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Title: Moderne Stoffe
Date of first publication: 1893
Author: John Henry Mackay (1864-1933)
Date first posted: Feb. 6, 2022
Date last updated: Feb. 6, 2022
Faded Page eBook #20220212
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John Henry Mackay
Moderne Stoffe
Zwei Berliner Novellen
Neue Ausgabe
Berlin
S. Fischer, Verlag
1893.
Fürwahr, wir haben’s herrlich weit gebracht!
„Zu Lebenshöhen hob uns unser Streben!“
So prahlen wir in hochmuthstolzer Macht.
Doch wir vergessen, wie wir wirklich leben:
Das Leben eingezwängt in tausend Formen,
Die jedes menschlich-wahren Fühlens lachen,
Alles geregelt nach vermorschten Normen,
Rüstzeug der kleinen Geister und der Schwachen.
„Wahrheit und Freiheit, Licht und Menschenrechte!“
So lamentiren bis zum Überdruß
Tagtäglich wir und — bleiben mit Genuß
Was immer wir gewesen: feige Knechte! —
Die Kunst in ein Gewebe so verstrickt
Tönender, hohler Worte, daß das Wahre
In diesem Wust von Phrasen halb erstickt.
Nirgends die Wirklichkeit, die harte, klare! . . .
„Die Kunst soll mit dem Leben uns versöhnen“,
Ist der Refrain. Wie wir uns selbst verhöhnen,
Das sehn wir nicht! Und in das Elend laut,
Das höher, immer höher uns umstaut
Mit wilden Klagen, unsre Worte tönen:
„Fort! Wir sind Priester nur im Dienst des Schönen!“
O besser wär’s, die Schönheit hätte nie
Mit ihrer Flügel Saum die Welt gestreift,
Als daß der Lüge Früchte sie gereift,
Aus der mehr Fluch, als Segen uns gedieh!
Und werden heut’ wir vor die Wahl gestellt,
Daß Eins nur stehn kann, wenn das Andre fällt,
Wir sprächen besser — fiel’s uns noch so schwer:
„Fort mit der Schönheit, und die Wahrheit her!“
London, im Sommer 1887.
John Henry Mackay.
Seite | |
Existenzen | 1 |
Nur eine Kellnerin | 95 |
Allen Idealisten
gewidmet.
„Alle Versöhnung ist Lüge.
Das Leben versöhnt nie.“
Viele Tage sind darüber hingegangen. Aber unverändert stehen noch die mit ihm gemeinsam durchlebten Stunden vor mir. Und er selbst — sein seltsames Leben und seine Liebe. So stark war der Eindruck seiner Persönlichkeit, daß Alles Andere jener Zeit spurlos in meiner Erinnerung zusammengesunken ist. Vielleicht hat sie darum desto klarer festgehalten, was ich erzähle.
Das zersetzende, ruhlose Leben Berlins hatte mich mit seiner ganzen Gewalt ergriffen. Es zog mich fast allabendlich aus meinem Zimmer und hinunter in das Gewühl der Menschen. Und ich ließ mich gern zuweilen willenlos von ihm treiben.
An einem naßkalten Herbstabend schlenderte ich wieder einmal die lange Friedrichstraße in der Richtung von Süden nach Norden hinauf. Über den hohen Dächern lag ein dichter, feuchter Nebeldunst, der sich träge immer mehr und mehr senkte. Das Gas brannte trübe. Die Menschenmassen schoben sich noch schneller wie gewöhnlich die lange Straßenflucht hinauf und hinunter; nur selten blieb einer vor dem trüb angelaufenen Schaufenster eines Ladens stehen. Ich ging ziemlich schnell über die Weidendammer Brücke, kreuzte die Elsässerstraße und bog dann in eine der nächsten Querstraßen ein, um einen Augenblick stehen bleiben und überlegen zu können, wohin eigentlich bei dem immer unangenehmer sich bemerkbar machenden Nebel. Da fiel mir an der gegenüberliegenden Straßenseite ein rothgrünes Licht, gleichsam meinen Wünschen entgegenkommend, in die Augen. Irgend ein Restaurant wahrscheinlich, in dem ich jedenfalls besser meine Pläne machen konnte, als hier auf dem nassen Pflaster. Ich ging schnell hinüber und trat ein. Ich hatte mich geirrt. Es war eins der zahlreichen Café chantants, welche zu den unentbehrlichen Errungenschaften des modernen Berlin zu gehören scheinen. Rohes Gelächter, lautes Singen, erstickender Tabaksqualm schlugen mir entgegen. Ich setzte mich schnell an einen der vorderen Tische, wo ich noch einen freien Platz bemerkte; der Stuhl stand in einer Pfeilerecke, von der aus ich ungestört das ganze, ziemlich große Lokal übersehen konnte. Eine abgeblühte Kellnerin brachte mir Bier. Auf einer Art Bühne vor mir saßen etwa sechs Frauenzimmer in geschmacklosen, überladenen Toiletten, mit nackten Armen und Büsten. Die eine von ihnen hatte eben gesungen und trat nun zurück. Der Lärm, der sich erhob, wurde beängstigend.
Das Publikum klatschte, scharrte mit den Füßen, stieß mit Stöcken taktmäßig auf den Boden und schrie und brüllte in allen Tonlagen Beifall. Der Klavierspieler mußte von Neuem beginnen, die Sängerin das Lied wiederholen. Sie leierte ohne jede Stimme ein bekanntes Lied aus einer modernen Operette niedrigster Art, welche gerade im Centraltheater zum so und so vielsten Male gegeben wurde, ab.
Gelangweilt sah ich weg. Mein Blick begegnete fast nur den abgestumpften Zügen von „Kennern“, den brutalen von Studenten, den halb verblüfften, halb neugierigen einiger Fremden, die sich hierher verirrt hatten, und den sinnlich-lüsternen einiger alternder Roués — immer wiederkehrende Typen, von denen mir die letzteren am verhaßtesten waren. Da wurden meine Augen plötzlich von den Zügen des Klavierspielers festgehalten.
Es war wieder eine Pause eingetreten. Er hatte sich auf seinem Stuhle umgedreht, um die Anwesenden zu mustern. Scharfe, durchlebte Züge. Aus dunklen Augen sah ein kalter, beobachtender Blick fest auf den einen oder andern. Was mich fesselte, war ein Ausdruck tief gesättigter Verachtung, welcher in diesen Augen lag. Sein Gesicht blieb unbeweglich. Um den auffallend häßlichen Mund lag kein Zug von Hohn — alles hatte sich in die Augen geflüchtet, was an Haß und Verachtung in diesem Menschen lag. Da begegneten sich unsere Blicke, aber nur einen kurzen Augenblick. Dann — als ob es ihm unangenehm sei, von einem Andern überhaupt beachtet zu werden — wandte er sich schnell wieder um und begann von Neuem. Ich achtete auf sein Spiel. Es war gewandt. Mehr konnte ich aus der schon ungezählte Male vernommenen Begleitung nicht heraushören.
Auf der Bühne begann eine andere der Sängerinnen. Mit ihr das Mitsingen, das Zurufen, der Lärm, und dazwischen das unerträgliche „Pst“-Rufen von allen Seiten. Eine trübe, dumpfe Atmosphäre lagerte über dem ganzen Ort, die jeden freieren Athemzug erstickte. An der Decke ballten sich dichte Rauchwolken. Die Hitze war fast unerträglich: eine brennende, aufregende, ungesunde Hitze. Ich wollte aufstehen, um fortzugehen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Ein alter Bekannter, den ich wohl seit länger als einem halben Jahre nicht gesehen hatte, stand vor mir und setzte sich jetzt lachend neben mich. Wir schüttelten uns die Hände.
Dann hörte ich seine behagliche, fette Stimme.
„Ich habe Dich eben erst entdeckt. Du hast Dich ja so in die Ecke gedrückt. Aber vor Allem: wie kommst Du überhaupt hierher?“
Ich sagte es ihm.
Er lachte. „Nicht wahr, hier ist es fidel?“
„Nun — mäßig.“ Er begann mich zu langweilen. Aber ich fragte ihn doch weiter. „Und was machst Du denn hier?“
Er zeigte auf eine der Sängerinnen.
„Sieh Dir einmal die Kleine da an! Ich habe mit ihr ein Verhältniß und bin fast jeden Abend hier. Ich bringe sie gewöhnlich nach Haus. Du mußt mich nachher schon entschuldigen.“ —
Er blieb bei mir sitzen, trotzdem er vorher an seinem Tische mit Bekannten zusammen gewesen war. Ich bewunderte die fröhliche Unbefangenheit, mit der er sich hier wie zu Hause fühlte. Fortwährend sah er nach seiner Kleinen, tauschte Blicke mit ihr und applaudirte, wenn sie gesungen hatte, mit seinen kräftigen Händen noch, als die Anderen sich schon beruhigt hatten, so daß sie von Neuem beginnen mußte. Das machte ihm dann viel Vergnügen. Dabei sprach er in seiner lauten Weise fort, daß ich unwillkürlich sitzen blieb und seinem Geschwätze zuhörte. Als die Sängerinnen ihre Plätze verlassen hatten, ging er mit seiner Geliebten nach Hause, nachdem er mich wiederholt um Entschuldigung gebeten hatte.
Da ich aber noch ein fast volles Glas vor mir stehen hatte, ließ ich den Saal um mich sich leeren und blieb noch in meiner Ecke sitzen. Der Klavierspieler spielte den üblichen Schlußmarsch. Da überkam mich — ich weiß heute noch nicht weshalb — der Wunsch, mich mit diesem Menschen zu unterhalten, und in dem ganz natürlichen Glauben, daß es einem Manne seiner Stellung nur angenehm sein könne, von irgend Jemand eingeladen zu werden, rief ich ihm, als er geendet hatte, zu, ob er Lust habe, noch ein Glas Bier mit mir zu trinken. Aber statt daß er sich zu mir setzte, hörte ich ihn einfach und ruhig sagen: „Ich muß danken, ich bleibe nie länger hier —“ und ehe ich ihm antworten konnte, hatte er mich höflich, aber kurz gegrüßt und war hinausgegangen. Ich fand sein Benehmen seltsam. Aufforderungen dieser Art zu erhalten, mußte er gewohnt sein. Er war auch in der That nicht im mindesten überrascht gewesen. Was sollte also diese lächerliche Abweisung eines doch nur freundlich gemeinten Wunsches? Ich rief nach der Kellnerin und fragte sie, ob sie mir Näheres über den Mann sagen könne.
„Ach, lassen Sie doch den, der ist ja verrückt. Das macht er mit allen so, und er kann sich doch nur freuen, wenn Jemand ihn einladet.“ (Sie sagte einladet.)
Ich war ihrer Meinung. Über seine Person konnte sie mir nichts Näheres sagen.
„Kommen Sie doch lieber noch ein bischen mit nach hinten zu den schönen, jungen Damen und trinken Sie ein Glas Wein mit uns −“
Aber ich dankte; ich kannte dies Glas Wein. Ich bezahlte und ging schnell nach Haus.
Auf dem Heimwege begann ein leichter Ärger sich in mir zu regen.
Über der langen Häuserflucht der Friedrichstraße lagen die Wolken in dunklen Streifen. Der Nebel hatte sich wieder gehoben. Aber die Feuchtigkeit in der Luft war geblieben. Ich trank ihre Kühle in tiefen Zügen, denn meine Lippen waren heiß und trocken.
In den nächsten Tagen war ich stark beschäftigt, und dachte kaum mehr an den vergangenen Abend. Aber als ich etwa vier Tage später um die neunte Abendstunde allein in dem Restaurant saß, in welchem ich zu Abend zu essen pflegte, tauchten ganz unvermittelt die scharfen Züge des Klavierspielers aus dem Tingel-Tangel vor mir auf. Ich sah seine verachtenden Augen wieder vor mir. Und ganz leise begann der Ärger über seine damalige Abweisung wieder an mir zu nagen. Dann ärgerte ich mich darüber, daß ich an eine solche gleichgültige Sache überhaupt dachte. Aber ich konnte mir dennoch nicht verhehlen, daß mein Unmuth seinen Grund in einem gewissen Interesse hatte, welches mir dieser Mann wider Willen abgelockt hatte. Und dies Interesse war mehr als Neugierde — jetzt fühlte ich es ganz deutlich. Ich sprang auf und ging hinaus. Ich wollte in mein kaltes Zimmer und den Abend tüchtig arbeiten. Als ich mich am Café Bauer durch das Menschengewühl drängte und eben in die Friedrichstraße einbiegen wollte, hörte ich plötzlich neben mir wieder die laute, fröhliche Stimme meines Bekannten. Er faßte mich ohne Weiteres unter den Arm und ging neben mir her. Jetzt hatte ich glücklich einen neuen Grund mich zu ärgern. Aber er war so unbefangen, so zufrieden, so lebhaft, daß er mich doch in ein Gespräch hineinzog. Er stellte Frage auf Frage, und beantwortete sich dabei die meisten selbst.
Wir waren bei meiner Wohnung angelangt. Ich wollte mich verabschieden. Aber so leicht kam ich nicht los. Ich müsse zum mindesten noch einmal mit ihm die Friedrichstraße hinaufgehen; das Weitere werde sich finden. Das „Weitere“ war natürlich sein allabendlicher Aufenthaltsort, der für mich aber durchaus nichts Anziehendes besaß. Da kam mir plötzlich der über seinem Gespräch vergessene Gedanke wieder und ich fragte ihn nach der Person des Klavierspielers, indem ich ihm von meinem Zusammentreffen mit demselben erzählte, was ich für nöthig hielt.
Er wußte wirklich Auskunft. „Ich kann Dir ein Pendant zu Deinem Erlebniß liefern. Der gute Mann war früher nämlich Student in Kiel. Er hat Dir den Beweis gegeben, daß er den Ton von dazumal auch bei seinem jetzigen, edlen Beruf noch für angebracht hält. Also was ich Dir erzählen wollte: ein Freund von mir kommt eines Tages dahin, sieht ihn und erkennt ihn wieder. Nachher geht er auf ihn zu und frägt ihn ganz gemüthlich, ob er sich seiner nicht mehr erinnere? Da steht der Andere auf, sieht meinen Freund an, sagt kurz „Nein“ —, läßt ihn stehen und geht weg. Wie findest Du das? Wir haben natürlich darüber gelacht, denn wir machen durchaus keinen Anspruch auf nähere Bekanntschaft mit dem heruntergekommenen Menschen.“
Er lachte und verbreitete sich des Längeren über verbummelte Studenten.
— Nun ging ich doch mit ihm.
Er setzte das auf Rechnung seiner Überredungskunst und ich ließ ihn gern bei seinem Glauben.
Nach zehn Minuten waren wir wieder in dem überfüllten, dunstig-heißen Raum. Am Klavier saß der frühere Student und spielte seine Begleitung herunter. Er sah sich nicht um. Wieder aber ergriff mich dies Gefühl eines ganz unerklärlichen Interesses für den fremden Menschen. Ich hätte lesen mögen, was diese Stirn dachte: wissen mögen, was diese Augen sprachen.
Wir saßen in derselben Nische, wie das letzte Mal. Mein Begleiter hatte sich schon mit seinem Frauenzimmer begrüßt. Alles war unverändert: das Publikum und was es zu hören und zu sehen bekam.
Wieder war es elf Uhr. Die Sängerinnen rafften ihre Noten zusammen und verließen die Bühne. Sie gingen nach hinten, die einen, um sich umzuziehen; die andern, um dort im Weinzimmer wüste Stunden mit denen zu verbringen, welche dumm genug waren, diese dem Wirth in schlechten Weinen und noch schlechterem Sekt mit theurem Gelde zu bezahlen. Ich blieb noch sitzen, obgleich mein Bekannter bereits mit seiner Geliebten gegangen war. Mich hielt noch etwas zurück. Aber ich wußte es nicht, was es war. Die Tische wurden allmählich leerer. Von den Lichtern verlöschte eins nach dem andern. Ich stand auf und griff nach meinem Hute. Da stockte ich. Statt des gewohnten Marsches, dem unvermeidlichen, mit dem alle Concerte in Berlin geschlossen werden, spielte der Klavierspieler heute eine einfache Weise, so einfach, so reizend, daß ich erstaunt zögerte und mich unwillkürlich wieder hinsetzte. Aber wieder packte mich der Ärger über den Spieler und mehr noch über den verlorenen Abend. Ich ging. Aber ehe ich noch die Thür erreicht hatte, stand der frühere Student neben mir und machte mir eine leichte Verbeugung. Ich sah erstaunt auf. Da hörte ich, wie er mit ruhiger Stimme sagte: „Mein Name ist Jordens. Sie waren so liebenswürdig, mich vor einigen Tagen um meine Gesellschaft zu bitten. Es sollte mir leid thun, wenn ich Sie durch meine Absage beleidigt hätte“ — und da ich sehr überrascht nicht gleich antwortete, fuhr er leise lächelnd fort: — „wenn ich Sie überhaupt beleidigen kann. Aber vielleicht würden Sie mir heute Abend, falls Sie nichts Besseres vorhaben, das Vergnügen machen, mit mir ein Glas Bier zu trinken?“ — Ich habe ihn darauf hin gewiß sehr befremdet angesehen. Jedenfalls antwortete ich ihm ruhig und höflich: „Gewiß, sehr gerne. Aber weshalb, wenn ich fragen darf, nahmen Sie dann mein Anerbieten nicht an?“ Wieder überflog das leichte Lächeln von vorhin seine Züge. „Verzeihen Sie, ich werde Ihnen nachher antworten. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir gehen.“ Er öffnete die Thür und ließ mich vorangehen.
Als wir auf der Straße standen, wandte er sich zu mir.
„Ich setze voraus, daß, wenn Sie dies Lokal“ — er wies mit der Hand nach der eben verlassenen Thür zurück — „besuchen, Sie vielleicht auch nichts dagegen haben, wenn ich Sie in mein Stammlokal führe. Es ist sehr klein und einfach, aber durchaus anständig. Ist es Ihnen recht?“ —
Ich verneigte mich höflich: „Bitte.“
Er wandte sich nach rechts und wir gingen schweigend die Straße hinab. Ich lachte innerlich: die Geschichte war entschieden nicht ohne Humor. Ich wollte stillschweigend abwarten, was kommen sollte.
Aber er ging ruhig und sicher neben mir her, und machte keine Miene, ein Gespräch anzufangen. Wir gingen ziemlich schnell durch mehrere, mir ganz unbekannte Straßen in der Richtung nach Nordosten. Einen Augenblick überlegte ich, ob es nicht doch besser sei umzukehren. Aber dies Gefühl des Unheimlichen hatte andrerseits wieder einen solchen Reiz für mich, daß ich den Gedanken bald wieder aufgab und stetig neben ihm weiter ging.
Die Straßen wurden immer stiller und menschenleerer; die Häuserreihen immer niedriger. Sie schienen näher an einander zu rücken.
Wir waren wohl zehn Minuten gegangen, ohne zu sprechen. Da that sich eine kurze Sackgasse vor uns auf, in die mein Begleiter einbog. Am Ende derselben brannte ein trübes Licht. Wir stiegen mehrere, tiefausgetretene Steinstufen empor und standen in einem kleinen, aber ziemlich hohen Wirthsraum. Ein frischer Sandgeruch, wie von frischgescheuerten Dielen mischte sich in die behagliche Wärme, welche uns entgegenströmte. Alles war einfach und bescheiden, aber von einer peinlichen Sauberkeit. Die drei alten, gelben Tische mit den braunen Rändern, die wenigen Stühle, das große Buffet und die kleine graue Frauengestalt, welche hinter demselben mit freundlichem Abendgruß auf uns zutrat und dem Anderen die Hand gab. Als er ihrem offenbar erstaunten Blick, wen er denn da noch mitgebracht habe, nicht antwortete, brachte sie uns in alten Steinkrügen, die ich sehr liebe, Bier.
Wir setzten uns.
Man findet wenige derartige Lokalitäten in Berlin, öfters jedoch in kleineren, süddeutschen Städten. Ich war ungemein angemuthet. Mein Begleiter schien es freudig zu bemerken. Er erzählte mir, er verbringe jeden Abend nach der Vorstellung eine oder zwei Stunden — oft auch noch mehr — hier. Meist sei er völlig ungestört. Auch heute waren wir allein. Die Alte hatte sich bescheiden hinter ihr Buffet zurückgezogen.
— Mit diesem Abend haben einfache, aber tiefgehende Erinnerungen für mich begonnen. Über wenig kurze Wochen reichen sie hin und kein Dritter nahm an ihnen Theil. Wo mag er jetzt sein, mit dem ich so manchen Abend in diesen Wochen so gegenübersitzend verbracht habe?
— Wir sprachen an diesem Abend über Mancherlei. Über was, weiß ich kaum mehr. Es gehört auch nicht hierher. Aber nicht einmal im Laufe des Abends streifte unser lebhaftes Gespräch das Gebiet des Persönlichen, und als wir nach mehreren Stunden von einander schieden — er brachte mich durch die fremden Straßen zur Friedrichstraße zurück — wußten wir so wenig von einander, wie vorher, als wir uns auf so seltsame Weise kennen gelernt hatten . . .
Er sprach, wenn ihn etwas interessirte, sehr lebhaft und schnell, aber immer mit einer gewissen Zurückhaltung. Als wir auseinander gingen grüßten wir uns höflich, gaben uns aber nicht die Hand. Ein Wiedersehen wurde nicht zwischen uns verabredet. Indem ich nach Hause ging, fiel mir ein, daß er mir die Antwort auf meine Frage nach seiner überraschenden Einladung schuldig geblieben war. Da ich an diesem Abend sein Gast gewesen war — war nun die Reihe wieder an mir, und innerlich lachte ich über dies Wechselspiel.
So wäre es wohl bei diesem ersten und letzten Abend eines Beisammenseins geblieben, wenn ich nicht ein paar Tage später kurz vor elf einmal wieder jenes Gesanglokal aufgesucht hätte, in dem er allabendlich spielte. Er erwiderte in der Pause meinen Gruß höflich und war sichtlich erfreut, als ich ihn um elf Uhr fragte, ob wir nicht wieder in seinem Stammlokal eine Stunde verplaudern wollten.
Wir gingen sofort und waren bald in lebhaftem Gespräch. Seine Zurückhaltung verlor sich immer mehr und mehr; wir waren offener und freundlicher gegen einander. Aber noch immer streifte das Gespräch an jedem Persönlichen vorüber, das ihn betreffen konnte. Dagegen nahm ich eine Gelegenheit wahr, ihm Einiges aus meinem Leben mitzutheilen, nicht ohne den geheimen Wunsch, eine gleiche Offenheit bei ihm damit zu wecken. Aber er ging darüber hinweg und ich blieb zu fest bei meinem Vorsatz, durch keine irgendwie wißbegierige Frage ihn zu einer Mittheilung zu veranlassen, welche er mir nicht ganz aus freien Stücken machen wollte. So ging auch dieser zweite Abend vorüber, ohne mich dem Räthsel dieses Lebens näher zu bringen.
Es ist mir später oft interessant gewesen, mich des Urtheils zu erinnern, welches ich mir nach diesen beiden Abenden über ihn bildete, nachdem ich ihn verlassen hatte. Ich konnte mir nicht zusammenreimen, wie ein Mensch von seiner Bildung eine solche Stellung bekleiden konnte. Mit seinen Ansichten stimmte es offenbar überein: denn ich hatte ihn schrankenlos frei in seinen Urtheilen, und durchaus selbstständig gefunden. Ein tieferes Eingehen auf irgend eine allgemeine Frage vermied er absichtlich — es lag ihm offenbar nicht das Geringste daran, mich zu irgend einer seiner Anschauungen bekehren zu wollen, wenn es ihm auch ganz interessant zu sein schien, die meinen genau kennen zu lernen. Er wollte sich offenbar ein Bild meiner Person machen. Nur so wenigstens erklärte ich mir das Hinlenken auf einige ganz allgemeine Punkte. Aber nicht etwa, daß er, so zurückhaltend er sonst war, irgend etwas in seinen Ansichten verhehlt hätte: er antwortete stets — immer unter schärfster Betonung seines Standpunktes, meist zügellos und herb in seinen Ausdrücken. Wir stimmten oft überein. Dann war es gut. Oft auch nicht. Dann blieb es einfach bei der Verschiedenheit der Ansichten, ohne den Versuch, sie ausgleichen zu wollen.
Er schien in Bezug auf seine Person nur seinem eigenen Willen zu folgen. Jede Beeinflussung lehnte er ab. Er lebte völlig vereinsamt und zurückgezogen — das Einzige ihn Betreffende, welches er einmal flüchtig aussprach.
So dachte ich in diesen ersten Tagen über ihn. Ich suchte außergewöhnliche, seltsame Lebensschicksale bei ihm. Anders wollte ich es mir nicht erklären, daß eine so starke Natur auf solche Bahnen geschleudert werden konnte. Ich irrte mich fast in Allem. Er hatte sich so völlig frei entwickelt, war so nur seiner innersten Natur gefolgt, wie es heute nur wenige Menschen können und dürfen.
In seinem äußeren Wesen lag eine Vornehmheit, welche ihn hoch über den Kreis hob, in welchem sich sein Leben jetzt abspielte. Von Verkommenheit konnte nicht die Rede sein; namenlos gleichgültig mochte er wohl in manchen Fragen sein, welche für viele Menschen das Wichtigste im Leben sind.
Wie ich ihn näher und später völlig kennen lernte — und dann, was er mir erzählte: wie er war und wurde — davon jetzt.
Am liebsten hätte ich ihn schon am folgenden Abend wiedergesehen. Aber wer folgt heute noch einzig nur der Eingebung seines Gefühles? Wir sind vorsichtig gegeneinander geworden, und fragen uns zuvörderst: Was wird der Andre dazu sagen? — Es vergingen also einige Tage. Da ich aber keine Lust mehr hatte ihn bei der Ausübung seines Berufes zu sehen, und ich ihn noch so wenig kannte, daß ich glaubte, es möchte ihm auch vielleicht nicht sehr angenehm sein, wenn ich ihn oft dort im Tingel-Tangel sähe, so ging ich direkt nach unserer kleinen Kneipe. Es war noch nicht elf Uhr, und er war also noch nicht da. Das Zimmer war wieder leer.
Ich wurde von der Alten schon wie ein halber Bekannter empfangen. Sie fragte sofort nach Jordens. Sie schien ungemein an ihm zu hängen, fast mit der Liebe einer Mutter. Er käme jeden Abend — sagte sie. Dann begann sie unaufgefordert, neben dem Tische stehend, von ihm zu sprechen. Ob er nicht ein prächtiger Mensch sei? — sie kenne ihn jetzt schon ein halbes Jahr — so lange sei es her, daß er jeden Abend zu ihr komme. Er sei immer freundlich, wenn er auch oft Abende lang gar nicht mit ihr spräche. Als ich sie fragte, ob er immer allein komme, sagte sie, ich sei überhaupt der Einzige, mit dem sie ihn zusammen gesehen hätte. Sie freue sich darüber, denn er hätte ihr immer leid gethan, wenn er so einsam dasäße und sich um Niemanden kümmere ——
Da trat er ein. Er lachte, als er sah, wie die Alte mir so eifrig erzählte. Dann verneigte er sich vor mir, und setzte sich auf seinen gewohnten Platz, sagte aber kein Wort, daß er sich freue mich zu sehen.
„Lassen Sie sich nicht zuviel von der Mutter erzählen,“ sagte er dann. Ich antwortete ihm offen, daß wir von ihm gesprochen hätten.
„So.“ — Und dann wandte er sich zu der Alten, welche ihm sein Glas brachte: „Sie hätten auch etwas Besseres thun können.“ Sie fuhr zusammen und schwieg. Da wurde er sofort wieder freundlich, und gab ihr die Hand. „Nicht traurig werden, Mutter. Ich weiß ja, Sie meinen es gut mit mir . . .“
Dann sah er mich an, kurz und scharf. In diesem Augenblick mußte ich meinen Vorsatz vergessen.
