grelles Licht seine Lider. In phantastischem Fackelschein sah er vor sich eine maskierte Gruppe: den Henker im roten Kleid, zwei Polizeidiener und einen Pater. Sie schwenkten eine aussätzige Puppe, die einen Strick um den Hals trug. „So soll der Sünder des Todes sterben!” riefen sie alle vier mit theaterhaft hohler Stimme und streckten bettelnd die Hände aus. Das sei jede Nacht so, erfuhr Cervantes von seinem Bettnachbar Gambalon, der sein Schnarchen kaum unterbrach, — die Veranstalter zahlten dafür ein Monatsgeld an den Direktor.
Am Morgen ersah er keine Möglichkeit, sich zu waschen. Er händigte den Schließern die Hälfte seiner Barschaft ein und erhielt freien Austritt zum Hof, wo zwischen zwei soliden Galgen der Brunnen sprang.
Einige Stunden darauf wurden im Saal die Brote verteilt: immer für drei Gefangene ein großer, schwarzer, schlecht gebackener Laib. Aber da keinem Häftling ein Messer belassen war, mußten sie Hilfe in Anspruch nehmen. Im Gänsemarsch begab man sich zu dem beamteten Vorschneider, der den Laib in vier Teile zerlegte. Ein Mittelstück behielt er für sich zum Weiterverkauf. Sein Pachtschilling an den Direktor sollte beträchtlich sein.
Wie Cervantes kauend auf seinem Strohsack saß und aus übernächtigten Augen den Weg zweier Wanzen verfolgte, die mühsam über die Rupfendecke wegstrebten, stand plötzlich Gutierrez vor ihm. Der Freund war rot im Gesicht und schnaufte vor Anstrengung oder Erregung. In seiner herabhängenden linken Hand trug er am dünnen Hals eine bauchige Flasche voll Rotwein. Er blickte auf das elende Lager, bemerkte auch eine der Wanzen — die andere war soeben verschwunden — und schnalzte bedauernd laut mit der Zunge. „Komm, Alter!” sagte er nur. Miguel stand gehorsam auf. Sein Bündel war noch nicht ausgepackt. Gutierrez legte behutsam den Arm um ihn und führte ihn hinaus aus der „Eisenkammer”, über menschenwimmelnde Gänge und Stiegen. Miguel dachte nicht anders, als daß er frei sei; er traute Gutierrez alles nur Mögliche zu. Aber vor dem Kupfertor ging es jenseits eine andere Stiege hinauf. Er ließ sich geleiten.
Im obersten Stockwerk stand eine Tür offen. Ein ziemlich großes, unbewohntes Gemach lag vor ihnen. Es war sonnig und sauber.
„Logis und Kost bezahlt für einen Monat, mein Miguel. Aber so lange wirst Du nicht bleiben. Setz Deine Eingabe auf, sobald Du den Kopf dafür hast. Dann zahlen wir ihnen ihre zweihundert Taler, und Du bist frei!”
Gutierrez hatte seine bauchige Flasche auf den Tisch gesetzt. Die breit einfließende Septembersonne brach sich prächtig in dem rubinenen Wein. Cervantes schaute schwermütig darauf hin.
Als der Freund gegangen war, blieb er untätig mitten im Zimmer sitzen. Summend drang das Gelärm des närrischen Elendshauses in sein Gelaß.
In diesem obersten Stockwerk lag die Wohnung des Direktors und Pächters. Die übrigen Räume vermietete er. Die Wenigen, die hier untergebracht waren, wurden sorglich bedient. Sie lebten wie in einem sehr ordentlichen Gasthof.
Nach kurzer Zeit erschien ein Wärter und brachte Schreibzeug und Aktenpapier. „Im Auftrag des Herrn, der eben gegangen ist! Für die Eingabe an die Behörde. Euer Gnaden möchten es ja nicht vergessen!”
Cervantes nickte.
„Wenn sonst für irgend etwas Bedarf ist — Euer Gnaden brauchen nur vor die Türe zu treten und in die Hände zu schlagen. Zum Abendessen gibt es heute Aal und dann Rindszunge mit Pfeffersauce. Es kann aber alles geändert werden.”
Gehorsam setzte sich Cervantes sogleich vor den Stoß Papier und tauchte den Kiel ein. Kein Zweifel daran: diese Schuldhaft konnte nicht dauern. Der Fall lag ja klar. Was aber hernach? Was eigentlich war gewonnen für ihn, wenn die drei Tore hinter ihm lagen und er wieder draußen stand in den Straßen von Sevilla...
Langsam schrieb er, mit kurialen Schnörkeln, die Überschrift:
„An den Herrn Präsidenten der Königlichen Oberrechnungskammer, in Madrid.”
