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Title: Der Hund von Florenz
Date of first publication: 1923
Author: Felix Salten (1869-1945)
Date first posted: Nov. 18, 2019
Date last updated: May 11, 2020
Faded Page eBook #20191134
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F E L I X S A L T E N
DER HUND VON FLORENZ
Meiner Frau gewidmet
»So Du arm bist hier auf Erden, mußt Du die eine Hälfte Deines Lebens ein Hund sein, dann wirst Du etwa die andere Hälfte als Mensch unter Menschen weilen dürfen.«
Eremit von Amiata.
Ohne Abschied schlich Lukas Grassi aus dem finsteren alten Hause unter den Tuchlauben. Dort ließ er in der Enge einer beständig dunkelnden Wohnung seine Habseligkeiten zurück und seine letzten Knabenjahre. Da blieb auch, in Küche, Kammer und Stube, blieb in der Windung der steilen, wohlbekannten Treppe, die er nun herunterstieg, um nie wieder ihre Stufen emporzuklimmen, blieb im schmalen, düsteren Flur, den er zum letztenmal durchschritt, der einzige Ort zurück, der ihm vertraut war. Hier fanden sich auch noch vom Dasein des Vaters überall die Spuren und hielten das Erinnern wach. Der Verstorbene war hier noch irgendwie vorhanden, umgab den Sohn noch in einer nur langsam und ganz unmerklich schwindenden Lebendigkeit. Wenn Lukas sich besann, wie des Vaters Hände da auf dem Tisch geruht, dort den Fensterriegel gehoben, dann wieder sorgsam das Pergament auf das Zeichenbrett gespannt hatten, oder wie seine Gestalt des Morgens von jener Bettnische her sich aufgerichtet, wie sein blasses, stilles Antlitz im Dämmerlicht der Stube sichtbar geworden, seine sanfte Stimme im ersten Gruß und Fragen laut geworden war, um den Tageslauf neu zu beginnen, dann schien es jedesmal, als könne der Vater unvermutet wieder zur braunschwarzen, niederen Türe hereinkommen.
Lukas Grassi begriff, daß dies alles nun zu Ende sei. Er verstand, daß er keine Möglichkeit habe, länger in der alten Wohnung zu bleiben, da er doch nicht einmal genug besaß, seinen Hunger zu stillen, geschweige denn so viel, um die rückständige Miete zu bezahlen. Er hatte es auch als eine Art von Glück betrachtet, daß er an der Kärntnerbastei eine elende Dachkammer gefunden, die man ihm mit so merkwürdiger Bereitwilligkeit fast um nichts überließ. Aber jetzt, da er aus seinem alten Hause auf die Straße trat, spürte er ein kurzes schmerzhaftes Erstaunen, daß er hier hinausging wie so viele, viele andere Male in all den Jahren, gar nicht anders, und daß sich dies Fortgehen für immer so ganz ohne Abschied vollzog. Lukas Grassi war noch sehr jung und wußte nicht, wie oft und wie ahnungslos die Menschen an der Schwelle einer abgeschlossenen Vergangenheit und einer neuen Zukunft stehen, wußte nicht, wie wenig Zeit uns das beständig fortschreitende Schicksal gerade in den wichtigsten Augenblicken vergönnt, Abschied zu nehmen, er konnte auch nicht verstehen, daß darin vielleicht sogar eine Gnade sich birgt, und er war sich dessen nicht inne, daß sein kurzes, schmerzhaftes Erstaunen schon ein Abschiednehmen bedeutete.
Langsam schritt er die Tuchlauben dahin, zögernd, vom geschäftigen Treiben des Tages überholt und mitgeschwemmt, wie diejenigen gehen, die ohne Ziel und ohne Hoffen und beschwert von Sorgen sind. Ein bitteres Gefühl, das ihn seit des Vaters Tode bedrückte, nagte heute schärfer als sonst in seinem Herzen. Er hörte den Singsang der Straßenhändler nicht, hörte nicht das befehlende Rufen der Läufer, die aufsehenerregend in prächtiger Livree vor etlichen Karossen herstürmten und er achtete der Karossen nicht, die schaukelnd und knarrend an ihm vorüberrollten.
Sicherlich gab es an jenem Tage, an welchem Lukas Grassi seinem Schicksal entgegenging, in der Stadt Wien noch viele andere Menschen, die arm waren gleich ihm. Nur wenige aber empfanden die Armut so heftig als eine unerträgliche Grausamkeit wie er. In solchen Stunden, die von vergeblicher Auflehnung zerrissen waren, haßte er auch die Stadt, die ihn mit ihren Basteien und Gräben wie ein trübseliger Zwang umschlossen hielt, ihn mit ihrem Reichtum zu verhöhnen und zu peinigen schien. Er haßte den schmalen Pfad ihrer Straßen, der von altersgrauen Häusern bedrängt, lichtlos und verworren, immer wieder in sich selbst zurücklief, und er sehnte sich weit hinweg nach dem schönen hellen Lande, dessen er sich aus frühen Kindertagen noch zu erinnern glaubte. Seit er hier allein zurückgeblieben war, dachte er unablässig daran, es war als ein neues Heimweh in seiner Seele erwacht und begann sich zu regen, wie mit gebundenen Schwingen. Aber was er sah, hatte nie in seinem Gedächtnis so recht und wirklich gelebt, es haftete darin nur als ein gestaltendes Echo all der Erzählungen des Vaters. In seines Vaters Worten spiegelten sich diese frühen Kindertage, wie eine farbige Welt sich in gläsernen Kugeln spiegelt. Da waren Gärten voll Blumen, goldene Früchte im dunkeln Laub der Bäume, da waren Häuser, die vertrauend und gastlich offen standen, und deren weiße Mauern mitten im Grünen aufschimmerten wie ein Lächeln. Viele andere Kinder waren da, die ringsum auf den Wiesen spielten. Gesang scholl wehend im sanften Wind von nah und fern, und eine gütige, warme Sonne ermunterte die Menschen. Ohne daß er je ergrübeln konnte, wann und wie es geschehen war, erlosch das alles, die Gestalt der Mutter verschwand, die Gärten versanken und er sah sich mit dem Vater über Berg und Tal wandern, doch ihm schien, als sei dies erst viel später gewesen. Fremde Menschen waren mit ihnen unterwegs, fremde Frauen dabei, die sich des kleinen Jungen annahmen, aber sie hatten in der Erinnerung nur schattenhafte Umrisse und kein Gesicht. Städte, Äcker, Fluren, Hochlandswälder zogen an ihm vorüber, ohne daß er sie mit ihren Namen ansprechen konnte, das Gestade unbekannter Flüsse, eine lange, bunte Bilderreihe, bald gänzlich verblaßt, bald wieder in voller Deutlichkeit aufleuchtend. Bis sie hierherkamen in diese Landschaft, die so oft und so lange von grauen Wolken verhängt war. Blickte er zurück, dann mußte er denken, daß sein kurzes Leben von Anfang an nichts anderes gewesen sei als ein Weg aus heller Sonne in die Finsternis. Zuletzt war noch die Stadt hier vor ihm, rings um ihn her emporgestiegen, mehr und mehr lastend, mehr und mehr begriffen und geschaut, mehr und mehr beklemmend und sich zudrängend, wie die Wirklichkeit vor einem heranwachsenden Kind langsam emporsteigt.
Während er nun in der tief beschatteten Häuserschlucht des Kohlmarktes dahinging, fiel es ihm wieder einmal in den Sinn, einen der Genossen des Vaters zu suchen, um Brot und Arbeit zu erlangen. Aber er trotzte gegen diesen Gedanken und warf ihn weit fort, wie schon oft in diesen Tagen. Seines Vaters Gefährten kannte er nur wenig, sie waren dahier beschäftigt, den Palast eines großen Herrn zu bauen und zu schmücken, einige von diesen waren Bildhauer gleich dem Vater, andere Maler, und Lukas hatte von etlichen unter ihnen schon gehört, was sie ihm zu sagen wußten. Er habe nichts gelernt, meinten sie, freilich ohne sein Verschulden, denn die Dinge, auf die es ankäme, seien eben hierzulande nicht erlernbar. Er müsse fort, zurück in die Heimat, woher sie alle, woher auch der Vater sich Kunstfertigkeit mitgebracht habe. Das wäre am besten für ihn. Sonst tauge er bloß zu niedrigen Handlangerdiensten. Dazu wollten sie ihm verhelfen, damit er einstweilen sein Leben fristen könne. Lukas hungerte nach Brot, aber er verschmähte diese Art von Arbeit. Er lehnte sich auf dagegen, als gegen eine abscheuliche Bedingung, die ihm fürs Dasein gestellt wurde. Seine Gedanken liefen wieder denselben Kreis wie immer, wenn er die bittere Wahl, die ihm blieb, erwog. Es lohnte wahrhaftig nicht, Brot zu essen, um solch erbärmliche Arbeit zu verrichten. Und es war sinnlos, sich in solcher Taglöhnerfron zu erniedrigen, nur um Brot essen zu dürfen. Die ganze Kraft seiner Jugend und seines jugendlichen Anspruches an das Leben empörte sich dagegen, daß es kein anderes, keinen Ausweg geben sollte. Er blieb jedenfalls beharrlich in seinem Widerstand, er wollte sich zwingen lassen, wollte sehen, wie lange er aushalten werde, bis es der Not und dem Hunger gelang, ihn zu beugen.
An der Ecke, wo der Kohlmarkt in den kleinen Platz vor der Sankt Michaelskirche mündet, mußte Lukas plötzlich stehen bleiben. Kaiserliche Trabanten sperrten den Weg mit vorgehaltenen Hellebarden, und an der lebendigen Schranke, die sie derart bildeten, staute sich schon ein ziemliches Gewühl neugierigen Volkes. Rasch drängte Lukas sich durch bis in die erste Reihe. Er wußte sogleich, daß da irgendein höfisches Gepränge zu schauen sein werde und er liebte den malerischen Reiz dieser feierlich prachtvollen Aufzüge, liebte, ohne es zu wissen, die unbestimmte Sehnsucht, die solch ein Anblick heiß in ihm entzündete. Da wurden auch schon Fanfarenklänge hörbar; man vernahm das erregende Getrappel und Schlagen vieler Pferdehufe und aus dem Gewirre der Häuser, die der Kaiserburg den Ausgang verrammelten, quoll es nun hervor, farbig, schimmernd, von heller Musik überschmettert, eine Schar Kürassiere, ein paar schwere Wagen folgten dichtauf, hoch in ihren geschweiften Federn schaukelnd. Die Zugpferde tanzten im Geschirr, als seien sie ungeduldig und raschen Laufes begierig; die Kutscher hielten gelassen auf ihrem Sitz die Zügel, während aus den kleinen Fenstern der Wagen stolze, ernste Gesichter gleichgültig über die Menge hinwegsahen. Nun entstand eine Lücke im Zug und Lukas, der bemerkte, daß die Trabanten vor ihm sich strammer breitstellten, wußte, daß jetzt erst die Hauptperson herankomme. Eine doppelte Reihe von Läufern trat auf, leichtfüßig, mühelos, farbenbunt, mit schneeweiß wippenden Straußenfedern, wirkten sie wie Schauspieler, die ein Kunststück ausführen, erschienen wie die Ankündigung eines Festes. Jetzt stießen die Trabanten ihre Hellebarden präsentierend zu Boden und standen, Mann für Mann, zu Bildsäulen erstarrt. Und nun, von sechs hohen Schimmeln gezogen, rollte eine goldschimmernde Karosse einher. Ins Gebiß schäumend, warfen die edeln Tiere beständig ihre Köpfe hoch, nickten tief und es war in der verhaltenen Kraft ihres Ganges, in der wiegenden Anmut ihrer weißen, glänzenden Leiber eine Deklamation, die pathetisch hinreißend von Glück, von Macht und Reichtum sprach.
Lukas betrachtete dies Schauspiel mit einem widerstandslosen Entzücken und hörte dabei die Leute sagen: »Es ist der Erzherzog Ludwig, den sie nach Florenz schicken.« — »Ja, er hat’s auf der Brust und muß in die Sonne . . .« — Einer lachte: »Wegen der Sonne fährt er wohl nicht so weit fort . . . es ist eine Heirat im Gange . . .« — Andere mengten sich ein: »Warum nicht gar! Er hat eine geheime Sendung . . .« Und wieder andere flüsterten eifrig untereinander: »Aber, man kennt doch den Erzherzog Ludwig . . . man weiß doch, wie er’s treibt . . . verbannt ist er vom Hof!« — »Nach Florenz?« — »Das weiß ich nicht . . . vielleicht nach Florenz!«
Lukas vernahm alle diese Reden, und der Name Florenz fiel in sein Herz. Dies goldschimmernde Wort erregte ihn von jeher. Er mußte es leise vor sich hinsprechen, so oft es ihm in den Sinn kam. Es schwebte vor ihm wie ein Glücksstern, es rief mit einem Klang, darin wunderbare Ahnung war und schmerzhaft drängende Sehnsucht. Mit eiligen Blicken spähte Lukas zur Karosse hin. Nur flüchtig sah er den Kutscher, sah nur flüchtig die vier Lakaien, die in ihrer großartigen spanischen Livree hintenauf beisammen standen wie ein erstarrtes kleines Getümmel der Dienstbarkeit, wie menschenähnliches Gerät, das sich bloß rührt, wenn man es braucht. Dort in den Atlaskissen, saß aufrecht ein schmaler, junger Mann, in schwarzen Samt gehüllt. Ein schmales, bleiches Antlitz, von schwarzen Locken umschmiegt und vom zarten Flaum dunkeln Pelzwerks umhalst, war aufwärts gehoben, des Volkes nicht achtend, fremd und fern und durch die klaren Kristallscheiben abgeschlossen wie eine Kostbarkeit, die man wohl betrachten, aber nie erreichen noch berühren kann.
»Warum fährt er nicht stracks zum Tor hinaus, an der Burgbastei?« fragte einer aus der Menge. Ein anderer gab sogleich und mit wichtigem Ton Bescheid: »Er will noch bei den Kapuzinern ein Vaterunser beten.« Ein dritter erklärte: »Zum Burgtor hinaus wär’ gefehlt; erst vom Kärntnertor führt die Straße nach Süden.« Lukas sprach, ohne daß er’s wußte, leise vor sich hin: »Florenz . . .«
Dicht neben der Karosse des Erzherzogs trabte ein Hund. Lukas gewahrte ihn plötzlich und bewunderte auch ihn. Es war ein Hund, wie man in Wien noch wenige erblickt hatte. Hochbeinig, überschlank, mit langer, dünner Schnauze, erinnerte er an ein Windspiel, war aber um vieles größer, hatte außerdem ein langhaarig gelocktes Fell und eine buschige Rute, die einem kleinen Banner glich. Sein Rücken glänzte in einem fast blonden, tiefen Gelbbraun, seine Flanken, seine Brust und sein Hals waren wie von weißer Seide, und ein ganz schmaler weißer Strich lief ihm über die Stirn zwischen den gelben Scheiteln bis nach vorn zur Nase. Es hieß, diese neuartigen Hunde seien aus Rußland gekommen und als Hasenfänger unübertrefflich. Lukas betrachtete den Hund genau, sah, wie er in einem hochwiegenden, leichten Trab, zierlich und vornehm die dünnen, langen Beine setzte, wie er sich immer knapp beim Wagenschlag hielt und manchmal aufmerksam zu den Kristallscheiben emporschaute.
Langsam rollte die Karosse vorüber. Kürassiere folgten, nach ihnen eine Reihe hochbepackter Wagen, rasselnd, polternd, von Maultieren gezogen. Lukas wartete das Ende nicht ab, wandte sich mit einem Male wie unwillig weg, drängte fort aus dem Menschengewühl und suchte sich einen andern Weg, als habe er Eile. Werde ich immer hier gefangen sein? dachte er, immer hier allein bleiben, arm, hilflos, ohne Freude, Jahr um Jahr, bis ich zu Grunde gehe? Da zieht nun ein Haufen reicher Müßiggänger nach Florenz und ich muß dabei stehen, muß zuschauen und kann nicht von der Stelle! Sie werden frei dahinwandern über Berg und Tal, sie werden rasten, wenn sie müde sind, werden unter den Baumwipfeln der Hochwälder schlafen oder am Gestade silberner Flüsse, und eines Tages sind sie in Florenz, eines Tages gehen sie in Florenz umher, als war das selbstverständlich! Wird es ihnen etwas bedeuten, daß sie nun in Florenz sind? Oh, sie werden vielleicht finden, es sei recht hübsch, es sei recht ergötzlich und das Wetter sei recht angenehm, aber sonst wird es ihnen weiter nichts bedeuten. Gar nichts! Haben sie denn dort etwas zu tun, was sie hier nicht ebenso tun könnten, dort etwas zu suchen, was sie hier nicht gerade so finden? Aber ich muß hier bleiben. Ich habe meine Heimat dort, ich könnte meine Lehrer dort finden, die Lehrer, die es hier nicht gibt, ich könnte dort alles erfahren, was ich wissen muß, könnte malen, modellieren, zeichnen, ziselieren, könnte lernen, wie der Stein und das Metall bearbeitet wird, wie . . . ach alles könnte ich lernen und ich könnte alles mit Augen sehen, was die guten Arbeiter dort von altersher zustande gebracht haben.
Lukas war in seinem heftigen Zorn schnell gegangen, jetzt wurde er mutlos und traurig und seine Schritte waren gebunden. Ach was, seufzte er, man erfährt ja auch gar nichts, wenn man solch ein armer Teufel ist, der nie unter Leute kommt und sich mit niemandem zu reden getraut. Hätte ich gewußt, daß der Erzherzog nach Florenz reist, ich hätte mich als Diener angeboten, als Pferdejunge, als was immer, gleichviel, wenn sie mich nur mitgenommen hätten. Aber man erfährt nichts. Das ist das Unglück! Und jetzt beneide ich den Hund, der mitreisen darf, der sein Futter kriegt und sein Nachtlager und der in Florenz sein wird . . .
In leichten Flocken begann es zu schneien. Lukas sah zu dem grauen, engen Himmelstreifen zwischen den Häusern auf und fühlte an seinen Wangen die zarte Berührung des fallenden Schnees. Er raffte sich zusammen in der stärkenden Frische eines Entschlusses: wenn dieser Winter zu Ende ist, wird er nach Florenz wandern, sicherlich, das wird er tun. Wenn man nur erst wieder im Freien schlafen, wenn man wieder barfuß gehen kann, wird er zum Stadttor hinaus, immer die Straße, die nach Süden führt. Er wird betteln, was liegt daran? Er wird wandern bis ihm die Sohlen bluten und sich nachts im Walde verstecken, er wird, wenn ihn unterwegs eine Krankheit befällt, unter freiem Himmel liegen bleiben bis ihn die Sonne wieder gesund wärmt und er wird endlich sein Ziel erreichen.
Ohne es zu merken, war er mit solchen Gedanken schneller und immer schneller gegangen und stand nun auf der Bastei vor dem Haus, darin er jetzt wohnen sollte.
Unter dem engen Torbogen trat ihm eine Frau entgegen. Lukas kannte sie schon, wußte, daß sie das Weib des Pförtners sei, und war ihr dankbar, weil sie ihn freundlich aufgenommen und ihm lächelnd gesagt hatte, er brauche sich wegen der Miete für die Dachstube keine Sorge zu machen. Als sie ihn nun sah, lächelte sie wieder, geradeso wie beim ersten Mal. Sie war noch jung und von einer breiten, gleichsam aus den Kleidern drängenden Gesundheit und Frische.
»Da bin ich also . . .«, sagte Lukas.
Die Frau nickte, maß ihn mit raschem Auge und deutete leicht mit der Hand auf die Mappe, die Lukas unter dem Arm trug: »Ist das alles?«
Lukas schwieg. In der Mappe hatte er ein paar von den besten Zeichnungen seines Vaters, ein paar eigene Versuche, und das war wirklich alles, was er besaß.
Die Frau sah ihn freundlich an, als erwarte sie keine Antwort und als sei sie der Meinung, daß seine Armut nichts zu bedeuten habe. Es war ein milder, verstehender und tröstlicher Blick. Dann wies sie mit einer Kopfbewegung über ihre Schulter zurück ins Haus: »Geh’ nur. Weißt ja, wo es ist.«
Lukas schritt an ihr vorbei und wie er im Flur verschwand, sah sie ihm nach, wie jemandem, der in eine Falle geht.
Langsam stieg Lukas die gewundene, steile Treppe hinauf, von Dunkelheit so stark umfangen, daß er anfangs nur tastend einen Fuß vor den andern setzen konnte, bis er den Stein der Stufen als einen fahlen Schimmer wahrnahm. Er hatte den Blick nicht bemerkt, mit dem die Frau seinem Eintritt in das Haus gefolgt war, und er wußte auch nicht, warum man ihm die Dachkammer da oben so willig überließ, ohne nach Bezahlung zu fragen. Diese Dachkammer war freilich armselig genug, aber es stand doch ein Bett darin, ein Tisch war da und ein Stuhl, und so war sie ihm doch eine Wohnstätte, bot ihm Unterkunft und Zuflucht in einem Augenblick, in welchem er gefürchtet hatte, auf der Straße schlafen zu müssen. Das freundliche Lächeln der jungen Frau hatte ihm gleich das erstemal und eben jetzt wieder den Eindruck gegeben, man habe seine Not begriffen und wolle ihm eine Güte erweisen. Er nahm das beinahe als etwas Natürliches, dachte nicht weiter darüber nach und es fiel ihm also nicht im entferntesten ein, daß er eigentlich nur dazu benützt wurde, die Verrufenheit jener Dachkammer durch seine harmlose Gegenwart zu bannen. Lukas hatte keine Ahnung davon, daß in dem kahlen Raum, den er jetzt betrat, eine Woche vorher ein geheimnisvoller alter Mann auf eine geheimnisvolle Weise verstorben war. Viele Jahre hatte der alte Mann hier einsam gewohnt, von allen Nachbarn gefürchtet, mit stillem Grauen betrachtet und von keinem je enträtselt. Es war ein hochgewachsener blasser Mann, so mager, daß er in seinem langen, schlotternden Talar fast körperlos erschien, so bleich, als sei er längst schon tot, so schwach in jedem Schritt und jeglicher Bewegung, als könne ein Hauch ihn wegblasen, aber durch den schneeweißen Bart glühte die feine rote Schwunglinie seiner beständig geschlossenen Lippen wie unverwelkliche Jugend und der helle, gebieterische Blick aus seinen grauen Augen hatte die Kraft eines großen Lebens. Die Frau des Pförtners konnte sich seiner bis in die Tage erinnern, da sie noch ein Kind gewesen und hier auf der Bastei mit anderen Kindern gespielt hatte. Alle waren scheu vor ihm zurückgewichen, die Kleinen ebenso wie die Erwachsenen. Niemand hatte je ein Wort aus seinem Mund vernommen. Er war da, ging einsam, unnahbar und der anderen nicht achtend, an den Menschen vorbei; verschwand oft für lange Zeit und erschien plötzlich wieder, und alle hielten ihn für einen Magier. Einige Leute, welche glaubten, er sei in geheimen Künsten bewandert und könne vielleicht böse Krankheiten heilen oder beschwören, hatten seinen Beistand gesucht, aber er hatte kein Wort gesprochen, hatte ihre Fragen mit keiner Silbe erwidert, und sie waren, von der Macht seines Blickes eingeschüchtert und erschrocken, geflohen. Das war schon viele Jahre her, und von da an hatte sich niemand mehr ein Herz gefaßt, ihn anzureden. Nun war er etwa vor Wochenfrist in seiner Dachkammer als gräßlich entstellte Leiche aufgefunden worden, und die Dachkammer galt deshalb als ein Ort des Grauens, wo es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geheuer und auch nicht geraten sei, zu wohnen. Man wollte einstweilen durch den jungen Mieter erproben, ob etwa das Gespenst des alten Mannes da oben umgehe, und gedachte dann, je nach Umständen, das Weitere zu veranlassen.
Lukas ahnte nichts von all diesen Dingen, als er nun die schmale Kammer betrat. Er legte die Mappe mit den Zeichnungen auf den Tisch, schaute flüchtig und ohne wirkliches Sehen umher und gab sich völlig seinen Gedanken hin. Es waren die Gedanken eines Menschen, der auf der Welt alles zu wünschen und nichts zu tun hat, die Gedanken eines Menschen, der mit leeren Händen dasitzt, in völlig leere Stunden blickt und in seinem Innern nur die eine Frage hört, was fange ich an? Findet sich für diese Frage eine bestimmte Antwort, dann ist die Not im Augenblick zu Ende, die Stunden, die sich gleich einer Wüste noch eben hindehnten, sind nicht mehr leer, sondern füllen sich mit Aufgaben, Plänen, Hoffnungen, ja mit Gewißheit, und die Hände empfinden die Kraft künftiger, naher Arbeit so sehr, daß sie vergessen, wie müßig sie eigentlich bisher noch sind. Allein dem Entmutigten antwortet in seinem Denken nur ein Gewirr von Einfällen, das er nicht zu entrollen vermag, ihm antworten hundert Stimmen, von denen jede gleichsam nur stotternd ansetzt und dann abbricht, bis sie alle miteinander schweigen und wieder nur die Frage übrig bleibt: »Was fange ich an?« Lange saß Lukas so in der Kammer und vernahm immer aufs neue den quälenden Klang dieser Frage. Endlich schüttelte er sich, warf diesen Gedanken ungeduldig beiseite und ergriff das Mittel aller Menschen, die ihrer Not keinen Ausweg wissen. Er begann zu träumen. Eines Tages wird ein reicher Herr zu ihm kommen und zu ihm sprechen: Du willst nach Italien und etwas Tüchtiges lernen? Brav, mein Sohn. Hier sind zehn Dukaten. Damit kannst Du ohne Sorgen deines Weges ziehen, es langt bis Florenz und weiter noch. Nimm das Geld nur ruhig an, es ist ein Geringes für mich, denn zehn Dukaten setze ich oft auf eine Karte und achte es nicht einmal der Rede wert, wenn ich sie fünf- oder zehnmal des Abends verliere. Zehn Dukaten hab ich, wie oft schon, einem jungen Mädchen für ein Lächeln geschenkt. Da sieh die Schnalle an meinem Schuh, sie ist dreißig Dukaten wert, und dennoch hab ich mich keine Minute lang geärgert, als mir die eine davon gestohlen wurde.
Sicherlich, fuhr Lukas in seinen Gedanken fort, gibt es viele gute Menschen auf der Welt. Der Vater hat es oft gesagt, und ich glaube, er hatte recht. Aber wie merkwürdig, daß man die guten Menschen erst bitten muß. Wenn sie gut sind, dann wissen sie doch, daß andere verschmachten. Und sie wissen auch, daß man oft um ein Geringes, um den Preis einer Schuhschnalle, Menschen zu retten vermag. Ist es Güte, dem Bettler an der Kirchentüre und an den Straßenecken Almosen zu geben? Er bleibt, auch mit der Gabe in der Hand, immer noch ein Bettler. Viele, sehr viele gute Menschen müssen auf der Welt vorhanden sein und viele von ihnen müssen an dem Bettler vorübergehen, damit dieser sein tägliches Brot habe. Also reicht die Güte doch nicht weiter, als bis zu diesem Stück Brot. Und viele gute Menschen bringen es nicht zuwege, daß ein Bettler nicht mehr betteln muß. Aber er wäre ja gar kein Bettler geworden, wenn man ihm geholfen hätte. Vielleicht ist es das Schlimmste auf der Welt, daß die Menschen aneinander vorübergehen.
Lukas stand auf und ging ans Fenster, angelockt von dem weiten Himmel, der sich da draußen zu öffnen schien. Es war ein kleines Dachfenster, zu dem man auf zwei groben Holzstufen emporsteigen mußte. Erfreut lehnte sich Lukas über den breiten Bord und gewahrte die schöne Fernsicht, die sich hier bot. Tief unter ihm dunkelten die Baumwipfel auf der Bastei, vor den Mauern lag das große, grüne Brett des Glacis, auf dem sich Straßen und Wege gleich weißen Zeichenstrichen kreuzten, jenseits davon waren die Häuser, Dächer und Kirchtürme der Vorstadt und noch weiter, darüber hinaus verlief die hügelige Landschaft bis fern zu dem zarten Dunst der Berge.
Mit einem rasch umfangenden Blick hatte Lukas dies Bild in sich aufgenommen, und nun er in der Lust des Betrachtens das einzelne erfassen wollte, gewahrte er auf der breiten Straße, die das Glacis zur Vorstadt hin durchquerte, einen langen Zug, der in mäßiger Eile vorwärts strebte, und der einem einzigen lebendigen Wesen glich, das sich vielbeinig mit wellig bewegtem Rücken dahin schob. Lukas betrachtete das Schauspiel zuerst ganz harmlos, bis er plötzlich erkannte, daß es derselbe Zug sei, dem er vorhin auf dem Platz vor der Michaelskirche begegnet war. Eine heftige Erregung packte ihn an. Jetzt sah er genau, trotz der Entfernung: dort ritten die Kürassiere voraus. Wie das Licht über die trabende Schar hinspielte und in ihren Helmen manchmal mit kurzem Strahl erblitzte, waren sie deutlich kennbar. Dort fuhren die Reisewagen, die jetzt aussahen wie dunkle, krabbelnde Käfer. Und hinterdrein folgte wieder ein Troß von Reitern. Lukas blickte unverwandt hinüber. Das war nun eine Gemeinschaft vieler Menschen, die von dannen zog. Dicht beisammen, bildeten sie ein Ganzes, waren schon abgetrennt von der Stadt, schon losgelöst von allen anderen, die hier am Fleck klebten und zurückblieben. Unsichtbar, weit über fremde Länder hinweg, lag ein Ziel, das sie an sich riß, sie in eine Bewegung gesetzt hatte, die nicht aufhören wird, bis das Ziel erreicht ist, bis sie eins mit ihm geworden sind. Lukas starrte hinüber. Seine Augen mußten mitwandern. Er sah das Reisen selber, und sein Herz begann stürmisch zu klopfen. »Die Glücklichen«, seufzte er, »ach, die Glücklichen!«
Der schöne Hund fiel ihm ein, der neben der Karosse des Erzherzogs einhergelaufen war. Lukas schlug mit der Faust auf das Fensterbrett und rief dabei voll Ingrimm: »Oh Gott . . . selbst diesen Hund beneide ich!« Seine Sehnsucht brach aus und er schlug bei jedem Wort mit der Faust auf das Fensterbrett: »Mit . . .! Mit . . .!« Und in einem plötzlichen Einfall rief er: »Ja, wenn ich auch nur jeden anderen Tag ich selber sein dürfte, nur jeden anderen Tag, dann wär’ ich schon zufrieden . . . meinetwegen . . . was liegt daran?. . . dann möchte ich dieser Hund sein und mit auf die Reise gehen . . .«
Im selben Augenblick lief er als Hund neben dem Wagen des Erzherzogs einher.
Lukas hatte, als er auf das Fensterbrett schlug, nicht bemerkt, daß da in das glatte, altersgraue Holz ein metallisch rot schimmernder Ring eingelassen war. Er hatte in seiner Erregung des heftigen Spieles seiner Hand überhaupt nicht geachtet. Daß der dünne Reif, der einen Kreis im Holz zog, aus purem Gold sei, konnte Lukas nicht wissen, am allerwenigsten vermochte er zu ahnen, daß dieser Stelle die Kraft innewohne, jeden Wunsch eines Menschen zu erfüllen, dessen Hand während des Sprechens in den Kreis griff. Lukas hatte laut gesprochen, ohne es zu wissen, seine aufschlagende Faust hatte dabei jedesmal in den magischen Kreis getroffen und so war alles geschehen. Lukas fühlte nur, daß ihn nach dem letzten Wort ein Taumel ergriff, daß es ihm vor den Augen schwindelte, als ob er in eine tiefe Ohnmacht gerissen würde. Ein Schlag zuckte durch seinen Körper, so gewaltig, daß ihm der Atem wegblieb. Aber das Ganze hatte kaum eine Sekunde gedauert, und wie nun Lukas neben dem Wagen des Erzherzogs daherlief, meinte er zu träumen.
Er fühlte den Hundekörper als den seinigen, mit einem ungläubigen und ergötzten Staunen. Er wunderte sich, wie er vierbeinig laufen konnte und fügte sich dieser Gangart als einem Spaß, fand aber zugleich, daß sie ihm jetzt bequem und natürlich sei. Eine seltsame Fülle von allerlei Gerüchen, die er nie vorher wahrgenommen, drängte nun auf ihn ein, und es trieb ihn unwiderstehlich an, beständig forschend nach ihnen in der Luft zu schnuppern. Rings um sich vernahm er das Knarren der Räder, das Gewirr der Stimmen und das hundertfache Klopfen der Pferdehufe, das dem Trommeln eines Hagelwetters glich. Sein Denken war benommen und doch zugleich vollständig wach.
Ich träume, sagte er zu sich, ich träume einen wunderbaren Traum.
Einen Augenblick überwältigte ihn ein nie gefühltes Entsetzen. Er wollte laut aufschreien, da hörte er sich bellen. Und seine Angst schlug darüber in solche Heiterkeit um, daß er lachen mußte. Aber es klang wieder nur wie ein hohes, im Ton umkippendes Gebell, bei dem er dem Zwang, den Kopf emporzuwerfen, nicht widerstehen konnte. Da sah er über sich das blasse Antlitz des Erzherzogs, der sich vorgebeugt hatte und durch die Kristallscheiben des Wagens zu ihm niederblickte. Lukas erschrak ein wenig und duckte sich rasch.
Es ist toll, dachte er, was ich alles zusammenträume.
Er spürte in allen Gelenken das Verlangen, sich umherzutummeln, und begann in großen, leichten Sprüngen, die ihn entzückten, zu galoppieren. Im Nu war er an den Gespannpferden vorbei.
Welch ein Traum! dachte er und wollte sich feldeinwärts wenden.
Ob ich wohl fortlaufen kann?
Kambyses!
Das Wort riß ihn mitten im Sprung zusammen, unwiderstehlich. Irgendeine Stimme hatte gerufen und Lukas wußte sogleich, das gelte ihm, wußte, das sei sein Name und fühlte einen unüberwindlichen Drang, eine stürmische Bereitwilligkeit, zu gehorchen. Er rannte zurück bis an den Wagen.
»Kambyses!« Es war einer der Lakaien, die auf dem Rückbrett der Karosse standen. Lukas sah sich nach dem Manne um und hörte ihn noch sagen: »so . . . schön . . . hier bleiben . . .«
Dann ging es weiter.
Die Lust wandelte ihn an, den Erzherzog genauer zu betrachten. Deshalb hob er oftmals den Kopf und spähte zu dem Wagenfenster hinauf. Er mußte in diesen Bemühungen bemerkt worden sein, denn ein paar Worte drangen an seine aufzuckenden Ohren, und ihm blieb in seiner Neugierde, diese Worte zu verstehen, gar nicht einmal Zeit zu beobachten, daß ihm auch in der Anstrengung, genau zu hören, sein Körper völlig nach der Art des Hundekörpers zu Diensten war und daß er ganz unwillkürlich die Ohren hochstellen oder sie niederklappen mußte. Aus dem Wageninneren drang nun der Laut befehlender Worte, von den Lakaien, die hintenauf standen, hoben einige die Hand, um dem nachdrängenden Troß ein Zeichen zu geben, dann hielt die Karosse plötzlich still. Der Schlag wurde geöffnet und der Erzherzog beugte sich von seinem Sitz leicht zur Straße nieder.
»Nun, Kambyses . . . schon müd’ vom Laufen?«
Es war mit einer scharf klingenden Stimme gesprochen, die nur von einer mühsamen und ungeübten Freundlichkeit gleichsam künstlich erhellt war.
Lukas schaute erschreckt und erfreut zugleich in das stolze, schmale Antlitz, das auf ihn herabsah. Er wollte antworten, wollte grüßen und merkte, daß jeder Ausdruckswille ihm den Rücken hinablief Er wollte freundlich sein und wollte lächeln und er machte die Wahrnehmung, daß auch der Wille zur Freundlichkeit, ja das Lächeln selbst ihm den Rücken entlang fuhr und dort irgendwo ins Werk gesetzt wurde. Einen kleinen Sprung tat er zur Seite, wandte den Kopf, weil er spürte, daß da hinter ihm etwas Unbekanntes mit Antwort, Gruß und Lächeln in Bewegung war, und er entdeckte, daß er wedelte.
Dicht über sich hörte er den Erzherzog sagen: »Er mag hier am Boden liegen, wenn er müd’ ist; die ganze Reise wird er ja doch nicht laufen können.« Der Erzherzog sprach zu einem Herrn, der ihm gegenüber den Rücksitz einnahm. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, wandte er sich jetzt nochmals hinaus, stieß die Wagentüre vollends auf und rief: »Also, Kambyses . . . hopp!«
Es wird unmöglich sein, dachte Lukas, duckte sich in den Schultern, maß die Höhe der Karosse, während die Vorderpfoten den Sand scharrten, wollte besonders eindringlich danken, wollte bitten, ihm nur einen Augenblick Zeit zu gönnen und fühlte dabei, wie er sich mit immer heftigerem Wedeln rechts und links die Flanken schlug.
»Hopp!« rief der Erzherzog nun schärfer, und dieses Wort hob Lukas vom Boden, riß ihn empor. Er sprang, fühlte sich federleicht und stand auf dem Teppich der Karosse. Die Tür schlug zu.
Der Erzherzog befahl: »Leg’ dich!«
Und Lukas fiel wie vom Blitz getroffen zu den Füßen seines Herrn nieder. Er sah vor sich nur die feinen, schmalen Schuhe, sah die Diamantschnallen darauf funkeln, die roten Absätze, die wie Blut leuchteten und atmete den zarten Wohlgeruch, der den Seidenstrümpfen, dem Pelz und den Kleidern des Erzherzogs enströmte.
Sanft schaukelnd fuhr die Karosse weiter. Ihr dumpfes Rollen war hörbar, das Schnauben der Pferde und das leise Gewirr murmelnder Stimmen.
Nach einer Weile richtete er sich behutsam auf und saß. Mit forschender Neugierde betrachtete er den Erzherzog nun in der Nähe. Er sah das stolze, schmale Gesicht mit den blassen Wangen, sah die großen, hellen Augen, die gleichgültig und obenhin ins Weite blickten, den harten Mund, der unter der feinen, langen Nase immer ein wenig offen stand und die Unterlippe immer, wie verschmähend, vorschob, und dieses Gesicht mit seinem nach nichts begehrenden Ausdruck, dieses mit Selbstverständlichkeit zügellos gebieterische Antlitz überraschte und fesselte ihn, als etwas nie Geschautes.
Er blickte rasch und vergleichsweise zu dem andern hinüber, der auf dem Rücksitz saß. Das war ein rundes, zufriedenes Antlitz, wie es viele gab, ein wenig schläfrig und zugleich aufmerksam, beständig irgend eines plötzlichen Befehles gewärtig. Rasch wandte er sich wieder dem Erzherzog zu.
»Was willst noch mehr, Kambyses?«
Lukas fühlte seinen Leib unter dem Klang dieser Stimme zusammenzucken. Doch er fuhr fort, mit inbrünstig forschender Neugierde dieses stolze Angesicht zu betrachten.
Eine Weile verharrten die beiden so einander gegenüber Auge in Auge. Dann erlosch das Lächeln plötzlich, das die Lippen des Erzherzogs umschwebte, seine Mienen umschleierten sich und irgend eine Verwirrung huschte flüchtig über die blassen Wangen.