„Ist es Ihnen unangenehm, wenn ich weiß, daß Sie allein leben und mit Niemand verkehren?“
Er antwortete gleichmüthig. „Garnicht. Es ist mir völlig gleichgültig. Ich will Ihnen gern mehr von mir erzählen, natürlich nur, wenn es Sie interessirt.“ Und mehr zu sich gewendet fuhr er fort: „Es ist zu seltsam, daß die wenigsten Menschen begreifen können, wie ein Anderer seine eigenen Wege geht.“ Dann lachte er auf. „Nun ich sehe ja, Sie machen sich keine Gewissensbisse, auch einmal mit einem Menschen unter ihrem Stande zu verkehren, wenn auch nur aus Neugierde.“
Es lag ein kaum merkbarer Hohn in seinen Worten. Aber ich fühlte ihn sofort heraus und sagte ziemlich scharf: „Ich verkehre mit Menschen jeden Standes, wenn sie mich interessiren. Ich dächte, Sie hätten gemerkt, daß es für mich kein Oben und Unten giebt.“
Er sah überrascht auf. Dann lachte er wieder.
„Nun ja, ich weiß, Sie thun, was Sie wollen.“ Und zum ersten Male reichte er mir mit einem seltsamen Blick über den Tisch hinüber die Hand.
Noch an diesem Abend erzählte er mir die Geschichte seiner Jugend.
—— „Ich habe meine Eltern beide nicht mehr gekannt. Bis zu meinem dreizehnten Jahre etwa lag meine Erziehung in den Händen einer älteren Dame, einer entfernten Verwandten meines Vaters. Wohin sollte ich auch sonst? Weitere Verwandte hatte ich nicht. Es lebte zwar noch ein Bruder meiner Mutter in irgend einem Winkel Norddeutschlands, aber völlig von allem Leben zurückgezogen. Er war nach dem, was ich zuweilen von ihm hörte, eine bestgehaßte Persönlichkeit. Als ich in die Jahre kam, wo ich mich zu wehren lernte, und mich nicht mehr ganz so oft und ruhig durchprügeln ließ, griff die Alte zu dem Mittel, mir mit diesen alten Onkel zu drohen. Aber leider erreichte sie ihren Zweck durchaus nicht. Denn je mehr sie über ihn herzog, desto fester ward der Entschluß in mir, später diesen Onkel kennen zu lernen. Meine kindliche Phantasie übertrug mit der Zeit alle meine Sehnsucht auf ihn.
Es war ein wundervoller Sommermorgen. Ich hatte Ferien und nur den einen Wunsch, den ganzen Tag draußen im Freien zu liegen. So oft ich konnte, lief ich fort. Aber an diesem Morgen hatte die Alte mich erwischt. Ich sollte eine ganze Seite lateinischer Vocabeln lernen. Alles Sträuben half mir diesmal nichts. Sie brachte mich auf mein Zimmer und setzte mich vor mein Buch. Ich war wüthend. Da draußen der hellste Sommermorgen. Eine Fülle von Luft und Leben strömte verlockend zu mir herein — und ich durfte nicht hinaus! Ich verbiß meinen Zorn, konnte aber nicht hindern, daß mir die dicken Thränen über die Backen liefen. Entwischen konnte ich nicht, denn ich wußte ganz gut, daß mein Drache unter mir im Zimmer war und mich abgefangen und eingeschlossen hätte. Eingeschlossen zu werden aber war für mich die schrecklichste Strafe! Dann überfiel mich eine furchtbare Angst und ich war tagelang so verstört, daß die Alte nur selten zu diesem Zwangsmittel zu greifen wagte.
Ich hatte eben das gehaßte, verabscheute Buch in die Ecke geworfen und wollte mich trotzig in mein Schicksal ergeben, da drang die gellende Stimme meiner Alten von unten zu mir herauf: — „Paul — Paul — komm herunter!“ Mit einem Satz war ich am Fenster. Die Alte streckte ihren Haubenkopf unter mir zum Fenster hinaus. Da ergriff ich in meinem Ärger ein Glas Wasser — und — patsch! schüttete ich ihr den ganzen Inhalt desselben über den Nacken . . . In demselben Augenblick war ich an der Thür, und stürmte die Treppe hinunter. Aber da hörte ich aus dem Zimmer in das Schreien der Alten hinein ein so dröhnendes Gelächter, daß ich unwillkürlich stillstand. Da lachte Jemand — dann konnte es nicht schlimm werden. Die Neugierde war stärker als die Furcht vor der Strafe. Ich öffnete leise die Thür, und sah im Zimmer einen fremden Herrn stehen, der aus vollem Halse lachte, während er die Alte abhielt, sich auf mich zu stürzen. „Komm herein, mein Junge, komm herein.“ — Dann lachte er wieder. Ich trat langsam ein und stellte mich halb hinter ihn. Nur mühsam suchte mein Drache sich zu beruhigen. Sie hatte offenbar großen Respekt vor dem Fremden. Der lachte noch immer. „Du bist ja ein famoser Bengel,“ sagte er und sah mich an. Da durchzuckte mich ein Gedanke. „Du bist mein Onkel!“ — „Ja, ich bin Dein alter Onkel. Willst Du mit mir kommen, mein Junge?“ Ich jubelte auf.
Wie oft haben wir beide später über diese ganze Szene gelacht. Ich habe sie Ihnen so genau erzählt, weil sie über mein Leben in gewissem Sinne entschieden hat, und dann, weil sie so außerordentlich charakteristisch für das ganze Wesen der Persönlichkeit ist, der ich alles verdanke — wenigstens das Schönste und Beste, was einem Menschen werden kann: eine glückliche Jugend, eine freie Erziehung, und Wahrheit über das Leben und gegen sich selbst.
Er nahm mich sofort mit sich. Dann haben wir zusammen gelebt, mehr als Freunde, nie als Erzieher und Zögling.
Er lebte völlig zurückgezogen in dem kleinen Orte. Mir ließ er in allen Stücken die größte Freiheit. Ich konnte thun und lassen, was ich wollte. Nie hat er mich gestraft; nie habe ich eine Ermahnung von ihm gehört. Er hatte nur hier und da ein Wort feinen Spottes, welches tiefere Wirkung auf mich übte, wie die längste Rede. Nur gegen jede Unwahrheit, und wäre es auch die kleinste, war er unnachsichtig. Er strafte mich auch da nicht, kümmerte sich aber dann tagelang nicht um mich, „denn,“ sagte er, „mit unwahren Menschen will ich nichts zu thun haben.“
Als ich in die Jahre kam, wo ich anfing, selbstständig zu werden, nahm er offenbar ein größeres Interesse an mir. Ich habe oft später darüber nachgedacht und glaube bestimmt: ich war ihm ein Experiment, auf dessen Ausgang er neugierig wurde. Er zog mich öfters zu Fragen heran, und wollte meine Meinung darüber hören. Unerbittlich war er gegen jede Unklarheit. Er mußte in seinem Leben, das in seiner Jugend wild und stürmisch gewesen war, viel erlebt haben, um gegen Vieles einen solchen Haß eingesogen zu haben. Ich habe niemals Ideale gehabt — jene nebelhaften Bilder einer ungesunden Phantasie, welche nie mit den Erfordernissen des Lebens übereinstimmen. Überall zeigte er mir unter dem schönen Schein die nackte Wirklichkeit in ihrer Rohheit und ihrem Elend, und meisterlich verstand er es, die innere Unwahrheit einer Sache mit einem scharfen Worte zu treffen und zu vernichten. Ich war damals wohl siebzehn Jahre alt, als jene unvergeßlichen Abendstunden für mich begannen, in denen er mit mir sprach, wie mit einem reifen Manne, immer an mein innerstes, gesundes Gefühl appellirend, immer an meinen noch durch keinen Wust angelernten Wissenkrams getrübten Geist. So ging mein Blick schon in jenen Jahren weit über die Grenzen meiner engen Umgebung hinaus.
Noch heute danke ich ihm über Alles, daß er mir alles Kleine aus meiner Jugend entfernt, und alles Klare und Große schon früh nahegerückt hat. Er hat mir nie von Gutem, Edlem, sondern immer nur von Wahrem gesprochen. Und so ist mir das Unglück erspart geblieben, in der Jugend mit schönen Worten gefüttert zu werden, und dann im späteren Leben haltlos und verblüfft dem Leben gegenüberzustehen und sehen zu müssen, daß es eigentlich gerade umgekehrt beschaffen ist, als man es uns in der Jugend gezeigt hat. Halten Sie das nicht für einen unendlichen Vortheil?
Sehen Sie, das ist meine Jugend gewesen. Ich habe Sie Ihnen geschildert in wenigen, groben Strichen. Aber Sie hätten ihn sehen müssen, den Mann mit den eisernen Zügen, dem scharfen, klugen Auge und der unerbittlichen Härte gegen alles, was unwahr war, dabei von einer gradezu großartigen Gerechtigkeit gegen alle Fehler und Schwächen.
Ich weiß nicht, was er sagen würde, wenn er sähe, was aus mir geworden ist. Wahrscheinlich garnichts. Er ließe mich weiter gehen ohne ein Wort. Denn er wußte nur zu gut: ein freier Mensch kann nur dann glücklich werden, wenn er seinem Willen uneingeschränkt folgt. Und er wäre der Letzte gewesen, der auch nur den Versuch einer Beeinflussung gemacht hätte.
Er starb, als ich zwanzig Jahre alt war — „gerade zur rechten Zeit,“ wie er wenige Stunden vor seinem Tode sagte. Ich stand neben ihm, als seine Augen brachen. Noch einmal sprach er, und ich werde seine letzten Worte nie vergessen, die vielleicht zum ersten Mal einen direkten Rath für mich enthielten: „Gieb nie Dein Bestes den Anderen preis! Es macht Dich nur unglücklich. Glaube meiner Erfahrung. Und ich möchte wohl, daß Du glücklich wirst.“ Dann starb er, wie er gelebt hatte — mit dem Lächeln der Verachtung auf den Lippen, welches selbst der Schmerz nicht vermocht hatte zu verwischen. Ich war allein.
Erst lange nach dieser Stunde habe ich die Wahrheit seiner letzten Worte verstanden und nach ihnen gelebt. Vielleicht, daß ich einmal so thöricht bin, sie zu vergessen. Einstweilen aber lebe ich für mich. Ich bin nicht ehrgeizig, und ein entsagendes Märtyrerthum habe ich immer verlacht.
Aber lassen Sie mich nicht abkommen. Ich will Ihnen nichts über die nächsten Jahre sagen: ungebunden, selbstständig und noch ernster als meine Jugend eigentlich war. Doch das Glück meines Lebens hat nie in Frohsinn und Heiterkeit gelegen. Ich war glücklich, wenn ich frei war. Jede Schranke — mein Unglück!
Dann kam ich nach Berlin. Vom ersten Tage an wußte ich, daß hier die neue Heimath meines ferneren Lebens sei, an die mich anklammern, die ich nie wieder verlassen würde. Hier war ich frei. Hier ging der Einzelne unter. Hier fielen für seinen Willen alle Schranken zusammen.
Hier war meine Zeit! Hier konnte der Einzelne sein Bestes für sich behalten, ohne daß es ihm von Anderen entrissen und zerpflückt wurde.
Die letzten Träume haltloser Sehnsucht zerflatterten. Wo ich hinsah, trat ich in den Schmutz der Rohheit und Gemeinheit des Lebens. Ich hatte ja keine schönen Worte, wie die Anderen, um mich über die unzähligen trostlosen Wahrheiten mit einer Phrase hinwegzutäuschen. Aber ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, es sei alles schmerzlos in mir gewesen. Mein Innerstes ist nie durch Kämpfe erschüttert, aber aus der schmerzlichen Bitterkeit, erweckt in mir aus den täglichen Bestätigungen all der Wahrheit, welche mir jahrelang von einem scharfen, erfahrenen Geist gelehrt war, entstand nichts Anderes, als wieder Verachtung, und zuweilen auch ein Haß, der sich aber immer wieder vor dem Verstande verkroch.
In einer solchen Stunde stand ich vor einer Entscheidung. Mein Onkel hatte mir so viel Vermögen hinterlassen, um einige Jahre davon leben zu können. Das war nun aufgezehrt, und ich mußte ernstlich daran denken, mir einen Lebensunterhalt zu verschaffen. Aber was sollte ich werden? Ich hätte meinem Leben vielleicht damals ein Ziel gesetzt, aber alles scheiterte an den Vorurtheilen, von welchen ich mich umgeben sah, und an meinem nüchternen Urtheil. Da ich nie verstanden habe, wie man dem Phantom des Erfolges sein ganzes Leben opfern kann, scheiterten meine wenigen, flüchtigen Pläne an den Trümmern, in welche die Meisten dieser „höheren“ Lebensläufe vor meinem Blicke zerfielen. — Nie hatte mein Leben bis dahin einen großen Schmerz, nie eine große Freude gehabt. Nie hatte ich Jemand geliebt. Mein Onkel hätte mich verlacht, wenn ich ihm mit dergleichen hätte kommen wollen. Sein Leben reichte weit über alles Persönliche hinaus, und dasselbe Denken erwartete er von mir. Nicht einmal edel genug war ich, um Zorn zu fühlen über meine eigene Schwäche. — Nur ein erbitterter Schmerz zuweilen — und dann wieder die Verachtung — die Verachtung ——“
Er schwieg. Ich hatte ihm fast athemlos zugehört. Seine Gedanken weilten in der Ferne, und er schien ganz vergessen zu haben, daß er sich selbst unterbrochen hatte und ich auf das Ende seiner Erzählung wartete.
Ich mußte ihn daran erinnern.
„Das Ende?! — Nun ja, hören Sie weiter. Ich weiß nicht, ob Sie die Stunden kennen, wie solche sich damals durch Wochen über mein Leben ausdehnten. Es ist, als breite sich über alle innere und äußere Welt ein trüber Schleier; alle Farben fließen in ein Bleigrau zusammen; alle Gefühle verebben, und der Wille sinkt sehnenlos in sich zusammen — nichts, nichts als trostlose, schreckliche Gleichgültigkeit gegen alle Menschen und am meisten gegen sich selbst. So war es damals mit mir. Was aus mir wurde, nicht eines Gedankens war es mir mehr werth. Ja, nicht einmal so viel Kraft hatte ich noch, um noch die Sehnsucht nach dem Tode zu fühlen.
Nichts fesselte mich mehr — keine Liebe, keine Hoffnung, kein Wunsch ——
Kennen Sie dies Gefühl nicht, werden, müssen Sie es kläglich, unmännlich, krankhaft nennen. Einerlei. Es war bei mir mehr als eine vorübergehende Stimmung, der wohl Jeder einmal unterlegen ist.
Nach Wochen dieser thatenlosen Tage, von denen noch keiner mir einen festen Entschluß, nicht einmal den Gedanken an einen solchen gebracht hatte, trieb ich mich öfters an einem von den Orten herum, an welchen Sie mich kennen gelernt haben. Ich konnte da stundenlang sitzen: apathisch, gleichgültig und dabei doch alles sehend, was um mich her vorging. Dies ganze, fremde Leben übte eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus. Hier stießen die Gegensätze fest aufeinander, über die ich nicht hinweg konnte. Zum ersten Male seit langer Zeit fühlte ich den Pulsschlag eines regeren Lebens in mir, der mich aus der öden Leere der letzten Wochen aufzurütteln schien. —
Da trat eines Abends plötzlich in dem Gesang und Spiel eine Pause ein. Der Klavierspieler war unwohl geworden und mußte hinausgehen. Das Publikum schrie ungeduldig nach Fortsetzung. Der Besitzer des Lokals war in Verzweiflung.
Ich saß vorn, nahe am Klavier. Da überkam mich eine plötzliche, wilde Laune — ich sprang auf, setzte mich an das Klavier und spielte das unterbrochene Stück weiter. Das Frauenzimmer sang weiter, das Publikum lachte — und ich spielte den ganzen Abend. Es war in der That nichts, als eine absichtslose Laune. — Als der Abend zu Ende war, kam der Besitzer auf mich zu, dankte mir und gab mir — „für meine Mühe,“ wie er sagte, „drei Mark.“ Ich lachte, und überlegte eben, ob ich dem Menschen das Geld vor die Füße oder es einem der Frauenzimmer in den Schooß werfen sollte, als mir ein Gedanke kam — ich steckte das Geldstück ein, und fragte, ob ich wiederkommen könne, um jeden Abend hier zu spielen. Es war gut.
Ich ging an diesem Abend mit ziemlich seltsamen Gedanken nach Hause. Aber ich nahm, was mir ein Zufall geboten hatte. Und von jenem Abend an bin ich wohlbestallter Klavierspieler — habe ein Einkommen, welches meinen kleinen Bedürfnissen genügt — und was mir mehr werth ist, den ganzen Tag über frei . . . Seit jenem Abend aber habe ich das Leben kennen gelernt — in all’ seiner Rohheit, in all’ seinem Schmutz, und in all’ seiner Wahrheit, wie ich es wünschte! Und ich darf verachten, glauben Sie es mir!“
—— Er schwieg, und ich wußte ihm nichts zu antworten. Aber er schien eine Antwort auch nicht zu erwarten. Unsere Gläser waren lange leer. Hinter dem Büffet schlief leise die Alte. Es war wieder alles lautlos still um uns. Da stand er auf und trat still, ohne die Alte zu wecken, hinter den Ausschank und füllte selbst unsere Gläser.
Wieder saßen wir schweigend einander gegenüber. Ich sah in sein Gesicht. Es war vollkommen unbewegt, nur um seinen Mund schien mir ein scharfer, bitterer Zug zu liegen, derselbe, der mir vor einigen Tagen, als ich ihn zuerst gesehen hatte, aufgefallen war.
„Wie lange sind Sie schon in dieser Beschäftigung?“ fragte ich dann.
„Fast ein Jahr. Aber ich bin natürlich nicht an demselben Orte geblieben. Ich will viel sehen, und wechsele daher zuweilen.“
„Und lockt Sie denn nichts,“ fragte ich weiter, „dem Sie, wenn auch nur einen Theil Ihres Lebens widmen möchten?“
„Nur mein eigenes Glück.“
Aber wieder wußte ich nicht, ob es Wahrheit war, die aus diesen Worten sprach, oder der Hohn auf sich selbst. Er sprach noch weiter.
„Nein, mich lockt nichts. Nicht dies wahnsinnige Treiben zwischen äußeren Wünschen und tiefster Entsagung, an dem so viele zu Grunde gehen. Und nicht jene behagliche Ruhe einer selbstgenügenden Zufriedenheit, welche sich übrigens keiner geben kann, sondern die man wiederum von seiner Natur mitbekommen haben muß. Dann ist sie allerdings vielleicht das Beste zum eigenen Glück.“
„Und wie leben Sie jetzt?“ Ich war gespannt auf seine Antwort.
„Gleichgültig. Ich thue, was ich will. Ich lese viel, aber nur, was mir angenehm ist. Es ist sinnlos, sich an Dingen abzuquälen, welche keinen Nutzen für das eigene Glück haben.“
„Aber vielleicht für das Anderer . . .“ warf ich ein.
Da lachte er, schneidend ungläubig. Ich habe nie einen Menschen gekannt, der so wie er lachen konnte — so schneidend, so verachtend, so herzlos — und dann wieder so tief, so herzlich, mit einem Lachen, in das sich noch eine letzte Erinnerung an seine frohe Kindheit geflüchtet zu haben schien.
„Für die Anderen?! Wer sind die Anderen? Oder haben Sie vielleicht schon einmal einen Menschen gesehen, der etwas für die Anderen gethan hätte, ohne daß diese ihn entweder ausgelacht, oder zu Tode gesteinigt hätten? — Das sind ja Redensarten und nichts weiter.“
Wieder hatte ich ihm gegenüber ein erkältend-fremdes Gefühl, wie es mich zuweilen in der Gesellschaft überfällt, wenn ich sehe, wie mir Jemand eine meisterhafte Komödie vorspielt, ohne daß ich im Stande bin, ihm die Maske abzureißen. Ich schwieg verstimmt, und wäre am liebsten aufgestanden und hinausgegangen. Und doch mußte ich innerlich diesem schrankenlosen Muth eigener Meinung eine Bewunderung zollen, welche ich mir selbst nicht eingestehen wollte. Denn die Verachtung entsprang bei ihm nicht jener dummen Überhebung einsichtsloser Menschen — dazu war er zu scharfdenkend und klug; und auch nicht der ebenso thörichten Einbildung, welcher so leicht bedeutende Menschen verfallen — dafür war er zu gleichgültig gegen sich selbst. Oder war er auch hierfür zu klug? Aber vielleicht einem großen, überwundenen Schmerze, der nichts anderes in ihm hinterlassen hatte, als diese Gleichgültigkeit. Ich wollte nicht glauben, daß allein seine Erziehung und sein Leben so alles in ihm ertödtet hatten. Wieder und wieder aber erschien er mir wie ein Räthsel, dessen Lösung ich immer ferner kam, je mehr er selbst mich ihr näher zu bringen schien.
Aber ich wollte mir Wahrheit über ihn erzwingen, und so sagte ich, nachdem einige Minuten verflossen waren:
„Ich kann Sie nicht verstehen; und wenn ich offen gegen Sie sein soll: ich kann auch keine Sympathie fühlen für ein Leben, wie Sie es führen.“
Er hatte diese Antwort auf keinen Fall erwartet. Aber kein Zug seines Gesichts veränderte sich. Mit vollkommen gleichmüthiger Stimme sagte er:
„Ja. Das kann ich mir denken. Sie fühlen eben nicht groß genug, um gerecht zu sein. Übrigens habe ich Ihre Sympathie weder erwartet noch gewünscht.“
„So werden Sie bereuen, mir alles dies erzählt zu haben.“
„Ich bereue nie etwas. Nur Schwächlinge bereuen.“
Er warf den Rest seiner Cigarre fort und stand nachlässig auf.
„Wollen wir gehen? — Es ist spät geworden.“
Wir weckten die Alte, bezahlten, und gingen, nachdem er ihr geholfen hatte, die Lampen auszulöschen.
Wir standen auf der Straße und er reichte mir die Hand. Aber ich mußte noch eine Frage stellen.
„So erkennen Sie überhaupt keine Pflichten gegen Andere an?“
„Nein, wozu denn? Wir haben lange genug immer nur Pflichten gegen Andere gekannt, und darüber die vornehmsten gegen uns selbst vernachlässigt — werden wir uns endlich einmal über diese klar.“
Ich wußte nun nichts mehr zu sagen, als: „Sie haben keine Liebe.“ Und mit mitleidloser Härte in der Stimme hörte ich ihn antworten: „Nein, ich habe keine Liebe.“
Und als wäre es ihm lästig, noch ein Wort zu sprechen, gab er mir noch einmal schnell die Hand und ging schnell von mir. Ich ging langsam durch die Straßen.
Über mir lag eine undurchdringliche Nacht, und die Lichter kämpften mühsam gegen die Finsterniß an. Ein kalter Wind wehte um die Straßenecken; in der Luft lag es wie Eis und Schnee. Der Winter mußte bald beginnen.
Mir war, als habe die Sonne nie geschienen. Ich konnte mich nicht mehr auf ihren Schein besinnen, so trübe und dunkel war alles um mich und in mir. Ich dachte an das arme Leben, welches sich selbst doch so reich zu sein dünkte. Aber ich konnte es nicht verstehen.
Als ich an dem Café chantant vorbeikam, in welchem er spielte, ging die Thür auf und vier Gestalten traten lärmend und lachend heraus auf die Straße — zwei Männer, und zwei von den Chansonetten, welche bis jetzt da drinnen gezecht hatten. Sie waren ziemlich betrunken. Ich ließ sie vor mir hergehen. An den Füßen der einen saßen noch die leichten, dünnen Schuhe, welche sie auf der Bühne getragen hatte, und das Kleid flatterte in dem scharfen Wind um die hellen Tricotstrümpfe. Sie lehnte sich müde an ihren Begleiter. Als wir in die Friedrichstraße einbogen, bestieg jedes der beiden Paare eine der dort haltenden Droschken. Ich hörte, was der Eine dem Kutscher zurief, und sah daraus, wer es war: ein stadtbekannter Wüstling.
Ein unsägliches Erbarmen überkam mich — mit ihnen allen, mit Paul Jordens, mit mir selbst. Ich sah heute Abend alles anders, wie vorher. Aller Jammer war mir näher gerückt, aller Frohsinn in die Nacht getaucht.
Ich ging die Friedrichstraße hinunter, die ich so unzählige Male gegangen war — halb gleichgültig, halb interessirt. Aber nie hatten mich solche Gefühle durchwogt, wie in dieser Nacht. Früher hatte ich über all dem Gewoge gestanden, heute war ich mitten drin in all seinem Elend.
Es war vielleicht zwei. Aber noch herrschte volles Leben, wie am Tage. Zum ersten Male begann ich Berlin zu verstehen . . .
Ich hörte, was sie zu mir sagten — die Weiber, die an mir vorüber gingen, aber zum ersten Male verstand ich ihre Worte. Ich hörte aus ihnen heraus, was in ihnen lag: die Frechheit, das Verlangen — der Jammer und die Noth — die Angst vor dem kommenden Tage — und die Furcht und die Gier — die Scham — und die zuchtloseste Gemeinheit ——
Auf der Weidendammer Brücke engte sich das Leben am stärksten zusammen. Ich bog mich über den Rand der Brücke und sah hinunter in die trübe, schwarze Flut der Spree, welche hier schon so viel von dem Schmutze ihrer Stadt aufgenommen hatte, und doch träge und geduldig weiterfloß.
Und weiter. Der Stadtbahnhof lag ruhig. Aber unter den Linden war wieder das nächtliche Lichtmeer am Café Bauer. Hier kreuzten die Lebensadern sich in unverminderter Stärke. Und doch, auch hier: immer dasselbe Spiel des Lebens, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Eine Wechsel ohne Unterschied. Hier hatte die Nacht ihre Herrschaft verloren. Aber das blendende Leben war ohne innere Kraft. Es konnte reizen, aber nicht befriedigen; es war ein Leben, das vom Tode lebte.
Und weiter. Nach Hause. Und dort saß ich noch lange in dem kalten Zimmer und dachte an ihn. Ich dachte an seine reiche Jugend und an sein armes Leben; an seine bewundernswerthe Kraft, und seine verächtliche Schwäche . . . Wie war es möglich, so das eigene Leben hinabzuzerren, mit Füßen zu treten und doch wieder nichts als nur dessen Werth zu kennen? So allem Schönen erschlossen zu sein, und doch ihm den Rücken zu kehren, ohne jeden Anspruch auf die allergewöhnlichste Achtung aller Anderen? Mit klarem Blicke mitten in den Schmutz hineinzutreten, und doch ihm mühelos ausweichen zu können? — Wohl konnte ich begreifen, wie er in einer Art wahnsinniger Laune, grenzenloser Verzweiflung oder kühlster Betrachtung einen solchen tollen Entschluß fassen konnte. Aber nicht, wie er darin ohne innersten Widerwillen verharren konnte?
Aber ich begann ihn zu verstehen, je länger ich über ihn nachdachte; zu ahnen, auf wessen Seite heute die Beschränktheit des Blickes, die Ungerechtigkeit des Urtheils, die Kleinheit des Empfindens gewesen war.
Ich glaube, ich habe in dieser Nacht begonnen, gerecht zu werden.
Als ich am folgenden Abend — lange vor der elften Stunde — in dem Café chantant war, und er mich sah, flog ein leichtes Lächeln über seine Züge. Ich ging in der ersten Pause auf ihn zu und begrüßte ihn. Aber er schien es nicht gern zu sehen, und wir verabredeten uns schnell, nach Schluß der Vorträge zusammen fort zu gehen.