Aber dabei blieb es. Er kam nicht weiter. Von ungefähr war sein Blick in den Spiegel gefallen, der in geringer Höhe über dem Tisch an der Wand hing. Dieser Spiegel war ein billiges Ding, nicht aus Glas gefertigt, sondern aus poliertem Blech, dreieckig geformt, oben breit, unten spitzig, in einem Rahmen aus rotem Holz. Cervantes betrachtete sich. Lieber Himmel, sah er so aus! Waren sein Kinnbart und der lange, hängende Schnurrbart nicht kürzlich noch golden gewesen? Jetzt waren sie trübes Silber. Und diese langen, tiefen, schlaffen Falten neben der Nase. Der Mund... Er wies sich selber die Zähne. Wenn er noch acht oder zehn besaß, war es viel, und nicht zwei davon bissen recht aufeinander, alle standen sie in eigensinniger Isolierung umher. Die Augen allein schienen wie ehedem, in denen wohnte noch mutiges Leben. Sonst aber... Der schlechte Spiegel zog alles noch in die Länge, kläglich und komisch. Viele Monate hatte er sich nicht mehr selber beschaut, jetzt fand er ein melancholisches Vergnügen daran, zu studieren, was das Dasein übrig gelassen hatte von ihm. Ohne daß er’s recht wußte, begann er zu kritzeln, zu zeichnen. Ungelenk zeichnete er sich selber ab auf seinem Kanzleiblatt. Er strichelte sein Gesicht hin, hager und eckig, unmäßig lang und übertrieben krummnasig. Solch ein Porträt an den Kammerpräsidenten zu schicken, das müßte eindrucksvoller sein als alle Worte. Wenn er sich darstellte auf seinem Maultier, wie er über die steinigen Straßen dahinritt im verfluchten Dienst, den Amtsstab eingeklemmt unter dem Arm.
Er zeichnete das. Es gefiel ihm. Es wurde nicht das wohlgenährte, ärarische Maultier mit den feurigen Augen. Es wurde ein elendes, ausgemergeltes Gerippe von Pferd. Er selber thronte darauf mit dürrem Leib, endlose Beine traurig herniederhängend. Dem Stab unterm Arm gab er keine runde Bekrönung, sondern ließ ihn spitz auslaufen wie eine Lanze.
Zur Lanze die Rüstung. Er bekleidete sich mit einer Art Panzer und mit einem helmartigen Gebilde, daran kein Visier war. Sporen jetzt noch an die Stiefel, riesige Räder! Das war der Ritter, ihr Herren von der Rechnungskammer, der für eure Kassen auf Eroberung auszog im ausgesogenen Lande.
Der Ritter! Endlich hatte er absteigen dürfen vom Gaul und saß bequem im Gefängnis. Endlich hatte er Muße. Eine sonderbare Art von Wohlbehagen überkam ihn... Der gute Gutierrez, der ihm dazu verhalf! Einmal mußte der Mensch sich noch selber beschauen, ehe er ins Grab hinunterstieg, das nicht mehr gar ferne sein konnte.
Er begann in dem geräumigen Gemach auf- und ab zu wandern, bemüht, Vergangenes zu sichten, zu klären.
Aber es war zu viel. Alles ging wirr durcheinander. Ein ununterscheidbares Wogen von Hoffnung, Entschluß und Enttäuschung, neuem Anlauf, neuer Enttäuschung. „Kirche, Meer oder Königshaus” — Illusion und Enttäuschung. Ein Gerichtsvollzieher, verflucht, von Bauernfäusten mit Steinen beworfen! Glaubte er Gold in der Hand zu halten und tat er die Hand auf, so war es Kot. Die Venezianerin Gina stand mitten im Zimmer, tückisch lächelnd aus weißem Gesicht. Don Juan d’Austrias Brief, Glückshoffnung seiner Jugend: Urteilsbrief zu langer Gefangenschaft. Illusion, Illusion! Weitergezogen, bis man alt war und steif, Chimären vor Augen, Chimäre des Glücks, Chimäre der Freiheit. Einmal hielt er die Freiheit wirklich im Arm. Enttäuschung, Enttäuschung! Ach, ihre Gestalt war nicht schön. Die Gemeinheit warf sich zur Richterin auf über den, der in Träumen lebte.
Es war nicht hell mehr im Zimmer. Er merkte es nicht. Der Wärter hatte Essen für ihn hingestellt. Er berührte es nicht. Er durchlief seine Jahre der Länge und Quere nach. Immer wieder kam er die selben Straßen, der Ritter schien sich selber entgegenzureiten wie ein Gespenst. Illusion und Traum! Traum vom indischen Amt, Gouverneur oder Richter. Traum vom Dichterruhm, der entschwebte. Traum vom ländlichen Frieden im Mancha-Dorf...
Aber hier stockte er. Der Zeit in Esquivias zu gedenken, erfüllte ihn immer mit einer dunklen Beschämung. Lange hatte er sich Catalina nicht mehr vor Augen gestellt, obwohl sein Kind bei ihr aufwuchs. Sein Kind — eine Illusion auch dies Kind. Jetzt sah er sie vor sich mit ihren Büchern. Sie saß auf dem Boden, um sich verstreut all die zerlesenen Bände voll edlen Unsinns, an den sie glaubte. Sah hunderttausend Catalinas im weiten Land, die an Hirngespinsten sich sättigten, letztem törichtem Nachhall großer Vergangenheit. An all diesen Olivantes und Clarians, die mit leuchtender Waffe Riesen und Zaubergeister zu Boden warfen. Nicht so war sein Held.