»Laß’ ab, Kambyses — mußt mich nicht so anstarren.«
Der Erzherzog lehnte sich aufatmend zurück. »Seltsam«, sagte er zu dem Kammerherrn hinüber, der mit rasch bereitwilliger Gebärde die Anrede empfing, »seltsam, was so ein Hund manchmal für einen menschlichen Blick hat . . ., als ob er sprechen wollte . . . nehmt mir’s nicht übel, Waltersburg, aber der Kambyses sah jetzt gescheiter drein als Ihr.«
Um Mitternacht erwachte Lukas mit einem Ruck aus dem Schlaf. Langsam merkte er, daß er, eingehüllt in Stroh, auf der Erde liege. Eine dunstige Wärme umhüllte ihn, weich wie eine Decke, sein Atem trank den scharfen Geruch dampfender Pferdeleiber, leises Kettenklirren, Schnauben und Blasen und vereinzeltes Aufstampfen klang traumhaft an sein Ohr. Furchtsam hob er den Kopf. Da stand neben ihm ein Tier, schien, von unten her gesehen, bei dem rötlichen Licht einer Laterne, das von irgend woher den Raum ganz schwach durchdämmerte, ins Riesenhafte zu wachsen und glich einem Ungeheuer. Entsetzt sprang Lukas auf. Er war in einem Stall. Dicht vor ihm rührte sich leise der stattliche Schimmel, zu dessen Füßen er hier im Stroh geschlafen hatte, und da standen sie, alle sechs, beisammen, durch niedrige Bretterwände voneinander getrennt, die mächtigen Schimmelpferde, die der Karosse des Erzherzogs vorgespannt gewesen waren. Lukas erkannte sie sogleich, ihre weißen Rücken schimmerten hell über dem dunklen Strich, den das Holz der Scheidewände an ihre Flanken zog. Da hing auch an hohen Pflöcken, geordnet, das Prunkgeschirr, mit dem sie aufgezäumt wurden. Lukas taumelte, von großer Verwirrung ergriffen, und hielt die Hand vor die Augen, um sich zu besinnen. Aber unfähig, auch nur den geringsten Gedanken zu erhaschen, von einer rasch und immer rascher ansteigenden Angst gejagt, ließ er die Hände sinken, starrte umher, ob es nicht möglich sei, diesem unbegreiflichen Ort zu entfliehen. Seine wirren Blicke erspähten die Stalltür. Zitternd, schrittweise und atemlos schlich er hin, leise und dabei am ganzen Körper bebend, hob er den Riegel, dachte einen Augenblick, ob nicht etwa einer von den Knechten hier im Stalle schliefe, bangte vor der Gefahr, ihn zu wecken, und öffnete desto behutsamer das schwere Tor, das mißtönend in den Angeln aufschrie. Blitzschnell schlüpfte Lukas durch den Spalt und war im Freien.
Die kalte Nachtluft, die ihn anblies, ließ ihn erst vollends erwachen. Aber nun brach auch das Grauen mit verdoppelter Kraft in ihm aus und schüttelte ihn, daß sein Atem zu stocken drohte. Er überwand sich und lief. Die Angst, die in ihm war, fesselte seine Schritte und hetzte sie doch zur Eile, hing ihm bleischwer in den Gliedern und stieß ihn doch immer wieder vorwärts. Beim matten Schein des abnehmenden Mondes gewahrte er rings um sich die verstreuten Häuser eines ländlichen Städtchens. Sein Laufen klang laut und klopfend auf dem harten Boden. Hinter Torgittern und Gartenmauern schlugen da und dort ein paar Hunde an, und Lukas sprang bei dem ersten Bellen in die Höhe, wie einer, den ein Schuß getroffen hat. Dieses Bellen schlug ihm mitten durchs Herz, es zerriß den Schleier, den der Schlaf über sein Erinnern gebreitet hatte, und enthüllte plötzlich gespenstische Bilder eines unfaßbaren Geschehens, die nun verworren und schreckhaft deutlich zugleich ineinander glitten.
Lukas gewann die offene Landstraße und lief, ohne der Richtung zu achten, lief immerzu, bis ihm die Kräfte versagten. Er rastete stehend, ging dann, so rasch er nur vermochte, weiter und immer weiter, begann wieder zu laufen und hielt inne, wenn ihm die Knie brechen wollten, ging und lief, erreichte im ersten Morgenschimmer eine geringe Anhöhe und erkannte dort an der steinernen Denksäule, die man das Spinnerkreuz nannte, daß er sich auf dem Wienerberg befinde, den Heimweg also nicht verfehlt habe. Für eine kurze Weile blieb er hier stehen, um zu veratmen. Die Mauern der Stadt sah er von ferne, die Kirchtürme da unten, dem Dunkel der Nacht entsteigen, sah jenseits davon die Berge aus dem Frühnebel hervortreten und sann nun erschüttert der Gewalt nach, die ihn so weit hinweggeführt hatte.
Langsam ging er dann die Straße abwärts, müde vom vielen Laufen, kraftlos durch den Schrecken, der immer wieder erneut in ihm aufzuckte, und betäubt von dem Geheimnis, das er sich nicht zu deuten vermochte. Als er endlich vor dem Haus auf der Bastei ankam, war es heller Tag und das Leben in den Straßen schon überall geschäftig erwacht. Er schlich die Treppe hinauf bis zum Dach, und warf sich in seiner Stube auf das Bett, um zu ruhen. Da er keinen Schlaf finden konnte, erhob er sich halb wieder, eilte hinunter und strich mit zögernden Schritten umher. Das singende Rufen der Verkäufer, das Drängen und Hasten der Menge, das Rollen der Wagen half ihm aus seinem Zustand qualvollen Wunderns über das Rätsel dieser Nacht wieder in den Alltag, in dem es weder Rätsel noch Wunder gab. Es beruhigte ihn, von Menschen umgeben zu sein, und er fühlte sich irgendwie geborgen, wenn er sie sprechen hörte oder sie lachen sah. Unwillkürlich nahm er den Weg zur kaiserlichen Burg, blieb auf dem Platz vor der Michaelskirche stehen und wartete, als solle sich das Schaugepränge von gestern noch einmal hier entfalten. Allein es begab sich nichts dergleichen. Der Platz sah aus wie sonst, die Leute gingen kreuz und quer drüber hin, ohne daß ein Spalier von Bewaffneten es ihnen wehrte und die Burg mit ihren alten, grauen Mauern ruhte still und gewaltig da, wie ein unbewohntes Gebirge. Lukas hatte unklar und verworren, wie ihm überhaupt zu Sinne war, die Erwartung gehegt, an diesem Platz hier, wo gestern alles begonnen hatte, eine Erklärung zu finden, eine Antwort oder doch eine Spur von Begreifen des Geschehenen. Jetzt war er plötzlich merkwürdig ernüchtert und ging betroffen weiter. Von ungefähr fiel es ihm ein, daß etliche Freunde seines Vaters ganz in der Nähe an dem Palast arbeiteten, den der päpstliche Nuntius für sich erbauen ließ, und er begab sich eilig zu ihnen, denn ihn verlangte heftig danach, heute nicht allein zu bleiben.
Auf dem Hof betrat er durch ein Brettertürchen den Neubau und sogleich umfing ihn das Dröhnen der Hammerschläge, die auf die Steine niedersausten, das Kreischen der Sägen, Knirschen der Feilen und der Gesang, mit dem sich die Gesellen ihrer Hände Mühsal erleichterten. Es waren durchwegs Italiener, Bildhauer, Steinmetze, Kunstschmiede und sie sangen italienische Lieder, die Lukas auch von seinem Vater oft genug gehört hatte. Der fröhliche Arbeitslärm, der auch noch den Gesang zu Hilfe nahm und mit aller Kraft gegen jeden überflüssigen Kummer wie gegen unnütze Gedanken anzukämpfen schien, schlug jede Bangigkeit und Grübelei in Lukas darnieder. Er fühlte sich in dieser Umgebung sogleich heimisch, sie war ihm von Kindheit an vertraut, er hatte als kleiner Knabe an solchen Werkstätten seinem Vater zur Seite gespielt, hatte sich unter den anderen umhergetrieben, und sie kannten ihn alle. Meister Andrea Chini, der in der Mitte seiner Gesellen sich bewegte, verstand, ohne daß auch nur ein Wort gesprochen wurde, daß die Not den jungen Lukas Grassi zwang, sich in niedrige Verrichtung zu schicken, er gab ihm etliche leichte Hantierungen auf und Lukas griff heute danach mit einem frischen Eifer, der gar nichts von seiner sonstigen Verdrossenheit hatte. Er stürzte sich begierig in die Arbeit und wies die Wünsche, wies die Hoffnungen, die er gestern noch sehnsüchtig gehegt, von sich weg, ohne ihnen nur einen einzigen Gedanken zu gönnen, er wandte sich von ihnen, als seien sie gar zu vermessen gewesen und als habe er es jetzt, nach all dem Unbegreiflichen, das ihm begegnet war, durchaus nötig, seine hoffärtige Begehrlichkeit abzubüßen. Wie die anderen ihn zutraulich begrüßten, wie er dann in ihre Gespräche harmlos mit versponnen wurde, ab und zu auch in ihren Gesang einstimmte, hörte er auf, innerlich über das Vorgefallene nachzusinnen, und schüttelte weitere Gedanken sogar lächelnd und zweifelnd von sich ab. Ermattet, aber völlig beschwichtigt kehrte er abends heim, hatte, als er sich zu Bett legte, das gute Gefühl, er sei nun einer Gefahr oder auch dem Blendwerk eines seltsamen Irrtums entronnen und schlief sogleich ein.
Er erwachte unter einem Tritt, der ihn bis in die Eingeweide schmerzte, fand sich im Stroh auf der Erde liegen und sah über sich das breite, rote Gesicht eines feisten Menschen in Livree, der eben nochmals den Stiefel hob und ausrief: »Holla, da ist ja der Kambyses wieder! Auf du Luder — wo hast denn gestern gesteckt den ganzen Tag?« Entsetzt fuhr Lukas in die Höhe. Da war er wieder in einem Stall, die Türe stand weit offen, es war lichter Morgen, und da führte man eben die prächtigen Schimmel einen nach dem andern fertig geschirrt ins Freie. Lukas wollte dem drohenden Stiefelabsatz entwischen, aber der dicke Mann erhaschte ihn dicht hinter den Ohren am Fell und schrie dabei: »He, ihr Lümmel, einen Strick, damit mir das Hundsvieh nicht davon läuft!« Die Pferdeknechte lachten und einer von ihnen äußerte: »Da braucht’s keinen Strick, Herr Pointner, der Kambyses lauft nicht weg. Wenn er weglaufen wollte, wär’ er ja nicht erst wieder zurückgekommen.« Der Dicke sagte zornig: »So? Und gestern den ganzen Tag! wo ist die Kanaille da gewesen?«
»Wahrscheinlich bei einer Herzallerliebsten . . .«, antwortete ein anderer und die Pferdeknechte brachen in ein Gelächter aus. Indessen kam der junge Knecht Kaspar, ein sanfter, hübscher Bursche mit fröhlichen Mienen. »Ihr müßt den Kambyses nicht so hart anfahren, Herr Pointner«, sprach er nun ernsthaft, »sonst geht er euch bei der ersten Gelegenheit auf Nimmerwiedersehen auf und davon. Wirklich, Herr, Ihr sollt ihn lieber streicheln und loben, glaubt mir nur, ich versteh mich auf Hunde, Ihr wißt ja. Denkt doch, wie klug das Vieh uns gefunden, wie es uns nachgerannt ist, und wie ordentlich es seinen Platz wieder eingenommen hat. Ich mein’ für gewiß, Herr Pointner, der Hund ist von weit her gelaufen, nur um wieder bei uns zu sein . . . Ja, brav, Kambyses, brav, so . . . Laßt ihn doch los . . .«
Herr Pointner zog die Hand zurück und der junge Knecht begann wieder zu lächeln: »Aber schaut doch, der Hund versteht ja jedes Wort, schaut doch, wie er von Euch zu mir her und von mir wieder zu Euch guckt . . . ja, brav, Kambyses, brav, komm nur . . .« Er bückte sich, kraulte den Hund über den Rücken, klopfte ihm zärtlich die Brust zwischen den Vorderbeinen, wie man Pferde liebkost.
»Na was sagt Ihr, wie er sich freut«, lachte er dann, richtete sich auf und meinte: »Da braucht’s keinen Strick . . . ruft ihm nur freundlich zu und er wird Euch folgen, und unser gnädiger Herr wird sich freuen, weil der Hund wieder da ist.«
»Komm«, rief der dicke Mann mürrisch und verließ den Stall. »Komm, falsches Luder . . .« Lukas folgte ihm auf den Fersen.
Der Erzherzog saß mit etlichen Kavalieren beim Morgenimbiß, als der Kammerdiener hereinkam und gleich hinter ihm der Hund in den Saal sprang. »Euer Gnaden, da ist der Hund zurück . . .«, sagte Pointner. »Hoho!« lachte der Prinz, »Kambyses, hierher.« Und er wandte sich zum Kammerdiener: »Wo hast du ihn gefunden, Dietrich?« Pointner antwortete mürrisch: »Im Stall ist er gelegen wie immer. Geschlafen hat das Luder, als ob nichts geschehen wäre.«
Der Erzherzog zuckte die Achseln: »Weil er nur wieder da ist.« Dann beugte er sich ein wenig nieder und sprach unter den Tisch hinunter: »Jetzt lauf mir nicht zum zweitenmal davon, du Landstreicher.« Die Kavaliere lachten.
Den andern Tag aber war der Hund wieder fort.
An diesem andern Tag irrte Lukas im beschneiten Hochwald umher, in einer Gegend, die ihm fremd war. Er versuchte es nicht, nach Wien zurückzulaufen, denn er sah wohl ein, daß die Stadt jetzt schon viel zu weit entfernt sei und sich von diesem Bergland aus nicht mehr in einer einzigen Flucht erreichen lasse. Auch fing er jetzt an, die Vergeblichkeit einer solchen Flucht zu ahnen und wollte alles, was mit ihm geschehen war, sorgfältig überdenken, wollte sich fassen, um den kommenden Dingen besser standhalten zu können; aber unter dem Grauen, das beständig über ihn herfiel, stürzte seine Seele immer wieder kraftlos zusammen. Zweimal war er als ein Hund umhergelaufen und wußte jetzt, mit wacher Besinnung, daß es kein Traum gewesen sei. Entführt war er, über Berg und Tal, fort aus der Stadt, in die er nicht zurückkehren konnte. Und es ging immer weiter. Einst war das sein glühendes Verlangen gewesen, in einer Zeit, die freilich nur drei Tage hinter ihm lag, die ihm aber jetzt wie in Nebelfernen zu versinken schien. Und nun kam eine Erfüllung, die dem bittersten Spott glich, ein unbarmherziges Gewähren, das ihn erniedrigte. Er war dem Dasein eines Hundes verstrickt, war an dessen Fährte gebunden, und mußte frierend, mußte zitternd vor Hunger neben dem Reiseweg einherschleichen, den jener Hund durch die Lande dahinzog.
Als es Abend wurde, blickte Lukas von der Höhe des Berges herab, und sah tief unter sich die Lichter des Städtchens aufglänzen, aus dem er in der vergangenen Nacht ebenso entsetzt geflohen war, wie von der Stelle seines ersten Erwachens. Völlig ermattet, blieb er, wo er stand, bis es dunkler und dunkler wurde, saß im Schnee nieder, zählte die Stunden, die von den Kirchtürmen im Tal heraufklangen und erwartete ergeben, aber mit atemloser Neugierde die Verwandlung. Sie kam um Mitternacht. Lukas hörte knapp noch den ersten Glockenschlag. Da durchfuhr ihn jener gewaltige Ruck, den er wachend einmal schon empfunden hatte, als er am Fenster der Dachstube gestanden. Rascher als ein Mensch nach Atem schnappen kann, geschah es, daß er glaubte, der Boden schwinde unter seinen Füßen, daß ihm die Sinne zu vergehen drohten und er sich furchtbar hinweggerissen fühlte. Sogleich aber lag er auch wieder im warmen Stroh, spürte mit plötzlich hochgeschärfter Nase frischen Heuduft um sich her und den Geruch eingeschlossen dampfender Pferde, und hörte eine Kirchenglocke Mitternacht schlagen. Elf Schläge. Aber es war eine andere Glocke, als diejenige, deren ersten Ton er vernommen. Er erkannte es an ihrem tieferen Klang.
Den nächsten Morgen weckte ihn Kaspar, der junge Stallknecht, mit freundlichem Rütteln aus dem Schlaf, fütterte ihn und führte ihn sodann zum Kammerdiener des Erzherzogs: »Haah? Kambyses, wo warst du denn schon wieder?« fragte Kaspar und lachte gutmütig dabei, und fuhr fort, immer dasselbe zu fragen: »Haah? Kambyses, wo warst du denn schon wieder — haah?« Sie kamen über einen Schloßhof, stiegen eine stattliche Marmortreppe hinan und gelangten in einen dunkel getäfelten Vorsaal. Da waren mehrere Lakaien mit allerlei Zurüstungen beschäftigt und der Kammerdiener gab ihnen Befehle, während er sich dabei die Zähne stocherte.
»Herr Pointner«, rief Kaspar von der Türe her, »der Kambyses ist richtig wieder da.«
Herr Pointner hielt im Befehlen und im Zähnestochern inne, blickte mürrisch auf den Hund, der hereinsprang, und auf den Knecht, der in der Türe stehen geblieben war. »Jetzt gekommen? — »Nein«, entgegnete Kaspar, »ist allbereits im Stall gelegen und hat geschlafen.«
In einem reichen Gemach saß der Erzherzog am Kamin, hatte eine bequeme Pelzschaube an und wärmte sich. Vor ihm stand der Graf Waltersburg und brach in ein helles Gelächter aus, als er den Kammerdiener erblickte, der mit dem Hund hereintrat. »Da ist die Kanaille doch wieder zurück, und Eure kaiserliche Hoheit haben gemeint, es sei unmöglich, daß der Hund den weiten Weg übers Gebirg laufen könne.«
Der Erzherzog blickte zu Kambyses nieder, der sich still am Feuer ausgestreckt hatte. »Richtig. Und er scheint ganz in Ordnung. Nun, mir ist es lieb. Ich bin besorgt gewesen, er sei erfroren.« Dabei stieß er mit der Fußspitze sanft den Hund in die Flanken. Graf Waltersburg schüttelte den Kopf und meinte bedenklich: »Eine Tracht Prügel wär’ schon gut. Sonst glaubt das Vieh, es darf fortlaufen und wiederkommen, wie’s ihm gefällt.«
Der Erzherzog hob den Kopf und sah fragend zu Pointner hinüber. Der zuckte mißgelaunt die Achsel: »Möcht’ am End nicht schaden.«
»Also dann vorwärts«, gebot der Erzherzog. Da sprang der Hund plötzlich auf und schaute angstvoll von einem zum andern. »Das ist doch kostbar«, lachte Waltersburg, »grad, als ob er jedes Wort verstanden hätte.« Der Hund sah ihm tief und flehend in die Augen, aber Waltersburg lachte noch mehr. »Ja, lieber Freund, da hilft kein Bitten, jetzt kommt eben die Strafe.«
Herr Pointner rief scharf: »Kambyses!« und wandte sich zur Türe. »Wohin denn?« fragte der Erzherzog und als Pointner zögernd entgegnete: »ich mein’, es ist besser, ich führ’ ihn hinaus und mach’ die Sache draußen ab«, befahl der Erzherzog kurz und eifrig: »Nein. Hier!«
Pointner zögerte noch immer, löste widerwillig und langsam den Riemengurt von seinem dicken Bauch und fuhr zusammen, weil der Erzherzog ihn anschrie: »Wird’s bald?«
Der erste Hieb klatschte nieder. Der Hund lag platt auf dem Boden und heulte auf. Der zweite Hieb ging daneben, aber der Hund heulte in seinem Schreck noch lauter. Der dritte Hieb folgte, der vierte; sie trafen nur halb, aber sie schmerzten sehr. Da sagte der Erzherzog: »Gib her, Dietrich, das kannst du nicht . . . Zu rasch, zu unregelmäßig . . . Gib her, Dietrich!« Seine Stimme keuchte ein wenig, seine schmalen Wangen hatten sich in einem leisen Erröten gefärbt. Mit ungeduldiger Hand ergriff er den Riemen, und im Armstuhl sitzend, vorgebeugt, mit hochgeschwungenem Arm führte er nun langsam Streich um Streich, zielsicher — wuchtig. Der Hund wand sich wie toll unter der Mißhandlung, in seinem Geheul brach eine wilde Verzweiflung und ein markerschütternder Jammer aus. Allein der Riemen sauste nun rascher und immer rascher auf ihn nieder, begann in der Luft zu pfeifen und der Hund, der ein einzigesmal versucht hatte, sich zu bäumen und zu entfliehen, stürzte mit knickenden Beinen unter dem Hagel von Schlägen zusammen. Seine Stimme löschte aus, wie in Tränen. Der Erzherzog war in Raserei geraten, er hörte den Pointner nicht, der angstvoll: »Aber gnädiger Herr« stammelte, schien wie berauscht, schlug zu und keuchte in einer mehr und mehr gesteigerten Wut, wie mit taumelnden Sinnen, heiser und klanglos: »Da! Da! Da!« Plötzlich ließ er den Arm sinken, fiel in den Lehnstuhl zurück, den Kopf im Nacken, leichenblaß mit erstickendem Atem, verdrehte die Augen und röchelte schwer.
So plump und dick Pointner war, so sprang er jetzt doch blitzschnell zum Wasserkrug, tauchte ein Tuch hinein und netzte dem Erzherzog die Stirne. »Lauft zum Arzt hinüber, Herr Graf«, knurrte er böse und heftig Waltersburg an, der ratlos und in großem Entsetzen dastand. »Ja schaut nur, schaut — habt Ihr nichts besseres gewußt, als ihm das Prügeln einzureden? Was? habt Ihr vergessen, wie gefährlich es ist, solch ein Spiel mit ihm anzufangen, oder seid Ihr wirklich so dumm? So lauft doch, Herr Graf, zum Arzt. Tut wenigstens das, was man Euch sagt.«
Waltersburg stob davon.
Der Hund lag regungslos am Boden.
Lukas stand auf der Landstraße. Dort, auf dem kleinen Hügel, den die zackigen Schneemauern der Berge überragten, schimmerte fahl im ersten Tagesgrauen das Schloß, darin er gestern gepeitscht worden war. Sein menschlicher Leib, den er nun wieder besaß, fühlte die Striemen, die man dem Hund geschlagen. Und in seinem Erinnern wühlten der Schreck, der Schmerz und die blutige Schande der Mißhandlung.
»Was ist mit mir?« stöhnte er laut und in leisen Seufzern wiederholte er immer wieder, ratlos und verstört: »Was ist mit mir?«
Er konnte nicht ahnen, daß die Verzauberung, der er anheimgefallen war, abwechselnd, Tag um Tag, bald die Gestalt des Lukas, bald die des Hundes löschte. Er begriff nicht, daß ihm nur sein menschliches Denken gelassen war, dies unfaßbare, letzte Besinnen, welches: »Ich« zu sagen vermag, daß er jedoch an jedem andern Tage alles Körperempfinden und jegliches Körperschicksal des Hundes auf sich zu nehmen hatte. Das mußte so bleiben, bis der Zauber erfüllt war. Bis der Erzherzog mit seinem ganzen Troß Florenz verlassen wird, waren diese beiden Wesen, Lukas, der Jüngling, und Kambyses, der Hund, nur ein einziges Wesen, und konnten nicht gleichzeitig miteinander auf Erden wandeln. Das Ich des Kambyses lag hinweggerafft, irgendwo im Bereich der Natur, unsichtbar aufgehoben, tief schlafend, träumend vielleicht, und erblickte im Traum etwa ferne, undeutliche Spiegelungen all der Ereignisse, die sein entliehener Körper erlebte. Lukas hatte in seinem Wunsche die Gestalt des Hundes begehrt, für jeden zweiten Tag, und sie ward ihm gegeben. In der Stunde aber, in welcher der Erzherzog aus Florenz aufbrechen wird, um sich heimwärts zu wenden, nach dem Norden, nach welchem Lukas kein Verlangen trug, in dieser Stunde würde Lukas frei sein und von da ab keinen Teil mehr haben an dem Hund, der dann, wie einst zu Wien, ein Wesen für sich, neben dem schimmelbespannten Reisewagen einhertraben könnte.
Von all dem begriff er jetzt nichts. Seine Seele wand sich in Qual, bäumte sich in beständig erneutem Entsetzen und er wiederholte immer wieder die hilflose Frage: »Was ist mit mir?«
Die Schneegipfel ringsumher färbten sich sachte rötlich, einer nach dem andern. Rotgoldnes Licht fuhr in breiten Strahlen ins Tal hernieder, sie spalteten gleich leuchtenden Riesenschwertern den Nebel, die Zinnen des Schlosses erblitzten wie in Flammen und mächtig ging die Sonne auf.
Als müsse er es nun, am hellen Tag, deutlicher noch und schmerzhafter einsehen, wie allein er sei und wie ausgeschlossen, war Lukas plötzlich von seinem Unglück ebenso wie von seiner Verwirrung gänzlich überwältigt. Heftig warf er sich zu Boden. Er schluchzte auf verschränkten Armen in die kalte Erde hinein.
»Wer weint denn da wie ein kleines Kind . . .?«
Dicht über Lukas fragte eine tiefe, rauhe Stimme, und eine Hand rüttelte kräftig an seiner Schulter. »Wer wird denn weinen . . .?« Die rauhe Stimme machte sich behutsam und klang eindringlich: »Na . . . na . . . ruhig . . . nur ruhig.«
Lukas richtete sich langsam auf, die Hand, die ihn an der Schulter gefaßt hielt, half ihm mit festen Griffen.
Ein alter Mann stand vor ihm, hatte einen wirren grauen Bart, schmale, von der Morgenkälte rot angeblasene Wangen und kleine, bewegliche, lachende Augen. Ein zierlicher alter Mann, nicht zu hoch gewachsen, aber kräftig und jung in seiner Haltung.
Das kleine Felleisen, das ihm über den Rücken hing, zog er nach vorne und während er daran herumfingerte durchsuchte er Lukas’ Antlitz mit raschen neugierigen Blicken.
Dann aber wandte er sich ab, sah sich ein wenig um und so einfach, als sei er nur eben in einem längeren Gespräch unterbrochen worden, sagte er: »Ich mein’, wir setzen uns . . . da ist’s am besten . . .«
Er ließ sich an der Straßenböschung nieder, hielt sein Felleisen jetzt auf den Knien und als Lukas noch zögernd vor ihm stand, zwang er ihn durch einen lächelnden, aber ungeduldigen Blick neben sich. So saßen sie eine Weile beieinander. Der Alte hatte ein Stück Brot, eine Speckschwarte und eine Flasche aus seinem Ränzel gewühlt. Er trank, schnitt das Brot und den Speck und reichte Lukas Bissen für Bissen, ohne dabei auch nur nach ihm hinzusehen.
Lukas nahm und aß. Der Alte reichte ihm über die Achsel die Flasche hin. Lukas nahm sie und der starke Branntwein wärmte ihm Magen und Sinne.
»Ja . . . aber ja . . .«, sprach der Alte, als redete er zu sich, »schöne Welt . . . weite Welt . . . Ganz schön ist es da . . . schöne Berge . . . schönes Tal . . . Aber kann man denn auf einem Flecken bleiben . . .? Nirgends kann man bleiben . . . von überall her ruft es . . . immer ruft es . . .«
Er schwieg. Eine Weile war es still.
Dann fing der Alte wieder an: »Ich bin lang genug auf einem Fleck geblieben . . . mein ganzes Leben. Ich hab’ es wohl manchmal rufen gehört, von weit her. Aber ich hab’ mir gedacht . . . ruf nur zu . . . ist noch Zeit genug . . . und bin geblieben . . . immer auf ein und demselben Fleck. Bis ich alt und grau geworden bin . . . das wird doch lang’ genug sein . . .«
Er sprach heftig und lebhaft. Nicht wie einer, der eben erst zu reden anfängt und ausholt, sondern genau so, als befinde er sich in einer langen, erregten Auseinandersetzung. Seine Gedanken arbeiteten schnell und munter und aus dem Ton seiner Worte ließ sich deutlich merken, wie sehr er davon durchdrungen sei, vollständig Recht zu haben.
»Die Leute sind aus- und eingegangen bei mir«, fuhr er fort, »fremde Menschen, bekannte Menschen . . . Sie sind über die Wenzelsbrücke herübergekommen aus der Altstadt auf die Kleinseite . . . und sie sind zu mir gekommen . . . Ach freilich, da war ihnen der Weg nicht zu weit . . . wenn sie Kleider gebraucht haben, schnell ein Wams oder bis morgen eine Hose . . . oder bis zum Ostersonntag einen neuen Rock . . . dann sind sie schon gekommen . . . no ja, und dann sind sie in den guten Kleidern, die ich ihnen genäht habe, in der Stadt herumgelaufen oder in ihren feinen Stuben herumgesprungen . . . oder sie haben sich irgendwo im Schlamm und in Schande herumgewälzt. Gott weiß, wo sie sich überall umhergetrieben haben in diesen Kleidern . . . Und viele sind in die weite Welt hinausgegangen . . .«
»Aber ich weiß es doch!« fuhr er auf. »Es sind ja manche in der Reisekutsche vor mein Haus gefahren, haben da gewartet und geflucht und gestrampelt bis der letzte Nadelstich getan war. Dann, mir den Rock aus der Hand gerissen, ihr Geld hingehaut, wie der Blitz hinein in die Kalesche . . . vorwärts! Und auf und davon . . . in die weite Welt . . .«
Er lachte, spuckte aus und trank.
Dann sprach er weiter: »Die Leute erzählen viel . . . sie sagen, wo das Land aufhört, ist das Meer. Ja. Da steht man am Ufer und schaut hinaus und da ist nichts als Wasser. Nur Himmel und Wasser. Und das ist das Meer . . . das Meer . . .« Er sang das Wort.
»Ja, und dann . . .«, er mußte sich mit einem Ruck vom Meer losreißen. »Ja und dann sagen sie, es gibt ein Land, in dem es nicht kalt wird und nicht schneit und es ist kein Winter. Nur Frühling und Sommer. Immer Sonne . . . immer Sonne . . .«
»Ja!« rief Lukas.
Der Alte drehte sich zu ihm und sah ihn mit fröhlichen, zweifelnden und hoffenden Augen an. Lukas fühlte sich getröstet unter diesem Blick.
»Ja?« wiederholte der Alte fragend. »Keinen Winter . . . immer nur Frühling und Sommer? Und das Meer? Immer nur Wasser und Himmel? Das Meer . . .« Er sang. Dann deutete er nach oben: »Nun Er hat’s ja bunt getrieben . . . hat alles durcheinandergeworfen in der Welt.«
Der Alte lachte in sich hinein, wie über einen Scherz. »Und die Menschen hat er auch durcheinandergeworfen . . . was? Da sage ich: Wasser, nicht wahr? Und Du sagst auch Wasser, he? Na siehst Du . . . aber es gibt Leute, die sagen Water . . . siehst Du wohl und andere, die sagen gar Aqua . . . und zu Haus bei uns, wo sie Tür an Tür wohnen, sagen die einen Wasser, wie ich und Du, aber die anderen sagen Wodu . . . blödsinnig? Was? Ja . . . er hat nicht mit sich spielen lassen . . .« Er nickt: »Oh, diese blöden Bestien, was haben sie da für eine Dummheit angefangen mit ihrem Turm! Bis ganz zu ihm hinauf haben sie bauen wollen, bis vor seine Tür . . . und dann bei ihm aus und ein gehen, vielleicht gar ohne anzuklopfen, wie bei einem Duzbruder oder bei einem Herrn Gevatter . . .«
Der alte Mann sprach so eifrig, als sei alles erst gestern geschehen.
»Diese Esel!« rief er aus. »Hätten sie nicht im voraus wissen können, daß er sich sowas nicht gefallen lassen wird? No — und dann sind sie auf einmal dagestanden und der eine hat Wasser gesagt, der andere Aqua und der dritte Wodu — und was weiß ich noch . . . da war’s natürlich ganz vorbei mit dem großmächtigen Turm . . .«
Er lachte. Ausgestreckt am Wegrand, auf beide Ellbogen gestützt, blickte er vor sich hin, wurde still und begann zu träumen. Lukas saß schweigend neben ihm.
»Ja . . .«, sagte er nach einer Weile langsam und mit dem Kopf nickend. »Nicht nur mit dem Turm war’s damals vorbei . . . sondern mit jeder gemeinsamen Arbeit . . . für immer . . . Damals hat’s noch eine Menschheit gegeben. Damals haben alle noch alle verstanden . . . und sie haben zusammen ein großes Werk schaffen wollen . . . eine Dummheit . . . Es hätte ihnen was Besseres einfallen können . . . aber einig waren sie. Und seit damals sind sie’s nicht mehr . . . können’s niemals wieder sein . . . seit der eine so redet und der andere so, daß sie einander nicht verstehen, halten alle, die Wasser sagen, zusammen, und wer Aqua sagt, hält zu dem, der Aqua spricht, wie er. Ja . . . und seit damals gibt’s nur noch Menschen, aber keine Menschheit . . . und seitdem können sie miteinander kein Werk mehr schaffen . . .«
Lukas horchte, doch er verstand den Sinn dieser Reden nicht; er begriff nur, daß auch der Alte neben ihm von Geheimnissen und von Wundern sprach.
»Aber nein!« brach der alte Mann los, als habe ihm jemand widersprochen. »Gar so streng hätte Er nicht strafen brauchen. Was wär’ denn gewesen, wenn sie ihren Turm fertig gekriegt hätten . . . was denn? Nun, so denk Dir doch, der Turm steht da, denk Dir das doch einmal . . . und Du kannst schon von seiner höchsten Spitze aus geradenwegs zu ihm in die Stube treten . . . was weiter? Wenn sich einer aufmacht, noch als Kind, und sich’s vornimmt, daß er zu ihm will . . . nun? Der steigt und steigt den Turm hinauf sein ganzes Leben . . . er tut nichts anderes, keine Arbeit, kein Freund, kein Weib hält ihn auf, er steigt immer höher und höher . . . und die Jahre vergehen und er ist noch nicht weiter . . . und er ist alt und müd’ und ist noch immer dem Erdboden näher als dem Himmel . . . und er stirbt . . . unterwegs, bleibt liegen und ist nicht bis hinaufgekommen. Siehst Du. Er aber straft gleich . . . immer straft er zu streng . . . ja . . . Nun, vielleicht übereilt Er sich, wenn man Ihn zornig macht.«
Er zuckte die Achsel und lachte wieder. »Von mir aus hätte der Turm lang stehen können . . . ich wär’ nicht hinaufgestiegen . . . ich hab’ es mein Leben lang auf einem Platz ausgehalten und ich wär’ geblieben . . . ganz ruhig wär’ ich geblieben . . . denn warum? es war doch gut so . . . Aber da haben sie immer erzählt vom Land, wo’s keinen Winter gibt, und von hohen Bergen, wo auch im heißesten Sommer der Schnee nicht schmilzt . . . und vom Meer . . .«
Er schaute Lukas nun an, wandte ihm sein schmales Gesicht zu, das der krause Bart mit Lebhaftigkeit zu umsprühen schien, und seine munteren, flinken Augen lachten dabei.
»Ich hab’ gewartet, bis mein Weib alt geworden ist und mein Sohn ein fertiger Mann. Was fangt man denn mit einem alten Weib an? Und was hat man dann noch in der Kinderstube zu suchen, wenn der Sohn ein fertiger Mann ist? Nun also! Dann war’s Zeit. Da bin ich fort. Jetzt soll der Junge sitzen und Kleider nähen, er versteht’s ja; hat’s doch bei mir gelernt. Ach was, da hilft nicht: »Vater, bleib’ bei uns!« oder weinen: »geh’ nicht fort!« Dumme Reden — sollen plärren, wenn sie Lust dazu haben. Ich hör’ gar nicht drauf. Was zu End gelebt ist, das ist zu End. Sag’ Du zu einem Ofen, der ausgebrannt ist, bleib’ noch heiß . . . ich will noch einmal Suppen kochen auf Dir und Äpfel schmoren . . . sag’s ihm doch . . . er hat kein Feuer mehr, so wird er kalt. Da kannst Du lang reden!«
Er lachte fröhlich und laut: »Ich aber will gehen, immer gradaus gehen, bis ich in das Land komme, wo’s keinen Winter gibt . . . denn davon will ich mich jetzt endlich selber überzeugen . . . und ich will immer weiter, bis ich ans Meer komme . . . weißt Du . . . man steht am Ufer . . . so!. . . und dort draußen ist nichts wie Himmel und Wasser . . . Das Meer . . . das will ich jetzt selber sehen . . . das muß . . . ich sehen . . .!«
Er stand eilig auf und warf sein Felleisen über den Rücken. Lukas ging mit ihm. Der Alte schritt die Straße bergauf; nach einer Weile begann er zu singen.
Sie blieben beisammen. Lukas fühlte sich wohl in der Nähe des Alten. Er besann sich, wie lange er nun schon einsam war, weil er sich immer vor den Menschen verborgen hielt, wenn er in seiner eigenen Gestalt umhergehen durfte. Und er besann sich, daß er diese ganzen Tage her immer nur als ein Hund unter den Menschen geweilt hatte.
Der Alte redete und sang oder pfiff sich ein Stück, er war niemals still. »Immer noch Schnee . . .«, sagte er: »immer noch kalt, daß einem die Finger steif werden! Und wie lang bin ich jetzt schon unterwegs . . . Schon möglich . . . daß alles nur eine Fopperei ist . . . nun, wir werden ja sehen . . . bin neugierig! ich geh’ und geh’, solang es eine Straße gibt, auf die man treten kann, mich kriegen sie nicht müd’. . . das sollen die sich nur nicht einbilden . . . mich nicht . . .« Er lachte, dann fing er an zu pfeifen.
Lukas trabte schweigend nebendrein; der Alte heischte keine Antwort und fragte nichts. Des Abends jedoch, als sie am Waldrand beisammen saßen, vor sich das tief in den Schnee gebettete Häusergedränge eines kleinen Städtchens, da begann Lukas zu sprechen. Das Unbegreifliche, das sein Leben auseinander riß und es mit beiden Hälften in die Welt hinausschleuderte, das Unheimliche, das ihn ängstigte und ihm atemraubend die Brust beklemmte, brach nun mit Worten in ihm auf, scheu, zögernd, aber immer stärker und heftiger, wie um Hilfe rufend.
Der Alte hörte ihn an, gelassen, als sei das nichts Besonderes. »Ach was!« rief er dann, da Lukas’ Stimme zuletzt wieder in Schluchzen umschlug. »Ach was . . . warum denn weinen? Dummheit! Warum denn d’rüber nachdenken? Dummheit! Zuschauen und sich wundern — fertig! Zuschauen und abwarten — Schluß! Warum röhrst Du denn? Ist Dir vielleicht was geschehen? Haben sie Dir den Kopf abgeschnitten oder ein Bein weggeschlagen? Na also! Und kommst Du nicht dorthin, wo Du hinkommen willst? Worüber bist Du dann so verzagt? Zuschauen — mein liebes Kind, nur zuschauen. Heut’ mußt Du neugierig sein auf morgen und morgen sei neugierig auf übermorgen . . . so vergeht die Zeit. Wer nicht neugierig ist, hat auf der Welt nichts zu suchen.«
Er sang leise vor sich hin. Als es dunkel wurde und an den Fenstern der Häuser in der Ferne ein paar Lichter herübergrüßten, stand er auf und schritt auf das Städtchen zu.
Lukas blieb allein.
Von nun an ertrug Lukas sein Geschick ruhiger und ruhiger. Er begann seine Gedanken nach vorwärts zu richten, in die künftigen Tage, er sandte sie voraus, über Berg und Tal, in das Land, dem er sich näherte.
Und er fühlte, daß er diesem Land immer näher kam; alle Wege liefen jetzt bergab und waren ohne Beschwerde, waren leicht zu wandern. In der Luft war ein linder Hauch wie gute Botschaft. Grüne Wiesen breiteten sich weithin, an sanften Abhängen standen Obstbäume in Blüte, dunkelgrünes Buschwerk von Buchs und Lorbeer, Geranke von Glyzinien schwang sich über weiße Gartenmauern. Ein Duft, nie geatmet mit solcher Kraft und Zartheit, schien aus der Erde zu strömen, vom Himmel her zu hauchen, kam mit jedem leisen Wind, der sich regte, herangeweht. Dieser Himmel wölbte sich höher und war unergründlich blau. Die schweren Wolken, die so niedrig hingen und ihn verhüllt hatten, waren verschwunden, ohne daß man es merkte. Und die Sonne wurde heller mit jedem Tag.
Lukas sah an den weißen Gartenmauern die Eidechsen, smaragden, hinhuschen. Sie zuckten ihm über den Weg und glitten im warmen, weißen Sand gleich farbigen, kleinen Feuerstrahlen. Eine Kindererinnerung, die lang erloschen war, schien wieder hell in ihm auf. Ja, diese behenden schönen Tiere hatte er schon gesehen, früher einmal in ferner Zeit. Unfaßbar schnell und prächtig waren sie an ihm vorbeigeschossen so wie jetzt. Er sah es wieder vor sich: Mauern, weißer warmer Sand der Straßen, der im Sonnenlicht die Augen blendet. Gewiß, hier war er als Kind des Weges gezogen. Hier kam er nun wieder zurück, und das war der Himmel, den er sich ersehnte.