Ich sah an diesem Abend meine Umgebung mit ganz anderen Augen an, als sei ein Schleier zwischen ihr und mir gefallen. Ich suchte zu verstehen, und fühlte, wie es mir gelang. Aber er machte mich nicht fröhlicher, und als ich nachher Paul Jordens gegenübersaß — in der kleinen Kneipe — ließ ich mir lange und viel von ihm über das Leben und Treiben dieser Menschen erzählen. Er enthüllte Schicksale vor meinen Augen, welche mir bis dahin so fremd gewesen waren, daß ich sie nicht einmal geahnt hatte. Und mehr und mehr begann ich in den nächsten Wochen, in denen uns mancher Abend so beisammensah, auch ihn zu verstehen, und was es war, das ihn an diese Kreise band. Tiefer und tiefer sah ich in den Zwiespalt seiner merkwürdigen Natur hinein.
Die Wochen sind schnell vergangen. Er selbst hat ihnen ein Ende gemacht, und ich weiß es jetzt, aus welchem Grunde. Er wollte nicht gekannt sein. Und als er mir an dem letzten dieser Abende die Geschichte seiner Liebe erzählt hatte, da kannte ich sein ganzes Leben. Bis dahin hatte er mich interessirt. Nun ich ihn zu lieben begann, habe ich ihn verloren.
—— Es war mitten im Winter. Wir trafen uns zwanglos wie immer. Eines Abends war er in besonders aufgeregter Stimmung. Seine ganze Verbitterung war in ihm wach geworden, und seine Stimme klang schneidender noch, wie sonst. Er sagte mir selbst, er werde immer mehr zu Allem unfähig — die Tage verbringe er halb durchschlafend, (und das sei das Beste), und halb in dumpfem Brüten; die Nächte durchwache er trinkend meist hier in der kleinen Kneipe.
Ich fand ihn verändert. Er fing an müde zu werden; wir hatten an manchem Abend fast stumm einander stundenlang gegenüber gesessen. Am Tage wollte er mich nicht sehen. Ich wußte nicht einmal, wo er wohnte. Er that mir leid, aber ich hätte jedem Anderen eher helfen können, wie ihm. Dennoch lag in seiner ganzen Erscheinung noch immer nicht eine Spur des Heruntergekommenen. Er war wie immer sehr einfach, aber tadellos sauber gekleidet.
Aber in seiner Haltung war schon unbewußt jenes Übermaß des Widerwillens erkennbar, welches mich das Schlimmste für ihn fürchten ließ.
An diesem Abend nun war er so lebhaft, wie ich ihn seit Langem nicht mehr gesehen hatte. Ihn beschäftigte offenbar ein Gedanke, zu welchem er immer wieder von unserem Gespräch absprang.
— Dann schien er sich plötzlich zusammenzunehmen, wie zu einem langgehegten Entschluß.
„Komm,“ sagte er, — wir standen schon lange auf Du miteinander — „ich will Dir noch Etwas erzählen. Ich hatte es schon länger vor, aber grade heute sollst Du es hören. Du sollst erfahren, daß ich auch einmal so etwas wie ein Herz in meiner Brust gefühlt habe, sonst glaubst Du es doch nicht.“
Damit stand er auf und ging zu der Alten hinter das Büffet.
„Sie können zu Bett gehen, Mutter, es kommt ja doch Niemand mehr. Wir bleiben heute lange. Unser Bier holen wir uns heute selbst. Den Schlüssel bringe ich morgen früh — oder vielleicht sind wir dann auch noch da.“
Als die Alte mit ihrem gewohnten freundlichen Gruß aus der Stube über den Sand geknirscht war, setzte er sich wieder zu mir. Es war lautlos stumm um uns. Die Hausthür fiel in’s Schloß, und ich hörte wie die Alte den Schlüssel umdrehte. Dann begann er. Und wie erzählte er! Mitlebend — mitbelebend. —— So haben mich nie wieder Worte aus einem Menschenmunde gepackt. Nichts habe ich vergessen; ich möchte sagen, kein Wort.
—— „Ich hatte einige Wochen gespielt, viel gesehen, was mir neu war, viel gehört, was ich bisher kaum für möglich gehalten hatte. Da erschien an einem Freitag Nachmittag auf der Probe eine neue Sängerin. Diese Proben wurden Nachmittags in dem halbhellen Saal abgehalten. Da versank aller Flitter des Abends vor dem grauen Licht des Tages, vor der grenzenlosen Nüchternheit, welche in dem leeren Raum und unter uns herrschte. Die Sängerinnen erschienen in ihren Straßenkleidern, unlustig und verschlafen. Aber wir waren doch unter uns, Menschen bei Menschen.
Die Sängerinnen wechselten alle Augenblicke, mit Ausnahme von einigen altstabilen, welche an den Abenden resignirt den etwas solideren Hintergrund abgaben. So war es nichts Auffallendes, daß an jenem Nachmittag ein leer gewordener Platz von einer Anderen ausgefüllt wurde. Aber schon als sie zum ersten Male sang, fesselte sie meine Aufmerksamkeit. Sie war noch ein Kind. Vielleicht noch nicht sechszehn Jahre — und doch schon eine gleichgültige Sicherheit, welche mir sagte, daß sie in ihren fünfzehn Jahren mehr erlebt haben müßte, wie zehn andere Frauen in ihrem fünfzigsten. Sie hatte keine Spur von Stimme. Die hat überhaupt keine einzige von diesen Sängerinnen. Aber eine solche geniale Natürlichkeit, eine solche packende Ausdrucksfähigkeit in Allem, was sie sang, daß es mich überraschte. Wann hatte ich mich jemals für einen fremden Menschen interessirt? Nie. Aber dies Kind mit seiner reizenden Unbefangenheit in seinem Wesen zwang mir Beachtung ab. Ich suchte nach Beendigung der Probe den Besitzer des Lokals auf. Sie wurde sofort engagirt. Als ich aber wieder hereinkam, war sie fort.
Am Abend sang sie zum ersten Mal. Ich war gespannt auf ihre Costüme. Bei einer Frau sagen diese beinahe Alles. Sie hatte keinen Erfolg. Ich hatte es vorher gewußt, und freute mich fast darüber.“
— Er hielt inne und warf eine Photographie vor mich hin.
„Das ist sie.“
Ich sah ein kleines, reizendes Gesicht mit unregelmäßigen Zügen, einem feinen Mund, und Augen voll Klugheit und Tiefe — einem Gesicht voll Leben, voll Ausdruck, und über ihm lag jener eigenthümliche Duft, welcher manchen Zügen etwas unerklärbar Anziehendes verleiht. Aber einem schärferen Auge sprach dieses jugendliche Gesicht auch von einer langen, langsamen Jugend voll Elend und Bitterkeit. Das Bild lebte und sprach. Es dauerte lange, ehe ich es ihm zurückgab. Es schien mir Alles zu sagen, was er mir nicht sagen konnte, weil es Dinge giebt, über die überhaupt nie ein Mensch zum Anderen spricht . . .
Dann antwortete ich ihm; aber es war nicht das, was ich sagen wollte.
„Sie ist nicht schön, aber anziehend — nicht unberührt —— la beauté du diable —“
Da lachte er, schneidend und gellend.
„La beauté du diable — ja, das war sie! — Nicht unberührt“ — und ich sah den Zorn in seine Schläfe steigen — „nicht unberührt? — Was verlangst Du eigentlich von einem Mädchen, das seine Jugend hindurch durch den Schlamm des Lebens in seinen tiefsten Tiefen gezogen wird?! — Aber keusch war sie noch — hörst Du, keusch war sie noch, als ich sie kennen lernte, und daß sie das noch war, ist anbetungswürdig. Denn das wären hunderte und aberhunderte von den Mädchen aus Deinen Ständen nicht mehr gewesen, wenn sie durch eine solche Jugend geschleift worden wären, wie dies Wesen!“
„Das glaube ich Dir gern.“ Ich wurde nun ebenfalls aufgeregt. „Oder glaubst Du vielleicht, ich rechne den Zeitpunkt, bis zu dem ein Mädchen unberührt bleibt, von dem Augenblick an, in dem sie in den Armen eines Mannes liegt, einerlei ob sie diesem durch die Ehe verbunden ist oder nicht? Ich glaube, hier entscheidet doch nur die Natur?“
Er sah mich an, als ob ich ihm etwas gesagt hätte, woran er nie bisher gedacht.
„Oder die Liebe!“ fügte ich hinzu.
Aber da flog über sein Gesicht die alte Verachtung.
„Worte! Worte!“ — Er hatte ihr Bild wieder an sich genommen und schien unschlüssig, ob er weiter erzählen sollte oder nicht.
„Unberührt ist die Frau, die nie einem Manne eine größere Macht über sich eingeräumt hat, als sich selbst, glaube ich.“
Er schwieg.
„Dann war sie immer keusch, so lange ich sie kannte,“ sagte er dann. Es war wie ein Aufathmen; und doch klang es aus seinen Worten heraus wie furchtbare Qual.
Ich wußte jetzt, daß er sie liebte. Darum bat ich ihn freundlich, mir weiter zu erzählen. Zum ersten Male dauerte er mich. Dadurch gewann ich zum ersten Male eine Macht über ihn. —
Klar und ruhig, wie er begonnen hatte, fuhr er fort. Er verstand es meisterlich, sich zu beherrschen.
— „Sie war etwa vierzehn Tage schon in dem Café chantant, ohne daß wir mehr als einige kurze Worte, welche sich auf die Vorträge bezogen, miteinander gewechselt hatten. Ich hatte mir vorgenommen, es mit ihr zu halten, wie mit den übrigen. Ich wollte allein sein und allein bleiben.
Da trat sie eines Abends zum ersten Mal in dem Costüm eines Schusterjungen auf und sang eins der urwüchsigen Couplets, wie sie so nur auf Berliner Boden entstehen können. Sie hatte mit demselben eigentlich zum ersten Mal Erfolg. Ich hatte wieder meine helle Freude an ihrer genialen Urwüchsigkeit. Wie sie da stand, in der leinenen Jacke, ihrem kurzgeschnittenen Haar, die Hände in den Hosentaschen vergraben, mit der drastischen, drolligen Miene — so voller Leben und Frechheit, war sie der verkörperte Berliner Straßenjunge in all’ seiner dummdreisten Pfiffigkeit! Das war doch einmal etwas Anderes, als das ewig langweilige „Komm’ herab, o Madonna Theresa“ — welches damals an der Tagesordnung war, und welches sogar meiner Gleichgültigkeit anfing zu viel zu werden.
Als ich nach Hause gehen wollte, — ich hatte noch mit dem Wirth gesprochen — stand sie vor der Thür, in ihrem einfachen Kleid, keck und herausfordernd, und dabei überlegen-gleichgültig. Ich wollte mit ein paar Worten vorbeigehen. Aber sie sagte plötzlich: „Was eilen Sie denn so? Wir können doch einmal zusammen gehen.“ Sie sagte es, wie wir überhaupt zu einander sprachen, offen und absichtslos. Denn wenn wir unter uns sind, brauchen wir uns keine Maske vorzulegen, und sie ahnte sicher nicht, daß ich anders, als ein ganzes Leben, gelebt haben könnte, wie jetzt. Wir gingen also nebeneinander her, tranken noch eine Tasse Kaffee miteinander und unterhielten uns über das, was uns zunächst lag, ohne alle Nebenansicht, welche jedes Gespräch verzerrt, einfach und natürlich. Dann gaben wir uns die Hand und gingen nach Hause.
So lernten wir uns kennen. Sie hatte kein Verhältniß, an das sie gebunden gewesen wäre, wohnte bei einer Collegin, und so kam es ganz von selbst, daß wir allmählich Abend für Abend zusammen nach Hause gingen, wenn sie nicht ein oder das andere Mal in dem Chantant bleiben mußte, weil sie von einem der Gäste eingeladen worden war. Wir sprachen immer nur zusammen, wie an jenem ersten Abend: wie Menschen, die in dieselben Lebensgleise geschleudert sind, ohne die Absicht einander zu gefallen. So war unser Beisammensein immer zwanglos und unbefangen. Unser Gespräch stockte nie, kurz — wir waren gute, liebe Kameraden, die sich prächtig verstanden. So hatte ich keine Gelegenheit, mir darüber klar zu werden, wie unentbehrlich sie mir allmählich wurde.
Mit der Zeit lernten wir natürlich auch unser gegenseitiges Leben kennen. Ich bin vielleicht der Einzige gewesen, dem sie alles erzählt hat, was sie erlebte.
Eben weil ich ihr Freund, und nicht ihr Geliebter war. Gegen diesen hätte sie nie so schrankenlos offen werden können. Hier hätte sie immer jene jeder Frau angeborene Koketterie, welche erwerben, festhalten, anziehen und fortstoßen will, abgehalten, gewisse Dinge zu sagen. Aber wir wußten nicht, daß wir uns gegenüber etwas zu gewinnen oder zu verlieren hatten. So erzählte sie mir Alles, nicht an einem Abend, aber sie hat mich in Alles unbewußt und rückhaltlos hineinblicken lassen, wie es gerade kam und wie ich es ebenso sie bei mir ließ . . . Wir gewöhnten uns an einander — und doch ist Alles anders geworden! Aber in jenen Wochen haben wir uns Alles gesagt. Mit übermüthigem Spott erzählte sie mir jeden Abend, wenn wir entweder ermüdet gleich nach Hause gingen, oder noch zusammen hier oder dort eine Stunde verbrachten, was sie gesehen und erlebt hatte. Sie verstand meisterhaft zu charakterisiren. Wie lachte sie über die dummen Männer, welche glaubten, mit ihrem schmutzigen Geld sei jedes Weib käuflich; über die Jammergestalten, welche jeden Abend in dem Tingel-Tangel herumlungerten und nachher nach Verdienst ausgebeutet wurden! Mit welcher Verachtung konnte sie von der rohen Gemeinheit sprechen, von welcher wir umgeben waren, und über welcher wir doch standen! Aber sie empfand trotzdem nie eine Sehnsucht nach etwas Anderem, weil sie es nicht kannte — und ich? — nun ich empfinde sie noch heute nicht, denn es ist ja doch überall dasselbe. Bei Tage sahen wir uns selten. Sie kam ab und zu auf mein Zimmer um mich zu der Vorstellung abzuholen, oder wenn sie sich allzu sehr langweilte, stöberte in meinen Büchern umher, und wir schlenderten dann zusammen durch die Straßen — aber immer wie gute Freunde, die sich zufällig zusammengefunden haben und sich für einander interessiren. Ich wüßte nicht, daß jemals die Leidenschaft mich in diesen Wochen berührt hätte, einerlei ob sie bei mir oder nicht bei mir war. Ich lebte ruhig und gleichgültig fort. Ich wußte nicht, daß ich nur in ihr noch lebte. Gelangweilt haben wir uns nie zusammen. Sie war unglaublich interessant — in Allem, was sie that und sprach, einzig originell. Ihr urwüchsiger Humor, den sie sich durch eine erbarmungswürdige Jugend errettet hatte, und meine Skepsis paßten zusammen . . . So gingen wir nebeneinander her. Das kann man nicht, wenn man sich liebt. Wenigstens nicht, so lange man jung ist. Unsere Unbefangenheit machte uns offen und rückhaltlos gegeneinander. Keiner dachte daran, daß eines Tages Alles anders werden könnte . . .
Du siehst, ich kann mich von diesen Wochen nicht trennen. Aber sie sind so ziemlich das Einzige, in das meine Erinnerung sich flüchten kann, aus all’ den letzten Jahren.
— An einem Abend hat mir Hedi erzählt, wie sie nach Berlin gekommen ist. Von ihrer allerersten Jugend wußte ich noch wenig; sie hat immer nur in Andeutungen von ihr gesprochen. Warum auch? Warum reden von einer Jugend ohne Liebe, ohne Licht und ohne Alles, was sonst eine Jugend verschönt? Ein Theaterkind — am Tage bleigraues Elend, am Abend lügenhafter Flitter — unstät — heimatlos —— was sollte sie davon reden? Aus einer Hand in die andere geschleudert, behandelt, nicht wie ein Mensch, nein, wie eine Waare, so war sie endlich nach Stettin gekommen, wo sie in einem Chantant angefangen hatte zu singen. Ihren Verdienst mußte sie einer Alten bringen. Sie trieb sich meist zwischen den Akrobaten, den Komikern, den aus allen Ständen zusammengewürfelten weiblichen Mitgliedern der Truppe umher. Die Geschäfte gingen schlecht. Bisher hatte sich Keiner um sie gekümmert. Da erschien eines Abends ein junger Mensch hinter der Bühne, und machte sich an die eine der beiden Chansonetten heran, mit denen sie zusammen wohnte. Sie stand unbeachtet hinter einer Coulisse, und fing einige der halblaut geflüsterten Worte auf. Dann sah sie, wie sich das Weib etwas in die Hand drücken ließ.
Sie wußte Alles — mit einem Schlage! Dort war über ihr Schicksal entschieden, wenn sie sich nicht wehrte. Sie kannte das Alles — seit ihren ersten Tagen hatte sie Derartiges vor Augen gehabt, täglich!
Sie war meist mit den Anderen nach Hause gegangen; selten allein. Bisher war sie auf ihren Heimgängen unbelästigt geblieben.
An diesem Abend gesellte sich der junge Mann zu ihr, den sie vorhin auf der Bühne gesehen hatte. Sie hatte es vorher gewußt, und ihren Plan zurecht gelegt. Sie ließ ihn ruhig neben sich hergehen, und sich seine Redensarten ruhig gefallen. Als sie aber an ihrer Hausthür waren und er sich mit hineindrängen wollte, stieß sie ihn plötzlich zurück, schlug die Thüre zu und schob den Riegel vor. Dann lehnte sie sich an die Wand, um nicht umzufallen . . .
Sie hörte noch sein Bitten, sein Fluchen, sein Drohen . . . dann ging er.
Sie stieg die Treppe hinauf, und trat in die Zimmer, welche sie mit den Anderen und der Alten bewohnte. In dem zweiten lag diese und schlief, wie unaufweckbar. Sie setzte sich hin und wartete — zwei lange Stunden auf die Anderen. Sie kamen nicht. Natürlich; sie hatte auch das gewußt. Sie war verkauft. Alles war abgekartetes Spiel. Und war es heute nicht gelungen, so würde es das zweite oder dritte Mal unabweislich gelingen müssen. Sie wußte Alles. Man wächst nicht umsonst unter Schande und Elend auf. Aber ihre Natur wollte um das Letzte wenigstens kämpfen.
Als sie länger als zwei Stunden in der Dunkelheit gewartet hatte, stand sie auf und nahm sich von dem Gelde aus der Schublade der Kommode so viel, als sie wußte, daß ihr Verdienst betrug. Dann ging sie — ohne sonst das Geringste mitzunehmen — durch die leeren, dunklen Straßen, und blieb im Wartesaal des Bahnhofs, bis der Frühzug nach Berlin abging. Am Nachmittag desselben Tages war sie in Berlin am Stettiner Bahnhof.
Sie hatte in der großen Stadt nur eine Bekannte, mit der sie früher zusammen gespielt hatte, und von der sie wußte, daß sie in einem Specialitäten-Theater im Osten Berlins sang. Sie ließ sich durch eine Droschke hinfahren. Keine Spur von Aufregung war an ihr bemerkbar. Ruhig wartete sie auch hier, bis die Vorstellung begann, in dem kleinen, gänzlich leeren Garten.
Zum ersten Mal vielleicht in ihrem Leben war ihr der Zufall günstig. Sie fand die Gesuchte, und einen Platz für die ersten Wochen auf derselben Bühne.
Dann kam sie zu uns, in der ersten Entwickelung ihres großen Talentes, welches nur ich kannte . . .“
Er schwieg. Wir füllten uns unsere Gläser. Alles war um uns still. Ich hörte das leise Knistern der Lampen. Aber er fuhr fort, und seine Stimme wurde wieder wärmer und tiefer.
— „Ich habe sie gekannt, wie sie nie ein Anderer kannte. Ich bin — ich muß es immer wiederholen — auch der Einzige gewesen, der sie verstand, wohl weil nur ich mir die Mühe gab, sie zu verstehen. Für mich war es keine Mühe, nur Freude. Wenn wir uns geliebt hätten, wäre diese Freude zu einer bangen Qual geworden. So trat sie nie meinen Wünschen entgegen. So thöricht waren wir Beide nicht, auch nur einmal daran zu denken, wir Beide könnten zurück. Wir mußten weitergehen — immer hinunter — immer tiefer ——
„Einmal muß es ja doch kommen,“ sagte Hedi eines Abends zu mir, als sie auf meinem Zimmer war, und Cigaretten rauchend in meinem alten Lehnstuhl lag — „einmal ist es fertig mit unserer Kraft. Oder glaubst Du, daß wir alt werden, Paul?“
Ich konnte ihr Nichts antworten. Da wurde sie böse. „Laß doch endlich Deine langweiligen Bücher in Ruhe,“ rief sie und stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf. „Wir müssen doch gleich fort.“
Ich stand auf und stellte mich lächelnd vor sie hin. Sie war entzückend, wie sie so da saß. Aber ich war blind. Ich sah nur immer noch den guten Kameraden in ihr.
„Nächstens gehe ich zu Direktor S., und bitte ihn, Dich Probe singen zu lassen. Dann kommst Du aus dem Loch heraus.“
„Und Du?“
„Ich bleibe in meinem Loch.“
„Nein, dann mußt Du mit.“
„Vielleicht als Komiker?!“
„Ach was, dann verdiene ich so viel, daß wir Beide davon leben können.“
„Du bist ein Phantast, Hedi.“
„Ja, ich bin ein Kind, Du alter Großpapa,“ lachte sie, „ein Kind — und das bin ich doch eigentlich nie gewesen . . .“ Sie konnte zuweilen schwermüthig werden, und ich suchte sie dann um jeden Preis aufzuheitern. Aber heute wollte es mir nicht gelingen.
„Doch Hedi, Du bist immer ein Kind gewesen!“
Sie sah mich an mit ihrem seltsamen, forschenden Blick, in dem etwas von jenem Mißtrauen lag, welches sie gegen Jeden erfüllte. Sie hatte es sogar mir gegenüber noch nicht ganz verloren, und ich sah es oft, ganz unvermuthet, bei ihr hervorbrechen, und stets, wenn ihr etwas Neues in den Weg trat.
Aber es schwand mir gegenüber auch sofort wieder.
„Gieb mir noch eine Cigarette, Paul.“ Sie rauchte leidenschaftlich gern und viel.
Dann lehnte sie sich wieder zurück und wieder lag der Schatten der Schwermuth über ihrem lieblichen, feinen Gesicht.
Ich stand noch immer vor ihr.
„Ja, wir führen ein jämmerliches Dasein, Paul. Und wir können nicht heraus. Wir kommen nur immer tiefer hinein. Ich habe mich so lange gewehrt, so lange — aber einmal, da ist es doch zu Ende. Und wenn ich einmal gefallen bin —“, und ein heißes Zucken ging über ihr Gesicht, „dann aber auch ordentlich! dann muß es schnell zu Ende sein!“
So hatte sie noch nie gesprochen.
„Meine kleine Hedi, du übertreibst. Du wirst noch einmal einem Mann seine liebe Frau.“
„Paul, werde nicht albern! — Du lügst ja“ — schrie sie auf, „Du lügst ja! Du weißt, wie elend wir Alle sind, und Du führst solche Reden!“
Jede Andere hätte geweint. Aber sie konnte nicht mehr weinen. Der Jammer ihrer Kindheit hatte alle ihre Thränen aufgesogen.
Sie warf ihre Cigarette fort und sprang auf.
„Laß uns gehen,“ sagte sie hart.
Als wir aber auf der Straße waren, hatte sie all ihren Leichtsinn und ihre Unverwüstlichkeit wieder, und „immer lustig, immer munter, denn die Hedi geht nicht unter —“ sang sie vor sich hin. Den Abend spielte sie, wie ich sie nie gesehen habe. Fortwährend kleidete sie sich um und ich mußte ihr ihre Lieblingsstücke spielen. Sie hatte Erfolg. Blumen auf Blumen wurden ihr zur Bühne hinaufgeworfen. Sie legte sie alle lächelnd bei Seite. Ich fürchtete schon, sie würde heute Abend eingeladen. Aber es war Sommer, und da hat selten Jemand Lust in der dumpfen Hinterstube noch stundenlang zu sitzen. So gingen wir um elf Uhr wieder die Friedrichstraße zusammen hinunter.
Sie war fieberhaft aufgeregt und sprach fortwährend. Es war ein heißer, schwüler Sommerabend, wie vor einem langen, schweren Gewitter. Die Häusermassen strömten eine dumpfe Hitze aus. Über ihnen lag ein dicker, zusammengeballter Staub, den man durch die schwere Luft niedersickern fühlte. Die Menschenmassen schoben sich nur langsam vorwärts. Alles war abgespannt, müde, erschlafft . . . Nur Hedi sprach unablässig, ohne eine Spur von Ermüdung. Sie war unverwüstlich.
Ich war bedrückt, wie von einer dumpfen Angst, die ich mir nicht erklären konnte. Immer wieder mußte ich an ihre Worte von vorhin denken — „wenn aber einmal, dann muß es auch schnell zu Ende sein.“
Wir kamen an einem großen Gebäude vorüber, dessen Thürpfosten mit breiten, rothen Zetteln beklebt waren. Da — wir waren schon einige Schritte weiter gegangen — stand Hedi plötzlich still.
„Das ist ein Tanzsalon. Höre, Paul, ich möchte heute Abend tanzen.“
„Bei dieser Hitze, Hedi?“
„Ja, ich will heute Abend mit Dir tanzen. Wir wollen auch einmal fröhlich sein. Hast Du Geld bei Dir?“
„Ein paar Mark —“
„Die wollen wir verthun. Ich muß heute Abend etwas anstellen.“
Wir drehten um, und traten in den großen, überfüllten Saal. Es herrschte eine unglaubliche Temperatur. Hedi hatte meinen Arm genommen, trat zu einem der nächsten Tische, und warf ihre Jacke und ihren Strohhut hin.
„Ein Walzer, Paul. Komm!“
Damit zog sie mich in das Gedränge.
Wir tanzten zum ersten Mal mit einander. Sie hatte es nie gelernt, tanzte aber wie eine Feder so leicht. Ich mußte einhalten, sonst hätte sie den ganzen langen Tanz in einer Tour durchgetanzt.
Wir setzten uns an unsern Tisch. Ihre Wangen glühten vor Lust. Sie war fröhlich, wie ein Kind . . .
Ich bestellte uns Bier; sie wollte keinen Wein. Da, als sie ihr Glas aufhob, und mir zunickte, sah ich eigentlich zum ersten Mal, wie reizend sie war. Ihr glühendes Gesichtchen, so voll Lebenslust — und ich war es, der zuerst wieder daran erinnerte, daß wir tanzen wollten. Sie sprang fröhlich auf.
Als wir dann durch den Saal flogen, und ich ihre weiche, warme, wogende Brust an der meinen fühlte, ihre zarte Jugend in den Armen hielt — da fiel es mir wie ein Schleier von den Augen — und ich sah in ihr plötzlich das Weib, das liebedürstende, entzückende Weib. —— Eine heiße Röthe stieg in mein Gesicht, und ich wandte es ab, damit sie mich nicht sehen sollte.
Aber als der Tanz zu Ende war, und alles sich wieder in dichtem Knäuel zu den Tischen hindrängte, und ich in ihr Gesicht sah, sah ich ihre Augen auf mich geheftet, heiß, brennend, voll Liebe und Glück — und ich beugte mich nieder, und wir küßten uns zum ersten Mal — unter all den Menschen, von denen Keiner auf uns achtete, lange, lange und leidenschaftlich —
An diesem Abend ließ ich ihre Hand nicht mehr aus der meinen, wenn wir an unserm Tische saßen — ich fühlte ihren Druck, und gab ihn zurück — und zum ersten Mal in meinem Leben war ich in diesen Stunden wahrhaft glücklich! Aber wir sagten Nichts zu einander . . . Es war uns Beiden zu plötzlich, zu unerwartet gekommen!