Sein Held... Er trat an den Tisch. Im Flackerschein der entzündeten Kerze beschaute er sein primitives Bildnis. Nein, sein Ritter war kein holdseliger Jüngling, kein rosiger Cherub. Ein braver, klappriger Alter, ein bißchen närrisch geworden durch all den verschollenen Spuk. Müßt’ es nicht prächtig sein, so einen ausziehen zu lassen, im Glauben, noch sei die Ritterzeit. Was für tolle und bittere Scherze, wenn er auf seiner knochigen Mähre durch das Spanien von heute ritt, durch die arme Mancha etwa, wo die Bauern sich um den Eierpreis sorgten. Wenn er allenthalben Kampfesehren ersah und zu erlösende Unschuld, als ein rührender Narr, der ewig zu fassen meint, was ewig entschwebt und zergeht. Und der überall seine Schläge bezieht, niedergeworfen wird, sich aufrichtet, weiterzieht, unenttäuschbar, mit starrem Greisenblick entgegen dem unverlöschlichen Schimmer der Illusion...
Von unten hallte der Torschluß-Ruf. Nun begann das plärrende Beten. Es drang durch Boden und Mauer, das Haus schütterte leicht vom tausendstimmigen Leiern der Ausgestoßenen. Er hörte es schon nicht mehr. Er ergriff seinen Kiel. Auf dem Blatt mit der Adresse des Präsidenten, dicht unter dem gekritzelten Bildnis, fing er zu schreiben an:
„Noch nicht lange ist’s her, da lebte in einem Dorfe der Mancha, auf dessen Namen ich mich nicht besinnen mag, ein Hidalgo. Er war einer von denen, die einen Spieß und einen alten Lederschild im Waffenschrank haben, einen magern Klepper im Stall und ein Windspiel zur Jagd...”
Es roch nach Verwesung.
Das Fenster der heißen Schlafkammer stand offen gegen den Septembertag. Räucherwerk war entzündet. Doch der Todesgeruch blieb. Seit Wochen zerfiel und zerging König Philipp bei noch atmendem Leib.
Er war mager wie ein Skelett. Aber einzelne Stellen des Körpers hatte die Wassersucht glasig hoch aufgetrieben, daß es grausig zu sehen war. Seine offenen, schwärenden Wunden sonderten Tag für Tag Schalen voll Eiter ab. Ihn zu verbinden, zu waschen, seine Lage um einen Zoll zu verändern, war längst unmöglich. Man hatte unter ihm sein Lager durchbohren müssen. Unbeweglich versank er in seinem Pfuhl.
Sein Bewußtsein blieb klar. Er litt unsäglich an sich. Sein Leben hindurch war er von pedantischer Reinlichkeit und Gepflegtheit gewesen, übertrieben zum Ekel geneigt. Aus einem getrübten Becher zu trinken, war ihm immer unmöglich. Nun schwirrten die Fliegen um ihn.
Er litt für seine Umgebung. Er sah, wie Ärzte, Beichtiger, Minister und Diener schwer bei ihm aushielten. Kaum entschloß er sich mehr, einen Dienst zu verlangen. Mußte es sein, so geschah es mit einer zarten Höflichkeit, die um Verzeihung bat. Entsetzlich war dies anzuhören von diesem Mann der kalten Distanz.
Gott prüfte ihn hart. Der ganze Leib ein Sieden und Wühlen, tobender Kopfschmerz, Übelkeit und Beklemmung, kein Schlaf in den Nächten, ein sengender Durst, den ihm die Ärzte zu löschen verboten und den auch nichts mehr zu löschen im Stande war.
Er hatte sein ganzes Dasein als einen Vorhof des Todes betrachtet. Für die Stunde des Absterbens hatte er gelebt. Aber daß diese Stunde so endlos sich dehnen würde, als diese widrige greuliche Qual, das war nicht zu ahnen gewesen.
Er trug sie. Vierzig Herrscherjahre in starrer und einsamer Illusion trugen jetzt ihre erhabene Frucht. Nie kam über seine zersprungenen Lippen ein Wort der Klage. Mitten im fauligen Zerfall, in dieser Atmosphäre vom Schindanger, blieb er ein König. Noch war es möglich, zu diesem Menschenrest Majestät zu sagen.
Er blieb des Gedankens fähig, diese äußerste Heimsuchung sei Gottes Unterpfand für die ewige Herrlichkeit. Wer am schärfsten geprüft wird, der wird am höchsten erhöht. Er zog aus Leiden und Körperschmach die triumphale Bestätigung seines Glaubens, dem er sein Glück und das Glück seiner Staaten geopfert.
Wie unzulänglich mußten in solcher Prüfung die Tröstungen sein, die ein Mensch in sich selber fand! Eigenes Urteil und freie Gewissenserforschung, was waren das für schwankende Rohre, darauf die nordische Irrlehre sich stützte. Was für ein armseliges Geschöpf mußte der Ketzer sein im Augenblick des furchtbaren Übergangs.