Er wich jetzt den Menschen nicht mehr aus. In den Dörfern und in den kleinen Städten, die sich in die Talengen klemmten, saß er jetzt am Rand der Brunnen, streichelte den glatten Marmor, sonnte sich und redete mit den Leuten. Sie sprachen seines Vaters Sprache. Ihm schien, als sei ihm keiner von ihnen fremd. Er blieb manchmal vor den Türschwellen der Häuser stehen, begehrte nichts, sondern bot nur den Frauen, bot den Kindern seinen Gruß. Wenn sie ihn mißtrauisch betrachteten, lachte er, redete sie scherzend an und empfing ein Lachen, einen Gruß, der ihm zuteil wurde, wie ein Geschenk. Er wandelte durch die Weingärten, er lag am Saum der Wiesen, die mit Blumen übersät waren und lauschte dem endlosen summenden Lied der Bienen.
An einem Frühmorgen, da die Menschen und die Häuser noch schliefen, kam er durch die langgestreckte Gasse eines Dorfes und gewahrte eine Mädchengestalt, die in mäßiger Entfernung vor ihm einherging. Er mußte ihr folgen, weil es einen andern Weg hier innen zwischen den Häusern gar nicht gab, und er betrachtete sie, weil sie das einzige Wesen war, das da schon aufgewacht sich regte. Ihre Gestalt dünkte ihn zierlich, ihr Gang leicht und sorglos. Sie hatte den Schall seiner Tritte wohl vernommen, drehte aber nur einmal flüchtig den Kopf und ging weiter. Erst draußen, am Ende des Dorfes, blieb sie stehen, hantierte mit dem kleinen Bündel, das sie trug und war eben fertig, als Lukas herankam. Sie lächelten einander an, dann gingen sie wortlos zusammen weiter. Lukas freute sich der Gefährtin mit jener so raschen wie selbstverständlichen Freude, welche die Schönheit zu geben und die Jugend zu empfangen vermag. Er sah nicht, daß dieses Mädchen in armselige, zerfetzte Kleider gehüllt war, sah nicht, daß ihre Haare ungekämmt und wirr um Stirn und Wangen stoben, aber ihm schien, daß dieses schmale, frische Gesicht mit dem zärtlichen Mund und den sanften dunkelbraunen Augen durch die Fülle krauser Locken nur noch lieblicher wurde und daß die rote Farbe des Leibchens fröhlich zu dem Antlitz des Mädchens sich fügte.
Schweigend und lächelnd stiegen sie nebeneinander dem Walde entgegen.
Endlich fragte Lukas: »Woher bist Du?«
Sie schüttelte den Kopf, lächelte und schwieg.
Er lächelte gleichfalls, wartete eine Weile und fragte: »Wohin gehst Du?«
Sie schüttelte wie vorhin den Kopf und schwieg.
Lukas wartete wieder, bis er fragte: »Willst nicht sprechen oder kannst nicht?. . . oder sag’, wie Du heißt.«
Sie schaute ihn freundlich an. »Ich heiße Angelica . . . und das ist alles.«
Im Walde suchte sie mit den Augen einen Platz, sprang auf einen morschen Baum zu, der am Boden lag und setzte sich erfreut. Lukas ließ sich bei ihr nieder. Sie hielt das kleine Bündel im Schoß, knüpfte es auf, brachte gedörrte Feigen zum Vorschein, Brot und Käse. Das kramte sich so aus allerlei bunten Lappen, Haarkämmen, Münzen, zerbrochenen Kettchen manchmal wie unvermutet hervor. Auch ein Rosenkranz aus Wacholderperlen verwickelte sich dazwischen und mußte losgelöst werden.
Lukas sah ihr zu. »Ist das alles Dein?«
Sie veränderte die Stellung und den Ton seiner Worte, als wolle sie beides verbessern: »Das ist mein Alles«; und sie sah ihn ruhig an.
Er blieb ernst, tat verwundert und fragte: »Woher hast Du das?«
»Ich hab’s eben«, war die Antwort und es klang: frag’ nicht.
»Ich hab’ gar nichts . . .«, sagte Lukas vor sich hin.
Sie bot ihm ruhig ein Stückchen Käse, bot ihm Feigen und sie aßen zusammen.
Dann standen sie auf und wanderten weiter. Die Straße lief aus dem Wald, führte über Wiesen und Matten, darauf jetzt schon die warme Sonne lag. Angelica fing an, ein Lied zu singen. Lukas schwieg und lauschte und ihm war, als habe er es schon von den italienischen Arbeitern in Wien gehört. Sie brach kurz ab und sagte: »Sing’ doch mit.«
Nun sangen sie beide zusammen, während sie nebeneinander einherwanderten. Nach einer Weile hielten sie sich an den Händen gefaßt. Lukas besann sich, daß er, seit der Vater ihn so geführt hatte, mit niemandem noch Hand in Hand gegangen war. Er fühlte die warmen Finger des Mädchens in seiner Faust sich regen, und er sang lauter.
Sie ruhten, wenn sie müde waren, redeten miteinander und schwiegen manchmal lange. Sie erhoben sich und gingen weiter, bis sie wieder ruhen wollten. Einmal, mitten im schweigenden Vorwärtsschreiten und inmitten der durchsonnten weiten Einsamkeit, blieben sie stehen, schauten einander in die Augen und küßten sich. Dann gingen sie wieder ein langes Stück der Straße, blieben wiederum stehen und Lukas hielt Angelica eng umfaßt. Er hatte noch nie ein Mädchen geküßt. Sie löste sich sanft von seinem Herzen, schüttelte wie mahnend den Kopf und flüsterte: »Noch nicht . . .!« Er ging mit ihr weiter. Die Sonne flammte vom Himmel, das weite Land loderte in blühendem Licht. Lukas breitete plötzlich die Arme und rief mit befreitem Aufatmen: »Jetzt fürchte ich das Hundeleben nicht mehr!«
Sie sagte ruhig: »Wir führen alle ein Hundeleben . . . warum es fürchten . . .? manchmal ist es hart, manchmal ist es schön . . .«
Abends saßen sie zusammen unter dem vorragenden Dach einer verlassenen Hütte, während rings die Schatten niedersanken.
»Auch ich bin allein . . . ganz allein . . .«, sagte Angelica als Antwort auf das Wenige, das Lukas ihr erzählt hatte. »Manchmal freilich ist jemand bei mir . . . was weiß ich, wer?. . . aber ich bin doch allein . . . zuweilen ist es gut, wenn er wieder weggeht und ich wirklich allein bin . . . manchmal bin ich selber schon fortgelaufen . . . aber einmal . . . nein, da war es nicht gut . . . da war jemand bei mir und hat mich dann allein lassen . . . es war nicht gut . . .«
Sie schüttelte sich, lachte leise und fragte: »Von so weit her kommst Du also?« Und ohne der Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Auch ich bin weit gewesen, sehr weit . . . bis nach Lugano war ich . . . und dann dort . . . ganz wo anders . . . Venedig . . . überall war ich . . .«
Sie lehnte sich an seine Schulter: »Du bleibst jetzt bei mir . . .?«
»Immer . . .«, sagte Lukas.
»Morgen auch . . .?«
»Morgen . . .«, seine Stimme bebte, »morgen muß ich dort hinunter, in die . . . es ist eine Stadt dort unten . . .«
»Ich will mit Dir . . .«
»Unmöglich . . .« Er holte tief Atem, um überhaupt sprechen zu können. »Du darfst nicht mit mir . . . aber übermorgen bin ich wieder frei . . . da treffen wir wieder zusammen und dann bleiben wir beieinander . . .«
»Wo?« Sie fragte ungläubig und dringend. Sie war traurig.
»Sag’ Du, wo es sein soll«, bat er eifrig, »sag’ es ganz genau . . . ich komme, Angelica . . . ich schwöre, daß ich komme . . .«
»Nun . . . in Rovereto . . . vor der Kirche . . .«
»Gut, in Rovereto . . . aber Du mußt warten, bis ich komme.«
»Und Du schwörst . . .?«
»Ich schwöre . . ., aber schwöre Du, daß du wartest . . .«
Sie zog ihn an sich und küßte ihn. Lukas nahm sie in seine Arme. Er vergaß des Bannes, unter dem er lebte, er vergaß der Zeit und die Stunden schwebten über ihn hinweg, ohne daß er dessen gewahrte.
Irgendwo in der Ferne schlug eine Turmglocke Mitternacht. Lukas hörte es nicht. Er fühlte nur den Ruck, der ihn aus der Umarmung Angelicas hinwegraffte. Und er war für sich selbst so betäubt, daß ihm erst später zu Sinn kam, mit welchem Entsetzen das Mädchen ins Leere gegriffen hatte.
Nach kurzen Tagen kam ein neuer Morgen. Da stand Lukas, umglänzt von der Frühsonne, am letzten Abhang der Berge. Drüben, in unsichtbarer Tiefe, donnerte die Etsch, die er nun kannte, deren Lauf er in dieser Woche gefolgt war, wie sie durch wilde Schluchten stürzend, gegen Süden drängte. Von einer Hügelkuppe verdeckt, fand sie sich dort drüben, einmal noch, in Felsenenge gepreßt, er hörte sie aufbrüllen und schäumen, ob er gleich ihren letzten Kampf von hier nicht erblicken konnte. Aber er sah sie dort unten ihren Einzug halten ins ebene Land. Erregt noch und groß atmend strömte sie breit dahin, indessen ihre Wellen in der Ferne schon blau wurden wie der unendliche Himmel, der sich hier dehnte.
Lukas war auf seinem Hügel wie auf einem Söller. Ruhevoll lag die Ebene vor ihm hingebreitet. Er überflog sie mit berauschten Blicken: den hellgrünen sanften Boden, gestreift von den weißen Strichen der Wege, durchblitzt von den Silberadern ziehender Gewässer, aufschimmernd in dem hellen Lächeln verstreuter Häuser und Ortschaften.
Dort unten aber, nicht weit von den Bergen, an der Schwelle dieser unendlich sich dehnenden Flur glänzten die Mauern, Dächer und Türme einer Stadt: Verona. Lukas war zu Mute, als könne er auf ausgebreiteten Schwingen hinunter schweben. Niemals in all diesen Tagen hatte er solch eine Ungeduld in sich gefühlt wie jetzt. Dort unten wird es schon Maler geben, Bildhauer und Goldschmiede, Männer, die Bescheid wissen über Florenz, über die Meister, die dort arbeiten und arbeiten lehren, oder die sonst wo zu finden sind auf italienischer Erde.
Hier neben ihm, ein wenig abwärts den Wiesenhügel, auf dem er saß, war ein Stück der Straße sichtbar, gleich einer Bandschleife; dann weiter unten kam sie wieder hervor, glitt den Hang in Windungen hinunter und entrollte sich durch die grüne Ebene in gerader Zeile.
Lukas gedachte seines Vaters, der die Straße da nach Norden gezogen war. Unbegreiflich schien es ihm, daß der Vater diesen heiteren Garten verlassen hatte; unbegreiflich, daß irgendein Mensch, der da geboren und zu Hause war, dieses helle Land verließ.
Lukas wanderte mit den Augen auf der Straße, die sich dort unten entrollte. Alle seine Hoffnungen, seine Wünsche und Gedanken wanderten, rannten jetzt auf dem weißen Streifen dort zwischen grünen Wiesen dahin. Er verscheuchte die Erinnerung an ehegestern, die sich in ihm regen wollte. Wie er da an Rovereto auf schmalen Pfaden vorbeigeschlichen war, außerhalb des Städtchens, in der Angst, Angelica vor der Kirche zu treffen. Wie es ihn dazwischen doch wieder gelockt hatte, mitten durch den Ort und geradenwegs zur Kirche zu gehen, ob Angelica wirklich seiner wartete. Er glaubte es nicht, meinte, sie müsse wohl zu viel Grauen vor ihm empfinden, um ihn noch zu suchen, aber er sehnte sich nach ihrer Schönheit wie nach ihrer Liebe, er fühlte sich von Reue gequält, so leichtfertig bei ihr verweilt und sie sicherlich so tief erschreckt als bekümmert zu haben. Dann aber hatte er alles von sich abgeschüttelt, die Sehnsucht, die Reue, das Schwanken und Zaudern und war vorwärts gewandert, seine ganze Sehnsucht in die Ferne gerichtet. Jetzt saß er hier und mochte an sonst nichts anderes mehr denken.
Das Traben vieler Pferde, Wagenrollen und ein Gewirr von Menschenstimmen drang näher und immer näher zu ihm. Auf der Straßenschleife, die seinen Hügel säumte, erschien ein Trupp Reiter, eine Schar von Karossen folgte ihnen und ein Schwarm von Reitern bildete den Schluß. Lukas erkannte den Reisezug des Erzherzogs. Er kam, mit Roß und Wagen, zum Vorschein wie auf einer Bühne oder wie die wandernden Figuren auf einem Uhrwerk und er verschwand wieder gleich diesen, wo der Hügel, vorwölbend, die Straße in sich aufzunehmen schien. Aber das Schnauben der Pferde, das Kettenklirren, das kreischende Ächzen der Räder und der verworrene Laut von Stimmen, die redeten und riefen, sprühte Leben rings um sich her.
Lukas sprang von seinem Sitz empor. Atemlos wartete er, bis der Zug weiter unten aufs neue sichtbar wurde. Dort in der Tiefe kam er jetzt hervor, brauste die Straße abwärts. Umhüllt vom wirbelnden Staub glitt er wie auf Wolken dahin.
Lukas schrie auf und breitete die Arme: »Da . . .! Da fahre ich nach Verona . . .! Heute abend werde ich in Verona sein . . .!«
Der Marktplatz zu Verona wimmelte von Menschen. Sie liefen unaufhörlich durcheinander und standen in dichtem Gedränge beisammen. Auf den Steinfliesen, die den Boden deckten, lagen grüne Berge von allerlei Gemüsen, zappelten, in bunten Haufen übereinandergeworfen, gefesselte Hühner, klafften, zerstückt und ausgebreitet, die blutigroten Leiber geschlachteter Rinder, wölbten sich die farbenflammenden Hügel hochgeschichteter Blumen und Früchte. Eine frische Morgensonne leuchtete über dem Getümmel von Menschen, Tieren und Pflanzen. Alles war strahlend hell und warm. Es roch nach Blumen und rohem Fleisch, nach Apfelsinen und Blut, nach Kleidern, nach schwefligem Wasser, nach nassem Eisen, nach Zwiebeln und Melonen. Die Luft bebte von dem lauten Geschnatter der Menge, von mannigfaltig aufklingendem Gesang, vom Jauchzen, Plärren und Rufen spielender Kinder, von gellenden Pfiffen, vom stöhnenden Schreien geprügelter Esel und vom Gackern der gefesselten Hühner. Das breite Plätschern des Brunnens, die marmornen Säulen und Bildwerke, der Markus-Löwe, aus dem Gewühl aufragend, die Häuser, die vielen Balkons, die flatternden Vorhänge und die Wimpel ausgehängter Wäsche an den vielen Fenstern, alles schien mitzulärmen. Der ganze Platz tobte vor Leben.
Lukas schlenderte umher, unaufhörlich erstaunt und dazu unaufhörlich entzückt. Dieses Treiben erschien ihm fremd und war ihm doch zugleich vertraut wie aus fernstem Erinnern oder aus tiefstem Wesensgrund. Er blieb bei jeder Gruppe stehen, um den Gesprächen zu lauschen. Er freute sich und lachte so oft man ihn irgendwo am Arm festhielt, ihm Blumen, Fleisch oder sonst ein Ding zum Kauf bot, ihn dringend nach seinen Wünschen, nach seiner Lust, nach seinem Geschmack befragte und ihn zum Handeln und Feilschen verstricken wollte. Ihm war, als werde hier überall ein Spiel gespielt, das er kannte oder doch zu kennen glaubte, weil er es im Augenblick begriff, ein kindliches und leidenschaftlich heißes Spiel voll List und Kunst, einander ins Herz zu spähen und einander zu erraten, voll Spannung, voll Jähzorn und froher Heiterkeit, ewig verlockend und prächtig unterhaltsam.
Er blieb bei den Handwerkern stehen, die vor ihren offenen Laden hockten. In der Türe oder auf der Straße saßen sie da, mitten unter ihrem Kram, schwatzten, schrieen, lachten, prügelten die Kinder oder herzten sie und wenn zufällig von irgendwoher ein Lied über sie hinschwebte, fielen sie mit Gesang ein, als wollten sie ordnungsliebend die vom Lärm zerrissene Melodie ausflicken und ergänzen oder als fühlten sie sich verpflichtet, ihr ein wenig das Geleite zu geben. Dabei hörten sie nicht auf zu arbeiten, geschickt und flink. Lukas stand bei ihnen und sah ihnen zu. Er lächelte, wenn sie lächelnd zu ihm aufblickten, er sprach mit ihnen, wenn sie lebhaft und als setzten sie bloß ein eben erst unterbrochenes Gespräch fort, mit ihm zu reden begannen.
An einer Ladentüre schimmerte es figurenreich vor Lukas auf. Dicht übereinander gedrängt waren da kleine Statuen, Pokale, Schüsseln, Büsten, Säulchen und allerlei prunkendes Gerät, blendendweiß in Gips oder in blankem Zinn, in goldigdunkler Bronze oder in rotem Kupfer; auch etliche in lebendig durchädertem Marmor. Das entquoll dem Dunkel des Ladens, zeigte sich drinnen im Dämmer des Gelasses als ein undeutliches, vielversprechendes Gewirr von Formen, brach aus dem engen Spalt der Tür, wie Reichtum aus einem Füllhorn geschüttet wird und lag jetzt vor Lukas. Getroffen blieb er stehen, so überrascht von Entzücken, daß seine Blicke über diese Menge von Gestalten, Köpfen und Ornamenten vorerst nur hintaumeln konnten. Es dauerte eine kleine Weile, bis er wirklich zu sehen und zu unterscheiden anfing. Da stand eine zierliche Pallas, nicht höher als zwei Spannen, aber in einer gebieterischen Haltung, deren anmutige Kraft ihn bezauberte. Daneben wölbte ihm ein Kupferbecken die Schnauze eines wunderbar feingetriebenen Löwenhauptes entgegen. Ein silberner Pokal hob sich schlank empor, zeigte seine üppigen Schildereien und trug den geknauften Deckel wie eine Krone. Frauenleiber bogen sich zärtlich mit straffen Brüsten und hielten auf anmutig gehobenen Armen eine marmorne Schale. Ein bronzener Perseus stand da, in der ausgestreckten Faust das Haupt der Gorgo, und Lukas versank in seinem Anblick. Er gewahrte mit freudiger Bewunderung, wie sich in den edlen Knabenmienen des Perseus ein Ausdruck leichten, körperlichen Widerwillens mit dem eines großen Triumphes mengte. Lukas erschauerte vor Glück, weil es solche Werke gab und er endlich hier war, wo diese Werke geboren wurden und weil er sie begriff, so leicht und schnell verstand, wie man eine eingeborene Sprache versteht. Das war also Perseus. So mußte er geformt werden, mit dem Ausdruck solch eines zwiespältigen und eben deshalb einfach natürlichen Empfindens im Antlitz. Lukas glaubte, ihm sei nun ein wichtiges Geheimnis enthüllt.
Irgendein Zwang, den er plötzlich verspürte, nötigte ihn, sich von dem Perseus abzuwenden. In der schmalen Ladentüre stand ein Mann, der aufmerksam zu Lukas herüberspähte. Es war ein junger, schwarzlockiger Mensch, hatte vor sich auf einem hohen Drehtisch ein graues Tonfigürchen, daran er bosselte. Lukas und der junge Mensch schauten einander in die Augen, neugierig, ohne Fremdheit.
Der junge Mann lächelte zuerst: »Gut gemacht . . .«, sagte er höflich und wies mit einer Kopfbewegung nach dem Perseus.
Lukas flüsterte ehrfürchtig: »Von Euch?«
Der junge Mensch lachte. »Von mir? Wie könnte ich so was machen? Das ist aus Florenz. Ihr kennt Florenz?«
Lukas errötete. »Nein . . . aber ich bin auf dem Weg dahin . . .«
Der andere erkundigte sich: »Woher?«
»Aus Wien«, sagte Lukas.
Der junge Mensch betrachtete ihn eine Weile forschend. »Wien . . . das ist weit.«
Unwillkürlich war Lukas näher gekommen, herbeigezogen von dem Tonfigürchen auf dem Drehtisch, wie gebannt.
»Ich war in Florenz«, sagte der junge Mensch, »drei Jahre. Ich habe gelernt.«
»Wie heißt Ihr«, unterbrach ihn Lukas, »ich heiß Lukas Grassi und Ihr?«
»Agostino Cassana.«
Lukas redete zutraulich weiter.
»Das ist herrlich, daß ich Euch treffe und daß Ihr in Florenz gewesen seid. Ich will aus demselben Grund hin, wie Ihr, versteht Ihr? Ich will lernen. Schon mein Vater war ein Künstler, er war aus Toscana und er ist nach Wien, weil sie dort Paläste bauen. Damals bin ich noch ein Kind gewesen. Und jetzt will ich nach Florenz.«
Agostino lächelte: »Geh’ zu Cesare Bandini. Du findest keinen Besseren in ganz Italien.«
»War der Dein Meister?«
Agostino nickte. »Sag’ ihm nur, daß Du von mir kommst. Er hat mich lieb, er hat mich nicht fortlassen wollen.«
»Warum bist Du nicht bei ihm geblieben?«
»Ich bin hier zu Hause, hier in Verona. Und dann, warum sollte ich bleiben? Nach drei Jahren! Cesare Bandini kann ich nicht werden, eh? Ich muß einmal Agostino Cassana sein.«
Sie lachten laut auf alle beide.
Agostino wollte wissen, wie lange Lukas in Verona sei.
Lukas gedachte flüchtig des gestrigen Tages, da er hier als ein Hund umhergelaufen war und entgegnete: »Ich bin erst diesen Morgen gekommen . . . vor Sonnenaufgang.«
»Hast Du den Can Grande schon gesehen?«
Lukas wußte nichts vom Can Grande.
Agostino warf die Modellierhölzer hin, hüllte sein Figürchen in nasse Lappen, wischte die Hände in seinem Kittel und rief eilig: »Komm’!«
Zusammen schoben sie sich durch das Gewühl des tosenden Marktes. Sie hörten und sahen nichts von den Menschen, so vertieft waren sie in ihr Gespräch. Sie merkten nicht einmal, daß sie schreien mußten, um einander zu verstehen.
Aus Lukas brachen alle seine Träume und Wünsche hervor, die er einsam in sich getragen. Seine Sehnsucht, die so lange geschmachtet hatte, atmete hoch auf in Erfüllung. Er wollte bauen, er wollte Statuen meißeln, er wollte Bilder malen und Prunkgefäße ziselieren. Anfeuernd lachte Agostino zu jedem Plan, einverstanden und entzückt. Das alles ließ sich machen, mußte gemacht werden, all das konnte man bewältigen. Warum nicht? Agostino sprach von den Steinquadern und Säulen der Paläste, von den Geheimnissen der Proportion, von den Farben, von der Glätte getünchter Mauern, von der Haltbarkeit gespannter Leinwand, von Marmor und Gold, von allen Schlichen des Handwerks, die ihm einfielen und von allen Eigentümlichkeiten des Materials, die sich erforschen ließen, in langer Arbeit. Aber was ihn selbst betraf, wollte er nichts als ein Bildhauer sein. Er wollte Statuen von Heiligen bilden für die Kirchen, silberne Gruppen für die Tafeln großer Herren. Er hatte Aufträge. Täglich kamen ihrer mehr. Er war im Begriffe, bekannt zu werden. Und er arbeitete nicht bloß in dem kleinen Laden. Er würde eine große Werkstatt haben, später . . . und Gehilfen und Schüler.
Sie gingen durch ein enges Gäßchen, dann standen sie auf einem schmalen Platz vor einer kleinen Kirche. An der Seitenwand überdachte ein Säulenbau den Sarkophag eines Mannes, und hoch oben auf dem steilen First zeichnete sich eine Reiterstatue gegen den blauen Himmel.
Agostino wies empor. »Der Can Grande.« Er blickte Lukas erwartungsvoll an.
Der steinerne Reiter dort oben auf dem verhüllten Pferd sah aus wie auf Hochwacht. Der Streithelm, der ihm am Rücken hing, schien ihn zu beflügeln, das Schwert in seiner Hand ragte aufrecht, feierlich und tatbereit.
»Sehr alt . . .«, sagte Agostino leise.
Lukas schaute andächtig und schwieg. Dieses Standbild, hoch in die Luft erhoben, aus dem Mauerschatten voll in die Sonne tauchend, vom frischen Frühlingswind umhaucht, entfachte eine begeisterte Erregung in ihm. Dieses Standbild öffnete mit plötzlicher Kraft seine Seele weit, riß sie zu sich empor und schleuderte sie über sich hinaus in die Unendlichkeit. Agostino sagte: »Klein. Aber man weiß gar nicht, daß es klein ist. Man geht weg und in der Erinnerung ist es groß. Ein großes Monument.«
Lukas hörte ihn nicht.
Sie strichen in den lebendigen Straßen umher; sie plauderten und lachten als kennten sie einander seit Jahren.
Als sie Abschied nahmen, fragte Agostino: »Wie lange bleibst Du in Verona?«
Lukas erblaßte. »Ich weiß es nicht . . .«, stammelte er.
»Welchen Weg willst Du nehmen?« fragte Agostino weiter. »Bist Du über Vicenza gekommen?«
Lukas schwieg.
Agostino wurde eindringlich. »Du mußt über Vicenza gehen.« Er bat ihn förmlich. »Es ist ein Umweg von hier, aber nur gering. Ich sage Dir, geh’ über Vicenza, sieh’ Dir dort die Rotonda an . . . Du weißt doch?. . . von Palladio . . . und dann geh’ nach Padua, das hölzerne Pferd von Donatello ist dort . . . dann Ferrara . . .«
Lukas dachte daran, daß er ein Hund sein müsse auf dem Weg durch das Laub, auf dem Weg zu seinem Ziel. Er dachte daran, daß es nicht bei ihm stünde, wie lange er in Verona bleiben werde, nicht bei ihm, die Straße nach seinem Willen zu wählen. Angst und Scham ergriff ihn.
»Komm’ morgen zu mir«, redete Agostino eifrig weiter. »Ich werde Dir dann ganz genau erklären, wie Du reisen sollst . . .«
»Ja . . . morgen . . .«, sagte Lukas.
In Bologna hielt der Erzherzog feierlichen Einzug.
Das Geläute aller Glocken schwang über ihnen durch das Sonnenlicht, als sie vor die Stadtmauern kamen. Von den Wällen feuerten die Kanonen mit kurzem, im Frühlingstag zerberstenden Donner, und das Rufen der dichtgedrängten Menge wehte zu ihnen nieder, windverblasen, wie breites Rauschen. Der Erzherzog entstieg der Karosse und schritt dem kleinen bunten Getümmel entgegen, das am Tore seiner harrte. Dort stand der Kardinal und sein Purpur hob sich gebieterisch von dem sanfteren Hintergrund, den die Gewänder der anderen für ihn abgaben. Inmitten seiner Priester, Kavaliere und Ratsherrn wartete der Kardinal, bis der Erzherzog herangekommen war, nahm voll Hoheit den Handkuß des Prinzen an und neigte sich dann erst ehrerbietig vor seinem Gast. Der Kardinal war ein schöner junger Mann, hochgewachsen und schmalschultrig, sein Antlitz hatte die warme, getönte Blässe des Elfenbeins, seine Augen und seine Haare ebenso wie die geschwungenen Brauen glänzten tief schwarz. Es war eine gelassene Fröhlichkeite in seinem Wesen von ungewöhnlicher Anmut, bezwingender Würde und innerem Gleichgewicht. Der Erzherzog wurde schüchtern vor ihm und wandte sich rasch den anderen zu. Eine Weile war Gespräch und Lachen in der kleinen Gruppe hier vor den Mauern. Glockenläuten, Volksgeschrei und Geschützfeuer brausten drüber hin und als zuletzt der Zug mit Pferdestampfen, Waffenklirren und Wagenrollen durch das Stadttor trabte, gab es einen prächtigen Widerhall. Nun lagen die inneren Straßen frei vor ihnen, gesäumt von Neugierigen, die mit Tüchern wehten, die Mützen schwenkten und rufend grüßten. Langsam fuhren sie hindurch, der Erzherzog und der Kardinal nebeneinander, neigten sich nach allen Seiten und hatten einander nichts zu sagen.
Als sie am Palast aus dem Wagen stiegen, bemerkte der Kardinal: »Was für einen schönen Hund habt Ihr — wie heißt er?« Der Erzherzog gab Auskunft: »Kambyses«. Und der Kardinal lächelte: »Ja, ja, die großen Namen der alten Welt . . . wir haben jetzt keine Verwendung mehr dafür . . . die Namen der heidnischen Majestäten und Götter geben wir heute unseren Hunden.« Der Erzherzog wußte nichts zu entgegnen. Lächelnd betrachtete ihn der Kardinal und fuhr, ein wenig spöttisch, fort: »Was denkt Ihr, kann auch unsere Welt einmal so tief versinken, daß die Menschen ihre Hunde nach unseren großen Königen oder Päpsten nennen werden . . .?« Und als ob er dem Erzherzog, der ganz verwirrt war, helfen wollte, unterbrach er sich: »Seht doch Euren Hund, wie andächtig er zur Statue des Papstes Julius aufschaut . . . ist es nicht sonderbar? Er hat dies Bildwerk so hoch überm Tor entdeckt, noch ehe ich selbst es Euch zeigen konnte. Und man möchte beinahe glauben, daß er es bewundert. Seltsam . . .«
Der Erzherzog blickte von seinem Hund zur Statue auf, die feierlich und groß über dem Tor thronte: »Wer weiß, was er da oben sieht . . .«, meinte er.
Der Kardinal lächelte wieder: »Ihr habt recht. Wer weiß, warum solch ein Tier in die Höh’ gafft, und wer weiß, was es da oben sieht. Keinesfalls sieht es ein herrliches Kunstwerk — und das hat es schließlich mit vielen anderen, zweibeinigen Tieren gemein.«
Er zuckte hochmütig die Achsel und sie gingen ins Haus.
Lukas durchstreifte die Straßen Bolognas, als er wieder er selbst war. Er stand vor dem Palast und betrachtete die Statue Julius II. und entzückte sich daran, wie dies Menschenbildnis, herrisch und machtvoll, der Fassade, der es so kühn eingefügt war, Feierlichkeit, Charakter und Sprache lieh. Er betrachtete die Front des Palastes und war beglückt, wie viel rätselhaftes Wissen sich täglich vor ihm enthüllte, wie viel geheimes Erkennen sich ihm erschloß, seit er in diesem Lande war. Er stand vor den Palästen der Bentivoglio und Maffei; er ging in die Kirchen, wenn sie leer waren und hatte seine Andacht vor den Altarbildern, Statuen und Schnitzereien. Dieses Land gab ihm alles, wonach seine Sehnsucht verlangte, es bot ihm alles, wonach er darbend gefragt hatte, und es umwehte ihn mit einer Vertrautheit, es löste irgendwie in seinem Innern ein Erwachen, das ihn erschütterte. Nur mühsam unterdrückte er ein Wort, so oft es sich ihm darbot, glitt mit ängstlichem Weigern darüber hin: Heimat. Nein, das Wort noch nicht aussprechen. Noch war er nicht am Ziel. Noch war er nichts anderes als ein elender Hund. Sein Herr konnte ihn erschlagen, wenn es ihm einfiel, jeder niedrige Stallknecht konnte ihn töten. Er konnte am Weg liegen bleiben, irgendwo im Straßengraben verrecken, noch ehe sie Florenz erreichten. Nein, nicht eher dieses Wort, als bis sie dort waren, bis das furchtbare Verhängnis, das ihn umklammert hielt, sich vollendet hatte und ihn frei ließ.
Eines Abends, im Gewühl der Menge, das die schmale Straße vor den schiefen Türmen der Asinelli dahinzog, stieß sein Fuß an einen kleinen, leise klirrenden Klumpen. Er bückte sich und hielt einen Geldbeutel in der Hand, dessen abgescheuerte Lederfalten er rasch entschnürte. Es waren nur wenige Silbermünzen und ein Goldstück, aber ihm schien es wie eine Erfüllung heißesten Wünschens, wie eine Antwort aus jenem Dunkel, von woher sein Schicksal gelenkt wurde. Bis heute war er als ein Bettler des Weges gezogen, war durch fremde Städte und über fremde Landstraßen gewandert, unfähig, sich ein Stück Brot zu kaufen. Er hatte sich nur gesättigt, wenn der Hund seinen Fraß vorgesetzt bekam, hatte ein Nachtlager nur gehabt, wenn dem Hund der Platz im Stroh vergönnt war. Jetzt hielt er ein bißchen Menschenfreiheit und menschliches Leben in Händen und die Sorge, die ihn so lange gedrückt hatte, was er in Florenz anfangen werde, um sein Dasein zu fristen, fiel wie eine Last von seinem Herzen. Nun stand er gern vor dem Palast und beobachtete das Gehen und Kommen, das Tun und Treiben, das sich hier abspielte. Jeden andern Tag war er mit dabei. Da gehörte er ja dieser Gemeinschaft an, kannte alle Ställe, Treppen, Korridore, alle Stuben, Gemächer und Säle im Palast. Dann aber stand er hier draußen, wie einer, der entrückt ist, unsichtbar und frei. Sonst hatte er an seinen menschlichen Tagen die Nähe des Zuges gemieden in irgendeiner Angst, die ihn erzittern ließ, in einer Scham, die ihn seltsam bedrückte. Nun aber stand er hier, überwand Scham wie Angst, die sich immer noch leise in ihm regen wollten, und sah die Knechte, die ihm so vertraut waren, er sah den Grafen Waltersburg, den dicken Herrn Pointner und die andern. Sie gingen an ihm vorüber, ganz nahe und blieben ahnungslos. Er wußte alles von ihnen, jede Falte in ihrem Gesicht, jede Bewegung ihrer Schultern, alle Gewohnheiten ihres Wesens waren ihm genau bekannt, ihre Sprache, ihre Begierden, ihre Güte oder Härte. Aber sie sahen ihn kaum an und ahnten nichts und hätten auch nichts geahnt, wenn sie ihm stundenlang in die Augen geschaut hätten. Sie wußten nur von Kambyses, dem Hund, doch sie wußten nichts von Lukas, dem Menschen.
Einzig den Erzherzog bekam er an solchen Tagen niemals zu Gesicht. Flüchtig nur hatte er ihn eines Morgens in der Karosse erblickt wie damals in Wien an dem trübseligen Novembertag bei der Ausreise. Fern und hochmütig lehnte das schmale Antlitz in den Kissen, während die Karosse dahin fuhr, und ein ferner, gleichgültiger Blick aus wasserblauen Augen streifte über die Menge. Lukas aber wollte ihn sehen, ganz nahe, wie er den Grafen Waltersburg gesehen hatte oder den Kammerdiener Pointner. Es trieb ihn, ohne daß er recht wußte, warum. Ein Gefühl, das weder Neigung noch Feindschaft war, verlangte in ihm mit Heftigkeit danach, dem Erzherzog gegenüberzutreten.
Und er sah ihn. An einem stillen Nachmittag war Lukas in die Kirche San Petronius gegangen. Einsam schritt er hier von Altar zu Altar, von Bildwerk zu Bildwerk. Da trat der Erzherzog mit dem Kardinal und mit einem stattlichen Gefolge von Herren in die Stille des Raumes. Sie sprachen laut miteinander, daß es an den hohen Wölbungen widerhallte, während Lukas hinter einer Säule sich barg.
Ganz in der Nähe blieben sie stehen und Lukas hörte, wie der Kardinal sprach: »Hier war es, wo Euer großer Ahnherr, Karl V., gekrönt wurde.«
Der Erzherzog trat einen kurzen Schritt vor, wollte etwas erwidern und fand sich Lukas gegenüber. Er blieb stehen, drehte verwirrt den Kopf, hüstelte, wollte sich fassen, aber Lukas sah ihn ruhig, neugierig, beinahe rufend an. Alles, was er in dieser letzten Zeit durchlebt, gedacht und erfahren hatte, sprach jetzt unwillkürlich aus seinem Blick, nun er zum erstenmal aufrecht, als ein Mensch, vor seinem Herrn stand, und dieser Blick hielt denn auch den Blick des andern festgebannt, ließ ihn nicht los, ein paar Sekunden lang. Dann schlug der Erzherzog beunruhigt und über seine Unruhe erbost, mit der Hand durch die Luft, wandte sich an den Kardinal und flüsterte: »Was will der zerlumpte Kerl dort?«
Ein Wink des Kardinals und ein paar Herren näherten sich Lukas. Sie winkten abwehrend, drohten und zischten ihm zu: »Weg da, mach’, daß Du weiterkommst . . .!«
Lukas ging langsam hinaus.
Der Erzherzog atmete beklommen und schob unbehaglich die Unterlippe vor. »Wie zudringlich so ein Mensch schauen kann . . .«
Ruhig entgegnete der Kardinal: »In der Tat, der Bursche hat seltsame Augen.«
Nachdenklich schüttelte der Erzherzog den Kopf. »Ihr habt es auch bemerkt? Diese Augen . . . ich weiß nicht, woran mich diese Augen erinnern . . .«
Den andern Abend begab es sich noch, daß die Herren bankettierten, um Abschied zu feiern, weil der Erzherzog am nächsten Morgen sich nach Florenz erheben sollte. Es war eine laut lärmende Tafel, an der üppig gespeist und viel getrunken wurde. Der Hund lag da und dort umher, drängte sich durch die Stühle, saß vor den Anrichtetischen, kam nirgends zur Ruh und konnte den rechten Platz nicht finden. Während er nun am untern Ende der Tafel, wo die jungen italienischen Edelleute saßen, auf dem Boden sich hingestreckt hatte, erhob sich einer von diesen und wollte hinter den anderen die Stuhlreihe entlang gehen, um mit einem Herrn in des Erzherzogs Nähe anzustoßen. Er taumelte schon ein wenig und stolperte über den Hund, der erschrocken aufsprang und eilig aus dem Weg strebte. Aber der junge Edelmann stieß zornig mit dem Stiefelabsatz nach ihm, daß der Hund mit einem Wehlaut zusammenknickte. Nun erst schickte sich der junge Edelmann an, in ausführlicher werdendem Toben über den Hund herzufallen: »Wart’, Bestie, verdammte, ich will Dich lehren, mir in den Weg . . .« Doch der Jammerruf des Hundes ging ebenso plötzlich in einen Wutschrei über. Wie rasend war der Hund in die Höhe gefahren. Den wilden Schmerz des Fußtrittes noch in den Weichen, fiel er den Trunkenen an, schlug ihm beide Vorderpfoten gegen die Schultern und lehnte ihn so, im Sprung, ohne weiteres an die Wand. Der Lärm des Banketts verstummte im Nu. Etliche waren von den Stühlen gesprungen und nichts hörte man als das heisere, schnappende Knurren des Hundes und das stöhnende Zornächzen des überraschten, erschreckten Mannes, der totenbleich, den Rachen des Hundes an der Gurgel, wie ein Gekreuzigter an der Wand lehnte.
Der Hund bellte dem Bedrängten laut, haßerfüllt, heulend und vorwurfsvoll ins Gesicht, während Herr Pointner hinter dem Stuhl seines Herrn mit raschem Flüstern berichtete, was eigentlich geschehen sei. Eben war es dem jungen Edelmann geglückt, seinen Dolch aus der Scheide zu reißen, da schlug der Erzherzog auf den Tisch und schrie: »Wagt es, meinem Hund nur ein Haar zu krümmen! Was habt Ihr Euch überhaupt unterstanden, meinen Hund mit den Füßen zu treten, Ihr besoffener Lümmel dort! Fort mit dem Dolch sag’ ich!«
Augenblicklich ließ der Hund von seinem Gegner ab, fiel nieder auf alle Vier und stand ruhig da. Nur die Zunge hing ihm heraus, so erschöpft fühlte er sich; und er knurrte immer noch, so entrüstet war er.
Mit gleichgültiger Stimme sprach der Kardinal zu dem jungen Edelmann hinüber, der sich zerzaust, ernüchtert und verblüfft von der Wand löste: »In der Tat, Messer Giovanni, Ihr seid betrunken und seid ein Lümmel. Macht, daß Ihr hinauskommt.«
Messer Giovanni schlich davon. Der Hund folgte ihm bis zur Türe.
Als die Paßhöhe des Gebirges erreicht war, befahl der Erzherzog, daß man halten und eine Weile rasten sollte. Der finstere Wald, durch den man viele Stunden mühselig emporgekrochen war, hatte des Prinzen Gemüt verdüstert. Nun fühlte er im langsam rollenden Wagen, daß der Weg wieder eben wurde, er sah, daß die Dunkelheit zu weichen begann, blauer Himmel strahlte vor ihm in mächtiger Weite, von den Baumstämmen und Wipfelästen nur noch schwach und schwächer vergittert. Der Erzherzog atmete auf, als sich der Wald dann plötzlich zu einer Wiese öffnete, deren heller Raum selber einem Aufatmen der Natur zu gleichen schien. Rasch bog er sich aus dem Fenster, um Halt und Rast zu gebieten.