Jedoch wir tanzten jeden Tanz zusammen, und preßten uns aneinander, als wollten wir uns versichern daß wir wirklich zusammen waren. Und wir küßten uns, und lachten, und die Stunden flogen uns hin wie der Wind — im Rausch der Liebe und des Glückes! . . .
Erst als der letzte Tanz beendet war, gingen wir. Eine mildkühle Luft wehte uns entgegen nach den heißen Stunden. Wir gingen schweigend durch die morgenstillen Straßen nach ihrer Wohnung. Aber ihr Arm ruhte fest in meinem. Wir wurden uns Beide klar über das Vergangene, und schwiegen.
Sie sah zu Boden. So schritten wir schnell und stetig hin. Als ich vor ihrem Hause stand, nahm ich sie in meine Arme und küßte sie ohne Aufhören. Sie duldete es, aber ich fühlte, wie sie die Küsse nicht erwiderte. Dann flüsterte ich ihr Worte des Verlangens und der Liebe in’s Ohr.
Aber sie sagte, und ich fühlte, wie sie mit sich kämpfte:
„Nein, Paul, nein — das nicht! Ich will nicht. Ich kann nicht! — Heute nicht — heute nicht —“ bat sie fast flehend.
Da glitt ihre Hand aus der meinen und ich ließ sie allein hineingehen.
Aber ich sah noch, wie sie mich anblickte voll Liebe und voll Schmerz.
Dann war ich allein.
Ich ging langsam und im Gefühl eines unendlichen Glücks nach Hause. Tausend Gedanken über unsere Zukunft flogen mir durch die Stirn. Ich war in wenigen Stunden ein Anderer geworden. Es war das höchste Glück, was einem Menschen werden konnte: ich wußte, sie liebte mich! Sie würde mein werden — so oder so — ich wußte es. Ihr Sträuben heute Abend war ihr letzter Kampf gewesen . . . Und ich fühlte die Kraft in mir, zu bewirken, daß sie mein bleiben würde!
So stand die Zukunft vor mir, lachend und rosig, wie der Morgen, welcher blendend und rein über den Dächern Berlins emporstieg.
Ich habe selbst in den Stunden des neuen Tages an kein neues Leben gedacht — ich glaubte nur an ein neues, nie gefühltes Glück. Ich wußte, daß wir Beide nicht mehr zurück konnten, und auch in diesen Stunden sagte mein Verstand mir unerbittlich und klar: nur für eine Spanne ist dies Glück. Ihr seid Beide nicht darnach geschaffen, ein Leben lang in Liebe und Frieden zusammenzuleben. Aber glücklich wirst du, und sie — dann ist es eines Tages zu Ende —— das Spiel ist aus!
Aber glücklich wollte ich werden, glücklich sollte sie werden! Wir wollten unsere Liebe genießen bis auf den letzten Zug! Und war ich nicht der Letzte, so wollte ich doch der Erste sein, der sie besaß, und der Einzige bleiben, den sie liebte!
Aber leise stahl sich an jenem Tage in meine Entschlüsse die leise Scham jeder ersten Liebe, und legte sich über sie wie ein leiser Staub, und als wir uns am Abend sahen, drückten wir uns zwar innig und verstehend die Hand, konnten aber Beide kein Wort der Erklärung finden. Ich glaube, wir sind beide zum ersten Mal in unserem Leben befangen gewesen. Sie sah den Abend nie zu mir hin, wenn sie wußte, daß ich vom Klavier aufblickte — aber doch fühlte ich zuweilen ihren Blick auf mir ruhen, und erhaschte ihn, wenn ich plötzlich zu ihr aufsah. Ihre Wangen waren von einer leisen Röthe bedeckt, und sie war aufgeregt, wie ich selbst. Wir sehnten uns Beide nach unserm Glück, und fürchteten es Beide. Ich sah wie ihre kleinen Hände mit dem Tuche spielten, wie sie unsicher in ihrem Auftreten war. Ihre Stimme bebte leise, wenn sie sang. Sie war heute Abend schöner wie jemals. Mir war, als sähe ich sie zum ersten Mal — als hätte ich vorher immer nur eine Andere gesehen, und nicht die, welche ich liebte . . .
Der qualvolle Abend war zu Ende. Ich saß noch auf meinem Platz und schlug einige Töne an, wartend, wartend . . .
Da kam sie endlich — aber nicht fertig zum Gehen — schnell aus dem Weinzimmer.
„Ich kann nicht fort, Paul. Es ist große Gesellschaft da. Wir sollen Alle hier bleiben. Sie sind eben von hinten hereingekommen —“
„Grade heute Abend, Hedi? —“
„Paul, es geht nicht anders. Wir sind ja Sklaven.“
„Nein, wir sind keine Sklaven!“
Da kam der Wirth herein und auf uns zu.
„Weshalb kommen Sie denn nicht, Fräulein Hedwig? Die Herren warten. Allons!“
Mit mir sprach der Mensch nie, außer das Allernothwendigste.
„Fräulein Hedwig möchte heute Abend gleich nach Hause gehen,“ warf ich ein.
„Nein, das geht nicht. Kommen Sie!“ Dann ging er.
„Was soll ich thun, Paul? Wenn ich nicht hingehe, liegen wir morgen Beide auf der Straße.“
„Du kannst thun, was Du willst, Hedi. Wir sind Beide frei.“
Da beugte sie sich zu mir nieder und küßte mich in dem dunkel und leer gewordenen großen Saal. Es lag wie ein Bangen auf ihr und mir. Es machte uns Beide unsicher. So thaten wir, was wir sonst nicht gethan hätten: wir gaben nach.
Sie ging.
Aber sie sagte noch zu mir: „Ich komme morgen zu Dir, Paul.“
Ich sah, wie sie in dem hinteren Zimmer verschwand. Dann stand ich auf und ging auch nach Hause. Ich war müde und stumpf, und wollte schlafen. Die ungewohnte Angst war mir schrecklich.
Sophismen trösteten mich einige Zeit über den Weg nach Hause hinweg. Sie war so oft in der Gesellschaft gewesen; so bekannt waren ihr diese Orgien — sie trank niemals viel — konnte da irgend etwas vorkommen? Und dazu noch heute Abend? Sie würde sich so schnell wie möglich befreien und nach Hause gehen.
Ich war zu Hause. Eine feige, faule Sehnsucht nach Schlaf lag auf mir. Ich ging zu Bett. Aber ich konnte nicht schlafen. Plötzlich sprang ich auf, warf mich in meine Kleider und eilte die Straßen hinab. Ich stand vor der Thür unseres Lokals. Sie war geschlossen. Ich wollte rütteln, aber ich zog im letzten Augenblick die Hand zurück. Wozu? — War ich denn wahnsinnig geworden? Was sollte ich sagen?
Ich lauschte. Gedämpft drang durch den langen Gang des Hauses aus dem hinteren Zimmer das wüste Lärmen zu mir.
Ich wurde ruhiger. Langsam ging ich von der Thür fort und in das nächste Restaurant. Es war zwei Uhr. Eine Stunde etwa saß ich ruhig. Dann aber packte mich plötzlich wieder die unerklärliche, schreckliche Angst. Ich sprang auf und eilte wieder zu der Thür. Aber soviel ich lauschen mochte, diesmal drang Nichts zu mir . . . Ich hielt den Athem an vor Angst. Aber Alles blieb still.
Da ging ich langsam nach Hause. Auf den Straßen war es stiller geworden. Eine wunderbarweiche Sommernacht, mondhell und mild . . . Gefühle, von denen ich bisher Nichts geahnt, die ich bisher verlacht hatte, bedrängten mich: Angst, schmerzliche Sehnsucht, ungestüme Liebe — So kam ich nach Hause in mein Zimmer. In jenen Stunden zum ersten Mal habe ich ahnen gelernt, daß es nichts Fürchterlicheres geben kann, wie einsame, schlaflose Nächte! Meine Uhr lag vor mir. Mit eherner Gleichgültigkeit rückte der Zeiger vor. Ich wollte nichts als den Morgen — Gewißheit!
Es schlug fünf. Dann sechs . . . Mit der Klarheit des anbrechenden Tages wurde ich ruhiger. Hedi lag längst zu Bett, sorglos und träumend — sie mußte nach Hause gekommen sein, wie immer —
Aber ich wollte es selbst nicht glauben.
Ich wollte zu ihr.
Da hörte ich, wie langsame, müde Schritte die Treppe herauf kamen. In jenen Minuten habe ich die furchtbarste Angst in meinem Leben ausgestanden . . . Ich stand am Fenster, wagte mich aber nicht zu rühren, und sah ihr nur entgegen. Eine Minute — aber in dieser Minute — welche Gedanken — da, als sie klopfte, wußte ich schon Alles — weshalb sollte sie sonst kommen! . . . ——
Sie stand in der Thür, den Hut in der Hand, unordentlich gekleidet, und sah mich mit großen, toten Augen an.
Ich wußte Alles. Aber ich stieß doch hervor:
„Wo kommst Du her?“
Ich sah, sie wollte antworten. Aber sie konnte nicht. Ich wußte, bis dahin hatte sie gehofft. Als sie mich gehört hatte, nicht mehr.
Da fragte ich noch einmal. Und plötzlich war ich, der ich immer gewesen war — ruhig, und die Maske legte sich vor mein Gesicht, die ich immer trug.
„Nun, wo kommst Du denn her? Was ist denn, daß Du heute so früh kommst?“
Sie antwortete. Mit deutlicher Ruhe kam es von ihren Lippen.
„Es ist vorbei! — Es ist Alles vorbei!“ —
„Nein, Hedi, Du irrst Dich. Das war nur der Anfang.“
Und mit einer brutalen Gemeinheit — es war eine Scheußlichkeit, ich weiß es — fügte ich hinzu, nicht höhnisch, nicht bitter, nein ganz ruhig:
„Nun aber gleich ordentlich, Hedi.“ Und mit einer Handbewegung nach meinem Bett hin: „Wollen wir vielleicht jetzt gleich —— die Fortsetzung —“
In meiner Hand ballte ich die Gardine zusammen. Ich fühlte die Schläge meines Herzens nicht mehr.
Einen Augenblick hatte ihr Blick, irr, auf mir gehaftet, war der Richtung meiner Hand gefolgt — sie verstand mich nicht — das Ungeheuerliche dieser Grausamkeit — dann schrie sie auf, nur einmal, kurz, aber furchtbar schmerzlich. Da stürzte ich auf sie zu. Aber sie wich zurück, mit großen, aufgerissenen Augen voll Entsetzen, daß ich zurücktaumelte. Und langsam wandte sie sich um und ging zur Thür. Ohne sich umzusehen, ging sie hinaus mit schleppendem, müdem Schritt zur Treppe, und hinunter, Stufe für Stufe, ohne einzuhalten, und schwächer und schwächer hörte ich ihre Schritte werden —
Da erst begriff ich, was vorgegangen war. Ich brach zusammen.“
— Er war still und sah mich an. Mir graute. Was er eben gesagt hatte — diese Szene — „Das ist scheußlich —“ konnte ich nur sagen. „Sie hat Dich geliebt — sie wurde entehrt, sie entehrte nicht sich selbst. Aber das hast Du gethan, indem Du Dein Leben so weggeworfen hast, in solchem Tagwerk.“ Es kochte in mir. Er war vielleicht etwas bleicher geworden. Aber mit voller Ruhe sagte er:
„Du kannst Dir jede Bemerkung ersparen, brauchst weder sie zu entschuldigen, noch mich anzuklagen. Ich habe zu büßen, und Du weißt nicht, wie. Oder glaubst Du, ich wüßte das Alles nicht? ich müßte nicht an dieser Stunde tragen, an meiner unsühnbaren Schuld, bis es auch mit mir zu Ende ist? Aber Rechenschaft wäre ich nur ihr schuldig!“
„Du hast sie doch wieder gesehen?“
„Nein, ich habe sie nie wieder gesehen!“
„Das ist schrecklich!“
„Es ist mehr wie schrecklich. Es macht mich wahnsinnig. Weiter, weiter!“
Er erzählte weiter, monoton und leiser.
—— „Ich lag halb besinnungslos stundenlang da. Allmählich nur kam mein Denken wieder. Ich ging zu ihr — mit einem Herzen voll Liebe und Reue. Natürlich — Alles zu spät! Sie hatte ihre wenigen Sachen gepackt; fast nichts gesprochen, ihrer Wirthin das Wenige bezahlt, was sie schuldig war, und war fortgefahren.
Dann ging ich zu einer der Sängerinnen, von der ich wußte, daß sie gegen Hedi immer am Freundlichsten gewesen war. Sie war eben aufgestanden und lag auf ihrem Sopha. Von ihr erfuhr ich Alles. Nun höre zu! Also sie erzählte. Sie waren Alle eingeladen worden, am vergangenen Abend, von einer großen Anzahl Herren, die durch die Hinterthür gekommen waren, weshalb ich sie nicht gesehen hatte. Neben Hedi habe sich ein alter, abgelebter, widerlicher Mensch gesetzt. Sie sei aufgeregt gewesen, habe mehr getrunken, wie sonst, und sich auf jede Weise gegen den Menschen gewehrt. Aber es sei aus der Kneiperei allmählich eine Orgie großen Styls geworden. Champagner — eine Batterie nach der anderen. Endlich seien sie Alle zusammen aufgebrochen. Hedi sei, wie sie Alle, ziemlich betrunken gewesen, und wie jede, mit ihrem Herrn fortgefahren. Wohin? — ja, das wisse sie nicht. Aber es sollte ihr leid thun, wenn „etwas passirt wäre.“ Und so sagte sie tröstlich: „An uns Anderen ist ja Nichts zu verderben. Aber Hedi — wir hätten auf sie achten sollen — aber wir hatten Alle so viel getrunken — und Keiner wußte mehr, was eigentlich vorging.“ Dann suchte sie mich zu trösten. „Früher oder später hätte es ja doch kommen müssen — aber der Mensch sei so widerlich gewesen.“ Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich eilte hinaus. Nichts als der schrecklichste Haß in mir! Rächen — an irgend einem Menschen! Ich ging in das Lokal und ließ den Wirth rufen. Als er kam schlug ich ihn in Gegenwart seiner Kellnerin in demselben Zimmer, welches noch die Spuren der Nacht aufwies, in’s Gesicht, ohne ein Wort zu sagen. Dann ließ ich die schreienden Menschen hinter mir und ging nach Hause. Hätte ich den Verführer Hedi’s unter meinen Händen gehabt, ich hätte ihn erwürgt wie einen Hund! ——
— Große Schmerzen verleiten nie zum Selbstmord. Nur die Fülle von kleinen, oder die Aussicht auf diese. Ich lebe noch, wie Du siehst — und ganz wie früher. Schon einige Tage darnach — ich war in einen anderen Stadttheil gezogen — spielte ich in demselben Lokal, in dem ich jetzt noch bin.“
Und wieder schwieg er.
Wie vor mich hin, flüsterte ich: „Und wo mag sie jetzt sein?“
Da drang mir sein gellendes Lachen in’s Ohr: „Wo sie ist, meinst Du? Ich kann es Dir sagen: auf der Straße wahrscheinlich — vielleicht auch in einem Bordell — auf einer der letzten Stufen — da ist sie jetzt!“
Mir schauderte.
„Du glaubst, daß sie an jenem Abend zum ersten Mal —“
„Ich weiß es. Sie ist gefallen, weil sie besinnungslos war. — Du glaubst wohl, eine solche Gemeinheit sei undenkbar? — Das kommt alle Tage vor. Und was ist denn auch daran? Eine mehr oder weniger. Einmal geht es ihnen Allen so. Aber daß es grade diese sein mußte! Sie hat sich gewehrt, gewehrt wie eine Verzweifelte. Doch sie war aufgeregt grade an diesem Abend, sie sehnte sich nach mir — sie wollte ihre Liebe betäuben —
Unglücklich wären wir doch Beide geworden. Aber wir wären dann doch einmal wenigstens Beide ganz glücklich gewesen —“
Und plötzlich warf er sich mit dem Oberkörper über den Tisch hinüber, daß die Gläser umfielen, barg sein Gesicht in den Händen und stöhnte auf wie ein wildes Thier.
„Ich habe sie geliebt! — Ich habe sie geliebt! — Ich habe sie geliebt!“ wiederholte er dreimal fast schreiend. Es klang wie wahnsinnig durch die Stille um uns. Ich konnte es nicht mit ansehen und stand auf. Ich wußte mir nicht zu helfen, und legte ihm nur leise meine Hand auf die Schulter.
Da fuhr er empor und sah mich an. Ich habe diesen Blick nie vergessen. Es lag mehr wie Haß in ihm. Aber schnell veränderten sich seine Züge, wie ein Blitz. Er lachte auf, während noch immer der Schmerz um seine Lippen, um seine Augen lag.
„Aber was mache ich denn,“ lachte er auf. „Was ist denn los? — Fülle doch eben einmal die Gläser, willst Du?“ —
Ich that es. Als ich an den Tisch zurückgekehrt war, hatten seine Züge den alten, müden, gleichgültigen Ausdruck angenommen. Ich sah aber doch, was in ihm vorging. Er bereute seine Offenheit.
Schweigend saßen wir uns noch einige Minuten gegenüber. Dann leerten wir unsere Gläser schnell und gingen. Auf der Wanduhr wies der Zeiger die vierte Morgenstunde. Ich suchte vergebens nach einem Wort, das ich ihm noch zuletzt sagen wollte, wie dankbar ich ihm für sein Vertrauen war. Aber ich fand es nicht. So stand ich wartend auf ihn, der die Hausthür abschloß, und schweigend drückten wir uns die Hand und schieden von einander.
Aber als er mich verlassen hatte, und ich langsam den Weg nach Haus durch die toten Straßen ging, überfiel mich eine solche Müdigkeit, daß ich stehen bleiben mußte und mich anlehnen. Ich war wie zerschlagen und fühlte erst jetzt, wie mich seine Erzählung erschüttert hatte. Als schwebe über mir — dicht über meinem Haupt — ein dunkles, abwendloses Geschick, das jeden Augenblick zermalmend auf mich niederfallen müsse — so war es mir. Vor meinen flimmernden Augen flossen alle Szenen, welche in der vergangenen Nacht vor mich hingestellt waren, ineinander — Hedi — Paul — und ich fühlte mich mit hineingezogen in die Kreise ihres verlorenen Lebens . . .
Noch in meine Träume reckten sie sich, düster und unabweisbar, und erst, als ich am Mittag erwachte, begannen sie, sich scharf von dem nüchtern-hellen Hintergrunde eines kalten Wintertages in meinem Denken abzuheben.
Den ganzen Tag über dachte ich nur an ihn. Er hatte mir sein Vertrauen geschenkt, und mir damit eine Pflicht auferlegt — die, auch gegen ihn wahr zu sein. Das wollte ich am Abend, wenn ich ihn wiedersah. Ich wollte versuchen, ihn einem Leben zu entreißen, welches seiner unwürdig war. Wie lächerlich ich ihm damit erscheinen mußte, daran dachte ich nicht mehr. Und als ob er ahne, was ich vorhatte, war das Erste, was er zu mir sagte, als wir um elf Uhr — ich war erst ganz kurz vorher gekommen — vor der Thür des Tingel-Tangels standen und ich ihn fragte, ob wir in unsere Kneipe gehen wollten: „Es thut mir leid — ich möchte heute Abend früh zu Bett. Ich bin müder als sonst.“
„Ich hätte gerade heute Abend so gern noch mit Dir gesprochen —“
„Es ist wohl besser nicht. Was sollten wir uns denn noch sagen?“ antwortete er ruhig, und fügte freundlich hinzu, indem er dann sogleich das Gespräch auf eine entfernt liegende Sache wendete: „Aber ich will Dich noch gern ein Stück begleiten.“
So gingen wir denn neben einander her. Er hatte seinen Arm leicht in meinen gelegt, und wir sprachen über gleichgültige Dinge.
Als wir an der Elsässer Straße waren, stand er still.
„Willst Du nicht den nächsten Omnibus benutzen? — Weiter möchte ich nicht mit Dir.“
Wir standen noch einige Minuten zusammen. Dann kam der schwerfällige Wagen heran.
„Also auf Morgen?“ fragte ich ihn schnell. Er antwortete nicht, trat aber noch mit mir zu dem Wagen heran, der eine kurze Minute hielt. Dann reichte er mir die Hand hinauf. Der Schein der Laterne fiel auf sein Gesicht. Ich sah, wie totenbleich es war.
„Bist Du krank?“ fragte ich erschreckt, und wollte wieder herunterspringen.
Aber er drückte mich zurück und noch einmal, als schon der Wagen im Fahren war, hörte ich, wie er sagte:
„Leb’ wohl. — Und vergiß mich!“
Und bevor ich mir über den Sinn der Worte noch klar wurde, war er in dem Gewühl der Menschen verschwunden, hatte mich der Wagen schon eine ganze Strecke weit fortgetragen. Ich sprang sofort ab und eilte ihm nach. Aber nur einige Schritte. Dann kehrte ich um, und ging langsam die Friedrichstraße hinunter.
Ich wußte es jetzt, ich hatte ihn verloren. Ich kannte ihn. Das war es, was ihn von mir trennte. Er hatte sich hinreißen lassen, mir den Abend vorher sein Vertrauen zu schenken. Heute schon empfand er es als eine Bürde. Er fühlte sich beeinträchtigt in seiner freien Unabhängigkeit. So schüttelte er mich ab, wie er so Vieles abgeschüttelt hatte. Der Gedanke schon beengte ihn, daß ich ihn kennen sollte, wie kein Anderer. Er konnte es nicht ertragen, ohne Maske mit einem Anderen zu leben.
Das war es. Das war Alles.
Ich wußte es, als ich einige Tage darauf wieder in dem Lokal war — er war fortgeblieben seit jenem Abend. Dann ging ich in seine Kneipe — er war nicht mehr da gewesen. Ich sagte der Alten, er würde nie mehr kommen. „Er habe Abschied von ihr genommen,“ sagte sie, „schon am Morgen nach der Nacht . . .“ Seine Wohnung wußte auch sie nicht.
Ich wußte, er war nicht mehr in Berlin. Und dennoch habe ich ihn in den nächsten Wochen überall gesucht in einer kümmerlichen Hoffnung. Ich bin in allen Café chantants gewesen — in der Friedrichstraße in die ersten Stockwerke hinauf-, und in den anderen Stadttheilen in die Keller hinabgestiegen; überall habe ich nach ihm gefragt — hier und da seine Spur, ihn selbst nie gefunden.
Nun, da ich begonnen hatte, ihn zu lieben, hatte ich ihn verloren.
Die Einen streben immer nur hinauf zu den Höhen des Lebens, die Anderen hinunter. Aber Letztere sind es, die sich vertiefen, die ein ruheloser Trieb nicht zum Glück, aber zur Wahrheit führt. Von Paul Jordens habe ich zuerst gelernt, durch den Schleier schöner Worte hindurch die Wahrheit des Lebens zu sehen.
Glücklich nur der vertrauende Mensch. Paul Jordens aber ward unglücklich, weil er nie die Kraft — oder die Schwäche? — des Vertrauens besessen hatte, weder auf seine Nebenmenschen, noch auf das Leben, und auch nicht auf sich selbst. Er war nur wahr, und wollte nur wahr sein, und sein Streben ging dahin, es auf die Weise zu werden, welche ihm von seiner Natur vorgeschrieben war. Diese Natur aber kannte nur Unerbittlichkeit und Härte, und nichts von all den tausend schönen, träumenden Lügen, in welche zu flüchten die Guten sich gewöhnt haben. So konnte er nicht gut werden. Aber ist ein reinwahrer Mensch nicht schon etwas so Seltenes, daß er um dessentwillen verdiente, geliebt zu werden? . . .
Reichste Keime — von Anfang an verzerrt; wuchernde Ranken — nie beschnitten; eine brachgelegte Kraft . . . Aber immer noch eine wirkliche Kraft der Persönlichkeit, wie ich wenigstens sie nie wieder so getroffen habe. Darin lag der Zauber seiner Natur; in diesem gänzlichen Beiseiteschieben jedes Fremden. So steht er noch immer vor mir.
Glücklich nur der vertrauende Mensch? — Es ist wohl so.
Aber woher sollte sein in Allem getäuschtes Leben die Fähigkeit nehmen zu vertrauen? — Woher?
Ich habe Paul Jordens bis heute nicht wiedergesehen. Er wird gänzlich untergegangen sein in dem Wirrsal seiner trüben Tage. Ich denke mit Wehmuth an ihn zurück.
Aber immer und immer wieder seit jener unvergessenen Nacht sah ich mit immer klarerem Auge um mich die ungeheure Gemeinheit alles Lebens, der von uns Allen kein Einziger ganz entgehen kann, wenn er wirklich menschlich fühlt und menschlich handelt.
Allen Idealisten
gewidmet.
“Die Rohheit des Lebens ist so groß, daß wir nur versuchen können, sie wahr zu schildern.“
Sie war wieder geschlagen worden. Sie haßte die Frau, welche es verstanden hatte, das Andenken an ihre tote Mutter so in ihrem Vater zu ertöten, daß dieser keine Augen mehr dafür hatte, wie sein einziges Kind behandelt wurde.
Als sie am Abend zusammensaßen, erklärte Maxl, daß sie es nicht länger ertragen könne und am nächsten Tage fortgehen würde. Sie sagte es ruhig und klar, wie Etwas, das sie schon lange mit sich herumgetragen, und von dem sie sich nun frei mache. Sie sah das Erschrecken des Vaters, und wie er nicht wagte, etwas zu antworten, bevor nicht die Alte gesprochen. Er hatte nur seine ängstlichen, trüben Augen auf sie geheftet.
Aber als diese nun anfing mit ihren Vorwürfen und ihrem Schelten, stand sie auf und ging hinaus auf ihr kleines Zimmer. Es mußte ein Ende gemacht werden! Sie fühlte, wie sie an diesem Leben zu Grunde ging, langsam und sicher, und zwecklos. Und darum wollte sie ein Ende machen, bevor es zu spät war. Sie dachte wohl an ihren Vater, aber sie war selbst so elend, daß sie kein Mitleid mehr mit dem schwachen Mann fühlen konnte. Und was würde es ihnen Beiden helfen, wenn sie noch einmal bliebe? Sie würden einige Wochen Ruhe haben, oder auch nur einige Tage, und dann würde es von Neuem wieder beginnen, dies unerträgliche Leben voll kleinlichem Ärger und voll Lieblosigkeit, und es würde immer schlimmer werden. Sie wußte es, es gab nur einen Ausweg.
Und darum verließ sie am andern Morgen das Haus, in welchem sie ihre ganze Jugend verlebt hatte.
Mit der Stunde ihres Austritts aus dem kleinen Kreise ihrer unterdrückten Jugend, und der ihres Eintritts in eine neue, weite und fremde Welt begann für Maxl Braun die Geschichte ihres Lebens. Sie ging nach Berlin. Halb in dem falschen Glauben, es müsse dort — wo so viele Menschen seien — leicht sein, sein Brod zu verdienen; halb in der Hoffnung, dort völlig Allem entronnen zu sein, was ihre Jugend sie hassen gelehrt hatte.
Sie wurde Kellnerin in einem kleinen Lokal im Osten Berlins, in einem jener Stadttheile, in welche sich jene Massen der Menschen in hohe, dunkle Häuser zusammendrängen, welche eben genug zum Leben haben, welche morgen verzehren, was sie heute verdient haben: kleine Beamtenfamilien, schlecht situirte Kaufleute, Handwerker, welche es nicht verstanden, schnell und energisch die Wege zu betreten, welche die Errungenschaften der Neuzeit ihrem Berufe öffneten.