Ihn, König Philipp, umringten in diesem Übergang alle Heiligen, alle Seligen. Seit einem Menschenalter waren mit jeder Einzelheit die dreißigtausend Totenmessen angeordnet, mit denen der ganze Heerbann spanischer Priester jetzt seiner Seele den Weg zur Seligkeit sichern würde. Vom Kissen aus fiel sein Blick durch den anstoßenden Raum auf den Hochaltar der Capilla Mayor. In Jaspis, Achat und Porphyr erschimmerte dort, wie Vorstrahl der Ewigkeit, das Tabernakel. Unter dem Altar jedoch lag sein Vater im Sarge, der Kaiser. Um ihn die Toten des Hauses. Dort, wenige Schritte entfernt, warteten ihre Leiber auf seinen Leib. Und oben im Glanz warteten ihre entsühnten Seelen, daß er aufschwebe zu ihnen, entsühnt.
Er ist umgeben, umstellt von den Zeichen der Erlösung. Wohin seine sterbenden Augen schauen, treffen sie auf einen Trost. Die weißgekalkte Wand der Schlafkammer verschwindet fast unter frommen Bildern. Auf Tischen und Taburetts sind Reliquien aufgestellt, die wunderkräftigsten seiner Schätze: ein Splitter vom echten Kreuze des Herrn, ein Arm vom Heiligen Vinzenz, ein Knie vom Heiligen Sebastian. In kostbaren Behältnissen liegt das Totengebein, in Samt gebettet, mit Gold geschient, von Juwelen farbig umleuchtet. Aber in den Vorhängen seiner Bettstatt ist das kleine Kruzifix aufgehängt, das Kaiser Karl einst in Yuste sterbend in Händen gehalten hat.
Dreimal schon hat er gebeichtet und kommuniziert. Unersättlich hört er die heiligen Texte. Aber morgen ist sein größter Tag. Morgen soll er die letzte Ölung empfangen. Es wird die krönende Zeremonie seines strengen und zeremoniösen Daseins.
Er ist bereit. Er hat sich das Haar und die Nägel schneiden lassen, um in würdigerem Zustand dies Sakrament zu empfangen. Er hat sich die Teile des Leibes bezeichnen lassen, die der Priester benetzt. Er kennt schon das Silbergefäß mit dem vom Papste geweihten Olivenöl. Der neue Erzbischof von Toledo wird ihn salben. Die Assistenz ist genau bestimmt: Beichtiger, Prior und Hauskaplan, Majordomus, Minister und Oberste Hofchargen. Und auch sein Kronprinz soll anwesend sein, der eine törichte, blutschwache Erbe, der ihm aus vier Ehen geblieben ist; auf diesen hat es Gott gefallen die Last des bröckelnden Reiches zu legen.
Zum letzten Mal hat er heute die Geschäfte dieses Reiches verwaltet. Es waren Schriftstücke aus vier Erdteilen. Aber die Arme schmerzen zu sehr, die Finger der rechten Hand sind eine blutende Wunde; so haben ihm denn sein Beichtiger Fray Diego und sein Kammerdiener Moura die Papiere verlesen, ihm auch das eine und andere Stück vor die Augen gehalten. Randbescheide hat er diktiert. Das war nun zu Ende. Hinweg alles irdische Werk! Von morgen an gehörte, was vom Leidensweg übrig war, ganz dem Gebet.
Er lag allein. Die Beiden, lautlos, warteten nebenan.
Ein einziges Blatt war zurückgeblieben. Unbewegten Gesichts hatte er seine Lektüre angehört und dann befohlen, es vor ihm auf die Decke zu legen, mit der Schriftseite nach unten.
Er hielt die Augen geschlossen. Aus der Kirche kam ein leises Klappern und Klirren, es mochte der Sakristan sein, der Gerät und Leuchter zurechtrückte zum Abenddienst. Der König schaute nach innen und schaute zurück.
Er ging in Leid. Er war ein Besiegter. Sprünge und Risse durchzogen sein Reich. Zum dritten Mal, vor wenigen Monaten, hatte er seinen Bankerott erklärt. Volkskraft, Seeherrschaft, Weltregiment, es war alles in Frage gestellt für die eine Idee.
Und den vollen Sieg dieser Idee hatte Gott nicht gewollt! Zwar Spanien und auch Italien waren bewahrt vor dem Gift, in Deutschland, in Polen der Krankheit Einhalt geboten. Aber Oranien herrschte in Holland und über Britannien die greuliche Jezabel.
Dies war abgetan. Eine Wunde nur brannte. Er wendete mit den wunden Fingern das Papier auf der Bettdecke um.
Es war ein gedrucktes Blatt, eine öffentliche Kundmachung, gestern mit der Gesandtenpost aus Paris gekommen. Zu Häupten trug es das Lilienwappen und noch ein anderes. Sein Text war französisch, und er begann:
„On fait à savoir à Tous que bonne, ferme, stable et perpétuelle Paix, Amitié et Réconciliation est faite et accordée entre Très-haut, Très-excellent et Très-puissant Prince, Henry par la grâce de Dieu Roy Très-chrétien de France et de Navarre, notre souverain seigneur; et Très-haut, Très-excellent et Très-puissant Prince, Philippe Roy Catholique des Espagnes...”