Die Kürassiere, die schon der leise sich senkenden Straße folgen wollten und jetzt zu traben gedachten, rissen die Zügel an, lenkten die Pferde wegab ins Gras und schwangen sich aus dem Sattel. Die Reihen lösten sich, und was noch an Wagen, Saumtieren und sonstigem Troß des Erzherzogs einherkam, quoll nun regelloss aus dem Wald hervor.
In sanfter Breite dehnte sich die Wiese über den Abhang talwärts. Jetzt war das bunte Gewimmel vieler Menschen über sie hingeschüttet und sprenkelte sie mit beweglichen Figuren und mit der Lebendigkeit beständig wechselnder Gruppen. Rufen, Lachen, Singen und lautes Gespräch erhob sich, Klirren von Ketten und Waffen, Knarren von Rädern und Knirschen von Sattelzeug und zu dem Stampfen, Schnauben und Wiehern der Pferde der geschäftige Lärm der Diener, die aus Wagen und Kisten für eine Mahlzeit und für allerlei Bequemlichkeit sorgten.
Abseits, an einer freien Stelle, spazierte der Erzherzog mit dem Grafen Waltersburg frohgelaunt hin und her. Herr Pointner folgte und der Hund umkreiste sie mit freudigen Sprüngen.
Da unten, von der Sonne überströmt, leuchtete das toscanische Land. In sanften, saphirblau umschimmerten Hügeln, in hellgrünen Fluren lag es weithin ausgebreitet. Da blitzten fern und klein die weißen Marmorhäuser der Städte und Dörfer aus dem grünen Teppich, funkelten Kuppeln und Turmknäufe gleich köstlichem Geschmeide. Wie ein großes Fest lag die Landschaft da unten vor ihnen.
Der Erzherzog deutete mit der Hand zur strahlenden Tiefe. »Ist das dort Florenz?«
Graf Waltersburg schaute mit sachkundiger Miene drein und antwortete endlich: »Meiner Seel’, ich weiß nicht . . .«
Herr Pointner begann laut zu lachen und Waltersburg fuhr beleidigt herum. Da rief Pointner: »Sehen doch, gnädigster Herr, wie der Hund sich anstellt . . . rein, als wolle er nachdenken, ob das jetzt Florenz ist oder nicht . . .«
Alle blickten den Hund an, der mit vorgestrecktem Hals regungslos stand und, die Ohren gespitzt, in die Tiefe spähte.
Lächelnd beugte sich der Erzherzog nieder, klopfte ihm das Fell und sagte: »Nun, Kambyses, weißt Du vielleicht, ob das Florenz ist?«
Erschrocken zuckte der Hund bei der Berührung zusammen, hob schnell einmal den Kopf zu seinem Herrn empor, lief ein paar Schritte und blieb gleich wieder stehen, um zu schauen, wie vorhin.
Sie kümmerten sich nicht mehr um ihn.
Als dann der Erzherzog mit dem Grafen Waltersburg beisammen saß und den Imbiß nahm, sagte Pointner, der aufwartend dabei stand, auf ein Mal: »Mit wem freut sich denn der Kambyses dort drüben gar so sehr?«
Die Herren wandten sich und sahen hinüber. Dort war ein alter Mann mit grauem Bart aus dem Dickicht getreten und bückte sich nach allen Seiten hin, redend, lachend, rufend, den Hund zu locken, der in einem rasenden Tanz um ihn her tobte und kurze jauchzend bellende Laute ausstieß.
Der Erzherzog runzelte die Stirne und stand auf. »Seltsam«, murmelte er und mißmutig ging er näher. Die andern folgten.
Weder der alte Mann, noch der Hund bemerkten ihr Kommen. Der Hund schien völlig außer sich geraten und kreiste atemlos wild um den Mann. Bald sprang er ihn so heftig an, als wolle er ihn überrennen oder umarmen, bald wieder fegte er davon, als wünsche er gehascht zu werden. Der Mann bückte und drehte sich, daß ihm sein kleines Felleisen vom Rücken her ins Genick rutschte und lachend, verblüfft und ergötzt rief er halblaut immerzu: »Ja, was willst denn . . . was ist denn mit Dir . . . ja . . . Hundl . . . sind wir denn so gute Freunde, daß Du mich so schön begrüßen tust . . .? ja . . . oha!. . . so was!. . . bist narrisch . . .? ja, Hundl, ich kenn’ Dich ja nicht . . .«
»Heda, Kerl!« Bei dem scharfen Anruf schnellte der alte Mann erschrocken auf, so hastig, daß der Erzherzog, der ganz dicht an ihn herangetreten war, ein wenig zurückweichen mußte. Überrascht sah sich der alte Mann dem jungen Herrn und seinen Begleitern gegenüber. »Ein narrischer Hund . . .«, sagte er lächelnd, aber der strenge Blick aus den hellen Augen des Prinzen verwirrte ihn. »Ein . . . narrischer . . . Hund . . .« wiederholte er leise und ein wenig stotternd.
»Was solls mit dem Hund? Was hast Du mit ihm?« Der Erzherzog sprach kalt und voll Ärger, aber der alte Mann hatte sich schon wieder gefaßt und lachte arglos: »Das ist komisch! Was ich mit ihm hab’? Möcht’ selber wissen, was der Hund mit mir hat. Gelt?. . . Himmel Donner!« Er fuhr bös herum, denn Pointner hatte ihm den Hut vom Kopf geschlagen. Zornig sah der Alte von einem zum andern, nur eine Sekunde, dann wollte er sich ohne Bedenken auf Pointner werfen. »Ah, da schau her!«
Aber Pointner hielt ihn am Handgelenk fest und sagte ruhig: »Es ist nur, weil Du vor Seiner kaiserlichen Hoheit nicht den Hut aufhaben sollst.«
Dem alten Mann gab es einen kleinen Ruck. Er ließ den Arm sinken, wurde ruhig, musterte gelassen und wohlwollend den Erzherzog. Dann pfiff er kurz und flüsterte gedehnt: »Ach soo!« Dann, nach dem Hund umblickend, der wedelnd und lauernd daneben stand, noch einmal, wie in plötzlichem Begreifen, um ein paar Töne höher: »Ach soo!«
»Wer bist Du?« fragte der Erzherzog, und Graf Waltersburg rief hochmütig dazwischen: »Na, das kann man doch sehen, wer der Kerl ist . . . ein Landstreicher. Nimm eine Peitsche, Pointner, und jag’ den Galgenstrick davon.«
Der alte Mann richtete sich auf »Na, na — na!« Er stand ganz straff da, seine munteren, kleinen Augen blitzten und das dritte »na« klang schon sehr laut und trotzig. »Ich bin kein Landstreicher und kein Galgenstrick, das bitt’ ich mir aus!«
»Was, zum Teufel . . .!« brach Waltersburg los. Aber der alte Mann überschrie ihn: »Nichts da zum Teufel, Herr Graf Waltersburg . . . ja, gelt? da schaut der gnädige Herr Graf . . .? Aber ich hab’ Euch oft genug gesehen, wie Ihr noch so klein wart . . . jawohl . . . mit Eurem Herrn Vater . . . selbstverständlich . . . und peitschen laß’ ich mich nicht . . .« Er lachte wieder, blickte mit seinen behenden frohen Augen arglos von einem zum andern.
»Wer bist Du?« wiederholte der Erzherzog leise und wegwerfend.
Mit einem Kopfnicken schien der Alte ihm freundlich recht zu geben. »So ist’s«, sagte er voll Zustimmung. »Das hat mich die kaiserliche Hoheit schon gefragt und wenn mich der Herr Graf antworten läßt, werd’ ich auch ganz nach der Ordnung Bescheid geben . . .« Er zwinkerte den Grafen lustig an.
»Schnell!« befahl der Erzherzog.
»Aufzuwarten«, sagte der alte Mann mit gelassener Heiterkeit. »Ich bin der Schneidermeister Wendelin Knapps aus Prag . . .« Er lachte. »Jawohl, aus Prag, Herr Graf. Der gnädige Herr Vater ist oft bei mir in meinem Laden gewesen, auch mit Euch, aber da wart Ihr noch ganz klein.«
Graf Waltersburg wunderte sich: »Und was treibst Du denn jetzt hier, in der weiten Welt?«
Der alte Mann entgegnete, als ob er Selbstverständliches zu erklären hätte, das eigentlich keiner Erklärung bedarf: »Na, anschauen . . . die weite Welt anschauen . . . Spazierengehen. Da haben sie von einem Land erzählt, wo es immer Frühling ist. Und dann haben sie vom Meer erzählt . . .« er sang beinahe, ». . . das Meer . . .«
»Was hat’s mit dem Hund?« fragte der Erzherzog ungeduldig.
»Ja soo . . . mit dem Hund . . .« Der Alte zögerte, schien sich auf nichts zu besinnen und seine Mienen verschlossen sich. »Den Hund kenn’ ich nicht.«
Der Erzherzog wurde plötzlich verlegen, fühlte den Widerstand, der sich ihm hier entgegenstemmte und sagte unsicher: »Du lügst . . .«
Achselzuckend kehrte der alte Mann sich weg, ließ seine Blicke am Boden umherlaufen und murmelte leise vor sich hin: »Meinswegen solls gelogen sein.«
Pointner merkte die Ratlosigkeit in den Mienen seines Herrn und trat näher. »Es ist schon möglich, daß der Alte die Wahrheit redet. Ich glaub’ sogar, es ist sicher. Woher soll der Kerl auch mit dem Kambyses bekannt sein? Solche Hunde haben manchmal närrische Marotten . . . Ein Geruch von einem Menschen, irgendwas . . . nicht wahr? unsereins hat ja keinen Begriff, aber irgendwas hat einer an sich, und die Hunde lecken ihm die Hand. Ein anderer wieder, den bellen sie an und möchten ihn am liebsten zerreißen vor Wut. Man weiß ja nicht, was in so einem Hund vorgeht.«
Der Erzherzog hatte seine kühle, hochmütige Miene. »Man weiß nicht, was in so einem Hund vorgeht«, wiederholte er langsam und sah hinüber, wo der Hund am Boden lag, jede Bewegung des alten Mannes aufmerksam beobachtete und dabei mit begeistertem Wedeln das Gras peitschte.
»Ich werde die Bestie erschießen lassen«, sagte der Erzherzog hart, während er sich abwandte und an seinen Platz zurückging. »Heute oder morgen.«
Pointner folgte ihm. »Beileibe, kaiserliche Hoheit. Das wär doch jammerschad’. Verschenken vielleicht. Er geht doch alle Augenblick durch und ist nicht zu halten. Ein sonderbares Vieh, aber ein schöner Hund. Erschießen . . . das ist nicht notwendig und es wär’ schad. Das hätt’ gar keinen Sinn nicht, — so ein seltenes Tier.«
Der Erzherzog schien ihn nicht zu hören.
Der alte Mann machte sich scheinbar eifrig mit seinem Felleisen geschäftig, aber er lauerte scharf auf alles, was nun geschah und als die Herren wieder bei ihrem Imbiß saßen, schlenderte er harmlos, Schritt vor Schritt, am Waldrand hin, umschlug eine Baumgruppe, die ein vorspringendes Eck in die Wiese rammte und ließ sich dann, den Blicken der anderen verborgen, am Rasenabhang nieder.
Der Hund kam herangeschlichen, winselte in verhaltenen, kurzen, ungeduldigen Lauten.
»Freilich . . . ja freilich . . .«, redete der Alte gutmütig und beschwichtigend,». . . aber freilich . . . ich weiß schon. Wann’s D’ gleich sprechen könnst, möcht ich Dich auch nicht besser verstehen ja, ja . . . sei nur ruhig . . . ich versteh’ Dich schon . . . alles versteh’ ich.«
Der Hund setzte sich erregt in die Hinterbeine, gähnte ungeduldig, jaulend, seufzte und schaute dem alten Mann ins Gesicht.
Eine Weile schwiegen beide. Dann lachte der Mann leicht auf und sagte: »Schön, daß D’ so eine Freud’ mit mir gehabt hast . . . schön von Dir. Hab’ mich auch gefreut mit Dir . . .« Er deutete mit dem Kopf zurück. »Die hätten’s gern herausgekriegt, was los ist mit uns zwei.« Er lachte wieder leicht und seine kleinen Augen blitzten. »Was wissen denn die von unsereinem . . . gelt?«
Der Hund saß still mit gespitzten Ohren.
»Da unten liegt Dein Florenz«, die Stimme des Alten klang beinahe feierlich. Er streckte die Hand aus und zeigte zur lichten Ebene hinunter.
Dem Hund entfuhr ein kurzer abgerissener schluchzender Laut.
»Aber . . . laß’s gut sein!« Der alte Mann winkte, schnell und abwehrend. »Laß’s gut sein. Kannst es ja nicht mehr ändern jetzt . . . hilft einmal nichts.« Kopfschüttelnd redete er leise weiter. »Ich weiß ja nicht, wie das so gekommen ist mit Dir . . . und du selber weißt es auch nicht, sagst Du . . . na also . . . Aber ich glaub’ halt, es wird mit Dir nicht viel anders sein, als mit allen Leuten, die nichts haben auf der Welt. Wer weiß, was Du Dir hättest wünschen können . . . wer weiß, wie Du Dich da selber hinein gewünscht hast . . . ja, es wird schon so sein . . . Hast Dich halt nicht getraut, zu viel zu verlangen . . . was? Ja, ja . . . immer glaubt unsereins, es gibt kein Glück, für das man nicht bezahlen muß . . . und dann bezahlt unsereins eben viel mehr als er müßte . . . kein Mut . . . keine Keckheit . . . man ist halt ein armer Hund . . .« Der alte Mann sprach weiter, leise und lebhaft, und immer, als antworte er auf allerlei Einwürfe.
»Aber wieso denn?. . . Wie soll man denn auskönnen . . .? Lächerlich . . . Man wird nicht gefragt, sondern man wird beteilt . . .! So ist’s. Der eine kriegt alles, der andere kriegt garnichts . . . und es muß sich ein jeder damit abfinden, so lang’ er auf der Welt ist . . . Ha, das wär’ noch schöner, wenn man ein’ jeden Menschen fragen möcht’, wie er’s gern’ haben möcht’ im Leben . . . das wär’ noch schöner! Da möcht’ die Unordnung noch viel ärger sein in der Welt . . . Red’ nicht . . . man sieht’s ja, wie es geht, wenn einer sich was wünschen darf. Es ist immer dasselbe . . . Hör’ mir auf . . . immer dasselbe! Da jammert ein armer Teufel, daß es ihm so schlecht geht, so erbärmlich schlecht . . .«
Der Alte seufzte possierlich: »Ach Gott, o Gott!«
Dann lachte er leise auf: »No und da kommt eine Fee daher, ganz eine hinterlistige, oder so ein Geist, so ein abgefeimter . . . was weiß ich, was für einer . . .? und sagt, der arme Teufel darf sich was wünschen . . . drei Wünsche . . .!« Er pfiff lustig. »Richtig, der arme Teufel wünscht sich was . . . und dann ist er noch viel ärmer als vorher . . .«
Er wurde ernst: »Das kenn’ ich. Immer sag’ ich . . . es geht nicht mit dem Wünschen! Wenn einer arm ist, wird er vom Wünschen nicht reich . . . und wenn einer unglücklich ist . . . wird er vom Wünschen nicht glücklich.«
Sie saßen dicht aneinandergeschmiegt und schauten hinunter in das weite sonnenbeglänzte Land.
Am folgenden Morgen erwachte Lukas auf dem Weg nach Florenz. Er lief die schöne Straße zwischen Wiesen und Gärten dahin, er tanzte und sprang. Wenn er müde war und sich hätte setzen wollen, litt es ihn nicht, irgendwo still zu bleiben. Er ruhte aus, indem er langsam ging, in dem Gedanken, daß ihn selbst der langsamste Schritt vorwärts bringe. Kam er an einen Kreuzweg, dann rief er Vorübergehende an, deutete geradeaus und fragte: »Nach Florenz?« Sie nickten oder wiesen ihm die Richtung. Und jede Antwort war ihm ein Geschenk, jede war ihm ein kurzes Fest, denn sie bestätigte: er kam jetzt ans Ziel. Der Tag verstrich, Lukas wurde matt, fühlte den Hunger in seinem Innern wie einen wilden Krampf, den Durst in seinem Mund und in seiner Kehle wie Feuer und er war über und über mit dem feinen, weißen Staub der toscanischen Erde bedeckt. Ihm fiel ein, daß dieser ungeduldige Gewaltmarsch gar nicht nötig sei. Er konnte im Reisewagen des Erzherzogs bequem diesen Weg hinrollen oder er konnte gemächlich in der hellen Landschaft umherschlendern; sein Geschick würde ihn ja doch unwiderstehlich fortreißen, wenn die Stunde schlug, und ihn morgen nach Florenz versetzen, auch wenn er jetzt die Straße zurückwandern oder sonst irgendwie in die Irre gehen würde. Doch der Abscheu schüttelte ihn bei dem bloßen Gedanken daran. Gerade dieser Möglichkeit wollte er ja entlaufen. Als Mensch nach Florenz kommen. An diesem großen Tag er selbst sein! Das war sein Gebet gewesen, während der ganzen langen Reise. Nur nicht als ein Erniedrigter und ein Verdammter einziehen müssen in die ersehnte Stadt. Der Schrecken, den der Gedanke ihm erregte, trieb ihn weiter.
Von den Weinhügeln Pistojas sah er Florenz vor sich liegen. Die Pracht seiner Marmorpaläste, seiner Türme, Kuppeln und Zinnen, undeutlich und reich ineinandergedrängt, verschwenderisch gehäuft und üppig aufragend, schien laut klingende Jubelchöre in die Luft zu strömen. Der Anblick erfüllte ihn mit neuer Kraft und trug ihn leicht mit sich fort. Aber der Tag glitt zur Neige, die Straße stieg nach und nach ganz in die Ebene nieder, und das rufende, anfeuernde Lockbild der Stadt wurde von dem Schleier der Dämmerung verhüllt.
Es war Abend und dunkel, als er endlich vor dem Tore stand. Zur Wache, die ihn anhielt, sagte er keck: »Ich muß zu Cesare Bandini«, und bebte innerlich, der Einlaß könnte ihm verweigert werden. »Bist Du ein Schüler von Meister Bandini?« fragte der Stadtknecht gutmütig. Lukas lachte beruhigt: »Freilich bin ich sein Schüler . . . bitte laßt mich vorbei, ich muß zu ihm.« »Heute noch? So spät?« Lukas drängte: »Es ist gar nicht spät, für mich nicht und für den Meister nicht . . .« er stockte, Angst befiel ihn, dann redete er hastig weiter. »Bandini wartet«, log er, »ich bringe ihm wichtigen Bescheid.« Der Stadtknecht gab ihm einen Schlag auf die Schulter. »So lauf zu.« Und Lukas lief.
Durch ein paar schmale finstere Gäßchen eilte er hin, dann stand er still, lehnte sich müde an eine Mauer und brach in Tränen aus. Seine Arme hingen schlaff herab, sein Antlitz war ein wenig erhoben, so daß er auf dem engen Streifen Himmel, zwischen den Dächern der Häuser, die Sterne hätte funkeln sehen können. Aber er sah nichts. Ganz still weinte er vor sich hin, bis sein Herz wieder sanfter schlug und seine Brust ruhiger atmete. Mit der Hand wischte er sich Augen und Wangen, seufzte kurz und ging weiter. Er fühlte sich mit einem Male ganz beschwichtigt. Langsam begann eine unermeßliche Freude in ihm zu entbrennen und ein andächtiges Erwarten nahm alle Müdigkeit von ihm weg.
Wie er, immer im Weiterschreiten, Menschen begegnete, wunderte er sich zuerst, daß sie so gelassen einhergingen und es offenbar für die gewöhnlichste Sache von der Welt nahmen, in Florenz zu sein. Unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, blieb er an jeder Ecke stehen und spähte umher. In ihm stürmte jetzt die Begierde, die Stadt zu sehen, noch in dieser Stunde, die ganze Stadt, den Dom, das Baptisterium des Brunelleschi, den Campanile, vor allem aber den David des Michelangelo. Von diesem David hatte sein Vater mit Ehrfurcht gesprochen, hatte Agostino Cassana, der junge Bildhauer in Verona, geredet, mit feierlich gesenkter Stimme, und Lukas hatte auf seinem Weg hierher von diesem David geträumt. Die drängende Unruhe in ihm stieß gegen den Mantel der Finsternis, der ihm jetzt die Stadt bedeckte als wolle er ihm ihren Anblick mißgönnen. Aber Lukas ging weiter, ungeduldig und zuversichtlich zugleich, um seinen sehnsüchtigen Augen so viel zu ertrotzen als sich der Dunkelheit vielleicht doch noch abringen ließ. Unvermutet öffnete sich das Gäßchen, das er bergab gegangen war; es wurde weit und frei rings umher, und er sah den Arno als einen matten, schimmernden Streifen vor sich, hörte das leise Rauschen des Flusses. Aus den Fenstern vieler Häuser glomm Lichtschein, er sah in mäßiger Entfernung Lichter und Fackeln auf der Straße und schritt nun darauf zu, als habe er endlich den Sitz des Lebens in dieser Stadt gefunden. Plötzlich blieb er stehen.
Quer über den Fluß, ganz niedrig, schien eine Wolke zu hängen.
Des Außerordentlichen in jedem Augenblick gewärtig, wie er nun war, erkannte er nach und nach erst und in der Nähe, daß hier keine Wolke hing, sondern, noch viel seltsamer, daß eine graue Steinmasse von kleinen Häusern über dem Wasser schwebte; eine Brücke, wie er noch niemals eine gesehen. Das nahm sich aus, als hätten sie eines der engen alten Gäßchen aufgehoben und über den Fluß gelegt, damit es ihnen als Brücke diene. Stärker noch regte sich jetzt in ihm der Verdruß darüber, daß ihm die Nacht einen Schleier um die Augen warf und seine erste Begegnung mit der Stadt also störte.
Aber wie das steinerne Wunder da vor seinen Blicken undeutlich nebelte, schwoll ihm auch die Ahnung höher und erregter, wie viel Erfüllung ihn jetzt schon umgebe.
Er besann sich. Alles, was er in seiner Sehnsucht begehrte, ja, mehr noch, als er je geträumt hatte, stand hier schon bereit, alles war schon da, mit hundertfältigen Überraschungen, die noch verborgen blieben. Das war nun wie ein Geschenk um ihn her. Die Schleier der Dunkelheit, die es noch umhüllten, ließen die Fülle des Reichtums erraten und wie ein Beschenkter, der wohl herantreten, aber die Tücher von all den Gaben noch nicht heben darf, beschloß er jetzt, das Fest der letzten süßen Erwartung zu überdulden.
Gesang aus mäßiger Entfernung rief ihn fort. Er lief das Ufer entlang darauf zu, fand Menschen in lockeren Schwärmen, dann in dichteren Scharen, ihre Tracht und ihre Gesichter matt nur erhellt und matt nur kenntlich beim Schein von Fackeln oder von schaukelnden Laternen. In das Gewühl der Menge, die sich fröhlich schlendernd, singend, schreiend hier erging, glitt er mit einem stillen Jauchzen, wurde vom Ufer fortgeführt in die gewundene Enge lärmend erfüllter Straßen und gewahrte, wie er mehr und mehr in die innersten Kammern der Stadt geriet. Um das Wohin kümmerte er sich nicht, denn die Stunde seiner Verwandlung, die immer näher rückte, würde ihn ohnedies für den Rest der Nacht zur Ruhe betten. Er hatte plötzlich nur den einzigen Wunsch, daß er zu dem Palast gelangen möge, vor dessen Türe Michelangelos David Wache hielt. Sei es auch nur im Dämmerdunkel, sei es auch in dieser vom Fackelschein manchmal geschlitzten Finsternis; er wollte vor dem weißen Marmorwerk stehen, wollte es heute am ersten Abend grüßen, solange er noch er selbst war. Flüchtig fiel es ihm ein, irgendeinen der vielen Menschen, in deren Mitte er ging, anzureden und zu fragen. Aber eine merkwürdige Scheu hielt ihn davon ab, eine spielende Neugierde hieß ihn, den Weg von ungefähr selbst zu suchen. Er sah Plätze sich weiten, Musik klang auf, und wie stumme, große Musik ragten mächtige Mauern in die Nacht. Prunkvolle Tore, von steinernen Gestalten umwölbt und umringt, wiesen ihm ihr verschlossenes stolzes Antlitz. In der Mitte eines Platzes stieg eine Kirche steil zum Himmel. Der Dom! flüsterte Lukas vor sich hin, aber verhielt den Schritt und eine Entbehrung, die er sich selber plötzlich auferlegte, verbot ihm, den Blick zu heben, um die Gliederung des Baues aus der Finsternis ungefähr zu entziffern.
Kreuz und quer wurde er getrieben, fand sich einige Male unvermutet in völliger Einsamkeit, eilte wieder zur Menge zurück und geriet endlich auf den größten Platz, den er bisher betreten. Noch ahnte er nicht, wie nah er seinem Ziele sei, bis er plötzlich über die Menschen weg den weißen Glanz einer Statue schimmern sah. Sein Atem stockte. Er näherte sich nicht, konnte sich nicht bewegen, nur das Herz stürmte in seiner Brust und jagte heißes Klopfen durch seine Pulse.
Dort drüben wuchtete mit Mauern und Zinnen der Palast in die Nacht. Dort, an der Ecke, hob das Tor seinen dunkeln Bogen über die Menge und dicht davor, als hätte er nur gerade einen Schritt ins Freie getan, stand der David. In leuchtender Blässe tauchte seine Gestalt aus der Nacht. Seine Gebärde war nicht erkennbar, sein Antlitz nur ein weißer Schein im Dunkeln.
Lukas blieb regungslos und schaute hinüber. Mit Ergriffenheit wurde er inne, daß er jetzt am Ende eines langen Weges angelangt sei. Daß er den David in dieser Stunde nicht wirklich und nicht in seiner ganzen Gestalt sehen konnte, schien ihm plötzlich wohltuend und wie eine Schonung, die ihm das Glück erwies. Es war ihm mit einem Mal genug, daß er einstweilen bloß die Umrisse wahrgenommen, sich für heute zunächst nur des Daseins dieses Werkes vergewissert hatte. Und mit einem Mal griff es ihm in die Seele, daß dieser menschlich geformte Stein immer da stand, Tag und Nacht, Jahre um Jahre. Die ungeheure Gleichgültigkeit dieses marmornen Dastehens erschütterte ihn. Er mußte sich, wie unter einem Zwang, den Tag vorstellen, an welchem Michelangelos warme, lebendige Hand zum letztenmal den Stein berührt hatte, die Nacht, die jenem Tag folgte, diese erste Nacht, die schon einsam war und ewig wie alle die andern Nächte, bis zur heutigen. Er begriff auf einmal nicht, daß Michelangelo einst wirklich gelebt und geatmet haben sollte, begriff nicht, daß er jetzt tot und begraben sei. Das alles war ihm unglaubhaft und ferne wie ein Märchen.
Lange schaute Lukas hinüber zur weißen Blässe der Statue.
Als die Sonne am andern Morgen das erwachende Florenz aus dem Mantel der Dunkelheit löste, war Lukas wieder ein Hund. Erschöpft vom langen Marsch des vorigen Tages, müde von der Aufregung, die das Betreten der Stadt in ihm entfacht hatte, lag er in schwerem Schlaf. Der junge Knecht wäre fast über ihn gefallen, als er früh in den Stall kam. Er beugte sich über den Hund, dessen Flanken von tiefen Schlafseufzern gehoben wurden, und lachte. »Richtig ist er zur Stelle, der Kambyses.«
Der junge Knecht begann im Stall zu rumoren, die Pferde stampften und wieherten, auch die anderen Knechte kamen herein, lachten, schrieen einander zu, begannen zu singen und hantierten mit brüllenden Zurufen an den Pferden. Der Hund lag da, hörte nichts und schlief.
Der junge Knecht kam wieder an ihm vorbei, blieb kopfschüttelnd stehen und zeigte ihn den übrigen. »Da ist er wieder, der Kambyses . . . und rührt sich nicht . . . wie ein Stein.«
Ein alter Kutscher hob den Eimer, den er voll Wasser trug und kam heran: »Der wird schnell munter werden . . .«
Der junge Knecht vertrat ihm den Weg. »Nein, laß’ ihn doch in Ruh’, der muß müd’ sein.« Er lachte auf. »Hundsmüd’. . . da sieht man einmal, was das heißt. Laß’ ihn . . . wer weiß, wie lang der herumgerannt ist und sich abgehetzt hat.«
Der alte Kutscher schaute herüber. »Verruchtes Vieh . . . immer ist er weg, man weiß nicht, wohin . . . immer ist er wieder da, man weiß nicht, woher . . .«
Über den weißen Hof, der im Glanz der Frühsonne blendete, näherte sich Herr Pointner dem Stall. Sogleich hockte der junge Knecht bei dem Hund nieder, griff ihm in die seidige Wärme des Fells an Brust und Schulter und rüttelte ihn leise. »Na, wach’ auf, Kambyses . . . schnell, jetzt kannst nicht länger schlafen . . . der Pointner kommt . . . der tritt Dich sonst wieder mit dem Stiefelabsatz in den Bauch . . . schnell, schnell!«
Der Hund begann zu wedeln, streckte die dünnen, zierlichen Beine so straff von sich, daß sie bebten, reckte den Hals und rieb den Kopf gegen die Bodenspreu. Der Knecht hatte sich erhoben, lief zur Tür und sprach in den Hof: »Herr Pointner, der Kambyses ist wieder da!«
»Sakra!« Es klang mürrisch, dann stand Herr Pointner vor dem Stall. »Bestie, elendige!« knurrte er herein und sah sich um.
Der Hund war längst vom Boden aufgesprungen. Eine rasche Sekunde hatten seine Augen mit merkwürdigem Blick umhergeschaut, als sei noch Traum und Verwirrung in ihnen. Dann war ein Zucken durch den Körper des Hundes gefahren, wie einer zusammenzuckt, der sich eines Glückes besinnt oder dem Erträumtes plötzlich Wirklichkeit geworden ist. Angeweht vom scharfen Geruch der Pferde, vom frischen Heuduft, vom starken, süßen Hauch der Gärten, im Herzen und in allen Sinnen aufgeregt von der lebendig goldenen Flamme des Sonnenlichts, war der Hund im Nu wie berauscht.
»Bestie, elendige . . .!« schrie Herr Pointner. Aber der Hund antwortete mit einem kurzen Aufbellen, das wie ein Jauchzen klang, und fuhr in geschleuderten wunderbar leichten Sätzen im Kreis um ihn her, als wolle er sich selbst erhaschen.
»Tun Sie ihm nichts«, bat der junge Knecht lachend, »da schauen S’, wie er sich freut, der Kambyses, weil er wieder da ist . . .«
»Freut . . .!«, schnaubte Herr Pointner, »so ein Luder! Was man sich aussteht, mit so einem Rabenvieh . . .« Er schlug nach dem Hund, aber der Hieb traf nur die leere Luft.
»Sakra!« Er schlug wieder zu und wieder, drehte sich, bis ihm schwindlig wurde, vergebens. Plötzlich fuhr der Hund Herrn Pointner an die Brust, ganz überraschend, wie ein Blitz; ganz leicht wie eine Flaumfeder, die der Wind bläst, flog er dem dicken Mann an die Brust, noch ehe Herr Pointner zweimal blinzeln konnte, berührte ihn ganz leise mit den Pfoten, stieß ihn ganz leise mit der Schnauze unters Kinn und schoß zur Türe hinaus.
Herr Pointner taumelte ein wenig, lief gleichfalls in den Hof, schrie und drohte, winkte und befahl, doch der Hund sprang auf dem warmen blendendweißen Kies wie rasend dahin, umkreiste Herrn Pointner in gemessenem Abstand und bellte so laut, so heftig, daß man kein Wort hörte. Herr Pointner tobte, allein der Hund schien ihm zu antworten, so daß sich eine Art von Gespräch zwischen den beiden entwickelte. Das Bellen des Hundes klang dabei bald wie ein Jubel, bald wie Groll, bald wieder war es, als ob der Hund den zornigen Mann mit Vorwürfen überhäufen wollte. Der junge Knecht lachte.
Heute war alles festlich. Weite grüne Gärten schlossen an den hellen Hof, ein dunkelblauer Himmel, flimmernd von Sonne schimmerte aus unendlicher Höhe nieder, in den geöffneten Fenstern des Palastes wurden viele Menschen sichtbar, riefen, lachten, schwatzten durcheinander; es wimmelte von geputzten Menschen auf der marmornen Treppe, die so sacht und in so breiten Stufen aufstieg, daß man mehr zu schweben als zu gehen glaubte. Der Hund fegte diese Treppe fröhlich auf und nieder, blieb stehen, wartete auf Herrn Pointner, als wolle er ihn fragen: wohin? lief zurück als mahne er ihn: schneller! oder: wo bleibst du? und sprang dann wieder in den schönen Bögen seiner gewaltigen Sätze aufwärts. Herr Pointner hatte hier, wo so viele Leute sich tummelten, seine Feindseligkeiten eingestellt, und manche von den Menschen, an denen der Hund vorübersprang, streckten die Hand aus, um das muntere Tier zu streicheln.
Fröhlich stob der Hund in den großen Saal, dessen Türe Herr Pointner geöffnet hatte. Es war ein majestätischer Raum, mit ungeheueren, farbenglühenden Gemälden an den Wänden, mit vielen hohen Fenstern, durch die das Sonnenlicht steil hereinfiel und breite goldene Streifen auf den Fußboden legte. Eine Menge Menschen standen hier feierlich gruppiert und der Hund, der ohne weiteres dazwischenschoß, mußte sich ein paarmal drehen und wenden, ehe er seinen Herrn fand. Der stand in einem hellblauen goldgestickten Gewand bei einem stattlichen Mann, der in purpurfarbenem Samt gekleidet prangte, und die beiden waren von einem Kreis vieler Damen umgeben. Ein paar Leute flüchteten auseinander, als der Hund dazwischenstieß, die seidenen Damenröcke rauschten und ein kleines Mädchen, das dicht bei dem Erzherzog stand, schrie laut auf vor Schrecken. Sowie er das Kind vernahm, warf sich der Hund blitzschnell zu Boden und hielt sich regungslos.
Der Erzherzog lachte. »Das ist Kambyses, mein Reisegefährte. Du siehst, Elisabeth, er ist ganz zahm.«
Das kleine Mädchen fing furchtsam zu lächeln an und der Hund, gestreckt am Boden liegend, begann stürmisch zu wedeln. Die ganze Gesellschaft lachte.
Der Erzherzog bückte sich zu dem Kind und dem Hund. »Nun, Elisabeth, wollen wir ihn streicheln? Er verdient es freilich nicht, der Kambyses, denn er brennt jede Weile durch, ist alle Augenblick verschwunden, so daß man ihn nirgendwo findet, aber er kommt immer wieder . . .«
Er klopfte dem Hund die Flanken; da bückte sich das kleine Mädchen und streichelte zaghaft mit den Fingerspitzen den Rücken des Hundes. Der blieb ganz still liegen, bis das Kind Mut gefaßt hatte. Dann erhob er sich behutsam, sah das schöne, blonde Mädchen lange und andächtig an und bald darauf begannen die beiden miteinander zu spielen, bis man zum Frühmahl ging. Die Gesellschaft kümmerte sich längst nicht mehr um sie.
Bei der Tafel rauschte Musik, klirrte Kristall und Silber und edles Geschirr, schwirrten die Stimmen der Menschen, die sprachen, und riefen und lachten. Dann erhob sich der Großherzog mit dem kaiserlichen Prinzen und das ganze Gefolge und der Tag ging festlich weiter. Als man in geordnetem Zug die Treppen hinabschritt, sah das aus, als gleite eine buntfarbige und funkelnde Welle zögernd, goldschimmernd und aufblitzend über die Stufen. Im Hof standen Prunkkarossen bereit und wie sie dann mit ihren Insassen langsam dem Palast entrollten, wurden sie von einem wandelnden Spalier prächtiger Trabanten in die Mitte genommen. Der Hund trabte wieder neben dem Wagen des Erzherzogs. Als sie den tiefdämmernden Steinflur, darin sie von dem Hall der Pferdehufe und des Räderrollens laut umdonnert wurden, verließen, war ein blendendes Aufleuchten von Luft und Sonne und weißbeglänzten Häusern um sie her und ein verwehendes Brausen von Menschenstimmen schlug über ihnen zusammen. Das Volk staute sich in Massen hinter der wandelnden Hecke der Soldaten, winkte mit dem wirrverästelten Gitterwerk unzähliger geschleuderter Arme, wogte im Tumult ineinander oder stand da wie lebendiges Dickicht, am Fleck verwurzelt und vom Sturm durchwühlt, brüllte und lachte, der helle Lärm barst manchmal mit dünnen Einzelrufen auseinander und floß in breiten Einstimmigkeiten wieder zusammen. Der Zug bewegte sich langsam hügelabwärts, erreichte den Arno, der smaragdgrün zwischen weißen Ufern schimmerte, zwängte sich mühselig über die wunderliche alte Brücke durch die schmale Gasse der kleinen Häuschen und kam dann durch eine kurze Straße auf den weiten Platz, wo das Stadthaus mit seinem Turm, seinen Zinnen und Quergängen aufragte. Weiß und edel leuchtete das marmorne Haupt des David über dem Gewimmel der Menge.
Dicht vor der Statue, die den Eingang zum Stadthaus schirmte, hielt die Karosse. Die Trabanten, die das Volk zurückdrängten, die prächtig gekleideten Herren, die zum Empfang an den Wagenschlag traten, hatten jetzt weder Zeit noch Aufmerksamkeit, einen Hund zu beachten. Hätten sie es getan, sie wären vielleicht über sein Betragen verwundert oder ergötzt gewesen. Der Hund kämpfte damit, seine Augen zur Statue zu erheben, aber seine Nase wurde von einer unsichtbaren Gewalt immer wieder zu Boden gezogen. Zweimal, dreimal versuchte er zu dem Steinbild aufzuschauen, doch ein unwiderstehlicher Zwang verworrener Gerüche riß seine Nase zum Sockel nieder. Er mußte nachgeben, schnupperte unruhig, hastig an den Kanten des Steins herum, drehte sich hin und her, wie gequält und kam nicht los. Schließlich hob er das Bein und schaute, während er so dastand, den Kopf geduckt, mit trüben Augen, stumpf und jämmerlich vor sich hin.
Als Lukas das Haus des Malers Bandini betrat, sah er vom Flur her drei nackte Kinder im Garten, mitten auf dem Rasen stehen und mit ausgestreckten Armen eine große Schale emporhalten, die einer Muschel glich.
Die Werkstatt des Cesare Bandini lag an der Festungsmauer, dicht am Stadttor, das gegen Fiesole sich öffnete. Lukas hatte sich mühelos dahin gefragt, denn jeder kannte Cesare Bandini. Sprach Lukas nur den Namen aus, dann ging ein Lächeln über die Mienen der Leute oder ihre Augen glänzten heller, wenn sie ihm den Weg zeigten. Lukas war hierher gegangen in einer großen Andacht, in einer hohen Erwartung und in einer Erregung, die von Schüchternheit und Freude gesteigert wurde. Während er durch die Straßen wanderte, bald zögernd, bald in Eile, redeten die Häuser und Paläste zu ihm, die Bildwerke, Kirchen und die marmorschimmernden Türme, der blaue Himmel sprachen zu ihm, die helle, milde Sonne und die Menschen, die fröhlich umherliefen, würdevoll, anmutig, heiter und harmlos in ihrem Lachen, Schwätzen und Singen. Diese Menschen, die alle den Eindruck machten, als lebten sie gerne und als verrichteten sie gerne ihre Arbeit, diese Menschen, deren Anblick einem das Gefühl gab, das Leben sei eine Freude und die Arbeit ein Kinderspiel, waren Lukas eine Ermunterung. Seine Seele wurde warm, so oft er einen dieser Menschen nach Cesare Bandinis Haus gefragt hatte. Die heitere Bereitwilligkeit, mit der die Antwort gegeben wurde, der freie Anstand der Gebärden, die edle Haltung und die vornehme herzliche Höflichkeit der lächelnden Gesichter gaben ihm ein Gefühl von Kraft. Er war stark und mutig als er an Bandinis Haus anlangte und an dieser Schwelle stand, die ihm jetzt als die Schwelle eines neuen, besseren Lebens erschien.