Im Winter liegen diese Straßen beständig in dem eintönigen, grauen Zwielicht, welches sich auf die Gesichter all ihrer Bewohner gelagert hat, und diese so krank und farblos erscheinen läßt. Aber auch im Frühling hat es etwas Beängstigendes, die hellen, breiten Fluthen des Sonnenlichtes an den einförmigen, endlosen Häuserreihen entlang gleiten zu sehen, über das ewig-schmutzige Pflaster, und an den blinden Scheiben hinauf. Kein Baum, kein Vogel; nur immer die gleiche dumpfe, erstickende Luft. An den Sonntagen fliehen die Menschen dann wohl hinaus, aber nur um bedrückter und freudloser zurückzukehren zu ihrem kleinlichen, endlosen Tagewerk. Selten erhebt Einer die Blicke über die Dächer hinauf, wo ein karges Stück Himmel leuchtet.
In einer dieser Straßen lag die Kneipe, in welcher Maxl Kellnerin wurde. Sie hatte keine andere Stellung finden können. So hatte sie sich von der Noth in diese hineintreiben lassen. Sie fühlte sich in den ersten Tagen sehr fremd in ihrer neuen Umgebung. Aber sie war nicht umsonst eine Süddeutsche. Ihr leichter Sinn half ihr immer wieder über die Stunden hinweg, in welchen sie nur mit Mühe ihre Thränen zurückhalten konnte. Sie war sehr unerfahren. Von den Männern dachte sie sehr gering. Die Meisten, so glaubte sie, seien sehr schlecht, und auf nichts Anderes bedacht, als ein junges Mädchen zu hintergehen und zu Fall zu bringen. Sie mochte darin auch nicht so ganz Unrecht haben. Jedenfalls konnte ihr diese Ansicht bei ihrer neuen Stellung nicht schaden. Schlimm war aber, daß sie sich einbildete, einige Männer — ganz wenige nur! — seien dagegen sehr edel und gut, und ganz anders, wie alle die Anderen. Es hatte davon so etwas in den wenigen Büchern gestanden, welche sie gelesen hatte. Im Übrigen aber war Maxl ein sehr kluges und vernünftiges Mädchen, und gab sich selten unklaren Träumen hin. Sie hatte wenig gelernt, und ihr Gesichtskreis war eng und beschränkt. Aber sie hatte etwas Festes und Bestimmtes in ihrem ganzen Wesen, und von Natur aus ein ziemlich richtiges Gefühl für Menschen und Dinge, und meist auch ein treffendes Urtheil.
Drei Monate war Maxl Braun nun schon Kellnerin in der Kneipe im Osten Berlins und sie hatte sich allmählich an Alles gewöhnt, was ihre neue Stellung mit sich brachte: an die rohen Scherze, die zwei- oder unzweideutigen Redensarten der Gäste, die Grobheit des Wirthes — und noch immer war sie dem treu geblieben, was sie sich vorgenommen hatte —: sich mit keinem Manne einzulassen. Sie ging am Abend, wenn das Lokal geschlossen wurde, stets allein nach Hause, obwohl sie jeden Abend von Neuem alle Klugheit und Festigkeit aufbieten mußte, um den Anträgen, sie nach Hause zu begleiten, und welche oft in ganz gutem und freundlichem Sinne gemacht wurden, zu entgehen. Sie blieb an ihren freien Tagen bei ihrer alten Wirthin zu Hause und half dieser bei ihrer Wirthschaft theils weil sie sich nicht in das Gewühl der fremden, großen Stadt allein getraute, und theils, weil sie fühlte, daß sie diese Tage der Ruhe nach den Anstrengungen der vorhergehenden sehr nöthig hatte. Einmal war in das Restaurant eine Zeit lang ein Herr gekommen, welcher sichtlich ein tieferes Interesse an ihr nahm, und welcher ihr zu ihrem größten Erstaunen nach einigen Wochen einen reellen Heirathsantrag machte. Sie war zuerst sprachlos gewesen. Aber da zu ihren „Idealen“ auch das gehörte — wie werden die jungen Damen der „höheren“ Stände darüber lächeln, wenn ihnen ein boshafter Zufall dies Buch in die Hände spielen sollte! — nicht ohne Liebe zu heirathen, und sie für den seltsamen Menschen keine besondere Zuneigung fühlte, so schlug sie das Anerbieten aus, wenn es ihr auch geschienen hatte, als müsse sie sich hinein flüchten in diese sichere Welt, welche sich ihr so unvermuthet aufgethan hatte.
Der Mann war traurig aufgestanden und nicht wieder gekommen, Maxl aber hatte schon am nächsten Tage ihre Fröhlichkeit wieder.
Es war zwischen zwei und drei Uhr Nachmittags — die „müde“ Stunde des Tages — und mitten im heißen Sommer. Die beiden Fenster und die Thür der Kneipe waren offen. Aber nur ein feiner, grauer Straßenstaub wurde von den glühenden Wogen der Hitze in das nicht hohe Zimmer getragen, keine Kühle. Der letzte Frühschoppengast war endlich gegangen. Die Wirthsleute schliefen; der Mann war überhaupt noch nicht aus dem Bette gekommen. Die zweite Kellnerin, Lenchen, hatte frei. Maxl war allein. Ihre Arbeit war gethan, und müde saß sie am offenen Fenster, die Hände lässig im Schooß.
Sie sah mit großen Augen vor sich hin, denn sie wollte wach bleiben, um nicht schlafend gefunden zu werden, wenn etwa ein Gast kommen sollte. Sie dachte daran, ob heute Abend wohl Studenten kommen würden, denn diese gaben immer ein Trinkgeld. Sie war auf Trinkgelder angewiesen. Der heutige Morgen war ein schlechter gewesen. Es waren zwar viele Gäste zu bedienen, aber keiner hatte an das Trinkgeld gedacht. Sie rechnete. Aber plötzlich fiel ihr der unangenehme Bierdunst auf, der in dem Zimmer herrschte. Sie empfand wieder dasselbe Gefühl des Widerwillens, welches sie befallen hatte, als sie am ersten Tage hier war, welches aber seitdem von der täglichen Gewohnheit völlig erstickt war. Sie wollte aufstehen. Aber sie war so müde in den Füßen, daß sie sitzen blieb.
Sie ließ ihren Blick auf der Wand haften, auf deren einer Hälfte grell und brennend der Sonnenschein lag, und sah wie abscheulich schmutzig die Tapete war. Dann blickte sie weiter in das Zimmer, und Alles kam ihr gemeiner und häßlicher vor — die gelbbraunen Tische, die gewöhnlichen Bilder an der Wand, der mit Cigarrenasche und halbverbrannten Streichhölzern besäte Fußboden, und es war ihr wieder, als müsse sie aufstehen und hinausgehen aus diesem elenden Leben.
Aber sie blieb wieder sitzen. Es war ihr traurig zu Muthe. Sie dachte seit den ersten Tagen in ihrer neuen Stellung in dem letzten Vierteljahr zum ersten Mal wieder über sich nach. Und Alles war ihr zuwider, woran sie denken mußte.
Wenn nur ein Gast käme —
Aber selbst auf der Straße war es fast leer. Nur zuweilen ging Jemand langsam und müde unter dem Fenster vorbei, starr vor sich hin sehend, in der unerträglichen Gluth.
Sie wollte nicht schlafen. Aber sie hatte ihren Vorsatz schon vergessen, und als sie ihre Augen schloß — nur einen Augenblick — übermannte sie plötzlich die Müdigkeit und sie schlief ein. Ihr Kopf neigte sich nach hinten und fiel leicht gegen den Fensterrahmen.
In dem Raum war Alles still; nur die Fliegen trieben leise schwirrend ihr unverdrossenes Spiel.
— Um dieselbe Stunde ging der Referendar Hans Grützmeyer durch die Straße. Er hatte in der Ostgegend der Stadt am Morgen einen Besuch gemacht, und war auf dem Wege nach Hause. Da er nie in dieser Gegend gewesen war, hatte er keinen Wagen genommen und schlenderte langsam die Straßen hinunter, dem Westen zu, wo er wohnte, indem er neugierig hierhin und dorthin sah, und fand, daß die Straßen alle gleich langweilig und öde waren. Hans Grützmeyer hatte vor ein paar Tagen sein Referendarexamen gemacht, und wollte sich nun noch ein paar Wochen in der Hauptstadt, in welcher er ein Jahr gewesen war, „amüsiren“, bevor er nach Hause reiste, um dort seine neue Würde zu bethätigen.
Er sah trotz der Hitze vergnügt aus, da er in einer kleinen, heiteren Gesellschaft sehr gut zu Mittag gegessen hatte. Wer ihn so sah, in seinem eleganten Sommeranzug und dem weißen Strohhut, der mußte einen angenehmen Eindruck von ihm bekommen. Bei seinen Freunden war er beliebt; allerdings gab es einige Menschen, welche behaupteten, man dürfe in keiner Beziehung große Ansprüche an ihn machen, weder in Bezug auf seinen Kopf, noch auf sein Herz. Aber diese Wenigen hatten eigentlich gar keine Gelegenheit, das oft zu sagen, denn Hans Grützmeyer gehörte zu den Menschen, welche es nicht sehr lieben, das Urtheil Anderer herauszufordern, sondern sich am liebsten in Allem, was sie thun und sagen, in einer Art vornehmer Reserve halten, welcher weder Spott noch Tadel, noch auch besonderes Lob nah zu kommen pflegt. So hatte er denn auch bisher einen sicheren, ruhigen Weg zurückgelegt, hatte das genossen, was wir eine „gute Erziehung“ zu nennen gewohnt sind, und sich gerade genug um sein eigenes, und so wenig um das Glück oder Unglück seiner Nebenmenschen gekümmert, um ein zufriedener Mensch zu sein. Seine gute Erziehung hatte ihm auch eine berechnende Liebenswürdigkeit gelehrt, welche ihre Wirkung selten verfehlte, und ihn so zu einem sehr geschätzten Theilnehmer an Gesellschaften und Bällen machte.
Als Hans Grützmeyer unter dem Fenster des Restaurants vorbeischlenderte, sah er das schlafende Mädchen. Er lächelte leise und ging weiter. Aber als er ein paar hundert Schritte weiter gegangen war, war es ihm, als flöge eine jähe Erinnerung an ihm vorüber — er mußte jenes Gesicht schon einmal gesehen haben, dieses — oder ein ähnliches! Einen gewissen Zug — wenn er ihn hätte beschreiben sollen, es wäre ihm unmöglich gewesen — hatte dieses Gesicht mit einem anderen gemein, von dem er längst getrennt war.
Er ging aber weiter und suchte in seinem Gedächtniß. Als er noch in die Schule ging — war es nicht da gewesen? — Vor der Thür des Eckhauses — kurz vorher, ehe der Weg leicht zu steigen anfing? — Und er hatte, was er suchte. In dieser Thür stand jeden Morgen, wenn er zur Schule trabte, ein kleines Mädchen.
Und Hans Grützmeyer lächelte wieder behaglich vor sich hin, indem er an die Naivität und Schüchternheit seiner ersten Liebe dachte . . .
Als er zu Hause war, hatte er Alles wieder vergessen.
— Indessen war an der Wand der Kneipe die Sonne einen Streifen höher gerückt. Maxl schlief noch immer. Ihr Gesicht lag in halbem Schatten. Es war kein schönes Gesicht. Man sagt, jedes Mädchen von siebzehn Jahren sei schön; die Jugend mache in diesem Alter auch das unscheinbarste schön. Aber Maxl war nie jung gewesen. Die Härte ihres Lebens hatte den zarten Duft der Jugend von ihr abgestreift und unverwischbare, wenn auch ganz feine Spuren in ihr junges Gesicht gezogen. Aber sie wurde fast schön, zum mindesten interessant und eigenartig-hübsch, wenn sie sprach, besonders wenn ihr Humor durchbrach. Sie hatte einen schönen Kopf und prachtvolle, schwarze Haare, aber ihre Stirn war niedrig. Ihr graues Auge war klug und in den Grübchen ihrer Wangen saß der Schalk, aber ihr Mund lockte nicht zum Küssen, trotz der selten schönen Zähne. Sie war ausgelassen, aber zu klug, um leidenschaftlich sein zu können; im Herzen ein Kind an Unerfahrenheit und Reinheit — und in ihren Gedanken doch meist eine sichere Beurtheilerin von Menschen und Dingen. Doch wenn sie fehlgriff, dann war sie blind in ihrem Vertrauen. Und sie griff ein einziges Mal fehl . . .
Sie hatte keine Phantasie und darum keine große Sehnsucht nach der Welt, von der sie bisher noch nichts gesehen hatte als kleinliche Menschen und enge Wände. Aber ihre Jugend begann, trotzdem sie nicht sinnlich war, ihr Recht zu fordern. Je öfter jedoch ein geheimes Wünschen in ihr die Flügel regte, desto härter suchte sie gegen sich selbst zu werden. Denn ihre einzige Waffe war ihr Stolz. Und sie war stolz auf ihre sittliche Stärke und die Festigkeit ihres Willens, wie es nur eine Natur werden kann, welche eine ganze, lange Jugend unterdrückt war. Dieser Stolz ließ sie nicht erröthen, wenn sie die gemeinen Redensarten um sich herum hörte, wenn ihr Worte in’s Ohr geflüstert wurden, welche sie nur halb verstand. Denn sie fühlte, wie sie über denen stand, welche nach ihr greifen wollten mit schmutzigen Händen. So blieb sie Kellnerin.
An die Zukunft dachte sie nie, so wenig mehr wie an ihre Vergangenheit.
Als die Sonne in höchster Gluth stand erwachte Maxl. Ihr erstes Gefühl war Ärger darüber, daß sie nun doch eingeschlafen war, und ihr zweites, Freude, daß es Niemand gemerkt hatte.
Sie stand langsam auf und ging zwischen den Tischen umher, indem sie sich besann, was sie geträumt hatte. Aber es wollte ihr nicht wieder einfallen. Dann stellte sie sich vor den Spiegel und ordnete ihr Haar. In der Art, wie sie es that, lag wenig Eitelkeit. Da sie glaubte, es kämen Schritte die Treppe hinauf, trat sie zurück und sah nach der Thür hin. Aber es war nur ein Bewohner der oberen Stockwerke, welcher vorbeiging. Sie setzte sich an einen der Tische und stützte den Kopf in die Hände. Plötzlich überkam sie das Gefühl der Verlassenheit mit solcher Stärke, daß sie fühlte, wie die Angst ihr die Brust einklemmte. Sie sprang auf und ging wieder umher, wie suchend. Und als wenn sie nicht finden könne, was sie suche, so ging sie immer schneller und schneller zwischen den Tischen umher. Es lag eine stumme Angst in ihren unsicheren Bewegungen, wie vor einer unsichtbaren Gefahr. Dann trat sie an das Büffet und ließ ein Glas voll Bier laufen, welches sie hastig und gierig austrank. In die Kasse legte sie als Bezahlung desselben eine Marke.
Sie fühlte sich leichter. Sie hätte gern noch ein Glas getrunken, aber sie wagte es nicht aus Sparsamkeit. Sie überlegte, ob sie das Glas, welches sie jeden Abend zum Essen vom Wirth bekam, schon jetzt trinken sollte. Aber auch das unterließ sie.
Wenige Minuten später kam ein Gast, und Maxl hatte von da an den ganzen Abend unaufhörlich zu bedienen.
Als Hans Grützmeyer am folgenden Tage aufwachte und bei seinem Frühstück saß, welches er stets mit einer gewissen langsamen Sorgfalt zu sich zu nehmen pflegte, fiel ihm plötzlich das Mädchengesicht wieder ein, welches er Tags vorher gesehen hatte und er nahm sich vor, doch einmal wieder in jene Straße zu gehen, um zu sehen, ob es wirklich die war, an welche er gedacht hatte. Aber er kam erst nach vier Tagen dazu, seinen Entschluß auszuführen.
Er fand leicht die Straße und das Haus wieder; und zu seiner Überraschung bemerkte er, daß es eine Restauration war, zu welcher das Fenster gehörte. Doch trat er nicht gleich ein. Er war selten in solchen kleinen Lokalitäten gewesen, und ließ sich nicht gern herab sie zu betreten. Da er aber nun einmal hier war wollte er den Weg nicht umsonst gemacht haben, und so stieg er denn die zertretenen Steinstufen empor. Er sah daß alle Tische dicht besetzt waren — es war etwa 10 Uhr — fand aber schließlich noch einen Platz in einer Ecke.
Als Maxl den neuen Gast sah, rief sie ihm ihr gleichförmiges „Helles“ oder „Dunkles“ zu und stellte das Verlangte vor ihn hin.
Er hatte kaum Zeit gehabt, einen Blick in ihr von der heute Abend besonders anstrengenden Bedienung geröthetes Gesicht zu werfen. Aber er sah doch, daß er sich geirrt haben müsse, und ärgerlich darüber trank er schnell sein Glas aus und rief nach der Kellnerin, um zu bezahlen. Als Maxl vor ihm stand und ihm eilig das Geldstück wechselte, sah sie einen Augenblick in das Gesicht des ihr fremden Gastes, und begegnete seinen Augen.
Dieser Blick veranlaßte ihn, statt aufzustehn und fortzugehen sich ein zweites Glas zu bestellen, und mit Interesse sah er ihrer schlanken, unentwickelten Gestalt nach, wie sie durch das Zimmer ging. Als sie wieder zurückkam, sah er sie von Neuem an. Aber sie blickte mit einer so vollkommenen Gleichgültigkeit über ihn hinweg, daß er einen leisen Ärger nicht unterdrücken konnte.
Er wußte nun mit Bestimmtheit, daß es Jene nicht war, an welche er gedacht hatte. Und merkwürdiger Weise konnte er auch heute Abend jenen Zug in ihrem Gesichte nicht wiederfinden, welcher ihn an die Andere erinnert hatte. Dagegen interessirte ihn ihr Gesicht, trotzdem er sich selbst sagen mußte, daß es nicht weniger als schön war. Denn sein Gefühl sagte ihm, daß dieses Mädchen noch unschuldig sein müsse.
Er sah sich in der Kneipe um. An der Decke lagen dichte Rauchwolken. Es war etwas leerer geworden. Auch die beiden Studenten, welche an seinem Tische gesessen hatten, waren gegangen. Rufen, Gläserklappen, lautes Gespräch und Lachen klang wirr durcheinander. Hans Grützmeyer kam sich in dieser stark gemischten Gesellschaft sehr erhaben vor.
Als er wieder nach Maxl sah, interessirte ihn wieder die Art und Weise, in welcher sie mit einem anderen Gaste, augenscheinlich einem ihr gut bekannten, sprach. In diesem Augenblicke beschloß er in diesen letzten Wochen seines Berliner Aufenthaltes als kleines Abenteuer den Versuch zu unternehmen, dies Mädchen zu gewinnen.
Er hatte eine „Methode“, solchen Frauen gegenüber und er hatte diese Methode einmal einem seiner Freunde so auseinander gelegt:
„Siehst Du, mit solchen Frauenzimmern mußt Du es auf eine ganz eigene Art und Weise anfangen, damit sie in Dich verliebt werden. Das Einzige ist, sie müssen auf Dich aufmerksam werden. Das werden sie aber nie, wenn Du den halben Tag in der Kneipe liegst und sie mit angenehmen Redensarten langweilst. Denn die hören sie den ganzen Tag über auch von Andern, und während sie Dir mit dem stereotyp-freundlichen Lächeln zuhören, denken sie an das Trinkgeld, das Du ihnen wohl geben wirst. Wenn Du aber einige Male in der Kneipe gewesen bist und hast über sie hinweggesehen, als wären sie Luft, so kannst Du sicher sein, daß sie das ärgert, und sie denken an Dich. Und damit hast Du schon das Meiste erreicht —“
Der Freund hatte diese Lehre von dem großen Frauenkenner mit einem bewundernden Staunen entgegengenommen.
Diese „Methode“ nun beschloß Hans Grützmeyer schon an diesem ersten Abend, an welchem er Maxl sah, anzuwenden, und so hütete er sich wohl mit ihr zu sprechen, wenn sie in seine Nähe kam, und schaute über seine Zeitung hinweg nur dann nach ihr, wenn er bestimmt wußte, daß sie ihn nicht sehen konnte. Aber als er nach Hause ging und bezahlte, fragte er sie halb spöttisch: „Nun, wie haben Sie denn Montag Nachmittag geschlafen?“ Er glaubte, sie würde in Verwirrung gerathen, aber Maxl, welche garnicht verstand, was er meinte, hielt ihn für nicht recht bei Sinnen, lachte dann, und sagte, indem sie sich kurz zu einem anderen Gast wandte: „Danke. Wahrscheinlich recht gut, denn ich schlafe immer gut.“
Hans Grützmeyer ging geärgert nach Hanse.
Aber noch verdrießlicher wurde er, als Maxl sowohl am folgenden Abend, an dem es ihn wieder zu ihr getrieben hatte, wie auch an jedem der folgenden Abende so vollständig über ihn hinwegsah und sich so wenig um ihn kümmerte, daß er, obwohl ungern, sich doch endlich sagen mußte, seine Methode sei bei dieser kleinen Person doch wohl nicht so angebracht, wie er zuerst angenommen hatte. Er machte sich nun freilich nicht viel aus ihr, aber die verletzte Eitelkeit, welche weit öfter, als man denkt, Anlaß und Triebfeder zur Liebe ist, ließ es nicht zu einen Vorsatz aufzugeben, dessen Ausführung bis jetzt so kläglich in die Brüche gegangen war.
Er versuchte es also mit jener gewinnenden Freundlichkeit, welche ihm theils seine gute Erziehung, theils seine stete Berechnung im Verkehr mit den Menschen fast zur Gewohnheit gemacht hatte, und diese machte allerdings auf Maxl, welche so wenig Freundlichkeit und Liebe in ihrem Leben erfahren hatte, einen ganz anderen Eindruck. Er verstand es, sich die Maske mitleidigen Interesses so geschickt vorzulegen, daß die ungeübten Augen der Kellnerin sie nicht von seinem wahren Gesichte zu unterscheiden vermochte. Und so kam es, daß er nach Verlauf einiger Tage, in welchen er ihr kleine, liebenswürdige Artigkeiten, welche sie nicht abweisen konnte, — kleine Blumensträuße etc. — erwiesen hatte, mit ihr schon auf einen ziemlich vertrauten Fuße stand, und sie sich darauf freute, wenn er kam, denn er hörte immer so geduldig und theilnehmend zu, wenn sie ihm ihre kleinen Leiden und Freuden erzählte. Dazu kam, daß er so klug gewesen war, ihr Mißtrauen in keiner Weise wachzurufen, sondern dasselbe zu beschwichtigen; er hatte sie nicht gebeten, sie nach Hause begleiten zu dürfen; er hatte keine jener ordinären Redensarten gebraucht, welche sie sonst gewohnt war zu hören und welche sie so fürchtete; und — er hatte ihr nie grobe Schmeicheleien gesagt. So hatte sie ihm gegenüber ein Gefühl ruhiger Sicherheit und ihre Unbefangenheit wieder gewonnen.
Er gefiel ihr entschieden. Er mußte sicher ein guter Mensch sein . . . Und so kam es, daß sie sich auf die Stunden zu freuen begann, in welchen sie ihn sah.
Nach etwa einer Woche erschien Hans Grützmeyer, welcher bis dahin immer allein gekommen war, eines Abends in der Begleitung eines Freundes in der Kneipe. Diesem Freund schien ein ganz besonderes Interesse an der anderen Kellnerin, dem blonden Lenchen, zu nehmen, denn während Hans und Maxl zusammen sprachen, ging er des Öfteren zu den Tischen hinüber, an welchen sie bediente, und Maxl sah, wie sie zusammen lachten und sprachen. Als es nach elf Uhr geworden war, die letzten Gäste gegangen waren und der müde Wirth sein Local schließen wollte, sagte der Andere zu Hans, wie ganz von selbst: „Ich trinke noch mit Fräulein Lenchen eine Tasse Kaffee im Bauer — Ihr geht doch natürlich auch mit?“ — Hans sah auf Maxl, welche energisch ihren Kopf schüttelte.
„Nein“, sagte sie, „ich gehe niemals aus.“
„Aber warum denn nicht?“ machte höchst erstaunt der Freund. „Sie glauben wohl, wir würden Ihnen etwas thun?“ Und alle drei lachten.
Nun redete Lenchen, welche schon fertig dastand, zu. „Nun, heute Abend kannst du schon mitgehen, Maxl, wenn ich dabei bin. Wir trinken nur eine Tasse Kaffee und gehen dann nach Hause.“
Hans hatte klugerweise geschwiegen. Als Maxl seinen freundlichen, wartenden Blick sah, konnte sie es nicht übers Herz bringen, unfreundlich zu erscheinen, und meinte zögernd:
„Ja, wenn Lenchen auch mitgeht, dann“ —
Und lachend gingen die beiden Paare durch die vollen Straßen zum nächsten Stadtbahnhof, von wo sie nach der Friedrichstraße fuhren.
Es war ein dunstig-schwüler Abend. Ein Gewitter hatte schon den ganzen Tag die dunklen Hände über dem brütenden Häusermeer gehalten. Aber es hatte nicht kühlend niedergegriffen in diese verpestete Gluth von Rauch, Staub, Dunst und Moder, welche die Gesichter so fahl und grau, und die Herzen der Menschen so fieberhaft-aufgeregt, oder so kränklich-müde machte.
Mit großen Augen und stumm hatte Maxl während der kurzen Fahrt und auf dem Weg die Friedrichstraße hinunter in das Treiben geschaut, welches ihr so neu und fremd war, und unwillkürlich den Arm ihres Begleiters ängstlich fester gefaßt, während sie im Stillen Lenchen beneidete, welche so sicher und munter mit dem andern Herrn vor ihr her schritt.
Aber als sie nun im Café Bauer saßen, sicher und gemüthlich vor dem wogenden Treiben, welches unablässig herein- und hinausströmte, da gewann sie ihre Lebhaftigkeit und Lustigkeit wieder, und war unerschöpflich an guten Einfällen, an witzigen Bemerkungen über die Beobachtungen, welche ihr von allen Seiten zuflogen.
Sie ist ein Kind, sagte sich Hans, als er sie sah, wie sie mit glänzenden Augen in das Gewühl starrte, bald laut auflachend vor Freude über das bunte Leben in die Hände klatschte, bald wieder mit andächtigem Erstaunen an den Fresken hing, die in ihrer südlich-sonnigen Schönheit so seltsam mit dem modernen, nordischen Leben zu ihren Füßen contrastiren.
Sie ist ein Kind, dachte mitleidig Lenchen, und dachte dann an die Nacht, in welcher sie vor Jahren hier zum ersten Male mit einem Herrn gesessen hatte.
Sie ist ein Kind, sagte sich etwas geringschätzig der Andere denn er liebte unerfahrene Weiber nicht, und flüsterte dabei seiner Nachbarin eine cynische Bemerkung ins Ohr, worauf diese lachte und ihn verliebt ansah.
Als sie mit ihrem Kaffee fertig waren, bestellten die Herren Schlummerpunsch. Aber Maxl konnte es nicht über sich gewinnen, das heiße, starkduftende Getränk zu trinken. Sie schauderte zusammen, als ihre Lippen den Rand des Glases berührten, und wurde dafür von den Anderen ausgelacht.
Hans war es, der zuerst zum Aufbruch mahnte. Denn er hatte einen Bekannten eintreten sehen, und liebte es nicht, in solcher Gesellschaft erkannt oder gar angeredet zu werden.
Sie traten hinaus in das Wirrwarr von Menschen, Wagen, von Lärm und Leben. Sie fuhren mit der Stadtbahn denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Aber dann trennten sich die beiden Paare und Hans und Maxl schritten allein der Richtung ihrer Wohnung zu. Sie gingen wieder Arm in Arm. Bis dahin war Maxl unbefangen und heiter gewesen. Aber als sie nun in eine der weniger belebten Straßen einbogen, verstummte sie und, wie absichtslos sich niederbeugend um an ihrem Kleide etwas zu ordnen, ließ sie den Arm ihres Begleiters los und nahm ihn nicht wieder. So gingen sie neben einander her. Auch Hans Grützmeyer suchte nach einem Wort, ärgerte sich darüber, daß er das rechte nicht finden konnte, und schwieg ebenfalls.