Friede, Freundschaft, Versöhnung, er hatte sie Frankreich gewähren müssen, jetzt noch vor seinem Ende! Sich besiegt erklären. Calais und Blavet herausgeben. Verzichten auf allen Gewinn aus der ungeheuren Anstrengung von vierzig Jahren. Und das Königtum dieses vierten Heinrich anerkennen, der alles war, was er haßte.
Er hatte sich bekehrt, dieser König, jawohl. Er war das Haupt der Ketzerei gewesen, und jetzt war er Katholik. Er warf einen Glauben von der Schulter wie einen Mantel. Tausendmal schlimmer war er als die, die im Brande der Scheiter für ihren Irrtum bezahlten. Es war unausdenkbar und doch offenbar: dieser König glaubte an nichts. Was Philipps Herz und Geist in siebzig Lebensjahren erfüllt hatte, für diesen Heinrich zählte es nicht. Die Herrschaft zählte, die Einheit des Landes zählte, die Wohlfahrt seines Volkes zählte. Dafür würde er Türke werden, Feueranbeter. Sein berühmtes Edikt, das den Glaubensfrieden verkündete, Rechtsgleichheit der Konfessionen — was war es anderes als das Achselzucken eines gottfremden Menschen, dem irdisches Glück über alles galt.
Und Gott gewährte es ihm. Philipp war unterrichtet. Gott hatte auf diesen Frevler alle Regentengaben gehäuft. Unabnutzbar war seine Arbeitskraft, untrüglich sein Gedächtnis, selbständig sein Urteil, blitzend klar sein Verstand, unschreckbar sein Mut.
Den übermütigen Adel trieb er mit kurzen, eisenharten Schlägen zu Paaren, erwählte mit genialem Blick seine Minister, gab dem Volk das Bewußtsein, daß ein erleuchteter Wille es führe und schütze. Nicht aus Aktenstößen heraus, aus der Mönchszelle, regierte er Frankreich, er reiste umher, ging unter die Leute, jeder Untertan durfte ihm nahen, mit jedem sprach er in seiner Sprache und erfragte Wünsche und Not. Wie unter einem Mairegen blühte dies Frankreich empor. Dem Landbau, dem Gewerbe, dem Handel galt gleiche, tatkräftige Sorge. Finanz und Justiz wurden mit sicheren Griffen gesäubert. Kein Vorurteil galt, nach keinem Wappen, nach keiner Blutsreinheit wurde gefragt, eine ungeheure Welle von Vertrauen schwoll diesem ganz irdischen, ganz illusionslosen König entgegen.
Paix, Amitié, Réconciliation — wahrhaftig, so hatte kein Druckwerk je noch gelogen. Wie oft hatte Philipp versucht, ihn ermorden zu lassen!
Vor wenigen Wochen einmal hatte er in tiefer Nachtstille lange ein Bild des Widersachers betrachtet. Dann war es fortgeschafft worden für immer. Aber es hatte sich eingeprägt, er kannte ihn ganz. Den kleinen festen kräftigen Mann und sein starkes Gesicht. Das freche, krause Haar, hochgekämmt über der freien Stirn. Die riesige, sinnliche Nase. Den breiten, genießenden Mund über dem viereckig geschnittenen Bocksbart. Und diese Augen, funkelnd von Leben und Ironie, „höllisch kluge und himmlisch freundliche Augen”, wie ihm ein taktloser Späher einmal geschrieben, mit den geistreich spielenden Falten darum.
In großer Gala stellte jenes Bildnis ihn dar. Aber man sah es ihm an, daß er sie lässig und spöttisch trug. Ein uneleganter, geschmeidiger, kleiner Gascogner war das, keine Spur feierlich; sicherlich kam es ihm nicht darauf an, kräftig nach Schweiß und nach Knoblauch zu riechen. Der schämte sich nicht! Die Korrespondenzen aller Gesandten waren voll von empörendem Klatsch. Durch dreihundert Liebschaften war er hindurchgegangen und hatte sich niemals geschämt. Die Frauen, von denen er Freuden empfing, er sperrte sie nicht in ein Kloster, wenn er gesättigt war. Ganz frech ehrte und beschenkte er sie. Er war dankbar für die empfangene Lust. Härte und Grausamkeit waren ihm fremd. Er strafte ja kaum den Verrat.
Philipp haßte ihn. Wie er ihn haßte! Dieses Heinrich ganze Existenz war ein Hohn auf sein eigenes siebzigjähriges Königsdasein, auf sein ganzes strenges, entsagungsvoll dunkles Leben im Dienste der einen, der erhabenen, der ja doch einzig wahren Idee. Wie konnte Gott es zulassen, daß frecher Unglaube so triumphierte! Dein Wille geschehe, oh Herr... aber unbegreiflich und schrecklich war dieser Wille. Sein Haß war es, was König Philipp noch abtrennte vom Frieden des Hintritts. Nicht Gebet, nicht Beichte, nicht Abendmahl hatten diesen Haß aus seiner Seele geschwemmt, der vielleicht ein heimlicher, tiefer, entsetzlicher Zweifel war. Oh Gott, steh mir bei! Laß mich nicht zu Schanden werden in meiner letzten Stunde, neige Dich zu mir, mein Gott, gib mir Kraft, gib mir Kraft!