Und nun war das erste, was er hier innen erblickte, das schöne Bild der drei nackten Kinder, auf dem Rasen, die mit hochgestreckten Armen die Muschelschale emporhoben. Es waren drei Knaben von acht oder zehn Jahren, mit festen braunen Leibern, auf deren atmendem Fleisch das grüngetönte Licht und die verworrenen Schatten der Baumblätter spielten. Sie ließen die Schale alsbald sinken, hoben sie aufs neue, in veränderten Stellungen empor, tanzten, standen still und regten sich dann wieder. Etliche junge Leute saßen im Gras auf niedrigen Stühlen um die bewegliche Gruppe, zeichneten und modellierten oder riefen die Knaben an, um mit ihnen zu scherzen. Einer von ihnen erblickte Lukas im Flur, stand auf und kam rasch herüber. »Was sucht Ihr da?« Lukas wiederholte, was er an diesem Morgen in den Straßen von Florenz schon oft gesagt hatte: »Ich will zum Meister Cesare Bandini . . .« Aber diesmal klang ein angstvoller und entschlossener Ton mit, der sagte: ich lasse mich nicht abweisen.
Der junge Mann lächelte. Es war ein schöner Mensch, ein wenig schmal von Schultern, ein wenig mager und hohlwangig, aber die weiße Stirn stieg ihm edel zur schwarzen Welle der Haare empor, die dunklen Augen blickten sanft und gedankenvoll, und das Lächeln seines frischen Mundes war gütig. Es galt der Angst wie dem Trotz, die aus Lukas’ Antwort hörbar gewesen, und sollte beruhigen. Der junge Mann schwieg einen Augenblick, deshalb begann Lukas von Neuem: »Ich will zu . . .«
Der andere unterbrach ihn: ». . . wichtig?« Lukas schloß nur die Augen und zog die Brauen hoch.
»Dort.« Der junge Mann wies nach einem langgestreckten niedern Bau, der den Garten flankierte und aus vielen breiten Fenstern ins Grüne sah.
Lukas schritt mit seinem Begleiter über den Hof durch ein Gewirr von zerbrochenen Statuen, Büsten, Steinblöcken; an aufgehäuften Eisenstücken, zerschlagenen Vasen und Farbentöpfen vorbei. Er wäre gern gelaufen, aber das wagte er nicht. Sie kamen durch den Garten, wo jetzt die nackten drei Knaben frei umhersprangen. Die übrigen jungen Leute sahen nur flüchtig auf, als Lukas vorüberging und arbeiteten weiter. Einige sangen oder pfiffen dabei leise vor sich hin. Lukas faßte sich ein Herz und fragte seinen Begleiter: »Seid Ihr ein Schüler Bandinis?« Der andere entgegnete liebenswürdig: »Ich bin Filippo Volta, der Maler . . .«
Sie waren vor einer Glastüre angelangt und Filippo sagte: »Geh’ nur hinein, verhalte Dich ruhig. Du mußt nicht guten Tag bieten oder sonst grüßen. Er will das nicht, wenn er in Arbeit ist. Warte nur, ohne zu sprechen. Er wird Dich schon anreden.«
Lukas fühlte, wie ihm der Atem wegblieb. Er nickte stumm. Filippo Volta lächelte ihm zu und ging wieder an seinen Platz.
Als Lukas eintrat, war er beinahe blind vor Erregung. Während er dicht vor der Schwelle stehen blieb und nach Luft rang, gewahrte er mit unruhig umhereilenden Blicken, die sich nur langsam entschleierten, einen langen weißgetünchten Saal, den schwarzbraunes Gebälk überdeckte. Von den Wänden hob sich aus vielen gerahmten und ungerahmten Bildern farbenleuchtend ein Getümmel menschlicher Gestalten. Frauenleiber traten blendend hervor in großbewegten Gebärden hochgehobener winkender Arme, geschwungener Hüften, üppiger Schultern, stolzgebäumter Nacken und steilgewölbter Brüste. Kraftstrotzende Männer und Jünglinge, helmbuschüberweht, schimmerten in goldenen Rüstungen; Landschaften weiteten sich mit Baumwipfeln, Felsgebirgen, grünen Wassern und blauen Firmamenten. Dazwischen standen einsam in ihrem Rahmen die Bildnisgestalten ernster gebietender Herren im samtenen Hofkleid und Ordensketten auf der Brust, königliche Frauen, prangend, die mit strengen oder milden Augen niederschauten, in Perlen und Brokat. Lukas sah eine Wand von dem dichtumlaubten Figurenwerk einer gewebten flandrischen Tapete verhangen; viele bronzene Statuen zwischen den Schirmen der umherstehenden Staffeleien aufragen, weiße Marmorbüsten, Holzfiguren in tiefen Farben bemalt, mit vergoldeten Mänteln und Kronen, wie man sie neuerdings in den Kirchen sehen konnte; er sah kostbare Schränke, geschnitzte Stühle, deren Sitz mit Genueser Samt bezogen war, Helme und Waffen.
Wie er still an der Türe stand, wurde Lukas freilich nicht ruhiger und nicht mutiger, aber nach und nach doch so gefaßt, daß er es wagte, die Personen hier im Saale anzuschauen. Er hörte sie sprechen, in kurzen abgerissenen Sätzen, die sie einander zuwarfen, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Allein er war zu verschüchtert, um diese Worte, die an sein Ohr schlugen, untereinander nach ihrem Sinne zu verbinden.
Nahe bei ihm, vor einem Modellierbock, stand ein Mann, und Lukas betrachtete ihn zuerst. Er war ein kurzer, breitnackiger Mensch, der mit einem zornigen Gesicht und mit wilden wütenden Griffen an einer Gruppe herumknetete. Unweit von ihm saß in einem prächtigen Lehnstuhl ein offenbar alter Mann und malte gelassen an einem kleinen Bild. Lukas wunderte sich, daß der alte Mann den Rock eines Offiziers und um den stattlichen Leib die Schärpe eines Hauptmannes trug. Volles, schneeweißes Haar umlohte wie mit silbernen Flammen das kühne Gesicht, das mit seinen heißroten Wangen ganz frisch und überlebendig erschien. Unter dem schroffen Haken der Nase blühte der Doppelbusch eines schneeweißen Schnurrbartes und ließ den üppig roten genießerisch schwellenden Mund hervorschimmern. Lukas konnte wahrnehmen, daß der alte Mann an einem sorgfältig und glatt ausgeführten Madonnenbildchen malte. Er sah, daß der Offizier mit einer gelassenen, aber ganz in sich versunkenen Leidenschaft arbeitete. Sein weißer Schopf schien unter der Anstrengung und inneren Glut immer höher emporzusteigen und die rote Stirn brannte, wie von Feuer angefacht. Der alte Mann atmete laut; manchmal lehnte er sich weit zurück, lag still da und stieß ein tiefes leises Knurren aus, manchmal, während er sich wieder vorbeugte, um mit seinen spitzen, kleinen Pinseln weiter zu malen, fing er halblaut zu singen an mit wohlklingender melodischer Stimme, brach gleich wieder ab und tauchte in die Arbeit, in der er immer stärker und lauter atmete wie ein mit den Wellen kämpfender Schwimmer.
Nun erst erlaubte Lukas seinen Blicken weiter im Saale vorzudringen und gewahrte Cesare Bandini. Er wußte sogleich, daß es der Meister sei. Bandini malte an einem Bild, das Lukas nicht zu sehen vermochte, weil es schräg von ihm stand. Er hätte zur Seite treten müssen, aber dessen unterfing er sich nicht. Es war ihm auch genug, Cesare Bandini vor sich zu haben. Lukas stand da, schaute ihn an, bewunderte ihn und begann ihn stürmisch zu lieben. Bandini malte ohne aufzublicken.
»Wasser!« rief der kurze, breitnackige Mann am Modellierbock. Es war das erste Wort, das Lukas nicht bloß hörte, sondern verstand. Jetzt wurde ein kleiner, schöner Junge sichtbar, der blondgelockt und pausbackig wie ein Kirchenengel in einem schmutzigen, über und über beklexten Kittel herbeisprang. Er kroch hinter Cesare Bandini hervor, schob ein paar Farbtöpfe aus dem Weg, brachte einen Kübel, hob einen Schwamm aus dem Wasser und netzte behutsam den Ton.
Indessen fragte der kurze, breitnackige Mann mürrisch in den Saal hinein: »Ist er schön, Euer Erzherzog?«
Nach einer Sekundenpause kam es von Bandinis Lippen: »Weiß nicht.« Es klang singend und fröhlich.
Der breitnackige Mann knurrte: »Kommt er bald?«
Und Bandini sang wieder: »Weiß nicht.«
Der Kurze arbeitete schon weiter mit wütenden Griffen, während er wie zornig nochmals fragte: »Aber er kommt doch heute?«
Bandini malte unaufhörlich weiter. Seine tiefe Stimme sang: »Ja — a!«
Der blondgelockte Knabe, der sich irgendwo im Saal geschäftig machte, wiederholte sofort, zwei Oktaven höher: »Ja — a!«
Der dicke Offizier lag weit zurückgelehnt in seinem Armstuhl. Mit einer festen, jugendlichen Stimme rief er zu dem breitnackigen Mann hinüber: »Hast Du ihn nicht gesehen, Pietro?«
»Wen?«
«Den Erzherzog, nach dem Du fragst?«
»Nein.«
»Ich sah ihn. Im Palast.«
»Ist er schön?«
Der dicke Offizier atmete laut: »Warum glaubst Du denn, daß er schön sein muß?«
Pietro arbeitete drauflos und sprach in abgerissenen Worten: »Ein kaiserlicher Prinz . . . und jung . . .«
Der dicke Offizier verzog keine Miene seines rotflammenden Gesichtes: »Er gleicht den andern.«
»Welchen andern?«
»Nun, den andern Prinzen seines Hauses.«
Unwirsch rief Pietro: »Ich kenne sie nicht.«
Der Offizier erwiderte ruhig: »Ich kenne sie alle.«
Schwer atmend beugte er sich vor, um zu malen.
In der Stille, die nun eintrat, sagte Cesare Bandini plötzlich: »Was ist’s mit Dir?«
Weil er aber dabei von seiner Arbeit nicht aufsah, wußte Lukas nicht, daß diese Anrede ihm vermeint war. Er merkte nur, daß der dicke Offizier ihn voll ansah und ihm zweimal mit dem Kopf zunickte. Ratlos stand er da, bis der Offizier die Hand hob und mit dem Pinsel zu Bandini wies.
Lukas nahm sich zusammen und trat näher. Langsam, auf den Zehnspitzen, ging er den engen Weg, der sich zwischen Staffeleien, Modellierböcken, Möbeln und Gestühl durchwand. Ein paar Schritte hinter Bandini blieb er stehen. Bandini wandte sich nicht um, malte weiter und fragte nach einer Weile: »Was willst Du?«
Lukas flüsterte in den schwarzen Brokat des Rückens hinein: »Lernen.«
Wieder nach einer Weile fragte Bandini: »Wie heißt Du?«
»Lukas Grassi.«
Bandini entgegnete sogleich, langsam, nur durch das Arbeiten im Sprechen zögernd: »Der Steinmetz,. . . der Lukas Grassi hieß . . . war das Dein Vater?«
Lukas antwortete dem Rücken: »Ja.«
Bandini sprach leiser: »Tot?«
Lukas noch leiser: »Ja.«
Rasch fuhr Bandini fort: »Wie kommst Du zu mir?«
Lukas gestand einfach: »Agostino Cassana hat mir gesagt, ich solle zu Euch.«
Bandini lachte schon bei dem Namen fröhlich auf und drehte sich um. Lukas sah die hohe Gestalt vor sich, er sah ein kraftvoll feines Antlitz, die Elfenbeinblässe schön geformter Wangen aus der scharfen Randlinie des dunkeln Bartes hervortreten, sah das dichte, schwarze Haar, von grauen Fäden durchblitzt, über einer gewölbten, sprechenden Stirne sich locken. Er sah zwei braune, von Lebensfeuer, von Güte und Geist sprühende Augen auf sich gerichtet und hörte von den weichen, edelgeschwungenen Lippen die lachende Frage: »Agostino Cassana . . . der Narr . . . wie geht es ihm?«
Lukas antwortete begeistert: »Er war Euer Schüler . . . er arbeitet . . . es geht ihm gut!«
Lukas fühlte keine Scheu mehr. Er war hingerissen, seine schon vorhin erwachte Liebe brannte jetzt auf zu dem Manne, der da prächtig und gelassen vor ihm stand, vertraulich und voll Würde und umdampft von der Gewalt eines großen Willens.
Bandini fragte mild, aber seine Augen wurden ernst: »Was kannst Du?«
Lukas antwortete: »Nichts.«
Bandini fragte weiter: »Was willst Du lernen?«
Und Lukas antwortete diesen Augen, die ihn lächelnd durchsuchten, zuversichtlich: »Alles.«
»Giuseppe!« rief Bandini in seinem singenden Ton.
Der Knabe mit dem Engelskopf sprang herbei. »Gib ein Zeichenbrett und Kohle für Lukas«, befahl Bandini, »hol’ auch den Kopf des Vulkan . . .« und zu Lukas sprach er: »Setz’ Dich, wohin Du willst und mach’s wie Du kannst . . .«
Damit wandte er sich wieder zu seinem Bild.
Lukas folgte dem kleinen Giuseppe. Hinter einem Wald von Staffeleien saß ein junger Mönch und malte. Lukas hatte ihn nicht sehen können. Jetzt, da er unvermittelt vor ihm stand, stammelte er den Gruß: »Gelobt . . .« — »In Ewigkeit . . .«, murmelte der junge Mönch, ohne aufzublicken.
Dicht neben ihm wies Giuseppe einen Platz für Lukas, rückte einen Säulenstumpf heran, sprang fort, brachte Zeichenbrett und Kohle, und schleppte das mützenbedeckte Bronzehaupt des Vulkan herbei, das er auf die Säule setzte. Dann erkletterte er eine Stufe vor der Staffelei des Mönches, pflanzte sich dort auf und verharrte regungslos. Erstaunt gewahrte Lukas die anmutig feierliche Haltung, die das Kind annahm, die verzückten, himmelwärts gerichteten Blicke; er wandte sich ein wenig zur Seite und sah, daß der Mönch neben ihm einen jungen Johannes malte, zu dem Giuseppe Modell stand.
Dann hob Lukas das Zeichenbrett auf seine Knie, betrachtete den Vulkan und versank in die tiefe Not, in das Glück in die Angst, in die Hoffnung der Arbeit.
Er hörte kaum die Worte der kurz abgerissenen Gespräche, die wie vorhin durch den Saal flogen, er hörte kaum, daß später jemand die Türe aufriß und laut hereinschrie: »Er kommt . . .!«
Und er achtete auch nicht darauf, als dann der Erzherzog mit seinem Gefolge die Werkstatt Bandinis betrat. Nur wie von ferne sah er die schimmernde Gestalt des Prinzen, den Grafen Waltersburg, den dicken Pointner und die kleine Gruppe der andern Herren, die sich hier umher bewegten. Das alles war ihm jetzt fremd und betraf ihn nicht.
Wie die Tage verstrichen, wurde Lukas mehr und mehr inne, daß in dem Zauber, der ihn hierhergeführt hatte und der ihn immer noch gefangen hielt, eine Veränderung vor sich ging. Kam jetzt der Augenblick der Verwandlung, dann wurde er davon nicht wieder in den Stall des Prinzen geschleudert.
Solange die Reise gedauert hatte, mochte er an den Tagen, an denen es ihm gegönnt war, er selbst zu sein, wo immer verweilen, er mochte am Wege liegen bleiben, die Straße zurücklaufen, die er gekommen war, oder die Kreuz und Quere wandern: die Fahrt des Wagenzuges, dem er als ein Hund angeschlossen war, schleifte ihn Nacht für Nacht, wenn die Stunde seiner Hörigkeit schlug, hinter sich her, und warf ihn zu den Hufen der Pferde in die Streu.
Jetzt aber, hier in Florenz, ließ ihn die Verwandlung dort, wo er eben stand und ging.
Lukas hatte dessen noch nicht so sehr geachtet, als er am ersten Abend in der Stadt umherschlich und irgendwo in einer dunkeln Gasse vom Augenblick der Mitternacht überrascht wurde. Auch am nächsten Tag war ihm die Veränderung noch nicht zum Bewußtsein gekommen. An diesem Tag war er in der Werkstatt Bandinis gewesen, da hatte ihn sein armes Probestück, das er am Vulkan verrichten mußte, hatte ihn das Wort des Lehrers, die Gewißheit fortan Bandinis Schüler sein zu dürfen, mit einem Rausch von Erregung, von Nachdenken und Hoffnungen durchdrungen. So ging er umher bis es Mitternacht schlug und bis durch alle seine hohen Träume der Schlag zuckte, den er schon kannte, der Ruck, der ihn zum Hund machte. Von der Stelle, wo er damals stand, lief er dann als ein müdes Tier spursicher zum Palast, fand den Weg zum Stall, erspähte einen Einschlupf, sank ins Stroh und schlief.
An einem andern Tag aber, als er um die Dämmerstunde das Haus des Bandini verließ und zum Arnoufer wollte, um dort einen freieren Himmel zu haben, vernahm er in der Nähe das schmerzliche Aufheulen eines Hundes und das fuhr ihm mit solchem Weh ins Herz, daß er inwendig zu bluten meinte. Atemlos begann er zu rennen, hörte das Aufheulen schriller und näher aus einer Seitengasse, lief darauf zu und sah, um die Ecke biegend, einen Burschen mit einer Kette auf einen mageren schwarzen Hund losschlagen, der sich elend am Boden wand, sich aufraffen wollte und unter jedem Streich aufs neue entkräftet zusammenbrach. Lukas hörte das jammervolle Flehen, hörte den verzweifelten Widerspruch aus dem Schrei des gepeinigten Tieres und er hörte, wie das lautheulende Klagen jetzt in einem bitterlichen Winseln nicht mehr weiter konnte. Eine ungeheuere Wut schoß siedend in ihm hervor, warf glühende Wellen über seine Besinnung, hob ihn auf und trug ihn mit sich fort. Mit einem Griff hatte er den Burschen in die Höhe gerissen, zu sich gedreht und schlug ihn mit der Faust ins Gesicht. Betäubt und verblüfft holte der andere mit der Kette gegen ihn aus, ein starker, wilder Kerl. Lukas schleuderte ihn, wie einen Lappen an die Wand, fuhr ihm an die Kehle, würgte ihn, daß der Bursche augenblicklich blau im Gesicht wurde, und war nahe daran, ihn zu erdrosseln, als sich ein paar herbeigeeilte Stadtknechte dazwischen warfen. Lukas brüllte wie ein Rasender, und der Bursche, der nach Luft schnappend das Blut von der angeschwollenen Nase wischte, beteuerte, er sei ohne jeden Grund überfallen worden. Die Stadtknechte erkannten, daß Lukas ein Fremder sei. Wie jener Bursche, hielten auch sie ihn für einen Räuber und schleppten ihn mit sich. Er wurde ins Gefängnis gebracht, in eine finstere Zelle gestoßen und der Bursche, der sich Tommaso, der Mauerer, nannte, angewiesen, den nächsten Morgen zu erscheinen, um seine Klage vorzubringen. Am andern Morgen jedoch, als man zu früher Stunde die Zelle öffnete, um Lukas zu holen, sprang der Hund heraus, den schon jedermann in der Stadt als den Hund des Erzherzogs kannte. Erstaunt stand der Schließer vor diesem Rätsel, erschrocken und in Angst vor irgendeiner Nachfrage oder Strafe, ließ er den Hund, der unbegreiflicherweise und wohl nur ohne beachtet zu werden, mit hereingeschlüpft war, schnell ins Freie und meldete bloß, das der junge Fremde wie durch Zauber verschwunden sei.
Nun kam es Lukas zu Sinn, daß der Bann, der ihn umklammert hielt, doch locker zu werden begann. Es war die erste Frühstunde und er stieg, eben einmal wieder zum eigenen Dasein erwacht, den Pinienwald von Poggio bergauf. Noch schattete, in langsam sich lösenden Schleiern, Dunkelheit um ihn her. Lukas gewahrte es kaum. Er war solcher Wanderungen gewöhnt und er grübelte über sein Schicksal. Er litt elend unter der beständigen Erniedrigung, die ihn immer und immer wiederum aus der menschlichen Gemeinschaft stieß, aber es fiel ihm auch ein, daß eben diese Erniedrigung ihn hierher gebracht und es bewirkt hatte, daß er nun in Florenz, daß er bei Cesare Bandini war. Allein jetzt schien sich manches zu ändern. Jetzt war er auch in seiner niedrigen Verwandlung frei, wurde nicht mehr zu dem fürstlichen Gebieter, nicht mehr in dessen Haus, noch in dessen Stall gezwungen. Welche Gestalt er immer haben mochte, seine eigene menschliche oder die Gestalt seiner hündischen Armut, es schien jetzt seinem eigenen Entschluß anheim gegeben, wo er verweilen wollte. Er war nicht mehr, wie auf der Reise, an den Herrn und an die Wege seines Herrn gebunden, er war angelangt und die Schlinge, in die er geraten war, ohne zu wissen wie, begann sich zu lösen. Ein Gedanke sprang in Lukas auf: wenn er fortliefe aus Florenz, wenn er nach Rom ginge! Auch in Rom gab es Meister, die ihn heranbilden würden. Noch ein zweiter Gedanke erhob sich stürmisch in ihm: wenn ihn der Bann nicht frei gab — sich dem Papst zu Füßen werfen. Der Papst kann vielleicht den Zauber von ihm nehmen.
Lukas blieb stehen. Er bebte und sein Atem geriet ins Stocken, so hoch schwoll die Luft der Auflehnung in ihm. Aber mit Schmerz fiel es ihm ein, daß er sich dann von Cesare Bandini trennen müsse. Das wollte er nicht. Seine knabenhaft glühende Liebe zu Bandini begann nun eifrig zu sprechen und zerriß ihm das Netz des eben gesponnenen Planes mit allerlei rasch dazwischengeworfenen Erwägungen und Bedenken. Warum fortgehen? Hatte er hier nicht alles, was seine Sehnsucht begehrte? Und hielt ihn der Zauber immer noch gefangen, den er abschütteln wollte, dann wird der Papst ihn nicht davon befreien können, denn er wird ja nie nach Rom, wird nie zum Papst gelangen. Es wird ihm ergehen, wie bei dem Auszug aus Wien. Nur einen Tagesmarsch wird er sich von der Stadt entfernen, dann wird ihn die Nachtwende wieder zurückschleudern, hierher, wo der Erzherzog weilte. Immer wieder wird er diesen Tagesmarsch versuchen können und immer wieder wird er sich um Mitternacht dort finden, woher er gekommen war. Warum also fortgehen?
Wenn aber der Erzherzog eines Tages abreist aus Florenz . . .? Kräftig sprang dieser Gedanke in ihm auf, schoß ihm heiß ins Blut, wie ein Elixier, das die Pulse bewegt, erhob sich leicht wie ein Falke, der die Schwingen breitet. Wenn der Erzherzog eines Tages wieder in die Karosse steigt, um heimzukehren, wird es ihn dann wieder mitschleifen, zurück nach Wien? Nein, das war sinnlos! Nein, das war unmöglich! Wie ein Verschütteter, der in der Tiefe eines Schachtes von Ferne den ersten Lichtschimmer erblickt, so erschaute Lukas jetzt den Ausgang, den einzig möglichen Ausgang seines furchtbaren Abenteuers. Er lachte. Nein! Nein! Wenn der Erzherzog heimkehrt, dann wird er frei sein, ganz frei und alles ist dann vorüber wie ein böser Traum.
Er sah sich um. Es war heller geworden. Der Morgenwind blies durch die Baumwipfel. Lukas begann zu laufen. Er sprang und tanzte, er kam aus dem Wald heraus, kam an die Mauern des Klosters von Fiesole, und da lag tief unten Florenz im goldenen Schein der Morgensonne.
»Habt Ihr schon Gemeinschaft mit ihm?«
Cesare Bandini saß im Lehnstuhl des dicken Offiziers, als er das fragte. Er sprach leise und wies mit den Augen nach Lukas, der weiter weg an seinem Platz neben dem Mönch in Arbeit vertieft war.
Hauptmann Ercole da Moreno, der dicke Offizier, stand erregt und bescheiden wie ein junger Schüler hinter Bandini und sah mit brennender Stirn zu, wie der Meister an dem kleinen Madonnenbild korrigierte. Der schneeweiße Haarschopf des Hauptmanns loderte steil empor. Von seinem Modellierbock war der kurze breitnackige Pietro Rosselino gleichfalls herangetreten, um zuzuschauen. Cesare Bandini neigte sein Haupt hin und her, kniff die Augen ein, tupfte mit dem dünnen spitzen Pinsel da und dort in das Bild und sang leise vor sich hin. Die beiden andern standen aufmerksam hinter seinem Stuhl und sagten kein Wort. Hauptmann Ercole atmete laut. Zuweilen sprach Bandini: »Ja . . . das geht . . .« oder: »Die Falte hier . . . Du meinst es doch so . . . nicht?« und Ercole da Moreno schnaufte laut auf. Bandini fuhr fort: »Noch mehr Ruhe im Ausdruck, Ercole. Es liegt in den Augen . . . hier auch in den Wangen . . . Du wirst es schon finden . . .
»Hach!« atmete der Hauptmann.
Dann lehnte sich Bandini im Sessel zurück, wies mit den Augen nach Lukas hinüber und fragte leise: »Habt Ihr schon Gemeinschaft mit ihm?«
Pietro Rosselino entgegnete: »Er ist wohl ein paarmal mit in der Schenke gewesen.«
Bandini, im Sessel liegend, hob das Gesicht fragend zum Hauptmann: »Was meinst Du?«
Ercole entgegnete: »Brav.«
»Ja, er gefällt mir«, lächelte Bandini, »er ist wie besessen; er spielt mit der Arbeit wie ein Kind, er ringt mit ihr wie ein Mann und er kennt nichts anderes . . . wenigstens hat er die Kraft, sein ganzes übriges Leben zu vergessen, wenn er arbeitet.«
Rosselino stieß mürrisch hervor: ». . . ob er Genie hat . . .?«
Bandini lächelte: »Sieh Dir ihn an, Pietro und sag’ selbst, ob es anders sein kann. Ich will ihn malen . . . oder besser noch, ich will ihn lehren, sich selbst zu malen. Das wird dann aussehen wie sonst das Jugendbildnis eines großen Meisters. Wenigstens muß ich immer denken, so oft ich ihn betrachte: Jugendbildnis eines großen Meisters . . .«
Ercole nickte, daß sein weißer Haarbusch wehte: »Klingt gut, Bandini. Ist vielleicht richtig . . . versteh’s nicht genug.«
»Nun, schau Dir ihn selbst an, Ercole«, sprach Bandini, »alles in diesem schmalen Gesicht ist Berufung, alles ist Wille, alles ist nur ein einziger Gedanke. Hast Du schon in seine Augen geschaut? Oh, man fühlt eine starke Seele dahinter und einen starken Geist. Aber man kennt sie nicht. Sie geben nichts her, diese Augen, nichts von der Seele und nichts vom Geist, sondern sie nehmen, sie reißen die ganze Welt an sich, sie rauben alles aus, was sie betrachten.«
»Diebskerl«, schnaubte Ercole.
»Ja — a«, sang Bandini und lachte zufrieden. »Jeder, der die Welt erobert, ist ein Diebskerl. Aber er gibt sie Dir doppelt und dreifach wieder zurück und so ist er am Ende ein Fürst. Der Bursche dort steht noch am Anfang, deshalb ist er heute noch ein Bettler. Später wird auch er ein Fürst sein. Er weiß es nicht. Aber er ahnt es. Er kocht vor Begier, das zu werden, was er später sein wird. Schau Dir ihn an. Scheint es nicht, daß er schwach, dürftig und elend ist? Aber er hat die eiserne Hagerkeit der Menschen, die mit dem Schicksal kämpfen, um alles zu erringen oder unterzugehen. Findest Du nicht, daß seine Nase tapfer und stolz ist? Sieh nur, wie scharf, sieh, wie dünn sie ansetzt zwischen den Augen. Und wie richtig in der Höhe, und wie entschieden, aber wie maßvoll sie vorstößt. Was sagst Du, Pietro? Und ich weiß nicht, aber am besten gefällt mir sein Mund.«
»Zu schmal!« rief Pietro leise.
»Vielleicht«, erwiderte Bandini. Er zog mit seiner schönen Hand Linien in der Luft, als forme er angestrengt und interessiert an einem Gebilde. »Vielleicht . . . dennoch, der Mund . . . der Mund . . . was ist das für ein Ausdruck! Diese dünnen Lippen atmen nicht, sondern sie trinken, sie schweigen und sind doch immer, als ob sie sprechen müßten. Und sie sind unersättlich. Herrgott, wie lechzt dieser Mund mit einer rasenden Gier nach dem Leben . . .«
»Man müßte wissen«, schnaubte Ercole, »man müßte wissen, ob er schon ein Weib geküßt hat.«
Bandini lachte: »Frag’ ihn doch, wenn Dir das so wichtig ist.« Er stand rasch auf. Plötzlich ging ein Schatten über sein Antlitz, während er nochmals zu Lukas hinüberblickte. »Man wird ja sehen, wie er sich bewährt«, sagte er in verändertem Ton und ging an seine Staffelei zurück.
Die Gartentüre wurde aufgerissen und Filippo Volta, der Lukas am ersten Tage hereingeführt hatte, stand auf der Schwelle.
»Claudia ist da!« rief er fröhlich in den Saal. »Sie fragt, ob sie herein darf . . .«
Von Bandinis Staffelei her klang es singend: »Ja — a.«
Filippo Volta zögerte: »Es ist nur, weil sie den Grafen Peretti mit sich hat . . .«
Bandini schwieg und Filippo Volta verschwand nach einer Weile. Dann kam von draußen Frauenlachen, Gewirr von Stimmen, Kleiderrauschen.
Ein kleiner Schwarm von Leuten drang durch die Gartentür, löste sich und ein hohes junges Mädchen schritt stolz hervor.
Lukas, von ihrem Anblick erregt, wandte sich rasch an den Mönch, der ihm zur Seite saß und stammelte flüsternd: »Ehrwürdiger Bruder . . . wer ist das?«
Aber der Mönch hatte sich schon erhoben und ging hinweg, ohne zu antworten.
Eine ungefüge Mannsstimme polterte eigensinnigen Tones über die andern weg: »Seht Euch Claudia an, Bandini. Die Perlen in ihrem Haar hab’ ich ihr gestern gekauft und den Mantel da vor einer Stunde. Wir wollen wissen, was Ihr dazu sagt!«
Claudia fiel ihm streng ins Wort. »Schweig, Du Tölpel, und warte, bis Du gefragt wirst.«
Alle lachten, auch der Graf Peretti lachte mit. Plump und breitspurig stand er da, das gewalttätige Gesicht mit dem furchtbaren Kinn vorgeneigt, die kleinen, flinken Augen eingekniffen. Er war ratlos, nahm jedoch eine schlaue Miene an und lachte.
»Bandini«, sagte Claudia, »es ist nicht wegen der Perlen und nicht wegen des dummen Mantels . . . ich wollte Euch sehen und wieder einmal in Eurer Nähe sein.« Ihre Stimme klang weich, zärtlich und war golden durchblitzt von Stolz, war schwingend von Fröhlichkeit und Verheißung.
Bandini malte.
Lukas sah betäubt auf die Erscheinung des jungen Mädchens. Von ihren schmalen Schultern ging der blaue, mit Silberlilien bestickte Samtmantel festlich schwer zur Erde, umfing die hohe Gestalt wie feierliche Musik und schwebte zuletzt mit dem breiten Hermelinbesatz der Schleppe in den Händen eines kleinen Mohren, der regungslos hinter Claudia stand und nur das Weiße seiner Augen bewegte. Lukas sah den starren Brokat, die weißen Spitzen, die Claudias Brust nur wenig verhüllten, er sah wie vom Flaum des Pelzrandes zart und blendend der Hals sich hob, er sah die winzigen Löckchen, die im Nacken, gleichsam atmend, sich ringelten. Er sah das schimmernde, von Perlen durchflochtene Haar, das wie eine goldene Haube über dem süßen Antlitz sich schmiegte und er erbebte im Anblick ihrer strahlend blauen, fröhlichen und gebietenden Augen.
»Darf ich sehen, was Ihr da malt, Bandini?« fragte Claudia, »ich bin lange nicht bei Euch gewesen.«
Bandini ließ einen singenden Ton vernehmen, malte weiter und Claudia trat näher, sogleich aber hielt sie inne, wandte sich zu dem nachdrängenden Peretti und fragte streng: »Was willst Du?«
Peretti lachte brüllend. »Hört doch, Bandini, sie fragt, was ich will! Als ob ich nicht auch neugierig wäre, Euer Bild zu sehen.«
Claudia befahl: »Lärme hier nicht so, Du Narr! Es ist wirklich unmöglich, Dich unter anständige Menschen zu bringen . . . schweig, sag’ ich!« wiederholte sie heftiger, da Peretti zu lachen versuchte, »Bandini hat Dir nicht erlaubt, sein Bild anzusehen.«
Peretti war zurückgewichen. »Bandini«, rief er, »Ihr sollt es mir nicht erlaubt haben . . . was meint Ihr?«
Bandini ließ eine kurze Weile verstreichen, unterbrach seine Arbeit nicht und sagte dann, gelassen weitermalend, »Ihr werdet das Bild vielleicht sehen können, bis es fertig ist.« Er sprach heiter und verbindlich, aber diese Worte legten eine weite Entfernung zwischen ihm und Peretti.
Es war eine Sekunde ganz still geworden im Saal. Man hörte nur den Hauptmann Ercole hinter seinem kleinen Madonnenbildchen laut schnauben.
»Ich kaufe Euer Bild, Bandini!« schrie Peretti. »Ich kaufe es wie es da ist und schenke es Claudia. Was wollt Ihr für Euer Bild? Ich kaufe es auf der Stelle . . . ich brauche es gar nicht zu sehen.« Er hatte sich ereifert, Zorn rollte hin auf dem Grund seiner Worte, aber er kam nicht näher. Er richtete seine Reden an die beiden jungen Dienerinnen der Claudia, an den alten fetten Mulatten, der neben dem Mohren stand, er blickte im Saal umher und erwartete, den Eindruck zu genießen, den sein Angebot übte.
»Wirst Du endlich aufhören, zu spektakeln und wie ein Bauer zu prahlen, Du Lümmel?« rief ihm Claudia mit lachender Ungeduld zu. Sie stand schon hinter der Staffelei bei Bandini. Es war wieder still, als man Bandini hörte. »Nun, Claudia, Deine Art mit Peretti zu sprechen, ist mir neu.«
Claudia lachte. »Es ist nicht meine Art, sondern die seine. Die Art, die für ihn paßt, die Art, die er braucht.«
Bandini lächelte. »Ja«, fuhr Claudia ernst und einfach fort, »da hat man diesen Burschen seit seiner Kindheit immer nur Herr Graf und Euer Gnaden oder gnädiger Herr angeredet. Versteht Ihr, Bandini, Euer Gnaden und was weiß ich für Dummheiten sie da noch vorbringen . . . es ist zu lächerlich . . . solch ein Esel . . . jetzt muß er doch endlich hören, daß er ein Tölpel ist, ein Narr, ein Hanswurst und nichts weiter . . . das muß er unbedingt endlich einmal hören . . . es ist höchste Zeit . . . oh, laßt doch, Bandini, es geschieht ihm nur sein Recht.«
Bandini lächelte. »Ich sage ja nichts dagegen.«
Claudia besann sich ergötzt. »Nein, richtig!«
Sie wurde wieder ernst und sprach eifrig. »Glaubt Ihr, er weiß nicht, daß ihm recht geschieht? Er nimmt es ruhig an von mir. Es gefällt ihm. Er versteht nicht, was ich meine, der Dummkopf deswegen gefällt es ihm. Ich bitte Euch, so einer glaubt, er ist was anderes, er ist mehr, als alle.«
Peretti gröhlte höhnisch. »Still!« rief Claudia zornig. »Ihr wißt ja nicht, Bandini, was so einer in seinem Übermut und in seiner Frechheit sich alles herausnimmt! Was hat der schon alles getan! Ach, es hilft im Grund ja nicht, wenn ich Tölpel, Lümmel, Esel oder weiß Gott was zu ihm sage. Fühlen sollte der einmal, daß es eine Gewalt über ihm gibt, fühlen! Lieber Himmel, ein Mensch müßte kommen, einmal ein Mensch und ihn niederschlagen, mit einem Streich!«
Durch Lukas zuckte es, den Wunsch der schönen Claudia auf der Stelle zu erfüllen. Es ergriff ihn ein toller Mut und seliger Wahnsinn. Er fuhr auf und das Zeichenbrett stürzte krachend von seinen Knien zur Erde. Beinahe wäre er selbst hingefallen. Erwacht und ernüchtert raffte er sich zusammen. Claudia hatte ihn angesehen.
Peretti, zwischen den beiden Dienerinnen, lachte breit, zwinkerte dem Mulatten zu und rief unbekümmert: »Nun, Bandini, habt Ihr gehört, ich kaufe das Bild . . .«
Bandini ließ wieder eine Weile vergehen, dann antwortete er ruhig und fern: »Das Bild gehört dem Herrn Erzherzog . . .«
»Ach, wirklich«, rief jetzt Claudia froh dazwischen, »diese da auf dem Triumphwagen, diese Viktoria oder was sie sonst sein mag . . . je mehr ich sie ansehe . . . das bin ja ich!«
»Freilich«, sagte Bandini, »sie hat manches von Dir . . .«
»Aus dem Gedächtnis«, staunte Claudia, »habt Ihr mich aus dem Gedächtnis gemalt . . .«
»Gewiß.«
Sie lächelte zärtlich. »Wie schön, daß Du mich so im Gedächtnis hast, wie schön von Dir, Bandini . . . Aber . . . warum hast Du mich nicht rufen lassen? Wär’ das nicht besser gewesen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich hab’ Dich nicht gebraucht . . .«
Claudias zärtliches Lachen trillerte. »Nein, wie Du dumm bist, Bandini. Hast mich malen wollen und hast mich nicht gebraucht . . . nein, Bandini, lieb bist Du und dumm! Mich nicht gebraucht . . . kannst Du mir das erklären?«
»Nein.«
»Siehst Du, nicht einmal erklären kannst Du’s. Und warum nicht . . .?«
»Weil Du das nicht verstehen würdest, Claudia.«
»Erklärt es mir trotzdem«, sie ließ das Du fallen, bat demütig, leise, »ich bitte Euch, ich lasse Euch keine Ruhe, bis Ihr es mir erklärt.«
Bandini sagte mild. »Ich wollte Dich als das malen, Claudia, was Du sein könntest. Deshalb brauchte ich Dich nicht, deshalb wollte ich Dich gar nicht selber hier . . . verstehst Du das?«
Claudia zögerte: »Ich . . . weiß nicht.« Und feindselig fügte sie hinzu: »Ich hasse dieses Bild.«
Bandini achtete nicht darauf. »Höre«, fuhr er harmlos fort. »Aber jetzt möchte ich gerne etwas von Dir malen. Es kommt mir sehr gelegen, daß Du hier bist.«
»Ja?« rief Claudia wieder freudig. »Du willst mich malen? Das ist herrlich von Dir. Du willst mich wirklich malen? Gleich jetzt?«
»Deine Brust will ich malen«, sagte Bandini, »wenn Du so freundlich sein willst, entkleide Dich . . .«
»Peppina! Carletta!« rief Claudia rasch und begann hastig an den Schnüren ihres Mieders zu nesteln.
Die Dienerinnen traten heran. Mit ihnen kam Peretti.
»Oh!« lachte er, »wenn Ihr den Busen Claudias malen wollt, müßt Ihr mich fragen und müßt mich dabei sein lassen!«
Claudia richtete sich königlich auf. »Bin ich Deine Sklavin, Alessandro?«
Von ihrem ruhigen Ton wurde Peretti ganz verwirrt. »Aber, ich muß dabei sein«, stotterte er.
»Du gehst so lange in den Garten«, sagte Claudia, »und nimmst Caligula und Hassan mit.« Sie wies nach dem Mulatten und dem Mohren. »Beeilt Euch«, flüsterte sie zu Peppina und Carletta, die ihr Kleid lösten, und kümmerte sich nicht mehr um Peretti.
In dem riesenhaften jungen Menschen begann der Zorn aufzuwachen: sein furchtbares Kinn schob sich malmend vor, als er sich zu Bandini wandte. »Ich muß doch dabei sein!«
Bandini sah ihn an und sagte sanft: »Hier sind nur Leute, die arbeiten, keine Zuschauer.«
»Aber . . . ich . . .«, brüllte Peretti dazwischen.
Bandini sprach darüber weg. »Ihr werdet in den Garten gehen und die zwei dort mit Euch nehmen.«
Seine Stimme klang sanft und gleichgültig, doch aus seinen braunen Augen sprach ein Befehl, der jeden Widerstand beugte.