Nach einigen Minuten fragte er sie, ob sie morgen — es war ein Sonntag und sie hatte den halben Tag frei, wie er wußte — mit ihm zu Mittag essen wolle.
Sie besann sich, und wollte schon ablehnend antworten, aber sie hatte wieder nicht den Muth, ihm die Bitte abzuschlagen. Sie verabredeten nun Stunde und Ort, wo sie sich treffen wollten. Und doch sagte ihr währenddessen ihr Gefühl, es sei besser, jetzt schon zurückzuweichen, als weiter vorwärts zu gehen.
Als sie in die nächste Straße einbogen, sah sie, daß sie dieselbe kannte. Und, indem sie sich schnell zu Hans wandte und ihm die Hand hinstreckte, sagte sie: „Diese Straße kenne ich. Nun finde ich mich schon aus. Vielen Dank, Herr Grützmeyer“. Und ehe sich Hans von seiner Verblüffung erholen konnte, hatte sie seine ihr mechanisch hin gereichte Hand ergriffen, und er hörte noch, wie sie ihm zurief: „Und auch noch schönsten Dank für den herrlichen Abend!“ Dann war sie in dem Menschenstrom verschwunden. Er wollte ihr zuerst nacheilen. Aber dann wandte er sich kurz um und schlenderte geärgert nach Hause.
Maxl kam mit rothen Wangen an ihrer Hausthür an. Sie war gelaufen, wie gejagt. Nun kam es ihr vor, als sei ihr plötzliches Davonlaufen doch eigentlich recht unhöflich gewesen. Aber als sie an ihr beiderseitiges, ängstliches Schweigen während ihres Alleinseins dachte, schien es ihr doch wieder, als sei es das Rechte gewesen, was sie gethan.
In ihre Träume hinein spielten lockend die luftigen, blendenden Bilder des verflossenen Abends, und sie sah ihr täuschendes Licht doppelt verheißend, während die tiefen Schatten, welche ihr Auge in der Wirklichkeit nicht hatte erkennen können, sich ihr auch da nicht zeigten.
Am andern Morgen begrüßte sie freudig den sonnigen Tag. Sie sah hübscher aus, wie gewöhnlich, als sie mit Hans an dem verabredeten Platze zusammentraf und ihm fröhlich die Hand gab. Sie hatte ihr gutes Kleid angelegt, und dachte im Stillen, ob es ihm wohl gefallen würde. Aber er sah es garnicht.
Sie fuhren zusammen zur Jannowitz-Brücke und aßen in dem großen Garten des an der Spree gelegenen Restaurants zu Mittag. Auch Hans war gut aufgelegt. Er erzählte Maxl eine Menge Anekdoten, und lachte über ihre Freude.
Plötzlich erhob er mitten im Gespräch sein Glas und sagte in seiner liebenswürdig-zutraulichen Weise: „Wollen wir Schmollis zusammen trinken, Maxl?“ Sie hatte mit ihm angestoßen, noch ehe sie wußte, was er hatte sagen wollen. Nun überflog eine leichte Verlegenheit ihr Gesicht. Aber Hans lachte: „Nun mußt du „Hans“ und „Du“ zu mir sagen, Maxl.“ Da lachte sie auch. Ihre Verlegenheit kam ihr selbst recht albern vor, und sie stieß nochmals mit ihm an: „Prosit, Hans.“
Aber schon nach ein paar Minuten sagte sie wieder „Sie“ zu ihm und wurde von ihn scherzend darauf aufmerksam gemacht.
Ihnen gegenüber an der Landungsbrücke kamen und gingen die kleinen Spreedampfer. Überall, wohin Maxl sah, sonniges, heiteres Sonntagsleben. Und sie sah alles, mit ihrem scharfen Blick, und hatte in ihrer naiven Art eine Menge Fragen an Hans zu stellen, welche dieser oft garnicht beantwortete. Denn er sprach gern selbst, und sie ließ ihn nur selten dazu kommen.
„Wollen wir nach Treptow fahren, Maxl?“
„Ach, ja! Wenn Sie wollen?“
„Wenn Du willst!“
Sie lachte wieder. „Ja, wenn Du willst?“
Als sie auf den Dampfer langsam spreeaufwärts glitten — sie hatten nur noch mit Mühe einen Platz bekommen können — sagte sie: „Das ist das erste Mal, das ich auf dem Wasser fahre.“ Er aber meinte, die Spree sei ja nur ein Bach. Er hatte sich auf dem Verdeck umgesehen und mit Befriedigung bemerkt, daß keiner seiner Bekannten unter den Passagieren war.
Als sie vor Treptow waren, meinte er, sie sollten noch einige Stationen weiter fahren. Das Gewühl sei hier zu groß und ungemüthlich. Sie war es gern bereit. Die frische, kühle Luft des Wassers that ihr wohl. So fuhren sie nach Johannisthal.
„Laß uns hier bleiben, Hans“, hatte Maxl gebeten. Es war die erste Bitte gewesen, welche sie an ihn gerichtet hatte.
Sie verbrachten einige Stunden unter den Bäumen. Sie sprang ausgelassen in dem Garten umher und mußte Alles sehen. Er hätte sie gern geküßt, denn sie war fast schön in ihrer frischen Lebendigkeit. Aber sie waren nicht allein. Auch hier Ströme von Ausflüglern, welche sich überall hin vertheilt hatten.
Als sie hörte, wie spät es sei, bekam sie einen Schreck. „Aber ich muß ja um 6 Uhr wieder zurück sein!“ Er versuchte es ihr auszureden, aber sie blieb fest. „Bitte laß uns mit dem nächsten Dampfboot zurückfahren! Wenn ich heute Abend nicht auf meinem Platze bin, verliere ich meine Stelle. Und dann wartet Lenchen auf mich, welche heute Abend ins Theater will!“ Sie bat ihn so lange, bis er nachgeben mußte. Aber er biß sich auf die Lippen vor Ärger. Auch dieser Tag wieder verloren.
Sie sah, wie verstimmt er war, und wußte es sich nicht zu erklären. Der Tag war so schön gewesen. Was wollte er denn noch mehr? Sie war aber doppelt freundlich gegen ihn.
Mit dem nächsten Boot fuhren sie zurück. Maxl saß in der Nähe des Steuers. Die erste Dämmerung sank nieder, und sie wurde plötzlich ernst. Sie sah wie die kleinen Blätter der über den Strom geneigten Zweige in der leichten Kühle zitterten, wie ein feiner, weißer Nebel über den Wiesen, wie ein Schleier, aufstieg, wie der Friede des Abends kam mit seinem sanften, versöhnenden Flügelschlag, wie alles stiller, tiefer, schöner wurde. Der Dampfer glitt sacht und langsam über den Spiegel. Sie hörte das plätschernde Anschlagen der kleinen Wellen am Ufer, das leise Gespräch der Passagiere, und wie Hans ihr etwas erzählte. Aber sie verstand ihn garnicht, und dachte an etwas ganz Anderes. Sie dachte daran, wie schön es doch sein müsse, immer in dieser stillen, freien Natur zu leben und nicht wieder hineinzumüssen in jene schwarze, rauchende Masse, welche sich dort in der Ferne zeigte; nicht mehr hinein in das Schreien und Lärmen, den Schmutz und die Trübheit.
Sie dachte an ihre Jugend, welche alles, was sie eben an Köstlichem gesehen hatte, nicht gekannt.
Wie eine unabwendbare Schwere legten sich diese Gedanken auf ihre Brust. Sie starrte vor sich hin und sah nicht, wie über den verlassenen Bäumen jetzt am Himmel die rothen Schimmer der sinkenden Sonne lagen, an welchen die Augen der anderen Mitfahrenden hingen.
Da fühlte sie, wie Hans Grützmeyers spöttische Stimme sie aus ihren Träumen riß. Sie hatte unwillkürlich seine Hand ergriffen, und die ihre in der seinen ruhen lassen. Aber nun erschien seine Hand ihr plötzlich kalt und sie stand auf. Sie wäre am liebsten allein gewesen. So aber mußte sie seine Phrasen über sich ergehen lassen, und sich dazu zwingen, ihm zu antworten.
Es war nach sieben, als sie wieder an der Jannowitz-Brücke waren. Maxl bereute, unfreundlich gewesen zu sein. Aber es war ihr nicht möglich, den früheren Ton wiederzufinden. Sie blieb schweigsam.
In der Kneipe erwartete sie Lenchen, welche höchst ungnädig war. Sie hatte sehr viel zu thun und konnte an nichts anderes denken. Kaum, daß sie alle halbe Stunden einmal zu Hans treten konnte, der mürrisch dasaß, sich schauderhaft langweilte und ein Glas Bier nach dem andern trank. Er hatte sich vorgenommen, heute Abend zu warten, bis Maxl frei sein würde, um sie dann nach Hause zu begleiten. Aber als er zwei Stunden gewartet hatte, hielt er es nicht mehr aus und ging mit kurzem Nicken gegen Maxl fort. Diese hatte sich gewundert, daß er so lange dagesessen hatte und nicht gewußt, was er wollte. Sonst hatte sie weiter keine Zeit gehabt, viel an ihn zu denken.
Um 11 Uhr wurde es leerer. Sie setzte sich ermattet an einen Tisch und versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Doch ihre Stirn war dumpf und schwer. Sie schlief schon halb.
Sie wurde durch eine Stimme aufgeschreckt: „Schlafen Sie nur nicht ganz ein, Fräulein Maxl, denn ich möchte vorher noch ein Glas Bier haben.“
Es war ein Herr, der sehr oft kam und sich besonders für sie interessirte, wie sie bemerkt hatte, obwohl er selten mit ihr mehr als das Nöthige sprach und immer eben so still ging wie er kam.
Maxl schämte und ärgerte sich zugleich und sprang auf. Aber als sie zu seinem Tisch kam und das Glas vor ihn hinstellte, sagte er mit demselben ruhigen und durchaus nicht spöttischen Ton, indem er sie fest mit scharfen Augen ansah, als möchte er auf dem Grund ihres Herzens lesen, was er wissen wollte: „Nun, Sie lassen sich ja doch nach Hause begleiten, Fräulein Maxl?“
Maxl wurde wieder roth, und es fiel ihr ein, daß sie diesem Herrn vor einigen Wochen seine Bitte, sie nach Hause bringen zu dürfen, weil es nicht gerathen für junge, anständige Mädchen sei, des Abends spät allein durch die Straßen zu gehen, kurz und bestimmt abgeschlagen hatte: „sie ginge immer allein, und ihr sei noch nie etwas passirt.“ Das alles ging ihr wieder durch den Kopf, als sie jetzt verlegen vor ihm stehend und die Fingerspitzen ihrer Hände aneinanderdrückend schnell antwortete: „Wissen Sie, das dürfen Sie mir nicht übel nehmen, mein Herr. Das war nur das eine Mal, und es kam ganz per Zufall.“
Sie sah nieder, aber sie fühlte doch, wie er sie wieder ansah, als er sagte: „So.“
Aber da kam ihr Trotz über sie und sie hob ihr geröthetes Gesicht empor und gab ihm seinen Blick gleich fest und stark zurück:
„Und übrigens, mein Herr, ich denke, ich kann thun, was ich will, und wenn ich mit einem Herr gehen will, so geht das Niemanden etwas an.“
Sie hatte es eifrig hervorgestoßen. Nun aber sah sie, wie eine leichte Trauer über sein Gesicht flog, eine Enttäuschung, oder was es war. Er wollte etwas sagen, ein freundliches Wort. Sie sah es. Aber er trank langsam sein Glas aus, sah sie dann noch einmal, aber anders wie vorhin an, und ging hinaus, nachdem er ihr ein freundliches „Guten Abend“ gesagt hatte.
Sie fühlte, wie ihr etwas weh that. Aber sie ärgerte sich immer noch zu sehr über die Art seines Fragens: was ging es diesen Menschen an, mit wem sie ging? Konnte sie nicht thun und lassen, was sie wollte? Und hatte sie sich von jedem Gast vorschreiben zu lassen, wie sie sich verhalten sollte? — dann fiel es ihr ein, daß sie doch eigentlich recht unfreundlich gegen den Herrn gewesen war. So schnell wechselten ihre Gefühle und Gedanken. Aber er würde schon wiederkommen, und dann wollte sie ihm freundlich erzählen, wie es gekommen sei, daß sie mit Hans Grützmeyer zusammen gegangen sei.
Aber sie sah diesen Herrn nicht wieder, denn er kam von diesem Abend an nie mehr in die Kneipe, wo sie war.
Woher er es nur wußte? — Sie dachte den ganzen Abend darüber nach.
Auch den nächsten Tag konnte sie den Gedanken nicht los werden, daß sie dem, was sie sich vorgenommen hatte, untreu geworden war und sie legte sich unaufhörlich die Worte zurecht, welche sie am Abend Hans sagen wollte. Sie wußte, daß er kommen würde, und sie hatte Angst, wenn sie daran dachte, wie er es aufnehmen würde, was sie zu ihm sagen wollte. Der Wirth war ärgerlich über ihre Zerstreutheit, und Lenchen war ungehalten, da ihr noch der letzte Abend in den Gliedern lag, und ließ daher ihren Ärger an Maxl aus, da sie es an keinem Andern konnte.
Als Hans am Abend um seine gewohnte Stunde, gegen zehn Uhr, kam, fand er Maxl ängstlich und unruhig. Er fragte, was ihr fehle. Aber sie hatte so viel zu thun, und sagte ihm, er möge ein wenig warten, sie wolle nachher mit ihm sprechen. Nach einer halben Stunde kam sie zu ihm und setzte sich an seinen Tisch.
Sie hatte halb die Worte vergessen, welche sie sich so mühsam zurecht gelegt hatte.
„Du, Hans,“ — sie fand das Du jetzt schon ganz von selbst — „Du darfst mir nicht böse sein, aber ich muß Dich um etwas bitten,“ begann sie zögernd.
Er glaubte natürlich, sie wolle ein Geschenk und sagte für sich „Aha!“ — Aber er täuschte sich. Sie platzte plötzlich los: „Du darfst mich nie mehr nach Haus begleiten, Hans.“
Er glaubte nicht recht gehört zu haben.
„Aber weshalb denn in aller Welt nicht, liebes Kind? Und weshalb denn so plötzlich?“
„Nein, Du darfst es nicht mehr. Es thut mir sehr leid, aber es geht nicht anders.“ Und nun erzählte sie ihm in fliegender Eile, sehr unklar und sich oft wiederholend, was sie sich vorgenommen hatte.
Er hörte ihr ruhig zu. Dann aber wollte er ärgerlich werden. „Ach, das ist ja Alles Unsinn! Thue ich Dir denn etwas?“ Doch in demselben Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke, daß, wenn er sich jetzt nicht zusammennähme, alles für ihn verloren sei, und er lachte fast heiter und gutmüthig auf.
„Du bist ein kleiner Narr, Maxl! Stellst Du mich denn ganz in eine Reihe mit den Andern?“ Er sah ihr lächelnd in die Augen. Da beugte sie sich zu ihm und ergriff seine Hand: „Siehst Du, eben weil ich Dich lieber habe, wie alle die Anderen, Hans“, flüsterte sie zögernd, als wage sie nicht es zu sagen, „eben darum darfst Du nicht mehr mit mir gehen. Nicht wahr, Du versprichst es mir? Du bist so gut? Wir können uns ja so oft sehen, und wenn Du willst, können wir auch manchmal des Sonntags zusammen ausgehen, und ob Du mich des Abends nun ein paar Minuten länger siehst, das ist doch ganz gleichgültig, nicht wahr?“ Sie bat ihn so dringend, daß er ihr antworten mußte.
Er that es ungern. Aber er sagte doch: „Nun, wie Du willst. Aber Du bist wirklich nicht recht gescheut.“ Und aus vollster Überzeugung fügte er hinzu: „So etwas ist mir wirklich noch nicht vorgekommen!“, während er im Stillen dachte, es ist eine Laune, die schon wieder vergehen wird.
„Und Du fragst mich auch nie mehr darnach, Hans, nicht wahr? Denn sonst wird es mir so schwer, Dir es immer abschlagen zu müssen?“
Er nickte. „Ganz wie Du befiehlst. Wenn Du willst, komme ich überhaupt nicht mehr her.“
„Nein“, erwiderte sie schnell und lachte, da alles so gut abgelaufen war, erleichtert, „herkommen mußt Du noch und recht oft.“
Sie sprang auf, da sie gerufen wurde. Er sah ärgerlich vor sich hin und merkte garnicht, daß Lenchen zu ihm trat, bis sie ihm auf die Schulter schlug und ihn fragte, an was er denke.
Er erzählte ihr von „dem verrückten Einfall“ Maxls, wie er ihn nannte. Aber Lenchen hatte kein Mitleid mit ihm. Sie wußte längst, was er wollte, und sah ihn spöttisch an.
„Geben Sie es auf, Herr Grützmeyer,“ sagte sie lachend. Sie mochte ihn nicht recht leiden, und da sie gemerkt hatte, daß er es nicht liebte, mit seinem Zunamen angeredet zu werden, that sie es bei jeder Gelegenheit in herausforderndster Weise. Er sah sie wüthend an. Aber das hübsche Mädchen lachte nur, und ging zu ihren Tischen.
Er sah ihrer vollen, üppigen Gestalt nach und kam sich plötzlich sehr dumm vor. Aber er wollte nun nicht mehr zurück.
Als Maxl wieder zu ihm trat, sagte er spöttisch: „Nun, dann kann ich wohl fortgehen?“
Sie wurde roth und kam sich selbst sehr grausam vor. Aber sie antwortete ihm nicht.
Da stand er mißmuthig auf und ging. Sie blieb traurig stehen, und glaubte zu fühlen, daß sie ihn doch eigentlich recht gerne hatte.
Am andern Tag kam er nicht. Er hatte es sich fest vorgenommen, drei Abende nicht hin-zugehen. Am zweiten war er jedoch wieder da, und wurde von Maxl mit freudigem Lächeln empfangen.
„Ich dachte schon, Du würdest nicht mehr kommen, Hans. Aber nun sollst Du auch ein gutes Glas Bier haben.“
„Gieb mir lieber einen Kuß,“ meinte er. Es war das erste Mal, daß er sie darum bat. Aber die Gelegenheit war zu günstig gewesen.
„Doch nicht hier vor all den Leuten“, lachte sie, indem sie sich zu ihm niederbeugte.
Er legte sofort seinen Arm um ihre Taille. „Dann nachher, wenn ich Dich nach Hause bringe. Denn ich hoffe doch, Du bist vernünftig geworden und hast Deine Grillen vergessen.“
Aber sie war durchaus nicht vernünftig geworden, sondern wurde plötzlich wieder ernst.
„Nein, Hans, auf keinen Fall.“ Und als sie sah, wie er wieder böse werden wollte, faßte sie seine Hand und sagte mit ängstlicher Eile:
„Bitte, Hans, sprich nicht mehr davon. Ich kann es nicht, und ich darf es nicht.“ Dann fügte sie schnell in ihrem aufflackernden Trotz hinzu: „Und ich will es auch nicht! Was ich einmal gesagt habe, das thue ich auch! — dabei bleibts jetzt! — Du solltest mich nicht so quälen“, bat sie weiter.
Er fühlte ihren stärkeren Willen und schwieg.
Als sie aber in den nächsten Tagen immer dieselbe gleichgültige Ruhe bewahrte, während er immer ungeduldiger und verstimmter wurde, verlor er seine Besonnenheit. Er versuchte alles mögliche. Spott — Freundlichkeit — und einmal wartete er nach dem Schluß der Kneipe auf der Straße auf sie, aber sie gab ihm gar keine Antwort, und eilte an ihm vorbei nach Hause, so schnell und behende, daß er ihr nicht folgen konnte.
Am nächsten Tage war sie sehr ungehalten. Sie sprach fast garnicht mit ihm, und als er die Rede auf den nächsten Tag — es war wieder ein Sonntag — und auf ihren geplanten Ausflug brachte, wich sie aus und sagte ihm sie habe keine Zeit. — Es war ein ganz erbärmliches Gefühl, mit dem er nach Hause ging. Sein Hochmuth und seine Einbildung waren getroffen. Er hatte sich zusammen nehmen müssen, um nicht roh zu werden. Aber dies Mädchen hatte ein Etwas in ihrem Wesen, welches ihn zwang, sie anders zu behandeln, wie die Weiber, welche er bisher besessen hatte. Er liebte sie nicht, denn ihm war es überhaupt nicht gegeben zu lieben. Aber er liebte es, zuweilen seine Hand nach dem zu strecken, was — er war sich darüber nicht im Unklaren — nicht für ihn war. Diesmal hatte er einen fühlbaren Schlag über die Finger bekommen. Sonst hatte er immer noch klug und rechtzeitig die Hand zurückgezogen.
Hans Grützmeyer war wirklich in seinem Glauben an sich selbst etwas erschüttert an diesem Abend.
Er hätte sich sofort wieder zu seiner ganzen, unnahbaren Höhe aufgerichtet, wenn er gewußt hätte, daß Maxl indessen zu Hause auf dem Stuhl vor ihrem Bette saß, und nur mit Mühe ihre Thränen zurückhalten konnte, wenn sie an den nun verlorenen Sonntag dachte, auf welchen sie sich im Geheimen die ganze, für sie so unermeßlich lange Woche kindisch gefreut hatte. Sie hatte nicht geglaubt, daß er so schnell fortgehen würde und war erschrocken als sie es gesehen hatte. Er sollte sie nur noch etwas bitten und ihr noch etwas zureden. Denn hätte sie ihm verziehen, und sie wären wieder die alten Freunde gewesen. Wenn Hans Grützmeyer sie wirklich liebte, so wäre das wohl auch so gekommen. So aber war er fortgegangen, ein eitler, bei all’ seiner Lebensklugheit doch recht beschränkter Mensch.
Während Maxl in dem quälenden Nachdenken einschlief, wie sie es nur anfangen könne, ihn wieder umzustimmen und doch ihrem Vorsatz treu zu bleiben, lief er in doppeltem Ärger in seinem Zimmer auf und ab, riß alle Schubladen auf und pfropfte in seine Koffer, was hinein ging, denn er hatte beim Nachhausekommen einen Brief von seinem Vater vorgefunden, in welchem dieser seinem Erstaunen darüber sehr unumwundenen Ausdruck gab, weshalb er den Sohn noch immer nicht bei sich sähe, da die Ferien doch bereits begonnen, und die nicht zu umgehende Forderung stellte, sofort einzupacken und nach Hause zu kommen. Und das heute! — Hans Grützmeyer war wüthend. Schließlich kam er zu der Einsicht, daß der Augenblick für eine schleunige Abreise eigentlich garnicht besser gewählt werden könnte. Am besten wäre entschieden, er sähe das Mädchen, welches ihn so lange genasführt, — es war dies in der That seine Ansicht — garnicht wieder und lasse sie im vollen Bewußtsein seines unersetzlichen Verlustes, welches ihr eines Tages schon kommen würde, in ihrer dunstigen Kneipe. Mit diesem versöhnenden Gedanken ging er endlich zu Bett.
Als er am nächsten Tage noch später, wie gewöhnlich erwachte, war er so unlustig, daß er am liebsten liegen geblieben wäre. Er starrte mit schlaftrunkenen Augen in das Zimmer und dachte bei der Unordnung an alle die Mühseligkeiten, welche ihm heute noch bevorstanden: die Packerei, die Besuche, welche er noch vor seiner Abreise machen mußte, und je länger er daran dachte, desto mehr fiel ihm ein, was noch besorgt und erledigt werden mußte. Er stöhnte ein Weniges, kam sich selbst sehr geplagt vor und in diesem Gefühl des tiefen Mitleids mit sich selbst stand er endlich gähnend auf, um an sein saures Tagewerk zu gehen. Während des Frühstücks dachte er an Maxl. Was sie wohl denken würde, wenn er nun auf einmal fortbliebe und nie wieder käme? . . . Eigentlich hatte sie diese Strafe doch verdient, weil sie ihn so schlecht behandelt. Und mit doppeltem Appetit beendete er sein Frühstück. — Dann studirte er den Fahrplan, langsam und aufmerksam, wie er Alles zu thun pflegte, und beschloß nach einigem Nachdenken mit dem Fünfuhrzuge abzureisen.
Bis er aber auf dem Wege war — er hatte sich nicht beeilt, denn er liebte alles, was Eile hieß, nicht — seine Besuche gemacht hatte und beim Essen saß, war es so spät geworden, daß an eine Abreise mit dem beabsichtigten Zuge nicht mehr zu denken war. Er beschloß also, heute noch zu bleiben, und erst morgen zu reisen.
Das hatte zugleich den Vortheil, daß er sich mit dem Essen nicht so zu beeilen brauchte, und er konnte sich nun mit gutem Gewissen noch ein Gericht mehr bestellen. Was er denn auch that.
Aber was nun mit dem leeren Abend anfangen? — Er dachte, es sei doch vielleicht besser, nun noch einmal zu Maxl zu gehen. Und nach einigen Minuten erschien es ihm sogar schon als eine Pflicht gegen sich selbst, dem eingebildeten Mädchen zu zeigen, wie wenig er sich aus ihr mache. Ja, er wunderte sich sogar selbst darüber, wie ihm dieser Gedanke nicht schon gestern als durchaus nothwendig gekommen war. Nachdem er also nach Hause telegraphirt hatte, er könne erst einen Tag später dort eintreffen, fuhr er nach dem Osten.
Die Straßen waren leer und sahen so noch trostloser und einförmiger aus, wie sonst. Wer konnte, war an dem Sonntagnachmittag hinausgeflohen; und wem auch das versagt war, der hielt sich wenigstens zu Hause verkrochen vor der glühenden Sonne. Es war einer der Sommertage, die so schrecklich sind mit ihrer stummen Schwüle, ihrem staubigen Dunst und ihrer brütenden Angst.
Die Sonne sah frech und grell in jeden Winkel, und zeigte die Armuth und Kahlheit des Viertels in ihrer ganzen Nacktheit. Hans, der seinen Wagen entlassen und langsam die Straße hinunterging, fühlte sich plötzlich angewidert. Er konnte sich selbst nicht sagen, was es war. Aber es ekelte ihn, wie nach einem üblen Geschmack. Er ging aber doch weiter.
Doch Maxl war nicht in der Kneipe. Das Lokal war völlig leer. Nur der Wirth saß hinter dem unordentlichen Schenktisch, dessen schmutzige Feuchtigkeit von überflossenem Bier förmlich mit Fliegen übersät war, und schlief halb. Hans setzte sich und klopfte stark.
„Wo ist denn Maxl“, fragte er.
„Sie hat ja heut’ frei,“ brummte der Wirth, welcher sich mühsam ermuntert hatte, „sie wird schon noch kommen.“
„Und wo ist denn Lenchen?“
„Ja, das freche Mensch ist heute den ganzen Tag noch nicht dagewesen. Aber ich werd’ es ihr einstreichen! — Wollen Sie Bier?“
Hans nickte. Er war wieder tief geärgert, wie bei einer persönlichen Beleidigung. Er glaubte sicher, Maxl würde hier sein, da aus ihrer Verabredung nichts geworden war. Aber er blieb doch sitzen und sah auf das Glas, welches der Wirth vor ihn hingeschoben hatte.
Zuerst dachte er an ganz etwas anderes, aber plötzlich fiel es ihm auf wie unreinlich das Glas war. Er glaubte an dem Rand noch die Schaumspuren zu sehen, welche von dem Mund, welcher vor ihm aus diesem Glase getrunken hatte, an ihm zurückgelassen waren. Und mit einem Schlage sah er alles, wogegen er in den letzten Wochen wie blind gewesen war: den Schmutz überall, an den Wänden, auf dem Tische, auf dem Fußboden, überall. Er strich mit dem Finger über den Tisch und hielt ihn gegen das Licht, um sehen, ob er schwarz geworden war. Aber er konnte nichts an ihm entdecken. Und doch fühlte er überall den Schmutz, der ihn umgab, und dem er in seinem wohlerzogenen Leben so wenig, so selten begegnet war; den er sich stets mit einer solchen fast ängstlichen Vorsicht ferngehalten hatte.