Die Beiden im Vorraum, der Beichtiger und der Diener, vernahmen einen zerreißenden Schrei. Sie stürzten herzu.
Der König, der sich seit Wochen nicht einen Zollbreit hatte bewegen können, saß aufrecht im Bett, mit stürzenden Tränen. Er hatte das Kruzifix des Kaisers aus den Vorhängen herabgerissen und preßte es mit den blutenden Händen inbrünstig an seine Lippen.
Es klopfte respektvoll. Beim dritten Pochen erst hob er den Kopf von seinem Manuskript. Eintraten Gambalon und Polarte.
Der Sklave Seiner Majestät, der noch immer auf seinen Abtransport wartete, kam mit Kratzfüßen näher. Hinter ihm Herr Polarte, „Sünder mit dem, was man braucht”, völlig bartlos und haarlos, den Körper von den Auspeitschungen ein wenig verzogen. Sie waren auf einem Bittgang.
Es handelte sich da um einen gewissen Boffy, der heute im Hof mit dem Strick zu Tode gebracht worden war. Sie sammelten für sein Grab.
„Euer Gnaden wissen es ja,” erklärte Gambalon sehr gewählt, „die Vorurteile der Menschen sind äußerst verschieden. Diesem ging es um seine Bestattung. Da ihm leider ein christliches Begräbnis versagt bleibt, wünschte er außerhalb der Mauer einen Stein mit einer würdigen Inschrift. Marmor aus Filabres wär’ ihm das Liebste. Aber die Preise sind hoch.”
Cervantes griff in die Lade und spendete von dem Geld, das ihm Gutierrez zurückgelassen.
Aber sie gingen noch nicht. Sie verspürten das Bedürfnis, die Bemühung zu rechtfertigen.
„Es ist schade,” nahm Herr Polarte in der Fistel das Wort, „daß Euer Gnaden nicht sahen, wie er gehenkt wurde! Es lohnte der Mühe. Das Armesünderhemd stand ihm so gut, als wär’ es nach Maß angefertigt, und er war auf das Feinste frisiert. Den Pater bat er mit Höflichkeit, sich nur auszusprechen, und lobte sehr, was der ihm da erzählte. Dann stieg er würdig die Leiter hinauf, weder in Katzensprüngen noch auch zu langsam, zog sich die Falten des Hemdes nach hinten und legte sich selber den Strick um den Hals. Man konnte tatsächlich nicht mehr verlangen.”
„Genug!” unterbrach ihn da Gambalon, „genug jetzt geredet! Du störst Seiner Gnaden die Inspiration.” Und schon bei der Türe: „Es bleibt doch dabei? Heute Nacht nach dem Ave?”
„Ja, kommt nur,” sagte Cervantes.
Da die Beiden ihn einmal unterbrochen hatten, rückte er seinen Stuhl an das offene Fenster und ruhte. Der Blick ging über das breite Ufergelände und über den Fluß. Drüben, über Triana, verfärbte sich der Himmel in purpurnen und smaragdenen Streifen, da die Sonne ging.
Er hatte sie vierzig oder fünfzig Mal untergehen sehen aus diesem Fenster. Lange würde seine Haft nicht mehr dauern. Zwar jene Eingabe war niemals abgesandt worden. Aber seit Kurzem befand Freund Gutierrez sich in Madrid, um seine Angelegenheit dort zu bereinigen.
Cervantes war ihm dankbar dafür. Wahrhaftig, so half ein Freund! Aber wenn er sich selber fragte — die Befreiung eilte ihm nicht. Ihn hätte die Aussicht nicht erschreckt, in diesem Zimmer ein Jahr lang abgesondert zu leben oder auch drei, und hier sein Werk zu vollenden.
Alles kommt in der Kunst auf den Ausgangspunkt an. Sein Ausgang war gut. Er war auf gesegnetem Wege.
Längst schon war Don Quijote nicht der einfache Narr mehr, dem die Ritterbücher das Hirn verrückt haben. Er war ein höher Besessener. Unsinn trieb er noch immer wie zehn Verrückte, doch seine Rede war weise.
Längst zog er nicht mehr allein. Neben ihm auf seinem Eselein trabte schon Sancho Pansa, der Triviale, gebacken aus derbstem Mehl. Kopfschüttelnd und dennoch gläubig, aus Gewinnsucht halb und halb aus einer dumpfen Verehrung für den Adel der Illusion, zog der künftige Stadthalter hinter ihm drein, und sein dicker Bauernrücken verschmerzte die Prügel.
Längst schon hatte der Schloßhauptmann, der ein Kneipwirt war, Don Quijote zum Ritter geschlagen, der entsetzliche und unerhörte Kampf gegen die Windmühlen war überstanden, die edle Rosinante an den grausamen Stutentreibern gerächt, die schmerzhaften Abenteuer im verwunschenen Kastell klaglos verwunden, schon trug Don Quijote statt seines Papphelms den goldenen Zauberhelm des Mambrinus, der ein blankes Rasierbecken war...