Peretti drehte sich mit einem Ruck um. »Komm’, Caligula«, zischte er den alten Mulatten an. »Vorwärts, Hassan.« Er gab dem kleinen Mohrenjungen einen Fußtritt und suchte die Türe. »Der Teufel soll’s holen!« murrte er vor sich hin. Dann wieder ein wenig lauter: »Meinetwegen soll’s der Teufel holen!« Und als er an dem Hauptmann Ercole vorüberkam, der ihn, weit im Sessel zurückgelehnt, betrachtete, brüllte er: »Ich pfeif’ drauf!« Dann schlug die Glastüre krachend hinter ihm zu.
Claudia stand, nackt bis zum Gürtel, auf der kleinen Estrade. Sie hatte keiner Weisung bedurft und sofort die Pose angenommen, die sie an der Gestalt des Bildes gesehen. Peppina und Carletta saßen auf den Stufen der Estrade, sangen zur Klimperlaute ein Liedchen und zwitscherten leise plaudernd miteinander. Bandini malte.
Lukas hielt das Zeichenbrett still auf seinen Knien. Er sah nur Claudias goldschimmerndes Haupt, sah nur ihren leicht emporgehobenen Leib. Die Zeit verstrich. Er wurde es nicht gewahr, daß Bandini von seiner Staffelei zurücktrat, daß der kleine Giuseppe herbeisprang, die weggeworfenen Pinsel aufnahm, und sie zu waschen begann. Es bestürmte ihn nur als ein neues Ereignis, daß Claudia jetzt die Arme ausbreitete und ihren Leib mit den kleinen, hochatmenden Brüsten lässig dehnte.
»Wer ist der Neue dort? Ich kenn’ ihn nicht«, sagte sie. Lukas begriff nicht, daß er selbst gemeint sei, hörte nur den Wohlklang dieser zärtlich stolzen Stimme, vernahm plötzlich seinen Namen und erschrak so sehr, daß er zusammenfuhr.
»Lukas!« Bandini hatte gerufen.
Er stand auf, konnte sich aber nicht von der Stelle rühren.
Noch einmal klang es »Lukas!« Bandini winkte freundlich. Taumelnd trat Lukas näher. Er war leichenblaß, doch ließ er nicht ab, Claudia in die Augen zu sehen. »Das ist Lukas Grassi«, sagte Bandini, »ich hab’ ihn noch nicht lange bei mir und mag ihn gerne leiden.«
Lukas wurde mutig unter dem Klang dieser Worte. Fester hielt er jetzt den schwirrend blauen Blicken Claudias stand, die ihn ausforschten.
»Er ist noch ganz fremd hier, in Florenz«, fuhr Bandini fort. »Nimm Dich seiner an, Claudia.«
Sie kam lächelnd die Estrade herab, stand mit ihrem entblößten Leib so dicht vor Lukas, daß er den Duft ihres Halses und ihrer Schultern atmen konnte.
»Wie jung . . .«, sagte sie leise.
Die beiden Dienerinnen kleideten sie an. Bandini schaute mit verschränkten Armen zu. Lukas regte sich nicht.
»Heute abend sind sie alle bei mir zur Tafel«, sprach Claudia, während die Dienerinnen ihr das Mieder schlossen. »Willst Du kommen, Lukas Grassi?« Sie wartete eine Weile und wandte sich dann spöttisch zu Bandini. »Er antwortet ja nicht einmal.«
»Doch!« lächelte Bandini, »er hat Dir geantwortet und Du hast es ganz deutlich gesehen.«
Sie zuckte die Achsel und kehrte sich ab. Vor Bandini hielt sie inne, schmiegte sich an ihn und flüsterte schüchtern. »Daß Ihr selber einmal kommt, darf ich wohl nie mehr hoffen?«
Bandini sah ihr ruhig in die Augen und entgegnete höflich: »Ich muß heut’ abend im Palast sein.«
Sie senkte das Haupt, hob aber dann gleich ihr Gesicht zu ihm auf ganz nahe und ganz leise: »Leb’ wohl.« Sie wartete.
Bandini neigte sich und küßte sie auf den Mund. Rasch ging sie fort.
Der Kirchenengel hantierte im Saal umher. Ercole da Moreno hatte sich mit Claudia entfernt. Rosselino war gegangen. Lukas saß wieder auf seinem Platz, hielt das Zeichenbrett auf den Knien und schaute ins Leere.
Bandini, der langsam hin und her schritt, blieb vor ihm stehen. »Wo ist der Bruder Serafio?« fragte er, und deutete nach dem leeren Stuhl des Mönches.
Lukas erinnerte sich. »Er ging in dem Augenblick da . . . da Monna Claudia eintrat.«
»Wie immer«, Bandini nickte, »natürlich, ich dachte nur nicht daran.«
»Daß er fortgeht!« rief Lukas. Er begriff es nicht.
Bandini schaute vor sich hin. »Ja, er muß wohl gehen, wenn sie kommt . . . Sie ist seine Schwester.«
Lukas starrte den Meister an. ». . . seine Schwester . . .?«
Bandini wandte sich ab, ging hin und her. Lukas dachte an den Mönch und liebte ihn plötzlich.
»Höre, Lukas«, sprach Bandini, kam heran und berührte Lukas an der Schulter. »Höre, mein Sohn . . . was ist mit Dir?«
Lukas war aufgestanden, sah Bandini offen an, begriff nicht, was gemeint war, und schwieg erwartungsvoll.
Bandini sprach gütig, doch ein Ton von Strenge schwang leise mit. »Du bist voll Eifer, Lukas, Du lernst schnell und leicht, Deine Augen sind gut, Deine Hände sind geschickt . . . ich könnte mit Dir zufrieden sein . . .«
Lukas schloß die Augen und lächelte, wie ein Mensch, der liebkost wird.
»Du scheinst auch brav«, fuhr Bandini fort, »aber es ist so oft, daß ich Dich nicht sehe. Du bleibst weg, bist einen Tag hier, arbeitest tüchtig und man glaubt, Du bist froh, daß Du hier sein kannst, aber am andern Tag bleibst Du wieder weg.«
Lukas schlug die Hände vor’s Gesicht.
»Was ist mit Dir?« wiederholte Bandini. »Wo treibst Du Dich umher? Was soll ich denken?«
Lukas stöhnte. Seine Schultern zuckten, von einem Schluchzen gestoßen, das er bezwang und nicht hören ließ. Bandini wartete eine Weile, dann fragte er behutsam: »Kannst Du nicht sprechen?«
Lukas schüttelte den Kopf.
Bandini betrachtete ihn lange. »Nun gut«, sagte er dann, »nun gut, es ist ein Geheimnis. Nach leichtfertigen Streichen siehst Du mir nicht aus und . . .« er senkte die Stimme, ». . . nach Gemeinheit noch weniger.«
Lukas nahm rasch die Hände vom Gesicht, schaute Bandini an und flüsterte mit stockendem Atem: »Ich kann es nicht sagen . . . heute noch nicht . . .« Er war leichenblaß.
Bandini sah in das gequälte Antlitz, blickte tief in die bittenden Augen und nickte freundlich. »Sei ruhig, mein Sohn, ich werde nicht mehr fragen.«
Er ging.
Auf dem weiten Platz vor dem Kloster San Marco kam Lukas an der Schenke vorbei, darin er manchmal mit den andern den Abend verbrachte. Aus Gewohnheit hatten ihn seine Schritte diesen Weg geführt. Er wußte nicht wie. Als er die Werkstatt verließ, war er niedergeschmettert von dem Gespräch mit Bandini, unfähig, einen festen Gedanken zu fassen, wehrlos der Verzweiflung preisgegeben.
Vor dem Wirtshaus, auf einem Bänkchen, saßen Ercole da Moreno und Pietro Rosselino beisammen. Ein aufgeklapptes Wandbrett zwischen ihnen trug Flaschen und Gläser roten Weines.
»Geh’ doch nicht vorüber wie im Traum!« rief der Hauptmann.
Beim Klang dieser tiefen, fröhlichen Stimme blickte Lukas auf. Er stand dicht vor Ercole, erwacht und erlöst, und merkte nun erst, wie sehr ihn das Alleinsein gequält hatte.
Ercole hielt ihm das Weinglas hin. »Trink«, sagte er gütig. Lukas sah Ercole an. Dieses rotflammende Gesicht, tapfer und voll Heiterkeit, zerwühlt vom Alter und frisch von innerer Kraft, strenge in seinen Zügen, in dem wilden, weißen Schnurrbart und in dem weißen Gestrüpp der Brauen, aber milde in seinem Lächeln, dieses Gesicht, das von Freundschaft und einfachem Vertrauen sprach, beschwichtigte und tröstete ihn. Er nahm das Glas und trank es rasch aus.
»Du gehst also heute zu Claudia?« fragte Ercole.
Lukas war wie neu belebt, als er den Namen hörte.
»Ich weiß ja nicht, wo sie wohnt.«
Pietro Rosselino zuckte spöttisch die Schultern. »Jedes Kind zeigt Dir den Weg.« Und Ercole sagte lachend: »Wir gehen alle zu ihr, komm’ nur mit uns.« Er sang halblaut vor sich hin.
Nun ihm das Wiedersehen mit Claudia bevorstand, fühlte Lukas alle seine Hoffnungen jählings wieder befeuert. Er glaubte jetzt wieder daran, daß der Tag kommen müsse, an dem er frei sein werde, er selbst, für immer. Er glaubte es wieder, hatte wieder Kraft, diesen Glauben in sich aufzurichten und er sagte: »Wer ist Claudia, ich kenne sie nicht?«
Pietro Rossellino knurrte: »Claudia ist Claudia.«
Der Hauptmann unterbrach sein summendes Singen, blinzelte Lukas an und sprach langsam. »Wer sie ist, hast Du heute gesehen. Außerdem muß man es begreifen, wer sie ist, wenn man sie einmal gesehen hat. Kannst Du das nicht?«
Pietro Rossellino lachte kurz auf und warf dabei den dicken Kopf in den Nacken zurück. »Claudia darf tun, was sie will. Alle ihre Sünden werden dort drüben abgebüßt . . .« Er zeigte mit der Hand zu dem Kloster hinüber.
»Dort drüben?«
»Freilich. Der Bruder Serafio, der neben Dir sitzt . . . weißt Du nicht?«
»Sie ist seine Schwester«, antwortete Lukas, »was gibt es sonst zu wissen?«
»Daß er ihretwegen ins Kloster ging.« Rossellino redete mit mürrischem Ernst. »Am selben Tag, an dem Claudia eine Kurtisane wurde.«
Der Hauptmann stand auf. »Rossellino, Du bist ein grober Bauer«, begann er mit seiner schweren, vom lauten Atem getragenen Stimme. »Du bist ein Bauer und wirst es ewig bleiben.« Er sah Rossellino an. »Weißt Du, was Serafio gesagt hat, als er ins Kloster ging? Ich muß in die andere Schale der Waage, sagte er. Verstehst Du das?«
Rossellino wischte den Wein von den Lippen und entgegnete mit schiefem Kopf: »Eh, warum soll ich’s nicht verstehen?«
»Weil Du ein Bauer bist«, sagte der Hauptmann ruhig. »Ein braver Kerl, aber ein Bauer. Was für ein prächtiger Mensch ist Serafio. Ich hatte ihn zuerst neben mir, drüben in der Werkstatt, hier in der Schenke und weiß Gott, wo sonst noch. Ein Feuer war in ihm, bei der Arbeit, beim Wein, bei den Weibern . . . eine Jugend . . . er war prächtig. Aber dann, als das mit seiner Schwester kam, da sagte er, ich muß in die andere Schale der Waage. — Was meinst Du, mein Sohn? frage ich. — Er antwortet: So geht es nicht. Wir können nicht beide uns freuen, meine Schwester und ich. — Warum nicht, Tonio, sag ich zu ihm. Denn er hieß Tonio. Warum sollt Ihr euch nicht beide freuen können? So nicht! erwiderte er. Was der eine genießt, muß der andere zahlen. Da ließ sich nichts mehr hindern; ich hab’ es gleich gesehen. Er war verändert, wie ausgelöscht und ganz in sich verschlossen, wie ein Turm. Sie mag leben für uns beide, sagte er, ich will für uns beide dienen. Am andern Tag war er dort drüben.« Ercole zeigte nach dem Kloster. Sein Gesicht flammte und sein Mund lächelte unter dem weißen Schnurrbart. Er wandte sich zu Lukas. »Schön!« rief er, »schön, nicht wahr?« Er schaute nachdenklich vor sich hin. »Tonio ist im Irrtum gewesen. Keiner braucht für Claudia zu büßen. Bei alledem, sein Gedanke war schön.« Ercoles Gesicht leuchtete auf. »Aber es ist doch besser, keine Schwester zu haben und sich an den Schwestern der andern zu erfreuen. Was? Gehen wir zu Claudia!«
Sie schritten langsam durch die abendlichen Straßen, während der Vollmond am helldämmernden, klaren Himmel hervortrat. Ercole da Moreno sang leise vor sich hin.
Das Haus der Claudia lag in einem engen Gäßchen, in dem es leer und still war. Sie rührten den Türklopfer und hörten im Flur schon den Tumult lauter Stimmen, Klirren und Klappern von Geschirr und Gelächter, durchströmt von Musik. Aus dem undeutlichen Zwielicht schwach erhellter Vorzimmer traten sie in den kerzenschimmernden Glanz des Saales. Lukas sah den breiten weißglänzenden Streifen der Tafel nur wie verschleiert. Er sah die vielen Gestalten, die da bewegt sich gruppierten wie durch Schleier. Er genoß den Anblick Claudias, den er ersehnt hatte. Sie saß in einem erhöhten Lehnstuhl, der von rotem Samt bezogen mit Goldborten geziert einem Thron glich. Dunkelblau leuchtete das weiche Seidengewand, das ihre Schultern frei ließ. An der goldenen Kette um ihren Hals hing ein großer Saphir und lag dunkel blitzend auf ihrer bloßen Brust.
Sie hatte eben lachend geplaudert, aber als Lukas hereinkam und an der Türe stehen blieb, hielt sie unvermittelt inne, sah ernst zu ihm herüber, mit einem raschen, prüfenden Blick, dann grüßte sie ihn flüchtig und wandte sich ab.
Lukas spürte, daß jemand ihn am Arm berührte. Es war Filippo Volta. Freundlich, bereitwillig und ein wenig neugierig, wie am ersten Tag, da er Lukas im Hausflur Bandinis empfangen hatte, stand er da. »Komm’ zu mir her . . . da ist ein Platz für Dich.« Er führte ihn an die Tafel und zog ihn auf eine Polsterbank nieder. Lukas fand sich am Ende des Tisches schräg gegenüber von Claudia und so fern von ihr, daß es ihn beruhigte, denn hier war er sicher, weder von ihr, noch von den andern beachtet zu werden.
Er hörte Alessandro Peretti lärmend lachen und gewahrte mit Erstaunen, daß Graf Waltersburg an Claudias Seite saß. Der kleine Mohrenjunge mit dem weißen Turban stand hinter Claudias Stuhl. Der Mulatte Caligula befahl mit leisen Winken und kurzen Gesten. Fett und träge lehnte er am Kredenztisch, ließ die flinken, stechenden Augen schielend und geschäftig überall umherstreifen, und sah aus, als horche er bösartig auf jedes Wort. Peppina und Carletta umkreisten geschäftig die Tafel. Peppina mit ihrer vierzehnjährigen eben erst erblühten Fülle, ging umher und hatte eine Miene, als habe sie in diesem Moment etwas Ergötzliches von großer Wichtigkeit erfahren und wünsche danach befragt zu werden. Carletta, weich und üppig, ließ es gleichgültig geschehen, wenn die Männer nach ihr griffen. Ihr Gesicht blieb unbewegt dabei, ihre Augen blickten ins Weite. Geduldig hielt sie still, wartend, und wehrte den Händen nicht, die an ihr tasteten und sie überall liebkosten. Gab man sie frei, ging sie gelassen weiter. Noch ein paar Diener huschten umher. In einer Nische des Saales standen die Spielleute und ihre untertänige Musik verschwamm im Lärm der Tafelnden. Geschrei brüllte auf, von vielerlei Stimmen gesprochene, gerufene Worte schlugen ineinander und zerbrachen. Gelächter rollte hin. Wachsgeruch der Kerzen, Weindunst, Dampf von Speisen, der Duft von Blumen, der Atem aus Kleidern füllte den Raum.
»Siehst Du den Alten dort?« sprach Filippo Volta zu Lukas. »Den Kleinen, Dürren, mit dem Kahlkopf . . . ja den! Er sitzt neben dem fremden Herrn aus Österreich. Das ist Giovanni Belloni, der alte Wollhändler. Er war der erste, dem Claudia gehört hat, und es heißt, sie gehört ihm auch jetzt noch manchmal, wenn er nur will oder wenn sie seine Dukaten braucht. Schau Dir ihn an. Er ist unermeßlich reich, der alte Belloni und die schönsten Frauen sind sein gewesen.«
Lukas blickte zu dem kleinen, alten Mann hinüber, in dessen blassem Antlitz der zahnlose Mund eingesunken war. Er saß still da, trank in langsamen Zügen, lehnte sich zurück und hielt die Augen geschlossen, als schliefe er.
»Und der Grüne dort«, schwatzte Filippo Volta weiter, »das ist Cosimo Rubinardo, den Claudia zum Bettler gemacht hat.« Er lachte.
Lukas sah einen stattlichen Herrn in grünsamtenem spitzenbesetztem Kleid; ein edles Antlitz mit hoher Stirn, einer feinen Nase und sanften Augen. Er sprach ganz vertieft mit zwei jungen Edelleuten.
Filippo Volta erzählte: »Cosimo Rubinardo ist reich gewesen, ein Edelmann aus einer der ersten Familien. Er hatte Güter in Venezien, und dieses Haus hier war sein Eigentum. Alles hat er für Claudia verschwendet. Sie erlaubt ihm jetzt, hier in einer Dachstube zu wohnen, und er ist glücklich, weil er in ihrer Nähe sein darf.«
Filippo lachte laut. »Der Graf Peretti geht dem gleichen Schicksal entgegen. Er ruiniert sich für Claudia, aber sie lacht ihn aus und sie wird ihn zum Teufel jagen, ohne Erbarmen, in derselben Stunde, in der sie ihm das letzte Goldstück abgenommen hat. Und der dort, der Dicke . . .« Filippo Volta redete.
Lukas hörte ihn nicht mehr. Er sah Peretti mit plumpen Händen nach Claudia greifen und sah, wie Claudia ihn von sich stieß, daß er rücklings in seinen Sessel fiel. Auf dem breitknochigen, roten Gesicht des jungen Mannes spielte unbeholfener Zweifel, Begierde, Neigung zu dem Ausweg, das alles sei nur ein Scherz, Mißtrauen und erwachender Zorn. Sein furchtbares, langes Kinn trat gewalttätig hervor, seine Augen standen schräg. Claudia trank ihr Glas aus, schwenkte es gegen Peretti und sprühte ihm die letzten Tropfen ins Gesicht. Versöhnt lachte er brüllend, riß ihre Hand an sich und bedeckte ihr Armgelenk mit Küssen. Claudia wandte sich derweil zum Grafen Waltersburg, der lächelnd und ergötzt auf sie einflüsterte.
Lukas sah den Hauptmann Ercole da Moreno an. Der hatte eben seinen Pokal donnernd auf den Tisch gestellt. Prachtvoll saß er da, entzündet vom Wein und von Freude; ruhig dabei wie ein Standbild und funkelnd zugleich von Leben. Sein rotes Antlitz und seine kraftvolle Stirne flammten, sein Haarbusch loderte schneeweiß hoch empor. Die jungen Leute drängten sich zu beiden Seiten um ihn, jauchzten bei jedem Wort, das er sprach und entzückten sich an seinem Lächeln, das unter dem weißen Schnurrbart hervorschimmerte. Eine anfeuernde Fröhlichkeit ging von ihm aus, atmete von diesem machtvollen und sanften schneeweiß überschimmerten Haupt in den Saal, Claudia winkte ihm zu.
»Ja, er ist gut, der Hauptmann«, sagte Filippo Volta, der Lukas’ Aufmerksamkeit bemerkt hatte. »Er ist gut, der Hauptmann. Aber niemand weiß so recht Bescheid über ihn. Manchmal tut er, als sei er nur Bandinis Schüler, ein Anfänger aus Laune und Spielerei; manchmal wieder bringt er Dinge fertig, die so meisterhaft sind, daß man sprachlos wird. Claudia trägt einen Ring, den er in Gold geschnitten und ziseliert hat, ein Kleinod, dessen sich Cellini nicht geschämt hätte. Verstehst Du das? Keiner kann sagen, was mit ihm los ist. Wir wissen nicht einmal, ob er wirklich Ercole da Moreno heißt. Er ist weiß Gott wie alt. Er hat noch in Rom die Königin Christine gekannt. Sie war Königin von Schweden, glaube ich, doch ich weiß es nicht so genau. Man sagt, er sei einmal ihr Liebhaber gewesen. Er war oft im Krieg, er war in Frankreich, in Spanien, in Deutschland, überall, aber er spricht nicht davon. Ach, ein großer Schwelger ist er, wie kein anderer, und die Frauen lieben ihn heute noch.«
Lukas hörte längst nicht mehr zu. Eine ungeheure Lust war in ihm erwacht, er wußte nicht wie, ein Unband rührte sich in ihm, ein Drängen, ein Begehren, das ihn fast zersprengte. Ihm schien mit einem Male, das ganze Leben sei in dieser Stunde sein eigen und er müsse es in dieser Stunde ausschöpfen bis zum Grund. Er zitterte vor Kraft, und durch seine Seele, die ganz gedehnt war vor Erwartung, pochte die Ungeduld, irgend etwas Starkes, Plötzliches solle nun geschehen.
Da begann der Hauptmann zu singen. Der wirre Lärm ringsum verlöschte sofort zu tiefer Stille. Die Musikanten hörten auf zu spielen und legten die Instrumente beiseite als seien sie nun nicht mehr nötig. Und beim Klang dieser Stimme, die zu funkeln schien, wurde es heller im Saal. Der Hauptmann sang:
»Herr, laß’ mich lange leben,
Laß’ mich auf Erden sein . . .«
Er saß gerade und jugendlich da, wie im Sattel, das Haupt leicht erhoben, die Augen zur Decke gerichtet, das Antlitz glühte in einer großen, freudigen Andacht. Der Gesang war in allen seinen Mienen, auf seiner Stirne, bebte im Gebüsch seiner weißen Brauen, und auch sein schneeweißer, mächtig auflodernder Haarbusch schien zu singen. In der warmen Fülle seiner Stimme atmete Kraft, die ihr Letztes nicht gab und nicht geben brauchte, um stärker zu sein als die andern. Frei aufschwebend hob sich das Lied über die Menschen hier hinaus, raffte ihre Fröhlichkeit in sich zusammen, riß sie hinter sich her, führte sie an. Jeder Pulsschlag hier im Saal fügte sich in den feierlich stürmischen Rhythmus dieses Liedes.
»Herr, laß’ mich lange leben,
Laß’ mich auf Erden sein . . .«
Viele von den jungen Leuten waren von den Sitzen emporgesprungen und hörten das Lied stehend mit an. Als es zu Ende war, drängten sich alle im Tumult um den Hauptmann, aber Ercole da Moreno saß erhobenen Hauptes, still auf seinem Platz. Sie wagten es nicht, ihn zu umarmen und fielen statt dessen einer dem andern um den Hals. Man verbrüderte sich, man schenkte ein, Gläser klirrten, Lachen flatterte auf, aber niemand lärmte, niemand schwatzte drauflos. Das Lied schwebte noch über allen.
Claudia wehrte sich gegen Peretti, der in überströmender Zärtlichkeit auf sie eindrang. »Nein, Du nicht«, sagte sie und man hörte es im ganzen Saal. »Du nicht.« Peretti sank in seinen Armstuhl zurück. »Also dann keiner!« knurrte er. Claudia lachte laut. »Oh Du!« und in ihrer Stimme blitzte fröhlicher Stolz. »Oh Du Armseliger, Du denkst wirklich: Du oder keiner! Aber ich denke es nicht!« Sie lachte wieder. »Ja, einer soll mich küssen . . . ich sagte ja schon, Du nicht!« Sie schaute umher, sie lachte wieder, sie sah den Grafen Waltersburg an, streifte Cosimo mit den Blicken, überflog alle der Reihe nach und deutete dann zu Lukas hin: »Der dort, der Junge — ich will, daß er mich küßt, ich erlaube es ihm, weil er so jung ist und so allein unter Euch!«
Lukas saß bestürzt, wie festgenagelt. Er wollte lieber sterben, als hier vor den andern hingehen und Claudia küssen. Er kam sich entblößt und in seinem geheimsten Begehren verraten vor.
»Du dort«, rief jetzt Claudia über die Tafel hin. »Du dort . . . wie heißt Du dort?. . . hast Du nicht verstanden?. . . komm’ her zu mir!« Filippo Volta stieß Lukas an. Er stand auf, ging mit bleischweren Schritten hinter den Stuhllehnen der andern. Die Musik hatte wieder begonnen, die Gespräche schwirrten wieder, die wenigsten achteten auf das, was sich mit Claudia begab. Lukas hörte im Gehen nur, wie der Hauptmann sagte: »Er heißt Lukas Grassi . . .«
Peppina schob ihn mit einer Miene, als wisse sie um ein Geheimnis, neben Perettis Stuhl zur Tafel. Da stand er nun vor Claudia. Sie lachte ihm entgegen: »Du darfst mich küssen.« Ihm war als ob er gezüchtigt würde.
Er beugte sich langsam zu ihr, besinnungslos und unglücklich. Da wurden ihre Mienen ernst, ihre großen, blauen Augen strahlten ihn leuchtend an. Sie legte ihm abwehrend einen Finger auf den Mund und sagte, ganz leise, ganz nahe an seinem Ohr: »Nicht jetzt . . . Du hast recht . . . nicht jetzt . . . später, wenn alle fort sind! Peppina wird Dir zeigen, wo . . .« Sie stieß ihn leicht von sich und wandte sich ab.
Peretti brüllte: »Du hast ihn ja gar nicht geküßt!«
»Nein«, lachte Claudia.
»Was hast Du ihm denn gesagt?«
»Daß ich ihn wohl küssen möchte, habe ich ihm gesagt, daß ich es aber nicht wage, aus Angst vor Dir, Du Wilder, weil Du sonst ihn und mich töten würdest . . .«
Peretti raste vor Lachen.
Lukas ging an seinen Platz zurück. In ihm dröhnte das Lied des Hauptmannes wie Orgelbrausen; an seinen Lippen fühlte er noch die heiße Berührung von Claudias Hand, spürte noch an seiner Wange ihren wehenden Atem und das Lied rauschte in ihm: Herr, laß’ mich lange leben.
Jemand berührte ihn an der Schulter. Er blickte um sich, da schlüpfte Peppina von ihm weg und winkte ihm zu.
Langsam stand er auf und folgte ihr zögernd, in Angst, die andern könnten es bemerken. Niemand achtete auf ihn. Als er den Saal verließ, mußte er an dem Mulatten Caligula vorbei, hatte das fette, gelbe Verbrechergesicht plötzlich ganz nahe vor sich und glaubte, in den kleinen Schielaugen giftiges Lauern zu sehen. Doch Peppina winkte schon von draußen, und Lukas schritt weiter. Er kam durch einen steinernen Korridor, in dem es kühl war und in dem nur Mondlicht silberte. Lukas atmete die reine Luft und wachte auf. Peppina schwebte vor ihm her, ließ ihn durch eine schwere Eichentür, die sich lautlos öffnete und schloß, und sie waren im Dunkeln. Das Mädchen nahm ihn an der Hand, schlang ihren Arm um seine Hüften und führte ihn. Sie schritten über einen weichen Teppich, standen vor einer zweiten Tür, Peppina schmiegte sich an Lukas, zauderte und, da er sich nicht regte, schloß sie auf. Mildes, gelbes Licht strömte aus einer Ampel durch den weiten buntgestaltigen Raum, der sich nun vor ihm öffnete. Viele Teppiche deckten den Boden in reichen Farben, gewebte Tapeten verhüllten die Wände, kostbare eingelegte und bemalte Schreine breiteten ihre Türen wie Flügel und ließen den Tempelbau ihrer Laden, Tabernakel und Säulen sehen. Statuen, Büsten aus Bronze und vergoldetem Holz und Marmor hoben ihre Häupter aus dem Getümmel ins Zwielicht. In den Flächen großer Spiegel tat sich die Täuschung neuer, weiter Räume auf und aus der Tiefe des Alkovens dämmerte, wie fernes Gelände im Abendschein, das breite Lager.
Peppina trat an eine glatte, gobelinbehangene Wand und zog an einer Schnur. Der Vorhang glitt langsam auseinander und enthüllte hohe Scheibentüren. In allen Fenstern glomm sanft das Mondlicht auf und draußen lag silberbeglänzt der Garten mit seinen tiefen Pinienschatten.
»Du mußt da hinaus«, sagte Peppina, »versteck Dich draußen irgendwo im Gebüsch und warte.«
Lukas wollte an ihr vorbei. Sie vertrat ihm den Weg. »Wenn Du willst, gehe ich mit und bleibe bei Dir«, sie sah ihn mit ihrem vieldeutig klugen Lächeln an, als wüßte sie etwas, das sich nicht aussprechen ließ. Da Lukas schwieg, senkte sie ihr hübsches Gesicht. »Es wird übrigens nicht mehr lange dauern. Warte dort unten. Du mußt warten, bis Claudia diese Türe öffnet und auf die Terrasse geht, dann kannst Du kommen.« Sie sah ihn lächelnd an, nickte und lief davon.
Lukas trat ins Freie. Er war auf einer kleinen Terrasse, die das Mondlicht hell erleuchtete. Schwarze und weiße Steinplatten deckten den Boden. Die niedere Marmorbalustrade trug in steinernen Kübeln das hochrotflammende Buschwerk blühender Azalien, und eine breite Treppe führte dazwischen in wenigen Stufen zum Garten nieder.
Lukas stand in der sanften Mondeshelle, umrauscht vom leisen Gesang der Baumwipfel, angeweht vom Duft der in die Nacht atmenden Blumen, betäubt von den Verheißungen dieses Abends.
Da schlug die Domuhr an, nah und gewaltig. Andere Glocken fielen ein. Lukas horchte, zählte, und alles Glück des Tages entglitt ihm.
Ein Viertel vor Mitternacht.
Er wartete. Er wollte nicht vom Platze weichen, als bilde er sich ein, daß er heute fähig sei, gegen die Zeit und gegen sein Schicksal zu kämpfen. Für die anderen war die Nacht frei, lag reich und ohne Schranken vor ihnen, floß glückselig dahin und glitt zuletzt in einen neuen Tag hinüber. Er preßte die schmalen Lippen zusammen, er weinte nicht, aber er hatte keinen Widerstand mehr und ergab sich.
Langsam stieg er die schönen Stufen der Treppe hinab in den Garten, schritt die Wege zwischen schattendem Gebüsch, trat aus dem Mondlicht ins Dunkle, seiner Erniedrigung entgegen. Es blieb ihm nur noch so viel Zeit, die Mauer zu überklettern. Dann schlug die Glocke an, dann durchfuhr ihn jener Ruck, den er schon kannte: und in dem öden Gäßchen lief eine Sekunde später, mondsüchtig, geduckt der Hund davon, immer weiter und weiter, kreuz und quer durch Florenz.
In leichtem Trab ritt der Erzherzog Ludwig mit seinem Gefolge aus dem Stadttor. Graf Waltersburg war bei ihm, dann Niccolo Torricella, der Kammerherr, und Ugolino Corsini, der manchmal noch Pagendienste versah. Herr Pointner folgte mit etlichen Reitknechten.
Als sie zu den Wiesen kamen, die sich vom lichten Gehölz umsäumt zum Ufer des Arno hinbreiteten, setzte der Erzherzog seinen Rappen in kurzen Galopp, die anderen taten augenblicklich das gleiche und so sprengten sie in Sätzen, die freudig aussahen, über den Rasen. Der Hund fegte mit schwebendem Lauf um die Kavalkade, pfeilte schmal und hochbeinig voraus, kehrte in weiten Bögen zurück und hielt sich an der Seite des Rappen.
»Wenn es Euer Gnaden beliebt, steigen wir hier ab«, sagte Niccolo Torricella und lüftete den Hut. Er war ein stattlicher Mann von fünfzig Jahren etwa, dem der rasierte Bart einen dunklen Schimmer um das zerfurchte Gesicht legte. Seine Mienen drückten unsäglichen Hochmut aus, seine beständig halbgeschlossenen Augen schienen die Welt ringsumher keines vollen Blickes für wert zu achten, und er sprach ebenso, mit einer halblauten Stimme, eintönig und mit vollkommener Gleichgültigkeit.
Der Erzherzog parierte das Pferd und schwang sich aus dem Sattel. Graf Waltersburg trat mit seinem stets ein wenig törichten Lächeln dazu und hatte eine Miene, als freue er sich über ein erstaunliches Gelingen. Herr Pointner ließ sich von einem Reitknecht aus dem Bügel helfen und gelangte schwerfällig zu Boden.
Torricella wandte sich leise zu Ugolino Corsini. »Wo?« fragte er gelangweilt.
Der junge Corsini, achtzehnjährig, pausbackig, apfelrot und mit einem Ausdruck ewiger Verblüfftheit im Gesicht, streckte die Hand aus: »Das Ufer entlang.«
Der Erzherzog ging. Die Herren, die ihn flankierten, hielten zu beiden Seiten einen Abstand zwischen sich und ihm.
»Ich weiß nicht, ob sie allein sein wird«, begann Graf Waltersburg bedenklich. »Vielleicht ist dieser Peretti bei ihr.«
»Man kann ihm einen Tritt geben«, sagte Torricella gleichgültig.
Der Erzherzog schwieg.
Der Hund, der voraus war, blieb stehen, hob den Kopf und spitzte.
»Dort kommt sie!« rief Ugolino Corsini und sah verblüfft umher.
Aus dem Gehölz trat eine Gruppe, lockerte sich auf der Wiese in Einzelgestalten und kam näher. Graf Waltersburg wandte sich an den Erzherzog: »Der Peretti ist dabei . . . ich dachte mir’s!«
Der Erzherzog hob das schmale Antlitz, hatte die Unterlippe verschmähend vorgeschoben und schaute zur Seite. Er stand und wartete.
Claudia kam heran; ihr Kleid aus weißer, schmiegender Seide blendete im Sonnenlicht, ihr goldenes Haar schimmerte. Ihre Augen waren so blau wie der Himmel.
»Seht doch, Euer Gnaden, was der Kambyses treibt«, lachte Waltersburg, »drollig, wie das Vieh sich über Claudia freut . . .«
»Was für ein schöner Hund«, rief Claudia näherkommend, »und wie freundlich.« Sie haschte nach ihm, der mit zärtlicher Huldigung um sie her strich und manchmal leise und freudig jaulte.
»Es ist, als ob er Euch kennen würde«, sprach der Erzherzog mißtrauisch.
»Wahrhaftig«, lachte Claudia.
»Vielleicht kennt er Euch doch?« Der Erzherzog fragte ein wenig schärfer.
»Wie sollte das möglich sein?« rief sie belustigt.
»Nun . . .« der Erzherzog zögerte, »die Bestie ist jede Weile verschwunden und niemand weiß, wo sie steckt.«
Peretti war herbeigekommen und vollführte breitspurig ein Kompliment. Langsam folgte ihm der Hauptmann Ercole da Moreno. Peppina stand da und schickte ihre lächelnden Augen von einem zum andern, indessen ihr hübsches Gesicht zu sagen schien: ich weiß etwas! Ein wenig abseits hielt sich Caligula, der Mulatte.
Niccolo Torricella hob den Arm lässig gegen Peretti, ohne ihn anzusehen. Man hörte seine verächtliche Stimme: »Das hier, Euerer kaiserlichen Hoheit aufzuwarten, ist der Graf Alessandro Peretti.«
Peretti wiederholte seine breitspurige Verbeugung und holte zum Sprechen aus. Der Erzherzog sah ihn nicht und wandte sich dem Hauptmann zu: »Seid Ihr nicht neulich bei der Tafel gewesen? Aber ich hab’ Euch schon früher einmal gesehen, in Madrid. Ist es nicht so? Bei dem Infanten! Ich war damals noch klein.«
Ercole da Moreno nickte. Er hatte in dem roten, schönen Gesicht und in den dunklen Augen sein gutmütiges Lächeln. Militärisch grüßend, hielt er den Hut in weitausgestrecktem Arm zur Seite, aber seine Gestalt wankte leise, weil ihm der Hund mit stürmischer Begrüßung zwischen die Beine fuhr.
»Kambyses!« rief der Erzherzog. Der Hund zuckte zurück und stand aufgeregt, leidenschaftlich wedelnd, vor Claudia und dem Hauptmann und betrachtete beide zärtlich.
»Woher kennt Euch Kambyses?« fragte der Erzherzog den Hauptmann mißtrauisch.
Claudia schob sich dazwischen. »Euer Gnaden, ich meine, ich verstehe das Tier . . . Kambyses habt Ihr ihn gerufen, ein schöner Name . . .« sie sprach jetzt nahe bei dem Erzherzog, ihren Blick im seinigen, als wäre sie mit ihm allein, »ich meine, ich verstehe den Kambyses. Er ist außerordentlich klug, so klug, wie ich noch keinen Hund gesehen . . . er kennt natürlich weder den Hauptmann noch mich, aber er weiß genau, wer seinem Herrn willkommen ist . . .« Ihre Augen streiften jetzt schnell und spöttisch den Grafen Peretti.
In die schmalen Wangen des Erzherzogs stieg langsam ein feines Rot; er atmete mit geöffnetem Mund, hatte sein Antlitz dicht vor dem Antlitz Claudias und seine wasserblauen Augen verschleierten sich: »Du bist mir in der Tat sehr willkommen«, sagte er mit heißer Stimme.
Sie waren nun beide allein, wenn auch von andern umgeben, aber alle hielten sich so, daß sie nichts zu hören brauchten, wenn der Erzherzog leise mit Claudia sprach.
Peretti wandte sich der Reihe nach an alle Herren: »Was für ein prachtvoller Hund«, rief er laut, »was für ein erstaunlicher Hund! Ich habe noch nie einen gesehen, wie diesen. Ich glaube, in ganz Italien ist ein solcher Hund noch nicht dagewesen!«
Niccolo Torricella blickte mit halbgeschlossenen Lidern gelangweilt über den Arno hin. Ugolino Corsini schaute verblüfft von Peretti auf den Hund, und vom Hund auf Peretti. Der schien sich nicht beruhigen zu können. Es war überdeutlich, daß er die allgemeine Aufmerksamkeit vom Erzherzog und Claudia ablenken wollte, überdeutlich, daß er gegen die Beschämung, hier zu sein, anzukämpfen versuchte.
»Wo gibt es solche Hunde?« wandte er sich an den Grafen Waltersburg, »ich bitte Euch, woher hat Euer Herr diesen schönen Hund?«
Waltersburg lächelte höflich zu Peretti herab: »Kambyses ist aus Rußland . . . vielleicht aus Persien . . . ich weiß es nicht genau.«
»Ruft ihn doch . . . ich bitte Euch . . . ich möchte ihn gerne aus der Nähe betrachten.«
»Kambyses!« rief Waltersburg. Der Hund schien nichts zu hören.
»Er scheint sich nichts aus Euch zu machen!« lachte Peretti schadenfroh.
Waltersburg wurde ungeduldig. »Pointner«, rief er zu den Pferden hinüber, »der Hund soll her . . .«
Pointner pfiff, ohne sich dem Erzherzog zu nähern, und brachte den Hund, der ängstlich zu ihm geeilt war.
Peretti fiel mit derben Griffen über den Hund her. Der knurrte, hob die Lefzen, daß seine Nase sich böse runzelte und seine Zähne sichtbar wurden. Erschrocken war Peretti zurückgefahren, sah die andern lächeln und lachte verlegen. Dann hob er plötzlich ein Scheit auf, das am Ufer lag. »Geht er ins Wasser?« fragte er.
Waltersburg sah Pointner an.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Pointner.
»Laßt ihn doch dieses Holz aus dem Wasser holen«, verlangte Peretti.
Pointner nahm das Scheit, stieg die kleine Böschung nieder und rief den Hund, aber der wollte nicht folgen.
Pointner schwang das Holz: »Such’ Kambyses, such’!«
Der Hund stand teilnahmslos da, während Pointner ihm das Holz vor die Nase hielt, es anspuckte und hin und her schwang.
»So werft doch endlich!« drängte Peretti.