Der Wirth war hinter seinem Büffet wieder eingenickt. Um einen einzigen Gast sich noch weiter zu kümmern, schien ihm überflüssig, und noch dazu um einen, der nur der Weiber wegen hergekommen war. Aber Hans Grützmeyer ärgerte sich plötzlich über den Schlafenden, der so faul und bequem dalag, während er dasaß, sich langweilte, und — was ihm am meisten vor allen Dingen verhaßt war — wartete. In einer Art unterdrückter Wuth ergriff er das Glas und setzte es mit Willen genau an der Stelle an, welche ihn noch kurz vorher mit solchem Ekel erfüllt hatte. Er trank es mit einem Zuge aus und klopfte dann energisch, daß der Wirth abermals aus seinem Schlummer auffuhr.
„Ich möchte noch ein Glas Bier haben,“ sagte Hans. Ihm war jetzt alles gleichgültig geworden; er kam sich selbst so jämmerlich heruntergekommen vor, daß er sein Treiben in letzter Zeit anfing originell zu finden; und damit war er wieder auf dem zufriedenen Punkt seiner gesättigten Eitelkeit angekommen.
Er lehnte sich zurück und starrte theilnahmlos zu der Decke empor, an welcher die Fliegen summten. Am liebsten hätte er auch geschlafen, wie der feiste Kerl dort in der Ecke.
Wie unerträglich langweilig es war! Er sah nach der Uhr. Er hatte schon über eine halbe Stunde hier gesessen. So konnte es jedenfalls noch eine Stunde bleiben. Denn warum sollte Maxl heute auch früher kommen, als sie nöthig hatte?
Seine Ungeduld wuchs. Er war es nicht gewohnt, so gezwungen zu werden, mit seinen Gedanken allein zu sein. Er haßte das förmlich. Wenn er einmal allein war — und er war es nicht oft — zwang ihn entweder seine Arbeit dazu, oder er las und schlief. Seine Abende verbrachte er stets mit Freunden.
Er sah wieder nach der Uhr. Vielleicht konnte er noch erst in ein Theater gehen und wiederkommen? Er klopfte wieder und fragte, während er bezahlte, den Wirth nach dem nächsten Theater.
Dann ging er gelangweilt und geärgert fort.
Eine Viertelstunde später kam Maxl. Sie hatte den ganzen Tag zu Hause gesessen, etwas gelesen und fleißig genäht. Und traurig darüber, daß sie nicht hinaus konnte mit Hans. Sie hatte sich doch zu sehr auf heute gefreut. Endlich war sie ins Geschäft gegangen.
„Gut, daß Sie kommen! Lenchen ist nicht da, und ich habe die ganze Arbeit allein thun müssen,“ polterte der Wirth. Maxl gab ihm keine Antwort.
„Der Mensch war auch da, mit dem hochmüthigen Gesicht. Wenn der nur wüßte, wie dumm er aussieht, würde er sicher ein anderes aufsetzen.“
Maxl hörte nur die ersten Worte.
„Ist er wieder fort?“
„Eben. Da steht ja noch sein Glas. Machen Sie es nur gleich rein; und hier ist noch mehr zu thun.“
„Es ist heut’ garnicht mein Tag,“ bekam er prompt zur Antwort. „Wenn Lenchen nicht kommt, dafür kann ich nichts. Und wenn ich ihre Arbeit thun soll, können Sie mich erst freundlich darum bitten.“
Damit ging sie aber doch an die Arbeit. Sie dachte an Hans.
„Hat er nicht gesagt, ob er wiederkommen wolle?“
„Er ist ins Theater. Und übrigens, was geht Sie denn das an? Ist er etwa Ihr Geliebter?“
Da trat aber Maxl auf den so Redenden zu und sah ihn zornfunkelnd an.
„Herr Gründler, wenn Sie noch ein einziges Mal so etwas sagen, so gehe ich auf der Stelle! Sie wissen ganz gut, daß ich ein anständiges Mädchen bin, und mich mit keinem der Herren einlasse!“
Der Wirth schwieg darauf. Maxl war empört. Wieder kämpfte sie mit den Thränen, aber dieser Mensch sollte nicht sehen, daß sie weinte. Es dauerte lange, bis der erste Gast an diesem Abend kam.
Aber bis Hans kam hatte sich doch das ganze Zimmer gefüllt. Maxl stürzte ihm entgegen.
„Es hat mir so leid gethan, daß ich nicht hier war —“
Aber er achtete garnicht darauf. Er bat um ein Glas Bier. Sein Gesicht hatte einen ernsten, wichtigen Ausdruck. Sie merkte auch sofort, daß er ihr etwas sagen wollte.
„Was ist denn, daß Du so feierlich bist“, fragte sie, als sie wieder vor ihm stand.
„Ich reise morgen fort“, sagte er kurz.
„Nein“, rief sie und sah ihm starr in die Augen. Sie mochte es nicht glauben.
„Doch, ich reise morgen!“ — wiederholte er mit Nachdruck. Sie stand still und sah ihn an. Da wurde sie gerufen. Sie riß sich nur schwer los.
„Ich komme sofort wieder“, rief sie ihm zu.
Er sah ihr nach. Welche Wirkung seine Mittheilung gehabt hatte! Und sofort wurde er besser gelaunt.
„Nein, Hans. Nicht wahr, Du machst nur Scherz,“ fragte sie schnell, als sie wieder neben ihm stand. Sie war sehr aufgeregt.
„Nein, ich mache keinen Scherz. Ich habe mich jetzt endlich entschlossen, zu reisen, um nie wieder hierher zurückzukommen. Was soll ich denn auch noch hier?“ quälte er sie weiter, „Du machst Dir ja doch nichts aus mir. Da habe ich es für besser gehalten, lieber jetzt gleich zu reisen, als noch zu warten.“
„Gehst Du wirklich morgen, Hans?“
„Ja, ganz sicher. Auf jeden Fall.“
Sie sah von ihm fort und traurig vor sich hin. Es war so plötzlich gekommen. Sie konnte es nicht fassen.
„Du machst dir ja doch nichts aus mir“, sagte er dann ganz ohne Grund noch einmal, denn er ärgerte sich, daß er hierauf nicht die erwartete Antwort erhalten hatte.
„Ach, sag’ das doch nicht immer! Du weißt ja, daß ich dich sehr gern und viel lieber, als alle die Anderen, habe.“
„So?“, meinte er.
„Ja“, sagte sie eifrig. „Du weißt das recht gut. Deshalb brauchst Du also nicht zu gehen“, sagte sie etwas zögernd hinzu, weil sie schon fürchtete zu viel zu sagen. „Kommst Du morgen noch einmal?“
„Nein, ich kann nicht. Ich reise ganz früh, —“ Sie wurde wieder gerufen.
„Dann kann ich Dich doch wenigstens heute Abend nach dem Geschäft noch sehen? — Ich will warten, bis Du fertig bist“, bat er dringend.
„Ja“, sagte sie schnell. „Wenn Du morgen gehst, und wir uns niemals wiedersehen —“.
Sie mußte fort, denn das Rufen nach ihr ward immer ungeduldiger.
Sie hatte bis zum Schluß des Lokals unaufhörlich zu thun. Aber jedesmal, wenn sie an Hans vorbei ging, sah sie ihn an mit einem Blick voll Kummer und Zuneigung, als wolle sie ihm zuletzt noch recht zeigen, wie lieb er ihr sei.
Als der letzte Gast gegangen war, beeilte sie sich mit dem Aufräumen so sehr wie möglich. Dann stand sie zum Gehen fertig vor ihm.
Sie nahm schweigend den Arm, den er ihr bot. Sie hatte sich vorgenommen, ihm noch ein herzliches Wort zu sagen, und ihm dafür zu danken, daß er immer so freundlich zu ihr gewesen sei. Aber nun konnte sie es nicht finden und schwieg.
Es war ein dunkler Abend. Die Hitze des Tages hatte sich gemindert. Sie gingen durch einige dunkle, fast menschenleere Gassen.
„Du mußt mir den Weg sagen, Maxl. Ich weiß noch garnicht, wo Du wohnst.“
„Wir gehen rechts,“ sagte sie leise.
„Thut es Dir wirklich leid, daß ich fortgehe, Maxl?“
„Ja, denn Du bist der einzige gewesen, der mich gern gehabt hat, ohne —“ sie stockte, und wußte nicht, wie sie ausdrücken sollte, was sie sagen wollte.
„Ohne —?“ wiederholte er.
„Nun, ohne etwas von mir dafür zu verlangen. Du weißt ja, was ich meine. Darum habe ich Dich auch lieber, als die Anderen. — Und nun gehst Du fort, und ich bin wieder ganz allein“, setzte sie leise und traurig hinzu.
Er sah vor sich hin. Dies Mädchen ist doch von einer rührenden Naivität, dachte er bei sich.
Er blieb plötzlich stehen, und hob ihr Kinn mit der Hand empor, um ihr Gesicht sehen zu können.
Sie ließ es willig geschehen, und sah ihn mit ihren eigenthümlichen, großen Augen an. Er sah, wie ihre Lippen zuckten. Da beugte er sich nieder und küßte diesen Mund, der sich ihm darbot, und sie schlang plötzlich ihre Arme um seinen Nacken und legte ihre Stirn an seine Brust. Er fühlte ihr krampfhaftes Schluchzen, welches sie nicht mehr die Kraft hatte zurückzuhalten.
Er schwieg und ließ sie ruhig weinen. Er überlegte, ob er sie noch einmal küssen sollte. Aber merkwürdigerweise hatte er keine Lust dazu. Ihre Küsse waren so ganz anders gewesen, wie er gedacht hatte, so wenig sinnlich und so wenig reizend. Er fühlte eine gewisse Ernüchterung.
Daher sagte er denn auch:
„Komm, Maxl, laß uns weitergehen, mein Kind.“ Sie gehorchte sofort.
„Nicht wahr, ich bin recht thöricht, Hans“, sagte sie, „was würde es denn auch helfen, wenn Du hier bliebest. Es bliebe doch alles beim Alten, und es ist gewiß besser, wenn wir uns nicht mehr sehen.“
Er hatte doch eine angenehme Zufriedenheit, als er sah, wie sie ihn so liebte. Denn er hatte es eigentlich nicht geglaubt.
Sie sprachen nun zusammen über Einzelnes und erinnerten sich an manches, was sie mit einander verhandelt hatten, wenn er des Abends gekommen war, um sie zu sehen. Sie war noch offener gegen ihn wie sonst. Aber er hatte an diesem Abend gar kein Interesse mehr für ihre kleinen Leiden und Freuden. Sie bemerkte es nicht, und sprach hastig und unzusammenhängend weiter, wie um sich über die Stunde hinwegzuhelfen.
Er dachte an ein Anderes, und wurde durch eine Frage aufgeschreckt.
„Wie lange willst Du zu Hause bleiben, Hans? Ist es denn nicht möglich, daß Du noch einmal hierher kommst?“
„Nein, Maxl, ich komme keinenfalls wieder. Ich werde wohl ein Jahr oder länger noch dort bleiben.“
Und dann setzte er ihr auseinander, wie er eine Stelle am Gericht bekleiden würde etc.
„Und dann willst Du Dich verheirathen, mit einer Dame aus Eurer Gesellschaft, nicht wahr?“
Er lachte.
„Vielleicht. Denn da ich Dich nicht bekommen kann, so bleibt mir wohl nichts Anderes übrig.“
Sie lächelte bitter. Aber er sah es nicht. Doch als er sie fester an sich ziehen wollte, fühlte er, wie sie sich ihm leise entzog.
„Da wohne ich, Hans“, sagte sie, und zeigte auf eines der hohen, traurigen Häuser.
Sie standen still.
„Du wirst mich wohl schnell vergessen“, meinte sie.
„Nicht so schnell, wie Du mich“, gab er zur Antwort.
Sie fühlte, wie stark ihr Herz klopfte. Es war geradezu ein körperlicher Schmerz, den sie empfand.
Sie hatte vergessen, daß sie ihm noch danken wollte.
Langsam reichte sie ihm die Hand und sah ihn an.
„Kann ich nicht noch —“ sagte er. Als er aber ihre klaren, ernsten Augen auf sich gerichtet sah, und ihr offenes Gesicht, auf dem jetzt nichts mehr von Heiterkeit lag, da — wagte er es nicht! Er stockte und sprach nicht weiter. Maxl hatte ihn nicht verstanden.
„Leb’ wohl, Hans“, sagte sie. Sie hatte sich vorgenommen, recht ruhig und tapfer zu bleiben.
Sie küßten sich noch einmal. Dann eilte sie auf die Thür ihres Hauses zu. Während sie aufschloß, nickte sie ihm noch einmal zu. Dann sah er, wie sie schnell eintrat.
Er wollte auf die Thür zueilen und klopfen.
Aber er drehte sich kurz um und ging zur nächsten Straßenecke, um den Straßennamen zu lesen. Er hatte keine Ahnung, in welcher Gegend der Stadt er sich befand.
Hans Grützmeyer reiste nicht mit dem Frühzuge, sondern erst am Nachmittage. Den ganzen Morgen war er innerlich so unruhig, wie er es bei sich nicht kannte. Er wußte wohl, was es war: er hätte Maxl noch gern einmal gesehen. Es war ihm, als müsse noch etwas zwischen ihnen ausgesprochen werden, wozu nur heute noch die Gelegenheit sei. Es quälte ihn beinahe. Aber doch nicht so, daß ihm sein Mittagessen nicht vorzüglich geschmeckt hätte.
Er saß im Wagen und hatte Befehl gegeben, nach dem Bahnhof zu fahren. Als er auf seine Uhr sah, sah er, daß er noch über eine Stunde Zeit hatte und schnellentschlossen rief er dem Kutscher den Namen einer Straße zu, welche an jene grenzte, in welcher Maxls Kneipe lag. Während der Wagen weiterrollte, dachte er daran, was wohl Maxl sagen würde, wenn er doch noch einmal wieder käme. Er suchte nach einem Vorwand. Vielleicht, wenn er angab, ihr noch ein kleines Abschiedsgeschenk bringen zu wollen? Und sehr befriedigt mit dieser Idee ließ er bei dem nächsten Goldschmiedladen halten und kaufte ein billiges Armband, welches weit werthvoller aussah, als es war.
Als der Kutscher hielt, hieß er ihn warten, bis er wiederkäme. Er vergaß sogar nicht, sich die Nummer des Wagens zu merken, damit der Kutscher nicht etwa Lust bekommen sollte, mit seinem Gepäck fortzufahren. Als er aber einen Blick in das alte, müde Gesicht des ehrlichen Weißbierberliners warf, kam ihm dieser Verdacht selbst lächerlich vor.
Er ging schnell die Straße hinunter. Er konnte ein gewisses, unbehagliches Gefühl nicht unterdrücken, darum ging er immer schneller, trotzdem er bei der Gluth wie in Schweiß gebadet war.
Er stand vor der Thür. Da trat er einen Augenblick zurück und unter das Fenster, an welchem er Maxl zum ersten Male gesehen hatte. Er glaubte ihre Stimme gehört zu haben. Die Straße war leer. Das Fenster stand offen. Er drückte sich dicht an die Mauer. Da hörte er über seinen Kopf fort ihr helles, lustiges Lachen schallen, laut und anhaltend. Dann sprach sie, aber er konnte ihre Worte nicht verstehen.
Da ging Hans Grützmeyer plötzlich schnell und ohne sich umzusehen den eben gekommenen Weg zurück, warf sich in seine Droschke und fuhr mit bösem, geärgertem Gesicht zum Bahnhof.
Er war tief gekränkt. So konnte sie also lachen, wenige Stunden nach der Trennung! Es nagte an ihm. Diese Gleichgültigkeit hatte er nicht erwartet.
Er wußte nicht, daß es vielleicht das letzte Lachen des Mädchens gewesen war, welches er gehört hatte.
Als ihn der Zug in den nächsten Stunden durch die öde, versengte Gegend trug, dachte er wieder an die letzten Wochen, mit denen er nun endlich und für immer abgeschlossen zu haben glaubte.
Sein Ärger ließ nach, ja er dachte sogar mit einer Art Zufriedenheit an seine Handlungsweise Maxl gegenüber, wenn er sich zurückrief, daß er doch eigentlich sehr edel und uneigennützig an ihr gehandelt habe. Wer hätte das an seiner Stelle gethan?
Nichts hatte er von ihr verlangt für das, was er ihr gewesen. Und er war ihr doch viel gewesen, sie hatte es ihm selbst gesagt. Rein und tadellos — ja, so war ihr Verhältniß gewesen, wie zwischen Bruder und Schwester beinahe — und innerlich befriedigt schaute er zum Fenster hinaus. Dann dachte er wieder an seine Zukunft . . . Aber immer wieder drängte sich doch Maxls Bild vor seine Augen. Er glaubte zuletzt wirklich, daß er sie geliebt habe. So hatte denn auch seine Jugend ein kleines Stück Romantik erhalten, welches eine hübsche Erinnerung für sein Leben bleiben würde. Und er lächelte vor sich hin . . .
Das alles hinderte ihn aber durchaus nicht, in der größeren Stadt, welche zwischen Berlin und seinem Heimathsort lag, die Nacht zu bleiben und sie bei einem Frauenzimmer zu verbringen, welches er sich auf der Straße auflas.
Als er das Weib am nächsten Morgen verließ, schenkte er ihr das Armband, welches Maxl sich durch ihr Lachen verscherzt hatte. Dann reiste er mit dem ersten Zuge weiter.
Für Maxl Braun folgten wieder die eintönigen Wochen einer Beschäftigung, an welche sie sich zwar immer mehr und mehr gewöhnte, welche sie aber doch zu Zeiten recht anwiderte. Die wenigen Studenten, welche sonst wohl ab und zu gekommen waren, waren in den Ferien, und unter ihren anderen Gästen war niemand, mit dem sie gern gesprochen hätte. So kam es, daß sie oft an Hans Grützmeyer dachte; und dann tauchte stets wieder der eine glänzende Abend im Café Bauer und der Sonntag auf der Spree vor ihr auf. An diesen kargen Erinnerungen zehrte sie immer wieder, denn sie besaß keine anderen. Alles Andere war Staub und Arbeit und Elend, wohin sie sah in ihrer ganzen Jugend. Jedoch sie dachte nicht oft an ihre Kinderjahre. Sie wollte diese Zeit vergessen und es mußte ihrem Willen gelingen.
An Hans dachte sie mit Dankbarkeit. Sie glaubte ihm viel schuldig zu sein. An diese Dankbarkeit knüpfte sich eine Zuneigung, welche jedoch weit entfernt von Liebe war.
Da wurde sie plötzlich krank.
Unterdessen war Hans Grützmeyer wieder in den Lebenskreis eingetreten, in welchem er sich so lange bewegt hatte während seiner Jugend; und von dem ersten Tage, von der ersten Stunde an fand er den kleinen, kurzathmigen, engen Ton ganz von selbst wieder, in welchem alle diese Menschen sprachen, und welchen er in nichts verlernt hatte während der Jahre, welche er draußen — in der Welt gewesen war, in nichts, mochte er auch diese Jahre ganz anders gesprochen haben. In der Enge dieser Verhältnisse, in welche jede freiere Natur erstickt wäre, bewegte er sich sicher und behaglich. Keine Anforderung trat an ihn heran, welche er nicht leicht im Stande gewesen wäre zu erfüllen, und — was er unbewußt am Angenehmsten empfand — jene leisen Zweifel, welche so unbehaglich waren, an sich selbst und Anderem, hier schwiegen sie vollständig. Denn nichts war da, was sie hätte erwecken können. Seine Eitelkeit sog Nahrung aus seiner gesellschaftlichen Stellung, welche durch seinen Vater eine sehr geachtete war, und die Pflichten seines neuen „Berufes“ — sie waren so gering und dabei doch völlig schützend gegen jeden etwaigen Vorwurf der Unthätigkeit.
Als er ungefähr einen Monat zu Hause war, erhielt er eines Tages von dem Briefboten, welchem er zufällig an der Thür begegnete, den folgenden Brief.
Berlin, den 10. 8. 85.
„Lieber Hans!
Du hast mir einmal gesagt, wo Du wohnst, das ist mir wieder eingefallen ich habe Dir nicht schreiben wollen aber ich weiß nicht, was ich thun soll. Schon glaubte ich mich von allen verlassen, da erinnerte ich mich Deiner und klammerte mich an die Hoffnung, die Einzige, welche ich noch habe, fest und dachte vielleicht hilft mir der, ich bin sehr krank, nicht lange nach Deiner Abreise und mußte vom Geschäfte zu Hause gefahren werden. Es wurde der Arzt geholt und er bat meine Wirthin — die ist aber selbst sehr arm — sie solle sich meiner annehmen, denn ich wäre so übel daran; nun bin ich in der größten Noth, ich habe keinen Pfennig Geld mehr und keinen Menschen, an den ich mich wende. Ich bin jetzt allein, kein Mensch weiß, daß ich schreibe. Ach, es wird mir so schwer an Dich zu schreiben, ich hätte das nie gedacht, aber was soll ich thun in meiner Angst und Verzweiflung, heute ist der zwölfte Tag, daß ich zu Hause gebracht wurde, drei Tage lag ich zwischen Leben und Tod, meine Eltern, denen darf ich doch nicht schreiben und ich will es auch nicht, lieber verhungere ich, o Hans! hätte mich der liebe Gott lieber sterben lassen, alles ersparte, es war ja sehr wenig, aber das letzte habe ich heute hergegeben zu einer Taube. Ich darf nur Suppe von Huhn und Taube essen, heute ist der erste Tag, daß ich zweimal essen darf, O Hans! hätte mich der liebe Gott lieber sterben lassen! Lieber Hans! ach erbarme Du Dich meiner, ich habe keinen Menschen sonst mehr an den ich mich wende, wenn ich wieder gesund bin, werde ich Dir alles mit größtem Dank zurücksenden, entschuldige nur die Schrift, aber ich schreibe ja im Bett und dabei habe ich die Angst, jeden Moment kommt wer herein, sie dürfen ja nicht sehen, daß ich schreibe. Ich weiß nicht mehr wo mir der Kopf steht, am 15. die Miethe, dann Essen, Wäsche und Alles. Die Tochter von meiner Wirthin besorgt mir den Brief, o bitte laß mich nicht warten. Lebe wohl, mir wird so schlecht, mit Gruß Deine Maxl.“
Und querüber über der ersten Seite stand noch einmal mit großen, zitternden Buchstaben: „Laß mich nicht warten!“
Hans Grützmeyer starrte auf den Brief, den er in der Hausthüre stehend aufgerissen und durchflogen hatte. Dann sah er auf das in der Hast zerrissene Couvert. Da stand mit großen, ungelenken, aber klaren Buchstaben sein Name: „An Herrn Hans Grüzmeier am Gericht“ und der Name der Stadt. Und auf der Rückseite ihre Adresse. Eine Straße in Berlin, die er nie hatte nennen hören; im dritten Stock.
Dann war sein erster Gedanke: wie gut, daß ich den Postboten zufällig getroffen habe! Wenn nun jemand aus meiner Familie den Brief gesehen hätte!
Er sah sich um. Aber das Haus und die Straße waren still und ruhig. Niemand hatte ihn sehen können. Dann ging er schnell in sein Zimmer, warf sich in den Lehnstuhl und las den Brief noch einmal vom ersten bis zum letzten Wort, mit jener peinlichen Genauigkeit, mit welcher er seine Geschäftssachen zu lesen pflegte.
Er saß da mit zusammengekniffenen Lippen; auf der Stirne eine kaum merkbare Falte, in dem hellen, schönen Zimmer und sah auf den Brief, auf die ungelenken, im Anfang krampfhaft graden, gegen Ende immer undeutlicher und zitternder werdenden Linien, das zerknitterte, nicht ganz reine Papier und es fiel ihm fast unangenehm auf, wie ungelenk, unregelmäßig und wie einfach das Ganze war. Über die Bemerkung mit der Suppe lächelte er, als sein Auge wieder auf die Stelle fiel.
Dann dachte er an Maxl, aber nicht an das kranke Mädchen, welches von aller Welt verlassen war, welches alles verloren hatte, was sie besessen hatte, bis auf ihren Stolz, der erstickt war, als sie sich nach langem Sträuben endlich entschlossen hatte, diesen Brief zu schreiben, sondern er dachte an die heitere, frische Maxl, welche ihn so schlecht behandelt hatte. Dann warf er plötzlich den Brief bei Seite, ging einigemale im Zimmer auf und ab, überlegte, was er thun sollte, hob ihn dann wieder auf und schloß ihn sorgfältig ein. Dann ging er aus.
Den Abend verbrachte er in einer Gesellschaft, einer jener sinnlosen Zusammenkünfte, in welcher man sich tausendmal Gesagtes immer wieder mit derselben lächelnden Liebenswürdigkeit sagt, in welchen man tausendmal Gehörtes mit der Miene des Interesses immer wieder anhört, während man im Innern nur den einen Wunsch hat, möglichst bald nach Hause zu kommen. Hans Grützmeyer amüsirte sich dagegen immer vortrefflich in solchen Abendgesellschaften. Er war gern gesehen in diesen Kreisen, da er gut zu unterhalten verstand, und es schmeichelte seiner Eitelkeit hier seine kleinen Triumphe zu feiern, und für witzig, ja geistreich zu gelten, während er doch eigentlich keine Spur von echtem Humor besaß. Und besonders an diesem Abend, wo die Tochter des reichen Kaufmanns da war, welche er — so war es im Rath der Eltern bestimmt — heirathen sollte! Er hatte durchaus nichts dagegen, und sie ebensowenig, und so verlief alles zur Zufriedenheit. Erst als er spät am Abend im Bette lag, fiel ihm plötzlich wieder der Brief der Kellnerin ein. Er legte sich auf die andere Seite. Der Gedanke war ihm unangenehm, daß er doch irgend etwas thun müsse. Morgen — dachte er und schlief ein.
Am nächsten Morgen nahm er den Brief vor, und überlegte noch einmal ruhig und reiflich. Er rechnete nach, wie viel er wohl gut entbehren könnte. Dann wollte er ihr vierzig Mark senden. Als er aber noch einmal nachdachte, sagte er sich, sie hätte gewiß auch mit dreißig genug, sie war ja schon auf dem Wege der Besserung und würde bald wieder etwas verdienen können. Dann sah er nach ihrer Adresse. Aber den Brief las er nun nicht wieder. Es war ihm peinlich: und er wußte ja auch zur Genüge, was darin stand. Er wollte ihr das Geld per Postanweisung schicken; aber dann mußte er seinen Namen als Absender angeben. Sandte er dagegen in eingeschriebenem Brief, so würde sich der Postbeamte gewiß über seine Correspondenz verwundern. Hier kannten ihn alle Menschen nur zu genau. Da galt es in allen Dingen, und besonders in solchen Kleinigkeiten, vorsichtig zu sein. Denn alles wurde besprochen, gedeutet, mißdeutet und weitergesprochen. So nahm er Scheine und legte sie in ein Couvert. Er fügte eine Karte bei, auf welche er „Gute Besserung!“ geschrieben hatte. Als er aber sah, daß es eine Karte mit seinem Namen war, zerriß er sie und nahm eine andere leere. Dann schrieb er mit seinen schönen, regelmäßigen Zügen die Adresse ab und warf den Brief in den Kasten, als er zum Frühschoppen ging, welcher ihm in den Bewußtsein eine gute That gethan zu haben heute doppelt gut schmeckte.
Er glaubte auch, nun damit fertig zu sein. Hoffentlich schrieb sie ihm nicht wieder. Jedenfalls wollte er dem Briefboten einen Wink geben, dergleichen Briefe stets nur ihm persönlich einzuhändigen.