Die Quelle war aufgebrochen und strömte. Eine Flut von Geschichten, Gesichten, schwoll um ihn her. Was er auf dreißigjähriger Irrfahrt geschaut und vernommen hatte, das erlebte jetzt seinen Tag. In dem Rahmen, den sein glücklicher, erster Griff gespannt hatte, war für alles Raum, für Sklavengeschichten, Liebesgeschichten, Landfahrergeschichten, alles fügte sich ein wie im glücklichen Traum.
Und wie es in glücklichen Träumen eine Gewißheit ohne Worte gibt, so kannte er ohne Wort alle die verborgenen Züge unter Don Quijotes magerem Gesicht. Sie lugten hervor, doch er rief sie nicht an. Sich selber nicht, der doch aus dem Spiegel zuerst heruntergestiegen war in dies Buch. Don Juan d’Austria nicht, letzten törichten glänzenden Ritter, der nach Kronen griff wie ein schwärmender Knabe. Und auch den mönchhaft Schweigenden im Escorial nicht, der in diesen Herbsttagen verloschen war, und für dessen lebenslange, gewaltige Illusion die Gefangenen in diesem Hause noch immer bezahlten.
Er schrieb einfach ein lustiges Buch, das die Ritterromane verspottete... Würde man kommen und fragen? Würde man hinter seinem Hidalgo den Geist Spaniens erkennen, der großmütig blind hinter Gewesenem her war, während ringsum die Welt zu neuer Wirklichkeit aufwachte? Er zuckte die Achseln. Es gab nichts zu erklären. Fabel und Sinn waren eins, wie eine Frucht und ihr Duft.
Cervantes war glücklich. Er wußte, was ihm geschenkt worden war. Dies war vor ihm nicht in der Welt!
Schon war Name und Ruf seines Ritters hinausgedrungen über die Zelle. Erste Bestätigung stellte sich ein, erster seltsamer Vorglanz zukünftigen Ruhmes.
Es war vermutlich sein Wärter gewesen, der zuerst die Nachricht verbreitete, im obersten Stockwerk sitze ein Herr, der schreibe bei Tag und bei Nacht an einem Ritterroman. Besucher kamen. Nicht von den harmlosesten. Gerade die schärfsten Galgenvögel aus der „Eisenkammer” und der „Pestilenz” stiegen herauf, um nachzusehen, was der einhändige Herr da zusammenphantasierte.
Und er ließ sich nicht bitten. Er hielt sich nicht für zu gut. Er gab was zum Besten. Sein Ruf ging durchs Haus. Raufbold, Kuppler und Bandenräuber, sie würdigten seine Scherze. Sie kamen in Gruppen, in Haufen. Drei Wochen war es jetzt her, da hatten sie sich zum ersten Mal als Publikum hier vereinigt, zusamt ihren Damen. Damals las er den Kampf mit den Windmühlen vor. Am nächsten Tage kannte ihn halb Sevilla. Der Gefängnisdirektor erschien in Person, mehr einem betrübten, feinen Gelehrten ähnlich als dem Ausbeuter, der er war, und erbat sich das Manuskript des Kapitels für einige Stunden. Völlig unbescholtene Herren aus der Stadt ließen sich abends mit einschließen, um an einer Vorlesung Teil zu haben.
Heute aber waren sie unter sich. Kein Stadtbesuch störte. Kaum war im Haus der plärrende Betchor verklungen, so war Miguels Zimmer schon voll. Sie drängten sich an den Wänden, sie kauerten auf dem Boden, die Tür mußte offen bleiben, man sah noch draußen im Gang Gesicht an Gesicht. Kaum blieb für Cervantes, der neben zwei Kerzen saß, ein klein wenig freier Raum.
Es war ihm willkommen, daß er sie heute unvermischt vor sich hatte. Es gab dafür einen Grund.
Er wartete freundlich, bis alles ruhig war. Im flackernden, tanzenden Licht ging sein Blick über wilde Bärte, Kahlköpfe, verwegene Frisuren. Von zerrissenen Hanfschuhen, die ihm die Nächsten entgegenstreckten, über gelbe Strumpfhosen, riesige rote Kniebänder zu geschlitzten Wämsern, groben Decken, aus denen die Nacktheit hervorsah, zerzupften wallonischen Kragen. Dazwischen leuchtete grelles Karmin von den Gesichtern der Damen und die Bleiweißschminke ihrer offenen Brüste.
„Wie Don Quijote viele Unglückliche befreit, die man gegen ihren Willen führt, wohin sie nicht wollen.”
Es war die Geschichte von den zwölf Galeerensträflingen, die, mit langer Kette an den Hälsen aufgereiht, unter scharfer Bedeckung dem Hafen zuwandern. Die Don Quijote aufhält und ausfragt und zu befreien beschließt: „denn mein Ritteramt macht mir’s zur Pflicht, die Gewalt zu bekämpfen und allen Hilflosen beizustehen. Und, es könnte doch sein, liebe Brüder, daß bei dem einen von euch die Folter, bei dem andern die Not, Mangel an Protektion bei dem dritten und bei den übrigen ein ungerechter Spruch des Gerichts an allem die Schuld trägt.”