Pointner schleuderte das Scheit weit hinaus. Es blitzte in der Luft, klatschte aufs Wasser nieder und zog mit den Wellen langsam davon. Der Hund war der Wurfbewegung mit langem Hals nachgefahren; nun stand er am Uferrand still und blickte gequält auf das fortschwimmende Holzstück. Pointner stieß ihn, faßte ihn hinten und schob, um ihn ins Wasser zu drängen. Der Hund stemmte mit gespreizten Vorderbeinen dagegen.
Peretti schlug sich die Schenkel, seine üble Laune brach hervor, seine Haltung ging in Stücke. »Ihr laßt Euch ja alle von der Bestie zum Narren machen!«
»Such’ — Kambyses!« schrie Pointner zornig.
»Solch ein Riesenhund und will nicht ins Wasser — es ist lächerlich!« höhnte Peretti.
»Luder, verdammtes! Vorwärts!« Pointner knirschte.
»Packt ihn beim Kragen und schmeißt ihn hinein!« tobte Peretti. Waltersburg winkte zu den Pferden hinüber. Zwei Reitknechte kamen herbei.
Der Hund lag flach am Boden. Sie hoben ihn mit einem Ruck auf schwenkten ihn wie einen Sack und schleuderten ihn weit in den Fluß hinaus. Er überschlug sich, sah, wie die ganze Welt, das Ufer, die Menschen, alles sich drehte, ward plötzlich, im Niederstürzen, von einer brausenden Finsternis verschlungen, schlug um sich, tauchte auf und schwamm von der Strömung weggerissen, betäubt, außer sich, nach Atem ringend, ans Ufer. Erschöpft klomm er die Böschung hinauf schüttelte sich, umsprüht von einer Wolke abspringender Tropfen, und sank fröstelnd ins Gras.
»Noch einmal!« schrie Peretti, »noch einmal! Er hat das Holz nicht gebracht!«
Die Reitknechte schickten sich an den Hund zu holen, der weiter weg lag, dort, wo er ans Land gekrochen war.
Ercole da Moreno sagte laut: »Genug.«
Alle sahen ihn an. Peretti lärmte weiter. »Schnell dort! Was gafft Ihr denn! Vorwärts,. . . noch einmal!«
Der Hauptmann wiederholte ruhig: »Genug.«
Peretti duckte den breiten Nacken. »Er soll das Holz bringen. Ich will es.«
Der Hauptmann sandte einen Blick zu ihm, ohne den Kopf zu wenden.
»Schnell!« befahl Peretti, »das Holz . . . ich will es!« Seine Stimme schwoll in Zorn.
»Holt es Euch selbst!« Es klang ruhig, aber durchweht von einem tiefer geschöpften Atem.
Mit einem Ruck fuhr Peretti herum. »Was sagt Ihr, Moreno?« Seine Bewegungen waren fahrig, als er auf den Hauptmann losging; sein Gesicht färbte sich dunkel.
Graf Waltersburg beobachtete die beiden mit höflicher Aufmerksamkeit. Niccolo Torricella sah gleichgültig weg, in dem pausbackigen Antlitz des jungen Ugolino Corsini stand Verblüfftheit.
»Was sagt Ihr da, Moreno?«
Der Hauptmann sah zu Peretti nieder. Unter dem weißen Gebüsch seiner Augenbrauen flammte es auf.
»Ich sage: genug!. . . zum letztenmal!«
Alessandro Peretti wurde plötzlich bleich. Er lachte kurz, wandte sich ab und ging fort, ohne jemanden zu grüßen.
Bruder Serafio hielt im Malen inne. Vor ihm, auf der Stufe, stand der Knabe, der einem Kirchenengel glich und posierte den jungen Johannes. Serafio blickte auf Lukas, der neben ihm saß und wie verloren vor sich hin sah. Der Mönch betrachtete ihn und malte weiter. Nach einer Zeit hielt er wieder inne. »Es ist gut, Giuseppe . . . ich rufe Dich später.« Der Knabe sprang von der Stufe nieder und fing sogleich an, sich geschäftig im Saal umher zu treiben. Lukas hatte nichts bemerkt.
»Höre, Du . . .«, begann der Mönch, »Du hast einen Kummer?«
Lukas rührte sich langsam, wie einer, der aus dem Schlaf erwacht. In den Worten des Mönches war ein Klang, der ihm wohl tat. Ohne die Worte zu verstehen, hatte er nur diesen Klang gehört und öffnete ihm sein Herz.
Serafio fragte noch einmal: »Du hast Kummer?«
Lukas nickte.
»Kann ich Dir helfen?«
Lukas schüttelte den Kopf.
Der milde Klang tönte weiter. »Ist Dir das Leben so schwer, Lukas?«
Lukas sagte mit zerbrochener Stimme, ganz leise: »Ich lebe nicht.«
Serafio wandte sich voll zu ihm. »Was ist mit dir?«
Lukas sprach in sich hinein. ». . . Ich warte . . .«
»Worauf wartest Du?«
»Darauf . . . daß ich wieder . . . ein Mensch sein darf.«
Verzweiflung hob sich in Lukas.
»Was bist Du denn jetzt?«
»Ein Tier!« Das kam, wie ein Ausbruch. Sogleich aber schrak Lukas zusammen und preßte angstvoll die geballte Faust vor den Mund.
Serafio betrachtete ihn lange. »Höre, Lukas . . .«, und weil keine Antwort kam: »Willst Du mich hören?«
Lukas hielt die Faust am Mund, als preßte er Hervorquellendes zurück.
»Soll ich nicht zu Dir reden?«
»Sprecht nur!« stöhnte Lukas mühsam.
»Nun, so höre, Lukas«, sprach der Mönch, »wenn Dir Dein Kummer einmal zu schwer wird, komm’ zu mir. Komm’ auch, wenn es Dir leichter ums Herz ist. Du bist allein. Komm’ zu mir, wie zu einem Bruder . . .«
Lukas hatte sich unter dem zärtlichen Klang dieser Stimme gefaßt. »Ehrwürdiger Bruder . . .«, stammelte er.
Serafio unterbrach ihn: »Nicht ehrwürdig . . . nur Dein Bruder . . . und komm’, wann immer Du willst . . .«
Er begann weiterzumalen.
In der Stille, die nun erfolgte, ertönte plötzlich Cesare Bandinis Stimme. »Rossellino! Was war das gestern abends bei Claudia?«
Lukas horchte auf. Der Mönch vergrub sich in seine Arbeit. Rossellino modellierte mit tumultuarischen Bewegungen: »Habt Ihr es schon gehört?«
Bandini entgegnete lässig: »Vorhin im Garten erzählte Filippo davon . . . ich ging nur vorbei.«
Rossellino lachte knurrend. »Nun, sie sollen sich schon gestern des Nachmittags entzweit haben. Da draußen am Arno. Der Erzherzog war dort und Claudia. Man sagt, sie sind um den Köter des Prinzen aneinander geraten. Ich weiß es nicht; ich bin nicht dabei gewesen.«
Bandini fragte: »Aber am Abend warst Du dabei?«
Rossellino hieb auf den nassen Ton ein, daß es klatschte: »Teufel ja! Es war großartig! Peretti spektakelte mehr als je . . . nun, Ihr kennt ihn ja. Ercole sitzt ganz ruhig. Wir warten auf sein Lied. Er hat nicht gesungen. Mit einem Mal befiehlt er: genug! Alle schauen ihn an. Peretti, der gerade die Claudia küssen will, fährt zusammen, wie gestochen. Ercole nickt ihm zu. Sitzt ganz ruhig da und nickt ihm zu: »ja, Dich mein’ ich, Peretti . . . genug mit Dir. Pack’ Dich fort!« Das sagt er ganz still. Aber man sieht, daß er brennt. Wir sind alle erschrocken, Claudia ist leichenblaß gewesen.«
Bandini pfiff.
Rossellino sprach weiter: »Auch Peretti wurde bleich. Seid Ihr verrückt? schreit er den Hauptmann an. Das heißt, er will schreien, aber die Stimme blieb ihm zernichtet ganz tief im Hals. Ercole antwortet: »ich bin nicht verrückt. Ich sage: genug mit Dir! Fort! Du bist zu lange schon hier geduldet worden, schmutzige Bestie!« Das war gesprochen, Bandini, gesprochen . . . daß einem kalt wurde. Claudia fängt laut zu weinen an und Peretti . . . ja, das war jetzt nur ein Augenblick. Peretti faßt den Tisch, will hinüberspringen, sich auf Ercole werfen — da schleudert ihm der Hauptmann den Pokal ins Gesicht, mitten zwischen die Augen,. . . Peretti fällt wie ein geschlagener Ochse und liegt ohne Leben quer über der Tafel. Sie haben ihn forttragen müssen, Caligula und die andern.«
Bandini pfiff wieder. »Gut«, sagte er, »herrlich gut!« Er lachte schallend. Nach einer Weile setzte er hinzu: »Aber Ercole mag sich jetzt in acht nehmen.« Er schnalzte mit den Lippen. Dann fing er aufs neue an zu lachen. »Herrlich! Das hätte man mitansehen sollen.«
Lukas glühte vor Erregung. Der Mönch war in Arbeit versunken.
Bandini freute sich. »Schmutzige Bestie . . . das ist das Wort . . . das . . .«
»Still!« knurrte Rossellino, »der Hauptmann ist da!«
Die Glastüre wurde sachte geöffnet. Ercole da Moreno grüßte harmlos, ging zu seinem Lehnstuhl, ließ sich ruhig nieder und Giuseppe sprang herbei, um ihm Farben, Pinsel und Palette zu reichen.
Eine Weile verstrich. Draußen im Garten wurden durcheinandersprechende Stimmen laut und der kleine Giuseppe rief aus einer Ecke des Saales fröhlich: »Claudia kommt!«
Lukas schloß die Augen. Er sah sich auf der mondbeglänzten Terrasse, er fühlte heiß wie ehegestern, daß Claudia seiner wartete, daß er fort mußte, daß er nicht wisse, was sie denken werde, und sein Herz schlug ihm bis in die Schläfen. Er merkte nicht, daß der Mönch an seiner Seite aufgestanden und davongegangen war. Er hörte nur, wie Bandini ergötzt sagte: »Ob Peretti heute mit ihr ist? Was meinst Du, Ercole?«
Der Hauptmann antwortete nicht.
Claudia war allein. Nur der Mulatte Caligula hielt vor der Türe. Sie trug ein dunkles Gewand und einen dunkeln Mantel und sie hatte ein stilles, schüchternes Wesen, als sie sich Bandini näherte. »Laßt mich einen Augenblick hier sein«, sagte sie zu ihm, »ich brauche Eure Nähe . . . heute . . .«
Ihr Blick fiel auf Lukas, der sie flehend ansah. Da richtete sie sich stolz auf und eine zornige Strenge schloß ihr liebliches Gesicht fest und scharf zusammen. Verächtlich kehrte sie sich ab. Zwischen den Geräten, Statuen und Staffeleien schritt sie langsam hin und her, kam auf einem Umweg, scheinbar ohne Absicht, zum Armstuhl des Hauptmannes, stand dahinter still und flüsterte: »Mein Freund . . . mein Freund . . . er wird nie wieder zu mir kommen . . . Er hätte nie kommen dürfen . . . heute morgens hab’ ich ihm Botschaft gesendet, er soll sich nie wieder vor mir blicken lassen . . . hörst Du . . . mein Freund?«
Der Hauptmann lehnte sich zurück, sah zu Claudia auf und lächelte. Sie glitt an seine Seite und küßte ihn auf die rote Stirne, gerade dort hin, wo sein dichter Haarschopf schneeweiß aufloderte. Dann trat sie schnell von ihm weg.
An der Türe hielt sie inne, drehte den Kopf und blitzte Lukas zu: »Du dort!« sprach sie herrisch, »Dir hab’ ich ein Wort zu sagen.«
Lukas erhob sich, ging mit schweren Füßen hinter ihr drein und hörte, als er den Saal verließ, nur noch einen kurzen Pfiff Bandinis.
Claudia schritt durch den Hof in den Garten, ohne umzublicken, Lukas hinter ihr. Sie kamen an den andern vorbei. Filippo Volta sah von seiner Arbeit zu ihnen herüber. Der Mulatte Caligula folgte langsam von weitem.
In der dichtumrankten Pergola wandte sich Claudia so plötzlich um, daß Lukas in seinem Vorwärtstaumeln ihr fast an die Brust gesunken wäre.
»Du!« sie rief es in hohem Ton mit vernehmlich nachhauchendem Atem. Ihr Gesicht brannte vor dem seinen. »Du! Du hast mich verschmäht?«
Lukas sah die Unsicherheit unter dieser drohenden Miene. Nicht ihr Zorn, aber diese schmerzliche, mühsam verborgene Unsicherheit in ihren Augen und um ihre Mundwinkel erschütterte ihn. Er stürzte ins Knie, barg seinen Kopf in ihrem Schoß und weinte laut heraus, ohne Besinnung, hinströmend. Claudia bückte sich erschrocken, hielt ihm den Mund zu und flüsterte angstvoll: »Still doch! Um Gotteswillen! Kind . . . leise!«
Lukas bezwang sich, sein Rücken und seine Schultern bebten. Sie hob ihn auf: »Sprich jetzt«, sagte sie milder, zweifelnd, erstaunt. »Ich habe gewartet . . . warum bist Du nicht gekommen?«
Er sah sie mit verzerrten Mienen an. »Ich kann’s nicht sagen! Ich kann nicht!« Er war außer sich und sein Flüstern klang, als schreie er. »Ich kann’s nicht sagen . . . aber ich sterbe vor Liebe!«
Sie umschlang ihn. Er fühlte ihren Kuß auf seinen Lippen, hielt sie in seinen Armen und ihm schwanden die Sinne.
»Wann kommst Du?« fragte sie.
Er küßte ihre Schultern, ihren Hals und sagte ihr unter Küssen ins Ohr: »Heute . . . heute!« Sie entwand sich ihm, doch er ahnte an ihrer Bewegung das Nein, hielt sie fest und bettelte: »Heute . . . heute!«
Claudia löste sich sanft von ihm, lächelte ihn schmeichelnd an und sagte: »Heute nicht . . . heute kann es nicht sein . . . komm’ morgen.«
»Morgen?« seine Mienen verlöschten. »Morgen . . .«, er stammelte.
Sie beschwichtigte ihn: »Nun . . . dann übermorgen . . .« und ihre Augen betrachteten ihn mit Erstaunen, »übermorgen oder sonst . . . bald . . . leb’ wohl.« Sie öffnete das Gartenpförtchen in der Mauer und schlüpfte auf die Straße.
Lukas stand noch lange am selben Fleck. Der Mulatte Caligula ging vorbei, schielte ihn lauernd an, glitt durch das Pförtchen hinaus, Lukas bemerkte ihn nicht.
An diesem Abend waren sie in der Schenke beieinander, in welcher die Künstler aus Bandinis Werkstatt eine Stube für sich hatten, um miteinander zu zechen und sich zu vergnügen. Lukas ging rastlos in dem alten, dumpfen Gelaß auf und nieder. Es litt ihn nicht, still an einem Platz zu sitzen. Um ihn her war immer noch der Duft aus Claudias goldenen Haaren, und seine Sinne fühlten noch beständig die atmende Nähe ihres Leibes. Lukas war froh, daß er diesen Abend mit den anderen sein konnte. Er fühlte sich ihnen jetzt vertrauter als bisher, war ihnen näher und herzlicher verbunden, und das gab seinem fast schmerzlich starken Glücksgefühl eine lindernde Fröhlichkeit. Aber er vermochte es noch nicht, ruhig auf einem Fleck zu bleiben. Schlendernd umkreiste er den Tisch, glitt mit verhaltenem Tanzen die Wände entlang. Das Klirren der Becher, das Klimpern einer Laute war ihm angenehm. Auch der wirre Wechselklang lässiger Gespräche. Die bekannten Stimmen schlugen an sein Ohr, aber die Worte versanken in ihm, verschlungen von der bewegten Flut seiner Gedanken, spurlos, wie niederfallender Regen im strömenden Gewässer.
Seine unablässig arbeitenden Augen strichen über die Wände hin, von denen her ein seltsames Getümmel von Gestalten, Köpfen und Arabesken ihn anrief. Da waren Heilige und Dirnen, Könige und Narren, da ragten Berge, Kirchen und Paläste bunt nebeneinander. Unzüchtige Liebesszenen waren da, die Köpfe bekannter Männer und Frauen sprangen manchmal mit verblüffender Lebendigkeit hervor, als wollten sie sprechen, oder klebten dann wieder in komischer Verzerrung an der Mauertünche. Alles war da, was Laune, Übermut und Trunkenheit junger Künstler in Augenblicken der Vollkraft und des zügellosen Einfalls aus dem Handgelenk an die Wand schleudert. Lukas schaute in diesen stummen Tumult von Farben und Kohlenstrichen, entzückte sich an dem großen Zusammenklang so vielfältiger Wesenheiten, unterschied mit dem ganzen großen Vergnügen des Erkennens die Schriftarten, die ihm vertraut waren, bemerkte andere, die ihm fremd blieben und die wohl aus vergangenen Zeiten stammten. Die Faust in der Tasche, drehte er ein Stückchen Kohle zwischen den Fingern, angereizt von dem hundertfachen Beispiel, aber Schüchternheit hielt ihn immer wieder ab. Er war noch nicht so weit, wagte es noch nicht, sein geringes Können neben die Bravour der anderen zu setzen.
Er wollte weitergehen, rund um den Tisch herum. Da flog ein Wort zu ihm, das ihm durch Kopf und Herz schoß: »Der Erzherzog wird nicht warten . . . er reist heim . . . er wird nicht warten, bis Bandinis Bild fertig ist!«
Angewurzelt blieb Lukas stehen und lauschte. Filippo Volta hatte gesprochen und Rossellino erwiderte mürrisch: »Bandini ist in zwei Wochen fertig . . . es dauert nicht länger . . .«
Filippo Volta lachte liebenswürdig: »Und der Prinz reist in drei, vier Tagen . . . es dauert nicht länger!«
Lukas hielt sich selbst an den Händen fest, horchte, öffnete sein ganzes Wesen, wie einer sich wundervoll klingender Musik aufschließt.
Cosimo Rubinardo, der hier her kam, mengte sich ins Gespräch. Er redete mit Bescheidenheit und Würde, genau wie in der Zeit, da er noch reich gewesen und die Künstler freigebig mit Dukaten überschüttet hatte. Seine Verarmung trug er gleichmütig, sogar ein wenig stolz. Jetzt neigte er sich zu Rossellino und sagte: »Es ist ganz richtig, Pietro, der Erzherzog bleibt nicht mehr länger hier als drei oder vier Tage; man hat diesen Morgen bei Claudia davon gesprochen.«
Zuversicht brannte auf in Lukas, fegte durch seine Pulse, hob seine Brust, entschnürte ihm die Kehle wie von langem Druck, daß er jauchzen wollte. Er ging in einem kurzen, hüpfenden Wechselschritt umher: drei, vier Tage . . . meinetwegen fünf! Die Gedanken in ihm schrieen laut durcheinander, daß es in seinen Ohren brauste: drei, vier Tage und dann frei! Frei! Dann bin ich hier in Florenz, dann bin ich hier oder in Rom, wo ich will! Ah, wie leicht ist das gewesen . . . wie leicht! Wie töricht, daß ich so unglücklich war. Was hab’ ich denn gelitten? Gelitten? Gar nichts war es! Ein Spaß . . . ein Traum . . . drei oder vier Tage . . . dann bin ich wie die andern!
Er hörte die schöne, volle Stimme des Hauptmannes: »Nein, nicht nach Wien zurück . . . er fährt ins Reich . . . nach Worms, glaube ich, oder nach Augsburg . . .«
Lukas trat an den Tisch und ließ sich auf seinen Platz niederfallen. »Was ist das, Worms?« fragte er lachend.
Der Hauptmann blickte mit heiteren Augen zu ihm herüber. Lukas wiederholte wegwerfend: »Was ist das, Worms?« und er wölbte den Klang ins Komische. »Worms!. . . Florenz ist besser!« rief er aus.
Rossellini wiederholte eigensinnig: »In zwei Wochen ist Bandini mit dem Bild fertig.«
Ercole da Moreno sagte behaglich: »Dann freu’ ich mich auf das Fest.«
»Was für ein Fest?« schrie Lukas überlaut.
Der Hauptmann blickte ihn wieder an, heiter und erstaunt.
»Ein herrliches Fest, mein Sohn«, erklärte er und seine Lippen schienen unter dem weißen Schnurrbart zu schwelgen. »Bandini macht das immer, wenn er ein Werk vollendet hat. Das Haus steht offen von einem Morgen bis zum andern, Literaten sind da und halten Reden oder improvisieren Verse, noch viele andere Gaukler sind dabei, die ganze Stadt kommt herein; jeder, der will, kann ein Glas Wein trinken, hingehen und Bandinis Werk ansehen. Er aber sitzt mit uns zu Tisch, von einem Morgen bis zum andern, und wir haben ihn für uns allein. Ich freue mich!«
Lukas schlug auf den Tisch: »Recht so! Ich freue mich!« Er jauchzte. »Ich freue mich!« Alle lachten.
Ein schmaler, schwarzgekleideter Mann schlüpfte ins Zimmer. Daß er stark hinkte, sah man nur undeutlich, denn er ging nicht, sondern sprang und zappelte beständig. Er hatte ein ganz mageres Gesicht, das so gelb war, als sei ihm die Galle übergelaufen. Dichtes, eisengraues Haar wuchs ihm straff in die niedere Stirn; in seinen schwarzen Augen flackerte Ekstase und sein zahnloser Mund war ekstatisch geöffnet.
»Da ist sie!« rief er halblaut, »da bringe ich sie!« und er wies mit zappelnden Gebärden auf ein kleines Mädchen, das an der Türe stand. »Da bringe ich sie, die junge Marchesina, die Principessa Leonora . . . da steht sie vor der Schar erlauchter Meister, und ihr herrliches junges Leben beginnt.« Er sprach schnell in skandierendem Tonfall und fast leise, als rede er mit sich selbst. »Tritt vor, Leonora, tritt vor, Principessa!«
Das Mädchen kam unbefangen bis an den Tisch. Es mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt sein, hatte eine zart gegliederte Gestalt, deren jung ersprießende Formen sich unter dem dünnen Kleidchen verrieten. Ihr blasses Gesicht war wunderbar edel und drückte einen geheimnisvollen Stolz aus. Ernst ließ sie die schönen Augen von einem zum andern gehen.
Der magere Mann sprang und zappelte. »Erst die Betrachtung, die genaue Betrachtung . . . wer ein Künstler, wer ein Meister ist . . . wer schauen kann, der erkennt . . . Wer es noch nicht sieht, daß sie eine Excellenza ist, Leonora, eine Principessa, der erinnere sich, daß Zacco Zaccone sich niemals zu gemeinen Lustdirnen erniedrigt. Der denke daran, daß Zacco Zaccone die Lieblinge der Aphrodite erkennt, wenn sie noch in der Wiege liegen, ja wenn sie sich im Mutterleib zu regen beginnen . . . Man soll daran denken, daß Zacco Zaccone die Superba erzogen hat, die den König von Neapel zu ihrem Sklaven machte, daran denken, daß er Vittoria entdeckt hat, die in Rom von Kardinälen, von Nepoten und von deutschen Fürsten geliebt wird, und daß er Euch die Claudia gegeben, die jetzt in Florenz funkelt wie ein Edelstein! Komm’ Principessa Leonora«, rief er, setzte die kleine Geige an, die er in der Hand geschwenkt hatte, und begann zu spielen.
Rossellino und Filippo Volta schoben den Tisch zur Seite, Lukas machte Platz und kam dicht neben dem Hauptmann zu sitzen.
Die kleine Geige gab einen starken, fast menschlich singenden Ton. Zacco Zaccone spielte eine feierliche Melodie und in dem freien Raum, wo der Tisch gestanden, begann das Mädchen zu tanzen, langsam, mit ergreifender Anmut, das stolze, blasse Gesicht erhoben.
Zacco Zaccone brach ab, stürzte sich auf das Mädchen und, um sie herumzappelnd, entkleidete er sie mit kurzen, schnellen Griffen. »Sie kann gemalt werden . . . man kann sie in Bronze und in Silber ziselieren«, sprach er dabei, während der junge, weiße Leib nach und nach leuchtend aus den Kleidern sich löste, »in Silber oder in Elfenbein . . . sie ist selber aus Elfenbein . . . Eleonore . . . man kann sie als Heilige malen, als einen Engel Gottes . . . als junge Nymphe . . .« Er hielt einen Augenblick inne und wies die kleinen, hohen Brüste des Mädchens,». . . sie taugt zur Psyche, oder zur Artemis . . . man kann sie malen und man kann sie lieben«, fuhr er fort, während er am Boden hockend das Kleid unter den Füßen des Mädchens wegraffte. Sie stand ruhig und nackt vor den Männern. »Man kann sie lieben, so wie sie ist, kann sich an ihr berauschen, denn es ist so viel Glut in ihr, daß mir die Finger versengt werden, mit denen ich sie berühre . . .«
Er sprang empor und ergriff die Geige. »Komm’, Leonora . . . sie wird sein wie die Superba . . . sie wird sein wie die stolze Vittoria . . . sie wird sein wie Claudia . . . von heute an! Heute beginnt ihr junges von allen Göttern bekränztes Leben . . .!« Die aufklingende Geige nahm seine Worte weg, aber er schien weiter zu flüstern, während er spielte.
Leonora tanzte, die Männer saßen im Halbkreis um sie her, schwiegen, schauten und tranken.
Leonora tanzte in sanften und milden Bewegungen, langsam, spielend, nachdenklich. Ihr schmaler Leib, der aussah, als sei er eben in dieser Sekunde erst erschaffen worden, und der sich in anmutig stolzer Kraft bog, der sich dehnte in vieldeutigen Gebärden, schien ebenso wie der festverschlossene Mund mehr zu wissen als ihre Augen. Und ihre Augen wieder, die ruhig vor sich hinschauten, schienen mehr zu wissen, als ihre Seele, von der ein milder Abglanz das edle Kindergesicht überbreitete.
Rossellino neigte sich zum Hauptmann und flüsterte mit rauhem Atem: »Herrlich!«
Lukas hörte, wie Ercole da Moreno ruhig entgegnete: »Ja . . . sie muß einmal sehr schön gewesen sein . . .«
Verblüfft blickte er den Hauptmann von der Seite an, wandte sich zu Filippo Volta und fragte leise: »Was meint er?«
Filippo lächelte verbindlich: »Ach . . . das ist so mit Ercole . . . weißt Du es nicht?«
Zacco Zaccone half der kleinen Leonora sich ankleiden. »Wir kommen wieder«, sagte er zappelnd, »wir kommen wieder . . . man wird uns rufen, man wird von uns träumen . . . wird sich nach uns sehnen . . .«
Filippo Volta unterbrach ihn: »In zwei Wochen ist Bandinis Bild fertig, dann haben wir das Fest.«
Zacco Zaccone lachte kichernd: »In zwei Wochen sind wir längst berühmt . . . in zwei Wochen ist es schon so hell um uns her wie zwei Minuten vor Sonnenaufgang . . . aber wir kommen . . . denn Euer Fest würde kein Fest sein, wenn wir nicht dabei wären . . .«
Er ging mit dem Mädchen. Ohne jemanden anzuschauen, schritt Leonora hinaus.
Rossellino und Volta rückten den Tisch wieder heran, und sie tranken.
»Ich werde eine kleine Statue nach ihr machen«, sagte Rossellino vor sich hin. Er war dunkelrot im Gesicht und zog den Kopf nachdenklich zwischen die Schultern, »eine kleine Statue aus Silber.«
Da begann der Hauptmann zu singen. Er saß aufrecht da, hielt die eine Hand am Becher, sein weißes Haar flammte über der schönen Stirne hoch empor, und seine Stimme erhellte das Gemach:
»Herr, laß’ mich lange leben,
Laß’ mich auf Erden sein,
Sollst Gnade mir erweisen,
Denn nicht die Toten preisen
Dich Herr! Herrgott — Dich preisen
Die Lebenden allein!«
Die anderen lehnten weit zurück, auf ihren Sitzen, blickten zur Decke, als schauten sie dem Gesang nach, der entschwebte. Sie waren von Andacht erfüllt und vom starken Rhythmus des Liedes freudig durchpocht. Lukas atmete tief: in drei, vier Tagen! dachte er.
Dann brachen sie auf.
Draußen lag voller Mondschein über dem weiten Platz. Sie gingen dicht beisammen, der Hauptmann in ihrer Mitte, als sich plötzlich aus tiefem Mauerschatten drei Männer lösten, und rasch herankamen. Sie schienen trunken und in ihrer Trunkenheit ungeschickt, der Gruppe auszuweichen. Alles geschah nun so schnell, daß niemand wußte, was geschah. In heftigem Anprall auseinandergestoßen, erkannten sie jetzt erst, daß die Männer vermummt waren, griffen rasch an ihre Degen und Dolche, aber da brach auch schon der Hauptmann mit einem erstickten Ächzen schwer zusammen, und wie weggefegt verschwanden die drei Männer in der Finsternis eines kleinen Gäßchens. Man sah nichts mehr von ihnen, hörte nicht einmal mehr das Geräusch ihrer Schritte.
Ercole da Moreno lag mit dem Gesicht auf den weißen, mondbeglänzten Steinen.
Sprachlos wie die andern, starrte Lukas zu ihm nieder, sah, daß der Hauptmann mit den Armen Bewegungen machte, die unheimlich und töricht zugleich schienen, sah seine Beine zucken und wurde von einem plötzlichen Entsetzen befallen, in welchem die Erinnerung an die zuckenden Beine geschlachteter Tiere wühlte. Sie drehten den Gefallenen um und merkten, daß er schon in einer breiten Blutlache lag, die sich ihm unter der Brust blasig gesammelt hatte, und daß sein Gesicht besudelt war von dem Blut, welches drängend seinem Mund entquoll.
Die andern schrieen und lärmten. Cosimo Rubinardo brach in lautes Weinen aus. Rossellino brüllte rasend vor Wut: »Das ist von Peretti!«
Lukas starrte auf den Toten. Der schien ihm mit dem entfärbten, befleckten Antlitz, mit den gebrochenen, zum Mond emporgerichteten Augen freilich noch irgendwie einem geliebten Freund zu gleichen und war ihm doch plötzlich so fremd, als erblickte er ihn jetzt zum erstenmal.
Unruhig schlich der Hund auf dem Hof des Palastes umher. Im Stall, auf den Treppen, überall herrschte Geschäftigkeit. Es war früh am Morgen. Diener liefen und schrieen einander an, die Pferdeknechte putzten Geschirr und Riemzeug und der Hund, der durch alle Gemächer geschlichen war, hatte seinen Herrn nirgends gefunden.
Graf Waltersburg hatte gelacht, als der Hund zu ihm in das Zimmer gekommen war, und hatte ihn hinausgejagt. Herr Pointner, dem der Hund in einem Vorsaal begegnete und ihn fragend anlief, gab ihm einen Fußtritt.
Jetzt schlich er ratlos im Hof umher, rannte zum Garten, witterte vor sich hin, sprang in den Flur, schnupperte die Treppe hinauf und kam wieder zum Stall.
Kaspar, der junge Pferdeknecht, erblickte ihn, sah ihm lachend eine Weile zu und redete ihn zuletzt an: »Na, Kambyses, suchst Deinen Herrn?«
Der Hund kam heran und wedelte.
»Mußt eben warten«, Kaspar bückte sich und streichelte ihn. »Ja, mein Lieber . . . heut’ macht’s Dein Herr grad so, wie Du es immer machst . . . fort! Ja, ja, der Herr ist fort, sich unterhalten, wie der Kambyses . . . hat eine Allerliebste und ist die Nacht bei ihr . . . ja, schau mich nur an, Kambyses . . . glaubst vielleicht, nur die Hunde tun so was? Oh nein, mein Lieber, wir Menschen haben auch ein Herz.« Kaspar lachte.
Plötzlich spitzte der Hund die Ohren und jagte in hohen Sprüngen über den Hof. Durch den Flur, von der Straße her, kamen schwere Schritte im Takt. Eine dicht verhängte Sänfte wurde hereingetragen, aber der Hund wußte sogleich, daß sein Herr darin sei.
Vor der Treppe stellten sie die Sänfte nieder, der Erzherzog stieg heraus. Der Hund folgte ihm. Er lag dann am Boden dabei, während man das Frühstück brachte; der Erzherzog aß allein, rasch und voll Hunger.
Herr Pointner trat ein, blieb an der Türe stehen und räusperte sich.
»Was gibt’s, Pointner?«
»Vielleicht kommen kaiserliche Hoheit in den Saal hinüber . . .«
»Warum? Ich bin müde; will ein paar Stunden schlafen.«
»Nur im Vorbeigehen . . . ein Spaß.«
Der Erzherzog stand auf. Pointner zeigte den Weg. »Es ist eine Katze drüben, im Marmorsaal. Ich habe alle Stühle hinaustragen lassen und die Türen verschlossen. Die eine Tür ist vergittert, da kann man alles sehen . . .«
»Was denn sehen . . .?«
»Nun, wenn der Kambyses die Katz’ hetzt. Entwischen kann sie nicht. Er wird sie hetzen und abwürgen.«
Der Erzherzog wandte sich zu Kambyses. »Huß Katze . . . wo ist die Katz’?«
Sie waren an der Gittertür, Pointner öffnete, stieß den Hund hinein: »Huß! Huß!«
In dem leeren, schimmernd weißen Saal strich eine schwarz und grau getigerte Katze die Wand entlang. Als der Hund hereinfuhr, blieb sie stehen, zog den Rücken hoch im Bogen und fauchte.
Von der Türe riefen zwei Stimmen: »Faß! Hetz! Faß an!«
Der Hund lief, die Katze fegte vor ihm her in methodischen Sätzen, suchte überall, ob sie nicht irgendwo entwischen, irgendwo emporklettern könne. Die glatten Wände gaben ihr keine Hoffnung. Die Fensterbrüstung erklomm sie mit einem Sprung, wie aber der Hund vor ihr stand, blies sie ihn an, benützte die Sekunde, die er zurückwich, und setzte über ihn hinweg in den Saal hinein. Nun jagte sie der Hund vor sich her, überrannte sie, daß sie sich kugelte, zog Kreise, die ihr Zeit ließen, sich aufzurappeln, und stob dann wieder wedelnd hinter ihr drein, als ob er ihr raten wollte: lauf noch ein bißchen.
Der Erzherzog sagte: »Der tut ihr nichts. Der spielt ja.«
»Bestie!« schrie Pointner empört. »Huß! Huß!«
Er hörte nicht auf zu brüllen, und von dem Geschrei erregt sauste der Hund hinter der Katze drein, trieb sie im Kreis umher, aber wie nah sie ihm auch war, er schnappte nicht zu, kein einziges Mal, hielt den Kopf hoch über ihr, als hemme ihn Mitleid oder Ekel.
»Wirst Du sie fassen . . . faß doch zu, Du Luder . . . wart, ich zeig’s Dir!« tobte Pointner.
Da machte die Katze plötzlich kehrt, stand vor dem überraschten Hund, bäumte sich und schlug ihm die Krallen ins Gesicht, daß er aufheulend zurückprallte, und, die Nase am Boden, davonlief.
»Genug«, hörte er den Erzherzog sagen, hörte die Klinke sich bewegen und, wie die Türe sich nur in kleinem Spalt öffnete, warf er sich mit einem Ruck dagegen, drückte sie auf und stob hinaus, mitten durch die Beine des Herrn Pointner, der zur Seite taumelte.
Der Erzherzog wies auf die Tropfen am Boden, die über den Vorplatz und die Treppe hinab eine rote Spur hinter dem Hund zogen. »Er blutet.«
»Laß’ bluten!« murmelte Pointner.
Die Werkstatt war leer, als Lukas eintrat. Nur Bandini stand vor seiner Staffelei und er, der sonst von der Arbeit nicht aufsah, fuhr jetzt zusammen.
»Weißt Du etwas?« rief er Lukas entgegen.
Aber Lukas war am verflossenen Tag der menschlichen Gemeinschaft entrissen gewesen, durfte erst seit Mitternacht wieder er selbst sein und wußte nichts.
Bandini warf die Palette fort. Unruhig begann er im Saal zwischen den Möbeln und Staffeleien hin und her zu gehen und legte die Hand an die Stirn, als habe er Kopfschmerz.
Langsam trat er zu Lukas. »Du hast also auch etwas abbekommen?« fragte er. Erstaunt hob Lukas den Blick. Bandini wies auf die Schramme, die breit und rot über Lukas’ Stirne bis in die Augenbraue lief. Lukas wurde blaß, griff hastig nach der frischverharschten Wunde und stammelte: »Nein . . . das ist nicht . . . von dort.«
Bandini kehrte sich weg, ohne auf ihn zu achten, er ging umher, blieb stehen und ging wieder weiter.
»Sie suchen ihn . . .«, sagte er, »sie suchen ihn überall . . . sie werden nicht ablassen, bis sie ihn erwischen . . . sie werden keine Ruhe geben . . . bis sie ihn haben . . .«
Lukas schämte sich zu fragen.
Bandini blieb plötzlich stehen, spähte in alle Winkel und sagte zornig: »Gott weiß, wo er sein mag . . . der Schuft hält sich gewiß gut versteckt . . .«
Nach und nach entzifferte sich für Lukas der Zusammenhang. Peretti war verschwunden, sein Palast verschlossen, die Dienerschaft mit dem Grafen auf und davon und niemand zurückgeblieben als der Pförtner. Nun lag es am Tage, was ohnehin alle gleich gewußt hatten: die Mörder Ercoles waren von Peretti gedungen. Seit gestern suchte man Peretti. Filippo Volta suchte ihn, Pietro Rossellino, Cosimo Rubinardo und noch viele, viele andere. Die Werkstätten der Maler, der Bildhauer und Goldschmiede in Florenz standen leer, seit dem gestrigen Morgen, alle waren auf der Jagd nach Peretti, um ihn zu fangen, um ihn, wenn es möglich war, auf der Stelle niederzuschlagen, oder ihn zu beschleichen, ihn fest zu machen, ihn nicht aus dem Aug’ zu lassen, bis Hilfe kam, ihn und seine Spießgesellen zu überwältigen. Sie sprengten zu Pferd auf allen Landstraßen, sie pürschten auf allen Fußwegen durch die Wälder und Täler, befragten die Bauern, spähten in Schlösser, spionierten in Klöstern und etliche von ihnen bewachten hier in der Stadt die Paläste derjenigen, die als Perettis Freunde galten.
Bandini ging weiter im Saal kreuz und quer. Dann blieb er vor dem breiten Lehnstuhl Ercoles stehen und betrachtete lange die kleine, holde Madonna auf der Staffelei. Seine Hand fuhr einmal über den Samt der Stuhllehne. Dann schüttelte Bandini den Kopf und wandte sich weg.
»Abends werden sie alle da sein«, sagte er.
»Warum?« fragte Lukas.
»Nun, wenn wir ihn begraben, werden sie doch kommen.« Es klang wie eine Zurechtweisung.
»Wo?« Lukas erkundigte sich zaghaft, »wo wird er begraben?«
Bandini blickte erstaunt zu ihm hinüber: »Weißt Du es nicht? Oben in Fiesole . . . in der Kathedrale . . .«
»Ach ja«, stieß Lukas hervor, als habe er nur eben daran vergessen, aber es kam wie gehaucht und war nicht zu hören.
Bandini trat vor seine Staffelei, begann zu malen, zerstreut, abwesend, ohne Entschluß. Sein Pinsel strichelte bald da, bald dort an dem Bild herum. Dann legte Bandini wieder alles beiseite, ging zu Ercoles Platz, setzte sich in den Lehnstuhl und blieb lange still.
Auch Lukas verhielt sich ruhig, hatte die Hände müßig auf den Knien und schaute ins Leere. Alles, was geschehen war, sauste schwer und verworren durch sein Denken.
»Oh!« ein kleiner, verwunderter Ausruf Bandinis weckte ihn auf. Bandini hatte sich aus Ercoles Lehnstuhl erhoben und mit einem Klapps gegen die Stirne »Oh« gerufen. Nun ging er zu einem der hohen, geschnitzten Schränke, entriegelte ihn und nahm ein kleines Bild heraus. Lukas sah das Gold des Rahmens aufblitzen.
»Komm’ her, mein Sohn . . .«
Lukas sprang zu Bandini, der das kleine Bild in den Händen hatte. »Das muß zum Erzherzog in den Palast. Aber ich mag heute nicht selber gehen.« Bandini wiederholte ungeduldig. »Ich mag nicht . . . mag mit niemandem reden heute!« Er wurde wieder gelassen. »Nur . . . ich hab’ es dem Erzherzog für heute versprochen und will nicht, daß er wartet. Er reist in drei Tagen . . .«
Lukas erbebte vor Freude. Da hörte er es wieder und jetzt war es Gewißheit: in drei Tagen!
»Geh’ Du«, fuhr Bandini fort, »gib das Bild dem Erzherzog oder dem Grafen oder sonst wem. Bestelle von mir, ich sei nicht wohl . . . verstehst Du?«
Lukas nahm das Bild aus seinen Händen und zuckte erstaunt. Es war das Antlitz Claudias, rasch und leicht gemalt, in köstlich dünnen Farben und so lebendig, als könne sie alles hören, was gesprochen wurde.
Um Bandinis Lippen schwebte der Schimmer eines flüchtigen Lächelns, als Lukas so entzückt in den Antlitz des Bildes versank.
»Schlag’ ein Tuch drüber«, sagte er freundlich, »und geh’.«
Im weiten, hallenden Flur des Palastes konnte Lukas nicht widerstehen, trat unter den offenen Bogen und sah nach dem Hof hinaus, der weiß von der Sonne beglänzt vor ihm lag. Dort drüben standen die Stalltüren auf, die Knechte sprachen miteinander, die Pferde stampften und schnaubten.
Lukas kehrte sich ab und stieg die Treppe hinan, kam durch ein paar Gemächer, ging durch Türen, Zimmer, Korridore, die ihm vertraut waren und gewahrte überall, an dem geschäftigen Treiben der Lakaien, an Truhen, die gepackt wurden, die Zurüstungen der Abreise. Man wies ihn an Ugolino Corsini, den er an einem mit Büchern bedeckten Tisch traf. Ugolino nahm das Bild, bestaunte es mit Verblüfftheit, und hörte dann, das pausbackige verblüffte Gesicht zu Lukas gewendet, wortlos an, daß Bandini nicht wohl sei und nicht selber kommen könne, Seiner kaiserlichen Hoheit aufzuwarten.
Lukas ging, strich sorglos und seines Weges nicht achtend durch die Gemächer und stand sich plötzlich in dem leeren weiten Saal, in welchem tags zuvor die Katze gehetzt worden war. Ein heftiges Unbehagen ergriff ihn. Er sah die vergitterte Türe am andern Ende des Saales, lief darauf zu, von Angst befallen, hinter diesem Gitter zwei bekannte Gestalten erscheinen zu sehen, wilde, herrische Rufe zu hören. Er griff unwillkürlich an die Stirne, berührte die Schramme über seinem Auge, die ihn jetzt mit einem Mal zu brennen anfing, und riß die Türe auf, um zu flüchten.
Da fand er sich, auf dem Vorplatz draußen, plötzlich Herrn Pointner gegenüber, der eben in den Saal herein wollte. Ein furchtbarer Zorn schoß in ihm auf, wortlos hob er die Faust und schlug Herrn Pointner ins Gesicht, dann setzte er an dem zur Wand Taumelnden vorbei, sah im Sprung nur, wie dem dicken Mann das Blut aus der Nase quoll, und war schon die Treppen hinunter, ehe ihn noch ein Schrei des Betroffenen erreichen konnte.
Als er zum Tor hinausging, wiegte er sich in den Hüften, federte auf den Fußspitzen, als wolle er tanzen. Den Hieb, den er geführt hatte, hielt er mit all seiner Kraft in der immer noch geballten Faust wie ein Glück. Er lachte, atmete frei und lachte wieder.
Auf der Brücke blieb er stehen, überschaute mit fröhlichen Augen die Stadt, die hier, vom Fluß entzweigespalten, weit geöffnet vor ihm lag und hatte wieder das trunkene Gefühl, jetzt sei das ganze Leben sein Eigentum. Er überlegte, wo er nun bis zum Abend hin sollte, zuckte unter einem kühnen Gedanken zusammen und lief weiter.
Vor Claudias Haus regte er schnell den Türklopfer, in Angst, daß jedes Zaudern seinen Mut schwächen könne. Der Mulatte Caligula öffnete, schielte ihn erstaunt an und machte Miene, ihm den Eintritt zu weigern. Aber Lukas drängte an ihm vorbei, erspähte Peppina und rief sie an. Sie kam ihm mit ihren kleinen Schritten entgegen, lächelte, als wisse sie alles und führte ihn durch einen langen Korridor in den Garten. Caligula schaute ihnen feindselig nach.
Als Claudias blaue, dunkelblitzende Augen auf ihm ruhten, fragend sein Gesicht durchforschten, war die Zuversicht in Lukas wieder verlöscht. Der Rausch, mit dem ihn Claudias Nähe erfüllte, umfing ihn stärker als je. Sein Denken und seine Fassung schwanden hin, er haschte nach ihnen, und erschöpfte sich in Versuchen, wenigstens sein Sprechen zu meistern.
»Du kommst also, wann es Dir beliebt?« sagte Claudia. In ihrer Stimme war Erstaunen und Neugier und ein Hochmut, der beides verbergen sollte.
»Ich komme . . . ich komme . . .«, stammelte Lukas, »wenn es mir vergönnt ist . . .«
Sie gingen auf den gelben, feinen Sand der engen Wege, nah nebeneinander. Die Magnolien hielten auf kahlen Zweigen ihre großen Blüten, grüne Taxushecken waren Wände, die vor der Welt behüteten, Pinienwipfel ruhten stillgebreitet über ihnen und im Rasen standen blühende Hyazinthenbeete.
»Alle sind fort«, redete Claudia, »alle suchen Peretti, diese Kanaille! Wenn sie ihn nur finden würden. Ich wollte, er wäre tot . . . ich wollte, ich hätte ihn von Caligula erwürgen lassen . . . oder ich wollte«, sie sprach mit ruhiger Erbitterung, »ich wollte, Ercole hätte ihn erschlagen, damals, bei Tisch.«
Sie wandte ihr Antlitz zu Lukas: »Aber es ist nicht recht, daß alle fort sind, daß keiner an mich denkt. Nicht einer ist zu mir gekommen, weder gestern noch heute. Sogar Cosimo hat mich allein lassen . . . nur Du bist da . . .« Sie lächelte zum zweitenmal.
Lukas hob die Arme. Sie achtete nicht darauf »Oh, mein Ercole . . .«, sagte sie schwer, ». . . mein armer Ercole . . . mein Freund!. . . mein Freund . . .!« Sie senkte das Haupt und wiederholte noch einmal flüsternd: »Mein Freund . . .«
»Claudia . . .«, Lukas sprach leise.
»Ja,. . . Du . . .«, sie sah ihn an. »Du bist da . . . aber nicht wegen Ercole. Was weißt Du von Ercole? Warum bist Du gekommen . . . warum heute? Warum jetzt?«
»Ich liebe Dich . . .«, er verstummte, die Stimme versagte ihm.
Claudia nickte. »Du liebst mich . . .«, sie nickte, kaum merklich, wieder und wieder. »Du liebst mich . . .«
Als er entmutigt dastand, faßte sie ihn plötzlich an der Schulter: ». . . und hast mich warten lassen . . . hast mich verschmäht . . . die ganze Nacht warten lassen . . .«
Lukas schlug die Augen nieder. Bleich, die Hände ineinandergepreßt, ohne Atem, redete er: »Niemand weiß, was ich gelitten habe, niemand weiß, was ich leide . . . Wenn ich reich wäre wie die andern . . .«
»Still«, sagte Claudia sanft, »wenn Du reich wärst . . . dann könntest Du nicht so blaß werden wie jetzt, dann wäre in Deinen Mienen nicht so viel Andacht, in Deinen Augen nicht so viel Sehnsucht.«
Sie legte den Arm um seine Schulter und küßte ihn.
Dann gingen sie ins Haus. Über die Terrasse, von der Lukas an jenem Abend verzweifelt im Mondlicht sich weggestohlen hatte, gingen in das Zimmer, aus dem er fortgeschlichen war.
Es war tiefer Abend, da Lukas das Haus der Claudia verließ, durch die Straßen eilte, zum Tor hinaus, den Weg nach Fiesole zu erreichen. Er ging rasch, wie er aus der Stadt kam, überholte andere Männer, die er im ungewissen Schein des schwächer werdenden Mondes nicht erkannte, und wurde, noch ehe er zur Badia gekommen war, von zwei Reitern überholt, die ihn anriefen. Es war Filippo Volta und Rossellino. »Sitz’ auf«, lud ihn Filippo Volta zu sich. Lukas schwang sich hinter Filippo auf das Pferd. So langten sie oben an.
Inmitten der Kathedrale, die bis zum Gewölbe hinauf von Fackeln und Kerzen erleuchtet und vom eintönigen Gesang der Franziskaner durchhallt war, ragte der schwarze Stufenbau des Katafalks so hoch empor, daß sie vom Sarg nur die nach unten abschrägenden Wände sahen, die jetzt den toten Hauptmann umfingen. Aber dort oben, am Kopfende loderte schneeweiß Ercoles Haarbusch über den Sarg hinaus. Lukas wurde plötzlich von einem tiefen Schmerz durchrissen, als er aufblickend diesen starren, weißen Schopf gewahrte.
Bandini war hereingekommen, Rossellino, viele andere junge Männer kamen, die Lukas nicht kannte oder die er nur flüchtig irgendwo gesehen hatte, Künstler und alte Offiziere. Sie nickten einander zu, traten heran, bildeten einen Kreis um den Katafalk und standen da, mit ernsten Mienen, manche hatten grimmig die Lippen geschlossen, manche atmeten schwer, in Erregung.
Hinter ihnen, zu beiden Seiten in den Bänken knieten Franziskanermönche und sangen. Hart und tragisch rollten die Klänge durch das Gestein der Kirche.
Lukas stand in der Reihe der Kameraden, blickte zum Katafalk empor, dorthin, wo die weiße Locke den Kopfrand des Sarges überflammte.
Plötzlich ging es wie ein Ruck durch den Kreis. Sie griffen jeder nach dem Degen, stemmten ihn, alle mit einer einzigen Bewegung, vor sich hin, hielten die Hände mit den Hüten um den Knauf, Bandinis Stimme erklang, und alle fielen ein:
»Herr, laß’ mich lange leben . . .«
Der Gesang durchbrach die Litanei der Mönche, die augenblicklich verstummten. Freischwebend in seinem edlen Jubel stieg das Lied empor und umbrauste mit seinem lebensstarken Rhythmus den toten Freund.
Lukas sah, daß die weiße Locke dort oben bebte.
Als Lukas in die Werkstatt trat, war Graf Waltersburg da und redete mit Bandini. »Morgen ist unser letzter Tag hier«, sagte er, »wir reisen übermorgen, am frühen Mittag. Könnt Ihr bis morgen nicht fertig sein?«
Lukas hielt sich an der Stuhllehne fest und lauschte zu den beiden hinüber. Bandini zuckte die Achseln: »Ich brauche noch zwei Wochen oder drei.«
Waltersburg klopfte ungeduldig mit der Fußspitze den Boden.
»Schlimm . . . sehr schlimm.«
Bandini redete langsam weiter: »Ich bin auch gar nicht gelaunt, zu arbeiten, ich finde keine Ruhe. Diese Geschichte mit dem Hauptmann, Ihr wißt, Herr Graf, das liegt mir auf der Brust.«
»Teufel!« rief Waltersburg. »Was für Menschen gibt es hier! Da hat jetzt ein Bursche dem Kammerdiener unseres gnädigen Herrn ins Gesicht geschlagen . . . mit der Faust ins Gesicht . . . Denkt nur, am hellen Tag, im Palast . . . vor zwei Tagen.«
Bandini lächelte. »Ja, man muß die Leute hier zu behandeln verstehen; sie brausen leicht auf.«
»Aber nein«, Waltersburg sprach mit höflicher Verwunderung, »Pointner kannte den Burschen gar nicht, hat nie eine Silbe mit ihm geredet. Der Bursche hat ihn mit furchtbarem Zorn angefunkelt, wie der Pointner sich ausdrückt, und ihm dann mit der Faust ins Gesicht geschlagen, ohne ein Wort!. . .«
»Und der Bursche — was ist mit ihm geschehen?« fragte Bandini.
»Nichts.« Waltersburgs Stimme wurde immer höher. »Weg war er, als hätte ihn der Erdboden verschlungen. Ein Unglück für den Pointner die ganze Sache. Ein rechtes Unglück. Er liegt jetzt schwer darnieder, und weiß Gott, ob er je wieder aufsteht . . .«
»So hart getroffen?«
»Gar nicht.« Waltersburg war ganz Bedauern, Leutseligkeit und Erstaunen. »Der Faustschlag allein hat dem guten Pointner nicht viel Schaden getan. Was das betrifft, er hält schon was aus. Aber der Schreck ist ihm in die Nieren gefahren, die Angst sitzt ihm in der Leber und das kalte Fieber schüttelt ihn.«
»Angst?« lächelte Bandini, »hinterher noch Angst?«
Waltersburg hob ratlos die Achsel: »Das ist es eben. Der Pointner glaubt, die Sache mit dem Burschen sei nur ein Anfang gewesen. Er bildet sich ein, er habe hier heimliche Feinde, die ihm nach dem Leben trachten. Er liegt zu Bett, hat Schüttelfrost, daß ihm die Zähne klappern. Man sollte es nicht für möglich halten, daß ein Mensch in der Kraft wie der Pointner von heute auf morgen so schrecklich verfallen kann. Die Ärzte geben nicht viel Hoffnung. Der Mann ist mitten entzwei gebrochen.«
Lukas schlich davon. Durch das Hinterpförtchen, durch das der Mönch immer sich entfernte, wenn Claudia kam, trat er leise in den Garten, stahl sich von dort auf die Straße und begann ziellos zu schlendern. Er konnte jetzt nicht arbeiten, konnte nicht in der Werkstatt bleiben. Unruhe war in ihm. Nur einen Augenblick dachte er an den hingestreckten Pointner, doch ohne jede Reue. Dann warf er die Erinnerung an ihn als etwas Nichtiges beiseite und schnippte dazu mit den Fingern.
»Morgen noch einmal«, sagte er im Weiterschreiten vor sich hin.
»Morgen noch einmal die Verwandlung erdulden . . . ein einziges Mal noch und dann frei!« Aber keine Freude stürmte dabei in ihm hervor, nur eine große Unruhe, die wuchs und drängte, so sehr, daß sie ihn beklommen machte.
Er verhielt den Schritt und überlegte, ob er in die Werkstatt zurück sollte. Ihm stand der Sinn nach der Nähe von Menschen, das Alleinsein drückte ihn hart. Doch er wollte nicht in die Werkstatt; sie konnte ihm heute nicht helfen. Dort sprach der leere Lehnstuhl vor dem kleinen Madonnenbild vom Tod des Hauptmannes, sprachen die verlassenen Plätze der andern von der Jagd nach dem Mörder. Auch fühlte Lukas, daß er zur Arbeit unfähig sei. Der Tag heute war zu nah an die Entscheidung gerückt, war zu sehr erfüllt vom ungeduldigen Erwarten, als daß es möglich gewesen wäre, zu arbeiten. Und Bandinis Nähe bot heute keine Stütze. Lukas ersehnte einen Menschen, zu dem er vertraulich sein durfte. Von Bandini hielt ihn die Ehrfurcht zu weit entfernt.
Ganz von selbst kam er an das Haus der Claudia. Der Mulatte Caligula öffnete und sein wulstiger Mund grinste breit, als er Bescheid gab: »Fort . . . die Herrin ist fort.«
»Wohin?« Lukas schrie auf vor Enttäuschung.
Caligula lachte, daß an seinem ungeheuren Leib das weiche Fett zitterte. »Hat mir nicht gesagt, wohin.«
Lukas wollte wieder an ihm vorbei, aber Caligula hielt ihn an der Schulter und Lukas fühlte, daß der Griff dieser weichen Finger, deren Kälte ihm durch den Rock drang, wie Eisen klammerte. Im selben Moment aber fühlte er auch, daß Caligula die Wahrheit gesagt hatte und das Haus leer sei. Dennoch hob er wie rasend die Faust und zischte dem Mulatten zu: »Hand weg, Schuft . . . oder!« Caligula verzog den Mund und blinzelte, als sei er schon geschlagen, und ließ ihn frei. Lukas schritt durch den Flur und rief nach Peppina. Sie kam, mit einer Miene, als hätte sie alles vorher gewußt, und mit einem verhaltenen Lächeln, als könne sie nicht sagen, was sie wüßte, gab sie Auskunft. Claudia war nach Poggio a Cajano gefahren. Mit dem österreichischen Prinzen und den anderen Herren. Dort sollte getafelt werden. Ja, ganz recht, in dem Sommerschloß, das sonst immer leer stand. Sie würde wohl erst spät nachts heimkommen oder gar erst morgen.
Sie waren unterdessen in den Garten getreten, Lukas und Peppina. Der Mulatte folgte ihnen von weitem. Lukas ging zu der kleinen Terrasse hinauf; die Tür zu Claudias Zimmer stand offen. Er blieb auf den schwarzweißen Steinfliesen, zwischen den beiden Azalien, die den steinernen Vasen entblühten, er vergaß Peppina, die mit vielsagendem Lächeln an seiner Seite war, bemerkte den Mulatten nicht, der ihn von der Taxushecke her belauerte. Er blickte im Garten umher, blickte in Claudias Zimmer. Alles kam ihm nun verödet vor und so sinnlos, wie eine Theaterkulisse, wenn das Stück zu Ende ist.
Der Himmel hatte sich grau umdunstet, das Licht des Tages war fahl und trübselig geworden. Eine große Bangigkeit überbreitete Lukas dichter und dichter wie mit grauen Schleiern und duckte seine Seele. Er mußte jetzt einen Menschen haben, er glaubte, zu sterben, wenn er allein blieb. Schweigend ging er davon.
Durch das laute Treiben der Straßen wandelte er, eingehüllt in seine Bangigkeit, vermummt von Schwermut, und das Leben, das sich hier regte, erreichte ihn nicht wie sonst, zog ihn nicht wie sonst in seinen Kreis. Das Verlangen nach einem Menschen trieb ihn zur Eile, aber seine Schritte waren wie gefesselt. Als er den weiten Platz vor dem Kloster San Marco überquerte, gedachte er des Hauptmannes, der hier zu Tode getroffen auf die Steine hingestürzt war, und das erschien ihm jetzt unwirklich, schien ihm in weite Ferne gerückt, und er wunderte sich, wie wenig es ihn berührte. Dabei wußte er, daß irgendwo in der Tiefe seines Innern Trauer war um Ercole und Schmerz, nur verschüttet von der Last dieses Tages.
An der Pforte des Klosters griff er gierig nach dem Glockenzug, und als ihm aufgetan wurde, begehrte er erregt, den Bruder Serafio zu sprechen.
Er mußte warten, dann kam Serafio und führte ihn mit sich in seine Zelle. Die Enge des Raumes zwang sie nahe zu einander, und in der weißen Helligkeit der getünchten Mauern war es, als ließe sich hier nicht einmal ein Gedanke verbergen. Serafio trat an sein Pult, das beim Fenster stand und mit Büchern, Pergamenten und Schriften bedeckt war. Er wies Lukas auf das Bett. »Setz’ Dich . . .«
Lukas saß auf dem Bettrand und schwieg. Der Mönch blätterte in seinem Buch. Lange war es ganz still. Dann fragte Serafio leise und freundlich: »Willst Du etwas von mir . . .«
Lukas schrak zusammen. »Muß ich fort?« Serafio nickte ihm zu: »Bleibe.«
Wieder verging eine Weile, bis Serafio begann: »Willst Du mit mir beten?«
Lukas fuhr mit der Hand durchs Haar, blickte umher. »Wenn Ihr es verlangt, ehrwürdiger Bruder . . . aber, ich weiß nicht . . . ich glaube, ich kann jetzt nicht beten . . .«
»Ich verlange es nicht«, sagte der Mönch. «Niemand darf das verlangen. Beten muß man, wie man essen und trinken muß. Es muß sein wie Schlaf . . .«, er zögerte, ». . . oder wie Erwachen.« Und er fügte hinzu: »Warte, bis Du die Ruhe fühlst, die hier wohnt.«
»Hier?« rief Lukas.
Der Mönch sah ihn an. »Glaubst Du es nicht?«
Lukas schüttelte heftig den Kopf: »Nein! Hier ist es nur still. Wenn ich hier allein wäre . . . nein . . . lieber im Grab!« Er griff an die Kehle, als sei ihm das Atmen schwer. »Weit fort ist man hier . . . abgeschnitten von allem . . . gefangen!«
Serafio lächelte: »Dann freilich.«
Lukas hielt die Fäuste geballt auf seinen Knien: »Ich warte«, sprach er vor sich hin, »ich warte . . . ich warte!. . . die Zeit vergeht so langsam!«
»Mein Bruder«, sagte der Mönch, »es glüht in Dir . . . viel zu heiß . . . Lange schon sehe ich Dir zu und habe Mitleid mit Dir . . .«
Lukas schlug die Augen nieder.
Der Mönch redete weiter. »Du liebst Deine Arbeit. Du kochst vor Arbeit, wenn Du bei Bandini neben mir sitzest. Dann aber bist Du wieder verschwunden, ganz regelmäßig; einen Tag bist Du da, den andern fort. Suchst Du das Leben noch anderswo als dort, wo Gott Dir Deinen Platz gewiesen hat?«
Lukas hob rasch sein Antlitz. Es stieß ihn, sein Herz zu öffnen und alles zu sagen. Doch plötzliche Angst schloß ihm die Lippen. Wenn man ihn beschuldigte, mit bösen Mächten im Bund zu sein . . . Er überlegte. Morgen noch, nur noch morgen, hatte er den Fluch der Verwandlung zu dulden. Den Tag nachher wird der Erzherzog Florenz verlassen und dann ist alles vorüber. In ein paar Wochen, in einem Jahr denkt niemand mehr daran, daß er jetzt immer verschwand. Niemand wird je etwas wissen, niemand etwas erfahren. Sollte er jetzt dem Mönch das Geheimnis anvertrauen, an diesem letzten Tag ihn daran teilnehmen lassen und so für immer, für alle Zeit, die noch kommen wird? Er schlang die Hände heftig ineinander und schwieg.
Der Mönch hatte ihn betrachtet. »Weißt Du noch«, sprach er, »damals in Bandinis Werkstatt, da hast Du dieselben Worte gesagt: ich warte, ich warte!«
Lukas nickte vor sich hin. »Freilich . . . ich warte immer noch . . .«
»Darauf daß Du ein Mensch sein darfst . . .?« Lukas erschrak, doch Serafio sprach ruhig weiter: »So sagtest Du damals, nicht wahr?«
»Ja . . . darauf warte ich!« rief Lukas mit Leidenschaft. Serafios geduldige Stimme klang leise: »Ich weiß nicht, was Du meinst, mein Bruder . . . ein Mensch sein. Wie wenigen gelingt es, ein Mensch zu sein . . . ich bete darum, ich ringe danach . . . es ist schwer.«
Lukas streifte ihn nur mit dem Blick. »Ach, Ihr versteht mich nicht.«
Serafio lächelte. »Quält es Dich, daß Du arm bist?«
»Ich zerbreche daran!« schrie Lukas.
»Du wirst nicht zerbrechen«, sagte Serafio gütig, »Du bist stark.«
Kopfschüttelnd entgegnete Lukas: »Erniedrigung wirft einen nieder, daß man Staub frißt! Schlimmer noch . . . daß man sich an das Staubfressen gewöhnt . . . wo bleibt dann die Stärke?«
Serafio legte ihm die Hand auf die Schulter: »Sei getrost, mein Bruder. Alle Menschen erniedrigen sich irgend einmal. Nicht bloß die Armen. Sie erniedrigen sich alle. Sie erniedrigen sich um Paläste und Reichtümer, um ein Weib . . . um einen Thron . . .«
Lukas schüttelte den Kopf. »Das ist ein anderes!«
Der Mönch lächelte wieder. »Glaubst Du?«
»Ich weiß es«, sprach Lukas. »Ihr vergeßt, daß mancher, der für ein Stück Brot Erniedrigung leiden muß, sich nicht um alle Schätze der Welt, um kein Weib und um keinen Thron erniedrigen würde, wenn er nur das Brot hätte.«
»Mag sein.« Serafio trat an sein Pult und blickte erstaunt vor sich hin. »Mag sein . . .« Er begann zu blättern. »Sieh’ doch, was hier steht«, Serafio winkte ihn zu sich heran. Lukas erhob sich und trat an seine Seite. Serafio hatte eine vergilbte Handschrift aufgeschlagen, hielt den Finger an die Zeilen und las: »So Du arm bist hier auf Erden, mußt du die eine Hälfte Deines Lebens ein Hund sein, dann wirst Du etwa die andere Hälfte als Mensch unter Menschen weilen dürfen.«
Lukas taumelte zurück. »Wer hat das geschrieben?«
Überrascht blickte Serafio auf.
»Wer hat das geschrieben?« rief Lukas.
»Ein frommer Mann, der vor zweihundert Jahren gelebt hat«, sagte Serafio, »der Eremit vom Berge Amiata. Er ist weltkundig und weise gewesen . . . und sieh, wie merkwürdig, er gibt Dir recht.«
Lukas war blaß; seine Augen schwammen in Tränen. Er kehrte sich ab, um zu gehen.
Serafio hielt ihn zurück. »Laß’ mich dies noch sagen: halte Deine Seele fest, mein Bruder. Sei mutig! Du hast wunderbare Kräfte in Dir. Ich habe es erkannt, vom ersten Tag an . . . in Dir ist das Gelingen und der Spiegel der Welt . . . Du wirst alles überwinden . . . Du wirst groß sein . . .« Er stockte und vollendete leise, »wenn Dich kein Unglück trifft.« Er umarmte ihn, drückte ihn sanft an sich und ließ ihn los. »Gott schütze Dich!«
Lukas stürzte davon.
Bis zum Abend irrte er durch die Stadt. Die Bangigkeit war nicht von ihm gewichen. Er suchte, um ihrem Druck zu entfliehen, die Plätze, die von fröhlichen Menschen wimmelten, von Gesang und Lachen widerhallten, trieb mit dem Strom der Menge durch die belebten Straßen dahin. Er schaute den Mädchen ins Gesicht, betrachtete die jungen Edelleute, die geputzt und übermütig einherschlenderten, die prächtigen Sänften und Karossen, die ihm begegneten, blickte zu den Fenstern der Paläste empor, die nun, da es dunkel geworden war, im Glanz der Kronleuchter aufstrahlten. Aber dann glitt ihm alles wieder an den Augen vorbei. Seine Traurigkeit brach nur noch stärker hervor.
»Was ist mir denn?« rief er sich selber zu. »Nur noch morgen! Nur noch dieses letzte Mal! Warum zittere ich, statt mich zu freuen?« Doch vergebens kämpfte er gegen die Angst, die mit vielen unsichtbaren Händen nach ihm tastete. Sie ergriff ihn, hielt ihn fest, würgte ihn mehr und mehr.
»Herrgott!« ächzte er, »laß’ es das letztemal sein!«
Jetzt wollte er beten, aber seine Gedanken redeten haltlos durcheinander. Warum haben es die anderen so leicht? Warum ist ihnen das Dasein so mühelos zum Eigentum gegeben? Sie wissen gar nichts damit anzufangen; sie achten es nicht als ein Geschenk, sie nehmen es, als gebühre ihnen eher noch mehr denn weniger, indessen ich gar nichts habe und ausgeschlossen bin . . . warum?
In seinem Gedächtnis stand plötzlich der Hauptmann Ercole da Moreno auf, und Lukas empfand mit einem Male einen unerträglichen Schmerz um ihn. Er sah ihn vor sich, das schöne gütige Gesicht, die freundlichen Augen, den froh auflodernden weißen Schopf und er wußte plötzlich, daß Ercole der einzige Mensch gewesen, dem er sich hätte anvertrauen können. Er glaubte jetzt, der Hauptmann hätte ihm geholfen, und sein Tod erschien ihm nun als eine unglückliche Vorbedeutung.
Die Mitternacht kam näher, und Lukas war atemlos vor Angst. »Warum fürchte ich mich so sehr?« stöhnte er. »Warum fürchte ich mich so sehr? Noch nie habe ich mich so sehr gefürchtet wie heute!«
Er versuchte wieder zu beten. »Herrgott, laß’ es das letztemal sein . . . ich bitte Dich! Ich habe nichts begangen, ich bin ohne Schuld . . . Bandini selber hat gesagt, daß er mich für brav hält . . . die Menschen sind alle gut zu mir . . . warum bist Du so hart gegen mich? Warum nur? Ich bitte Dich, laß’ es ganz gewiß das letztemal sein . . . lieber Gott, ich . . .«
Die Glocken schlugen an. Lukas konnte nicht mehr vollenden.
Peppina kam mit dem Hund durch den Garten. »Seht nur, Herrin«, rief sie zur Terrasse auf, »er lag vor der Haustüre und ist hereingeschlüpft, als Hassan das Tor öffnete. Er hat den kleinen Hassan überrannt«, sie lachte. »Der ist erschrocken!«
Claudia erschien in der Gartentür. Der Hund lief ihr entgegen, sprang matt an ihr empor, stand dann still da, wedelte und blickte sie an. Sie streichelte ihn. »Was willst du hier, Kambyses?« sagte sie im Zärtelton. »Suchst du deinen Herrn . . . ja?. . . er ist nicht bei mir.« Sie trat ins Zimmer, der Hund folgte ihr. Claudia schellte, und der Mulatte glitt herein.
»Da ist der Hund des Erzherzogs zu uns gelaufen, Caligula«, sprach sie, »er sucht seinen Herrn. Nimm ihn und führe ihn gleich in den Palast.«
Der Mulatte näherte sich, aber der Hund sprang zum Alkoven und schnappte leise knurrend nach der Hand, die Caligula ausgestreckt hatte.
»Komm’! Komm’ mit«, lockte der Mulatte mit seiner fetten, hohen Stimme.
Der Hund knurrte und kroch unter das Bett.
Der Mulatte schielte Claudia an, wiegte bedenklich den Kopf und hob die Hand. »Der Hund!« flüsterte er geheimnisvoll, »der Hund!«
Claudia lachte. »Hast Du Angst vor ihm?«
Der Mulatte wiegte den Kopf, hielt die Finger gespreizt und schnitt mit der Hand durch die Luft, seine Mienen waren voll Besorgnis.
Claudia achtete nicht darauf. »Laß’ ihn also liegen, wo er liegt«, entschied sie, »mag ihn sein Herr dann hier finden, wenn er kommt.«
Der Mulatte ging. Sogleich kroch der Hund aus seinem Versteck. Verwundert lachte Claudia auf. »Du bist schlau, Kambyses. Man versteht genau, was du willst.« Der Hund sah sie aufmerksam an und wedelte.
»Ja, ich verstehe dich. Du sprichst ja beinahe. Du willst bei mir sein«, sagte sie, neigte sich zu ihm und streichelte ihn. »Wie sollte ich das nicht verstehen? Ja, Kambyses, du darfst bei mir sein . . .« Er legte sich still zu ihren Füßen.
Er saß bei ihr, nachher, als Claudia von Peppina und Carletta angekleidet und geschmückt wurde; er folgte jeder Bewegung Claudias mit den Augen, beobachtete jeden Handgriff der beiden Dienerinnen, als müsse er Claudia vor Mißhandlung schützen.
An ihrer Seite betrat er dann das Gemach, darin der Erzherzog wartete.
»Was sagt Ihr zu Eurem Hund?« lächelte ihm Claudia entgegen, »seid Ihr nicht verwundert, gnädiger Herr?«
Der Erzherzog runzelte die Stirne: »Hier ist die Bestie?«
Claudia ergötzte sich an dem Ärger des Prinzen. »Ja, der Kambyses ist bei mir und er ist keine Bestie, sondern ein braves, kluges Tier . . .«
Der Erzherzog schaute mißbilligend auf den Hund herab. »Seit zwei Tagen ist er wieder nicht zu Hause gewesen.«
»Seit zwei Tagen?« Claudia lachte. »Nun, er ist erst seit heute bei mir. Aber den ganzen Tag. Er hat mir schon am frühen Morgen seinen Besuch gemacht und ist nicht von meiner Seite gewichen. Ich bin beinahe schon an ihn gewöhnt.«
Der Erzherzog machte eine runde Armbewegung. »Wenn er Dir gefallt, behalte ihn . . . ich schenke ihn Dir . . .«
»Wirklich?«
Der Erzherzog nickte.
Claudia küßte ihre Handfläche und blies darauf, als wolle sie diesen Kuß dem Erzherzog ins Gesicht hauchen. Sie freute sich. »Das ist prächtig!« Sie griff nach dem Kopf des Hundes.
»Viel Spaß wirst Du nicht haben, an dem Köter«, lächelte der Erzherzog. »Er ist ein schlechtes Geschenk. Alle Augenblicke verschwindet er, man weiß nicht wie . . .«
Claudia kniete nieder, umfaßte den Hals des Hundes und fragte, ihr Gesicht nah an dem seinen: »Wirst du auch mir weglaufen, Kambyses? Nicht wahr, du tust es nicht? Ich wäre sehr bekümmert, wenn du es tätest.« Der Hund schmiegte sich an sie und drückte seinen Kopf an ihre Brust.
Als dann Claudia mit dem Erzherzog bei Tisch saß, lag der Hund zu ihren Füßen. Er hörte jedes Wort.
»Also morgen?« fragte Claudia.
Der Erzherzog entgegnete: »Leider schon morgen . . .«
»Wann?«
»Am frühen Mittag. Wir fahren morgen nicht gar weit. Es ist noch Frühstückstafel zum Abschied . . . der Großherzog begleitet mich bis Prato.«
»Wie bald wirst Du mich vergessen?«
»Nicht so bald . . .«
»Aber doch einmal vergessen . . .« Claudia sprach leise.
»Solange ich jung bin . . .«, sagte der Erzherzog einfach, »werde ich Dich nicht vergessen, weil ich Deiner nicht satt wurde und mich oft nach Dir sehnen werde . . .«
Ihr Lachen sang eine kleine Melodie. »Und wenn Du alt bist?«
Er antwortete ebenso einfach: »Wenn ich alt bin, werde ich Dich wohl auch nicht vergessen, weil es dann schön sein wird, an Dich zu denken, sich zu erinnern, daß es einmal war.«
Claudia lachte lauter. »Oh Schmerz«, rief sie fröhlich, »wie genau Du das alles weißt! Was für eine Ordnung in Deinem Herzen.«
Sie redeten weiter, der Hund lag zu ihren Füßen, hielt den Kopf hoch und horchte. Als sie sich dann erhoben und in das Schlafgemach gingen, schlüpfte der Hund mit hinein. Sie bemerkten ihn erst, wie er sich plötzlich zwischen sie drängte.
»Ho! Der Kambyses!« rief der Erzherzog, »der muß fort . . . der kann doch nicht hier bleiben?« Er trat einen Schritt zurück und sah Claudia fragend an.
Sie schüttelte den Kopf. »Gewiß nicht. Er hat Augen wie ein Mensch. Man ist nicht allein, wenn er da ist.«
Der Erzherzog ging zur Tür, öffnete sie im Spalt: »Hierher! Kambyses!« befahl er, »hinaus mit Dir!«
Der Hund rührte sich nicht.
Claudia ging zur Gartentür, schloß sie auf und lachte: »Komm’ schön, Kambyses . . .«
Der Hund rührte sich nicht.
»Einen Stock«, sagte der Erzherzog umherschauend, »oder eine Peitsche.«
Der Hund bellte einmal kurz auf. Es klang wie Widerspruch.
Betroffen sagte Claudia: »Nicht schlagen! Er wird schon gehen. Vielleicht kann Caligula ihn hinausführen.«
Der Erzherzog schob die Unterlippe vor. »Ich will mich jetzt nicht erzürnen«, sagte er. Er breitete die Arme und näherte sich Claudia.
Da fuhr ihm der Hund fletschend entgegen. Der Erzherzog prallte zurück. »Was ist denn?« Er barg sein Erschrecken in ein kurzes Auflachen und wollte an dem Hund vorbei. Der aber sperrte ihm wieder den Weg, und sein Knurren wurde ein tiefes Grollen.
Der Erzherzog stieß mit dem Fuß nach ihm: »Wart’ . . .!« doch der Hund raste auf, schnappte und der Erzherzog fühlte einen Augenblick die scharfen Zähne an seinem Strumpf. Wütend bückte er sich, wollte mit der Faust dreinschlagen, allein der Hund war in die Hinterbeine gestiegen, hieb dem Erzherzog die Pfoten an die Schultern, zwang ihn, sich aufzurichten, hielt ihn fest, knurrend, schnappend, mit weit geöffnetem Rachen, in gefährlicher Wut.
Claudia schrie auf.
Der Erzherzog taumelte in der Umarmung des Hundes, wandte das jäh erbleichte Antlitz hin und her, fort von dem schäumenden, zähneblitzenden Maul, das ihn mit heißem Atem ankeuchte. Angst erwachte in ihm. Unbeholfen und hastig fuhr er am Hals des Hundes herum, suchte ihn zu fassen, da riß ihm ein blitzschnelles Zuschnappen die Hand auf, und das Blut sprang aus der brennenden Wunde. Wie toll hing der Hund an seiner Brust, bellte, jappte, schrie ihm ins Gesicht und drängte ihn zur Tür, mit einer Kraft, vor der er Schritt um Schritt weichen mußte.
Ein Schauer überlief den Erzherzog. Wie einer, der plötzlich zu begreifen anfängt, daß es um Tod oder Leben geht, schlug er um sich, tastete, von einem Gedanken durchzuckt, an seinem Gürtel herum, fand endlich den Dolch, den er suchte, raffte ihn heimlich aus der Scheide, nahm alle Kraft zusammen und stieß ihn dem Hund in die Gurgel.
Nur ein erstickter Laut wurde noch hörbar. Dann brach der Hund zusammen, sank so schwer am Erzherzog nieder, daß er ihm den Griff des Dolches aus der Faust wand, und lag zuckend am Boden.
Claudia hatte noch einmal aufgeschrien.
Nun standen die beiden einander gegenüber, leichenblaß, mit fliegendem Atem, besinnungslos vor Schrecken.
Der Erzherzog sah zum Hund nieder, der flach auf der Seite lag und noch leise zuckte. »Bestie . . .«, sagte er knirschend, »ein reißendes Tier.« Er schüttelte sich vor Grauen.
»Schaff’ ihn fort! Schaff’ ihn fort!« schrie Claudia außer sich, hielt sich die Hände vor das Gesicht und weinte laut.
»Rufe doch jemanden . . . dort ist die Glocke . . .«, sagte der Erzherzog, der mühsam wieder sprechen konnte.
Sie wimmerte: »Nein! Nein! Niemanden rufen! Nein!« Ihre Stimme glitt ins Heulen. »Niemand soll kommen! Um Gotteswillen! Schaff’ ihn fort, auf der Stelle!« Sie war wie von Sinnen.
Mit dem Fuß schob der Erzherzog den Hund vor sich her, dem das Blut dick aus dem Hals quoll und einen breiten Streifen über den Teppich zog. Die Tür zum Garten stand offen. Der Erzherzog stieß den schlaffen, schweren Körper hinaus auf die Terrasse. Dann warf er zornig die Türe zu. »Kanaille . . .«, murmelte er.
»Den Vorhang . . .« bettelte Claudia. »Noch den Vorhang . . .! Dort ist die Schnur . . . ja . . . diese!«
Mechanisch riß der Erzherzog an der Quaste, die bunte Bildertapete glitt heran, schlug zusammen, und jetzt war da nur noch eine farbig verhangene Wand, das gewebte Bild einer olympischen Landschaft, in der sich selige Götter zu schönen, zärtlichen Frauen herabließen.
Als der Mulatte Caligula in der Morgendämmerung auf die Terrasse schlich, um zu horchen, fand er dicht vor Claudias Tür den jungen Fremdling ausgestreckt, den Dolch des Erzherzogs in der Kehle.
Caligula betrachtete den jungen Fremden, der zweimal so stürmisch ins Haus gedrungen war, und nickte mit breitem, lautlosem Lachen. Er betrachtete den Dolch, freute sich an dem juwelenbesetzten Griff, zog ihn ruhig aus der Wunde und verbarg ihn in seinem Gewand. Dann hob er den Leichnam auf, trug ihn auf seinen Armen in den Garten. An der Mauer, dort wo das Gebüsch am undurchdringlichsten war, begrub er ihn.
In einigen wenigen Fällen wurden Zeichensetzung und Orthografie im Sinne einer einheitlichen Präsentation korrigiert.
Das Zitat zu Beginn verweist auf den Monte Amiata in der Toskana. Entsprechend wurde 'Eremit von Umiata' in 'Eremit von Amiata' umbenannt.
A small number of changes to punctuation and spelling have been made silently to achieve consistency.
In quote at top 'Eremit von Umiata' was corrected to 'Eremit von Amiata'
[The end of Der Hund von Florenz by Felix Salten]