Und da natürlich die Eskorte ihre Gefangenen nicht gutwillig herausgibt, legt er die Lanze ein und wirft den Polizeioffizier des Königs zu Boden. Dies ist das Signal, Aufruhr bricht los, die Wächter sind überwältigt und die Sträflinge frei.
Beifall wollte sich rühren... Cervantes hob die verstümmelte Hand. Seine Geschichte war nicht zu Ende.
Er las den Schluß. Las, wie die Befreiten ihrem närrischen Befreier keineswegs danken, wie sie ihn verhöhnen, ihn mit Steinen überschütten, ihm seinen goldenen Helm um die Rippen schlagen, ihm und Sancho auch noch die Mäntel stehlen und auseinander laufen...
„Der Esel, Rosinante, Sancho und sein Herr blieben allein auf der Walstatt zurück. Der Esel stand mit hängendem Kopf in tiefen Gedanken da und schüttelte von Zeit zu Zeit die Ohren, als glaubte er, der Steinregen daure immer noch fort. Rosinante, die ein Steinwurf zu Boden geschlagen hatte, lag neben ihrem Herrn dahingestreckt. Sancho stand im bloßen Wamse da, zitternd aus Angst vor der Polizei. Don Quijote aber wollte vor Unmut fast vergehen, daß die, denen er sich hilfreich erzeigt, ihn nun so häßlich behandelten.”
Jubelgeschrei erhob sich, als er kaum geendet. Ein tosendes Lachen ließ die Flammen der Kerzen erzittern. Sie johlten. Sie schlugen sich auf die Schenkel. Die Damen vollends waren ganz außer sich. Begeistert kreischend warfen sie die Arme um ihre Nachbarn und schmatzten sie ab. Wahrhaftig, das war ein Erfolg!
Es war nicht ganz der, den Cervantes erwartet hatte. War dies denn möglich! Ihr eigenes Schicksal ward ihnen vorgeführt — und Einer im brüchigen Panzer, der sich ihrer annahm. Aber sie hatten nichts als ein Johlen für ihn. Johlend gaben sie ihren Elendsgenossen recht, die ihn steinigten. Cervantes hatte nicht übertrieben; sie bewiesen es ihm. Und es fror ihn bei dem Beweis.
Er war aufgestanden. Er hielt eine Kerze hoch und ließ ihren Flackerschein hingehen über diese Zuhörerschaft. Ganz vorn auf dem Boden saß Gambalon, Sklave Seiner Majestät, seit Wochen zum Abtransport an der Halskette fertig. Er hatte sich vor Vergnügen hintenüber geworfen, daß er einem der Weiber im Schoße lag, und riß noch immer lachend den Mund auf, man sah ihm bis in den Schlund...
Ungern brachen sie auf. Ihre Stimmen verhallten. Durch’s weitoffene Fenster zog ihr Dunst ab.
Ein reiches Herbststernenzelt war funkelnd ausgespannt. Über Triana war der Himmel noch hell vom verschwundenen Tag.
Schon lächelte er über sich selbst. Was warf er ihnen denn vor? Daß sie lachten? Über Don Quijote sollte gelacht werden. Worüber beklagte er sich!
Einst aber, er nahm es sich vor, sollte die unverlarvte Wahrheit dennoch hervortreten in seinem Buch, einem jeden verständlich. Einmal würde er sprechen. Ganz spät, ganz zuletzt, nach hundert Abenteuern, tausend Seiten, sollte das Zauberwort aufklingen. Auf die rückwärtige Schwelle des weiten Baus wollte er einen winzigen Schlüssel niederlegen zu seiner innersten Kammer...
Einmal geht es zu Ende mit Don Quijote. Die Freunde sind um ihn. Schluchzend redet Sancho zu ihm von neuer Ausfahrt, neuen Taten. Da aber zergeht vor den Augen des Unenttäuschbaren der lange Traum, und er spricht:
„Langsam, Ihr Herren, nur langsam! Es gibt in den Nestern vom vorigen Jahr keine Vögel in diesem. Don Quijote von der Mancha bin ich nicht mehr. Ich bin wieder Alonso Quijano, den man einst den Guten genannt hat.”
Ja, so sollte nach Jahr und Tag sein Buch einmal enden, mit diesem einfachen Schlüssel- und Zauberwort gut.
Noch war über Triana der Himmel ein wenig erhellt. Und er sah seinen Ritter riesig und hager dahinreiten, immer dem Schimmer nach, durch Raum und Jahrhundert — seines Kleppers Hufe stolpernd auf spanischem Grund, aber das edle und lächerliche Haupt ganz nahe den Sternen.
DIE FÜRSTIN
ROMAN
TRENCK
ROMAN
TAGE DES KÖNIGS
NOVELLEN
ERZÄHLUNGEN
POLITISCHE NOVELLE
DER MAGIER
NOVELLE
DIE KELTER
GESAMMELTE GEDICHTE
DIE SCHWESTERN UND DER FREMDE
SCHAUSPIEL
ZWÖLFTAUSEND
SCHAUSPIEL
STURM IM WASSERGLAS
KOMÖDIE
DER GENERAL UND DAS GOLD
SCHAUSPIEL
A small number of changes were made silently to spelling and punctuation to achieve consistency.
[The end of Cervantes by Bruno Frank]