Nicht durch das Mitleiden mit der Kranken war Hans Grützmeyer bewogen worden, das Geld zu senden; sondern darum hatte er es gegeben, damit er sich nicht vor sich selbst zu schämen brauchte.
Es war am dritten Tage nach jenem, an welchem Maxl sich entschlossen hatte den Brief an Hans zu schreiben. Es war der schwerste Entschluß gewesen, vor welchem sie jemals gestanden hatte. So schwer war es ihr selbst nicht geworden, von Hause fortzugehen. Aber die Krankheit hatte ihren Willen und ihren Stolz gebrochen, und Noth und Angst waren für sie zu groß gewesen.
Sie war heute zum ersten Male aufgestanden für eine kurze Zeit und saß in dem alten, abgenutzten Sopha ihrer Wirthin in deren Stube. Sie hatte an diesem Abend Antwort erwartet, und die Unruhe hatte sie aufgetrieben. Sie war allein. Das Fenster stand halboffen, und Maxl konnte von ihrem Platze aus gerade die Krone des Baumes sehen, welcher sich durch die Steinplatten des Hofes durch und langsam immer höher und höher hinauf gearbeitet hatte.
Aber die Antwort war nicht gekommen. Sie hatte immer noch gehofft. Doch es war schon so spät, daß der Postbote nicht mehr kommen konnte. Morgen. ——
Sie lag nicht bequem. Sie fühlte in ihrem Rücken das harte Holz der Rücklehne, aber sie war so müde, daß sie sich nicht bezwingen konnte, eine andere Stellung einzunehmen. Ihre Gedanken nahmen immer denselben Weg, wie müde Pilger, welche nur eine Hoffnung noch aufrecht hält. Sie klammerte sich an das Einzige, was sie zu besitzen glaubte; an das Einzige, was in den langen, letzten Wochen einer gänzlichen Verlassenheit vermocht hatte, sie aufrecht zu halten. Immer noch denselben Weg gingen die Gedanken — und sie logen ihr vor, es sei noch ein Mensch, der an sie dächte und der sie nicht vergessen hätte, weil er sie einmal geliebt. Morgen ——
Es war stiller wie sonst im Hause. Nur ab und zu schlug das Zufallen einer Thür, das Schreien eines Kindes, das Rufen einer Frau schmerzhaft an ihr Ohr. Sie war so nervös geworden, daß sie das kleinste Geräusch nicht mehr zu ertragen vermochte. Sie wartete auf ihre Wirthin, die unten stand, und klatschte. Aber es war ihr lieb, daß sie noch nicht kam. Sie schauderte zurück vor dem dumpfen, heißen Bett, welchem sie endlich für einige Stunden entflohen war.
Immer denselben Weg — was er ihr wohl schreiben würde? — Vielleicht kommt er sogar selbst — doch nein, es war Unsinn, daran zu denken!
Sie schauderte zusammen. Wieder gesund sein! Ihr Kopf wurde ihr auf einmal so schwer, daß sie ihn zurücklehnte an die Wand. Sie mochte noch nicht daran glauben, daß sie wieder gesund würde, denn sie fühlte noch keine Wiederkehr der Kraft. Wenn sie nun gestorben wäre? Was er denn wohl gethan hätte? Aber er hätte es vielleicht garnicht erfahren. ——
Sie hob mühsam wieder ihren Kopf und sah mit ihren großen, grauen Augen zum Fenster. Nichts als die rohe, schmutzig-graue Mauer des Nebenhauses, und die Krone des Baumes über die Brüstung hinübernickend; kein Stück vom Himmel. Selbst das Licht, das von oben mühsam durch die Dächer hier hinunterfiel, es war staubig und grau am Tage, und bei Nacht warf es nur die langen Schatten bis an die Hinterwand des Zimmers. Es wurde zunehmend dunkler im Zimmer. Nun kam bald die Nacht, eine jener schrecklichen Nächte, in denen sie wieder nicht schlafen konnte, in denen sie liegen mußte Stunde um Stunde, und warten auf den Morgen, trotzdem sie zum Sterben müde war. Dann kamen wieder die Gedanken. Wie die Spinnen würden sie herangekrochen kommen, aus allen Winkeln des Zimmers, die Gedanken, welche sie so fürchtete, — welche ihr zuflüsterten, daß es auch hätte alles anders sein können, wie es gewesen ihre ganze Jugend hindurch, und die verzehrenden Wünsche nach Leben und Heiterkeit. Sie sah starr zum Fenster hinaus, immer auf die kalkige, schwarze Wand da drüben, welche immer dunkler und dunkler wurde. Wie traurig es war, so allein zu sein! Wenn nur die kleine Tochter ihrer Wirthin da wäre, das schmutzige Kind mit seinem frechen Lachen. Aber es war doch wenigstens ein Lachen. Vielleicht könnte sie dann mitlachen. Sie wollte rufen. Aber es war zwecklos. Es hätte sie doch Niemand gehört.
Wie viel Uhr mochte es sein? Sie sah sich im Zimmer um, als hätte sie vergessen, daß es keine Uhr hier gab. Erst, als sie nicht fand, was sie suchte, fiel es ihr wieder ein. Die Leute waren so arm. Und dann dachte sie plötzlich an ihre eigene Armuth und die schreckliche Angst wurde wieder in ihr wach, wenn nun — wenn nun auch morgen nichts käme? — Sie hatte ihrer Wirthin so fest versprochen, daß morgen Geld kommen sollte — wenn es nun ausbliebe! Was sollte sie sagen — und sie fiel zurück in jene brütende, dumpfe Verzweiflung, in welcher sie alle die Tage gelegen hatte, bevor sie an Hans Grützmeyer geschrieben und nachdem sie ihren letzten Pfennig hergegeben hatte.
So saß sie da, mit ihren trüben, stumpfen Blick, mit den vor Angst bebenden Lippen und den zuckenden Händen und die Hoffnung, die lügende Retterin, wollte nicht wiederkommen. Sie sank in sich zusammen, als müsse sie sich bergen vor dieser schrecklichen Angst, vor der Noth, vor dem Morgen. Als ob sie gerichtet werden sollte — wegen eines Vergehens — so war ihr. Die furchtbare Genossin der Armuth, die verwirrende Unsicherheit, redete ihr ins Ohr, daß es ein Verbrechen sei, arm zu sein, wie sie es immer dem Armen einzureden sucht, so lange, so quälend, bis er betäubt ist von der Wucht der Anklage und er sterben möchte, da es ihm Sünde gegen die Anderen zu sein scheint, noch weiter zu leben. Dieser schreckliche Wahn — er ist der größte Fluch der Armuth, der menschenverlassenen Armuth, der sich keine Hand, nein, kein Finger einer Hand entgegenstreckt um sie emporzuheben aus ihrer Angst und ihrer Verzweiflung.
Wer aber noch Kraft unter ihnen hat, dem zerreißt dies Gewebe des Wahns und die Wahrheit dämmert oder flammt ihm auf: daß auch er ein Recht an das Leben hat, weil er lebt, ein Recht, genau so groß und so unveräußerlich, wie jeder andere Mensch, und er wird es fordern von denen, welche es ihm entrissen haben in frevelnder Anmaßung, und sie mögen ihn verlachen und ihn niederhalten, so viel sie wollen, es muß einmal ein Tag der Abrechnung kommen, wo das Recht nicht mehr Unrecht, und die Wahrheit nicht mehr Lüge genannt wird! Und wehe dem, der dann noch so verhärtet ist, daß er das Recht nicht anerkennen und die Wahrheit nicht sehen will oder kann!
Wer aber schwach ist, der wird untergehen, als eines jener ungezählten Opfer der Härte und der Herzlosigkeit der Anderen, verschüchtert und verstoßen von dem Tische der Erde, der für Alle reich genug gedeckt wurde, und von dem er hungrig fortgetrieben wurde, weil ihm die Gefräßigkeit der Anderen selbst den Abfall nicht gönnte. Und traurig wird er bei dem Überfluß stehen, und Mangel leiden, und dann noch am Ende glauben, es sei seine eigene Schuld, und fortschleichen, um die Festesfreude der Anderen nicht zu stören, um verlassen und vereinsamt zu sterben!
— Maxl hatte eine gute Nacht. Sie schlief so lange Stunden fest und traumlos hintereinander, wie seit Wochen nicht mehr. Als sie erwachte, war es gegen die fünfte Morgenstunde. Sie fühlte sich so gestärkt, daß sie am liebsten aufgestanden wäre. Ihre Schmerzen schienen in diesem Augenblick fast verschwunden; ihr Kopf war klarer; etwas von der alten Lebensfreudigkeit war in ihren kranken, matten Körper zurückgekehrt. Sie blieb ganz still liegen, auf dem Rücken und sah zur Decke empor. Die Ruhe, welche ihr so unerträglich geworden war in den letzten Wochen, that ihr nun unendlich wohl. Sie vergaß sogar alles, womit sie eingeschlafen war: ihre bange Hoffnung auf den heutigen Morgen und das Trostlose ihrer Lage.
Es wurde schon hell im Zimmer. An den weißen Wänden des niedrigen, unordentlichen Zimmers lag schon der Morgen mit jenem seltsam-hellen, staublosen Licht, welches so keine andere Tagesstunde kennt. Überall drang es hin mit seinem klaren Blick, in jede Ecke und jede Falte; nirgends ist Schatten, überall dieselbe grelle, unheimliche Beleuchtung. Dabei die Stille. Maxl lag da und horchte auf einen Ton. Aber sie hörte nichts, nichts, außer dem eigenen, stillen, gleichmäßigen Athmen. Alles lag in Schlaf. Gewiß wachten um diese Stunde nur wenige Menschen, dachte sie. Nur die, welche sich schon jetzt zur Arbeit des Tages begaben. Auf der Straße war gewiß schon Leben. Aber ihr Zimmer lag an der Hinterseite des tiefen Hauses, und wie sollte über das Gewirr von Dächern ein Ton zu ihr herüberdringen? Sie hüllte sich fester in die Decken, als ob sie fröre. Dann schloß sie wieder die Augen. Aber sie war so völlig frisch, daß kein Schlaf mehr kommen wollte.
Da fuhr sie plötzlich empor.
Ein gellender Mißton war an ihr Ohr gedrungen: ein langgezogenes, klägliches Bellen. Da noch einmal. Ein Hund war in der Nachbarschaft erwacht. Stoßweise drang sein Bellen zu ihr; es lag etwas Erschreckendes in diesen einsamen, grellen Tönen. Sie setzte sich auf. Aber das Bellen nahm kein Ende. Sie hörte es immer deutlicher, und es wurde ihr immer unangenehmer. Immer in der gleichen Stärke: ein kurzes, lautes Aufbellen, dem ein langgezogenes, schrilles Heulen folgte. Fortwährend; gleichmäßig. Sie hatte es nie vorher gehört. Es mußte aus der Nachbarschaft kommen. Sicher lag das Thier in einem der engen, aneinandergepreßten Höfe an der Kette. Sie wartete. Es mußte doch bald ruhig sein. Aber der Hund bellte weiter; immer in denselben mißtönenden, schrillenden Lauten, genau in denselben Absätzen. Sie legte sich wieder nieder und preßte den Kopf in die Kissen. Aber der Hund bellte weiter und scharf und schneidend drang sein Heulen zu ihr, und sie mußte darauf hinhorchen. Es wurde ihr zuletzt so unerträglich, daß sie die Lippen aufeinander biß vor Ärger und Ungeduld. Wenigstens zehn Minuten schon hatte es gedauert; und der Hund bellte immer weiter. Wachte denn niemand auf und band ihn los?
Da — endlich! Aber schon in der nächsten Minute dasselbe gellende Aufbellen und das winselnde, klägliche Heulen. Diese krampfhaften Stöße — das Thier war krank. Diese Töne waren von irgend einem quälenden Schmerze hervorgepreßt. Und immer weiter. —— Sie lag und horchte mit angehaltenem Athem, wartend auf den Augenblick, wo das Thier vor Erschöpfung innehalten würde.
So lange und anhaltend hatte sie noch nie einen Hund bellen hören. Daß niemand aufwachte — sie verstand es nicht. Und plötzlich ergriff sie eine furchtbare Wuth gegen das Thier: sie hätte es erwürgt oder zu Tode gepeitscht, wenn sie es unter den Händen gehabt hätte. Sie haßte diese Creatur! Sie preßte die Lippen aufeinander; aber klar und empörend-gellend drang das anhaltende Bellen zu ihr. Es kamen von Zeit zu Zeit Pausen, aber immer wieder begann es. So hatte sie noch nie ein Ton gefoltert, wie diese schrecklichen, kranken Laute.
Sie konnte sich legen, wie sie wollte, sie mochte sich die Ohren zuhalten, sie mochte mit Gewalt ihre Gedanken auf Anderes richten — sie mußte es hören, und es durchdrang jedesmal schmerzhaft ihre Schläfen, wie eine spitze Nadel.
Ihre Nerven waren durch ihre Krankheit zerrüttet; ihr Gefühl hatte sich verfeinert und ihre Empfindungen waren gereizter geworden. Sie glaubte sogar in ihrer erregten Phantasie das Klirren der Kette zu hören, an welcher der Hund lag, und ihn bei jedem Aufheulen sich in die Höhe reißen zu sehen.
Sie konnte es zuletzt nicht mehr ertragen. Sie glaubte, eine Stunde nun schon das Bellen zu hören, während es vielleicht erst eine Viertelstunde gedauert hatte.
Sie sprang auf, und warf sich auf den mit ihren Kleidern bedeckten Stuhl. Und wie von körperlichem Schmerze gepeinigt, schluchzte sie verzweifelt auf, als nun mit einem letzten, langen Aufheulen das Bellen des Thieres plötzlich verstummte.
Sie zitterte am ganzen Körper und fühlte, wie sie fieberte. Den Nacken hinunter zog eine eisige Kälte und sie schauderte zusammen. Aber sie hatte nicht mehr die Kraft, in das Bett zurückzukriechen. Als nach einer Stunde die Wirthin eintrat, fand sie das Mädchen halb liegend auf dem Stuhle, die nackten Füße gegen den Boden gestemmt und den Kopf hintenüber gesunken; halb bewußtlos und von Fieberfrost erstarrt. Maxl mußte ins Bett zurückgetragen werden.
Sie schlief sofort ein.
Als sie am Nachmittage erwachte, gab ihr die Wirthin den Brief von Hans Grützmeyer, sehr erstaunt, denn Maxl hatte noch nie einen Brief erhalten.
Maxl hatte Mühe vor Freude nicht aufzuschreien, als ihr die Scheine entgegenfielen.
Sie wollte sofort auf und in ihrem überströmenden Dankgefühl antworten. Sie war wie genesen. Aber erst als sie am Tisch saß, und beginnen wollte, fühlte sie, daß sie zu schwach zum Schreiben war. Sie vermochte es nicht.
Erst nach einigen Tagen erhielt Hans Grützmeyer den folgenden Brief, den ihm der Briefträger persönlich übergab.
„Berlin, den 19. 8. 85.
Lieber Hans!
Eben war der Doctor hier und erlaubte mir zwei Stunden aufzubleiben, wozu ich auch gleich die Gelegenheit benutze und Dir zu danken. Du hast so edel an mir armem Mädchen gehandelt und der liebe Gott möge Dir alles vergelten, ich will Dir nun sagen wie ich mit Deiner lieben Unterstützung gewirthschaftet habe: die Wirthin bekam einen großen Theil und dann wollte auch die Schneiderin für das blaue Kleid, Du kennst es ja! einen Theil haben, ich mußte es ihr geben, denn sie ist zu arm wie sie sagt, leider mußte ich auch eine Flasche starken Wein haben. Der Doctor sagt es müsse sein. So war ich denn die letzte Woche noch im Besitz von 4 Mark, am Dienstag bekam ich aus der Krankenkasse 3 Mark, essen darf ich jetzt schon mehr auch Fleisch. Ich habe nur mehr eine Mark und einige Pfennige aber ich spare recht lieber sage ich ich habe keinen Appetit und nehme ein Löffel Wein mehr, es ist doch recht traurig wenn man in solch einer Lage ist und gar niemanden hat der einen beisteht. Ich zittere schon am ganzen Körper vom Schreiben Du mußt schon verzeihen aber ich darf ja eigentlich noch garnichts thun muß froh sein wenn ich stehn kann u. nicht umfalle Tausend Dank für Deine Hülfe Du bist ein guter Mensch ich werde es Dir nie vergessen u. gern in Raten sobald es mir möglich zurückzahlen ach wenn ich nur ins Geschäft gehen könnte ich kann nicht mehr schreiben lebe wohl und es grüßt Dich
Deine Maxl.“
Als Hans Grützmeyer diesen Brief gelesen hatte, lächelte er mit jenem eigenthümlichem Zug, welcher sich immer um seinen Mund legte, wenn eine Sache zur Zufriedenheit beigelegt war. Die wären wir los, dachte er bei sich; es ist doch gut, daß sie wieder besser ist. Daß sie noch einmal an ihn schreiben könnte, dachte und erwartete er nicht. Wozu auch? — Sie war ja jetzt aus dem Ärgsten heraus.
Er zerriß den Brief in kleine Fetzen, und ließ sie durch die Finger in den Papierkorb fallen. Dann pfiff er leise vor sich hin, und dachte an etwas Anderes, was ihm angenehmer war.
Diesmal aber hatte er sich getäuscht. Denn schon nach Verlauf von wenigen Tagen erhielt er abermals einen Brief mit den großen, deutlichen, schiefen Buchstaben. Er war roth vor Ärger, als er ihn aufriß.
Was wollte dies Frauenzimmer denn schon wieder von ihm? —
„Berlin, den 23. 8. 85.
Lieber Hans!
Daß ich so oft an Dich schreibe hätte ich nicht gedacht und Du darfst mir nicht böse sein. Allein meine jetzige Lage zwingt mich dazu ich bin in großer Not allein mir ist ein Anerbieten gemacht worden u. da bist Du es den ich in der Angelegenheit um Rath u. Hülfe bitte. Nämlich mir ist jetzt vor allem noch verboten auszugehen ich darf nun schon 6 Stunden außer dem Bett zubringen essen was der Arzt vorschreibt denn er sagt wenn ich seinen Anordnungen nicht Folge leiste so wird mein Zustand ein kronischer u. sieche allmälig dahin! ich habe nur 2 Rettungsanker der eine bist Du der andere folgend beschr. Anerbieten:
Vorgestern klopft es an unserer Wohnstube ich liege am Sopha (denn ich bewohne doch mit meiner Wirtin eine Wohnstube gemeinsam. Ich fühle mich so heimatlos wenn ich so allein wohnen soll) meine Wirtin macht auf u. es frägt ein elegant gekleideter Herr nach mir meine Wirtin ganz paff über den Besuch läßt ihn aber eintreten ich da ich den Herrn im Leben nicht gesehen habe noch erstaunter erste Szene gegenseitige Verwunderung nämlich meiner Wirtin und mir! Endlich stellt sich der Herr vor als Herr von Seehagen oder so ähnlich u. beginnt folgende wenigstens ähnlich lautende Ansprache: es ist zwar nicht schicklich einer mir ganz unbekannten Dame einen Besuch zu machen aber ich glaube daß mich die Empfehlung eines Freundes (aber ich weiß garnicht wer der ist), der Sie sehr genau kennt und mir ihre Lage in den frischesten Farben schilderte befürwortet. Also er brachte es endlich so heraus daß er mir ohne jedes eigennützige Gefühl aus meiner Lage helfen will, aber ich weiß nicht Hans darf ich ihm vertrauen? Ich brauche jemand der mir hilft Hans, ich kann mir nicht helfen ich bin zu krank ich habe gestern wieder 3 Mark bekommen aber Hans ich werde nicht fertig das wußte ich nicht alles alles kostet Geld. Meine Wirtin hat nichts das wäre die einzige Seele die mir helfen würde wenn sie nur könnte. Ach Hans hilf oder rate mir ich bitte dich ich sitze wie auf Kohlen der Herr ließ mir Bedenkzeit zwei Tage er ließ mir auch seine Karte die ich mitsende. Der Doctor kommt lebe wohl und sei tausendmal gegrüßt von
Maxl.“
Diesmal setzte sich Hans Grützmeyer sofort an seinen Schreibtisch. Diesen Herrn von Seehagen wollte er das Handwerk legen und keinenfalls sollte dieser Mensch etwas vor ihm voraushaben. Es war ihm ein förmliches Vergnügen, wie er nun mit seinen schönen, regelmäßigen Buchstaben an Maxl schrieb: „Liebes Kind! Ich will Dir noch einmal Geld senden. Mit den Herrn von Seehagen aber laß Dich nicht ein, wir wissen beide ganz gut, was er will. Hoffentlich wirst Du bald wieder ganz gesund. Mehr kann ich Dir nun aber wirklich nicht geben, Du mußt sehen, wie Du zurechtkommst. Lebe wohl. Dein H.“ Dann packte er abermals 30 Mark ein. Er rieb sich die Hände.
Dieser Mensch, wie schlau er es anfing! Und woher er es wohl wußte? Aber doch eigentlich recht gemein, ein krankes Mädchen — Hans war etwas sittlich entrüstet. Nun, dem würde auch schon heimgeleuchtet werden!
Und Hans Grützmeyer lachte vor sich hin, und rieb sich die Hände.
Maxl genas langsam. Doch sie fühlte selbst, wie zerrüttet ihr Körper war. Sie hatte in den Nächten während der kurzen Stunden des Schlafes seltsame Träume, und oft erwachte sie gegen Morgen, aufgeschreckt und schweißgebadet, denn in ihren Ohren war ein lauter, gellender Mißton geklungen, wie das Bellen eines kranken Hundes. Dann lag sie da, mit aufgerissenen Augen zur Decke emporstarrend und glaubte, sie müsse es jeden Augenblick wiederhören, so schrecklich und erregend wie an jenem Morgen. Und während alles um sie still blieb und der Morgen langsam die Falten der Nacht mit den stillen Händen auseinanderschob, lag sie da in Angst und Erwartung, bis der Tag begann.
— Die Sendung Hans Grützmeyers war doch zu spät gekommen. Wenige Stunden vorher hatte sie von Herrn von Seehagen eine andere Unterstützung angenommen, und damit das Drängende, das Nothwendigste bezahlt. Sie konnte nicht anders. Aber sie hatte sofort die Summe von dem Gelde Hans Grützmeyers wieder voll gemacht, um sie zurückzugeben, wenn der Andere wiederkommen sollte. Sie wartete auf ihn. Sie konnte sich nicht mehr freuen, trotzdem sie sich ausgerechnet hatte, daß sie nun geborgen sei, wenn sie, wie sie hoffte, in acht Tagen wieder ins Geschäft gehen könnte. Sie war zu müde, um sich noch zu freuen. Was sie noch an Jugend und Frohsinn besessen hatte — ihre Krankheit hatte Alles bis auf den letzten Rest genommen, sie fühlte es.
Gegen sechs Uhr würde er wohl kommen, der fremde Herr. Sie saß und wartete. Sie hörte, wie er die Treppe heraufkam, und fühlte, wie sie roth wurde, trotzdem sie sich so fest vorgenommen hatte, recht ruhig und freundlich zu sein. Sie hatte ihre Wirthin gebeten, um sechs zu Hause zu sein, aber sie war nicht gekommen. Sie wollte auf die Thüre zueilen, den Riegel vorschieben und auf das Klopfen keine Antwort geben. Aber ihre Füße waren wie gelähmt. Er mußte zweimal klopfen, ehe sie „Herein“ — rufen konnte.
Er hatte viel Ähnlichkeit mit Hans Grützmeyer, dieser Herr von Seehagen. Es war dasselbe geistlose Gesicht, mit dem angeklebten Scheitel auf der Mitte der Stirn, dieselbe enganschließende Kleidung, der hohe enge Kragen und dasselbe etwas gezierte Wesen. Was aber Maxl sehr sonderbar vorgekommen war, sie hatte gesehen, wie er um das linke Handgelenk unter der weiten Manschette ein silbernes Armband trug mit einer Kugel. Sie konnte seitdem nicht an ihn denken, ohne daß ihr zuerst dies Armband einfiel.
Als er eintrat, war seine erste Frage nach ihrem Befinden. Aber sie begann sofort (etwas zögernd zwar) damit, wie froh sie sei, ihm das geliehene Geld schon jetzt zurückgeben zu können. Sie habe von anderer Seite Hülfe erhalten. Dann dankte sie ihm in ihrer einfachen Weise.
Er versuchte zuerst zu lachen, aber er kam damit nicht ganz zurecht, als er ihren Ernst sah. Dann sprach er etwas, daß von Zurückgeben keine Rede sein könne. Sie sah ihn so fest an, wie es ihr nur möglich war, indem sie ihm das sorgsam eingewickelte Geld über den Tisch hinüber zuschob. Der elegante Herr wurde einigermaßen verlegen. Er meinte dann, sie möge das Geld doch behalten, bis bessere Zeiten für sie kämen. Aber Maxl bat ihn noch einmal ruhig und dringend, das Geld zurückzunehmen, sie sei jetzt von aller Sorge befreit. Er sprach von „merkwürdigen Eigensinn“, suchte dann das Gespräch auf Anderes zu lenken, aber Maxl antwortete auf alles so müde und einsilbig, daß er endlich etwas geärgert aufstand, und fragte, ob er vielleicht zu besserer Zeit wiederkommen könne. Aber sie bat ihn, es nicht zu thun. Wenn er aber vielleicht in vierzehn Tagen einmal in der Wirthschaft nachfragen wolle —
Er stand vor ihr.
„Sie sind ein sonderbares Mädchen“, sagte er und streckte ihr seine Hand hin, in welche sie langsam die ihre legte. Sie reizte ihn. Und plötzlich beugte er sich nieder und wollte sie küssen. Aber sie fuhr jäh mit einem solchen bangen Ausdruck des Entsetzens vor der gefürchteten Annäherung zurück, ihre Hand aus der seinen reißend, und sich hintenüberbeugend, daß er innehielt.
Er nahm sich wieder zusammen und griff nach seinem Hut. Sie starrte ihm nach. Als er aber der Thür zuging, sah sie das Geld noch auf dem Tisch liegen, und indem sie sich mit aller Aufbietung ihrer Kräfte erhob, schleppte sie sich ihm nach, und rief halbweinend: „Aber so nehmen Sie doch Ihr Geld, mein Herr. Was wollen Sie denn eigentlich von mir —“
Sie sah ihn noch einmal an. Da sah sie in seinem Gesicht das Widerspiel der Selbstsucht und des Begehrens so deutlich, und in seinen kalten Augen eine solche Gier, daß ihr in diesem Moment kein Zweifel mehr darüber war, weshalb ihr dieser Mensch seine Hülfe angeboten hatte. Es war ihr, als fühle sie immer noch den Athem seines Mundes, der sie eben gestreift hatte.
Er nahm wirklich das Geld, das sie in der ausgestreckten, zitternden Hand hielt. Dann schloß sich die Thür hinter ihm. Er hatte es vermieden, sie noch einmal anzusehen.
Sie stand noch immer auf derselben Stelle und fühlte, wie der Abscheu sie durchbebte.
O wie gemein das Alles war! Gab es denn wirklich keinen uneigennützigen Menschen mehr? — Doch sie dachte an Hans Grützmeyer, wie er nie so gehandelt hätte, und wenn Sehnsucht, Dankbarkeit und Vertrauen Liebe sind, so liebte sie ihn in dieser Stunde wirklich.
Als ihre Wirthin kam, erzählte sie ihr alles; aber auch diese meinte, sie hätte wohl etwas zuvorkommender sein können, so schlecht seien doch die Menschen nicht, wie sie glaube, und dieser Herr habe doch gewiß keine schlechten Absichten gehabt. Sie könne es wirklich nicht glauben, und sie sei doch schon eine alte Frau, die viel von der Welt gesehen.
Maxl saß wieder auf ihrem gewohnten Platz, in die harte Sophaecke gedrückt und sah vor sich hin. Ihr war in der letzten Stunde plötzlich ein Gedanke aufgestoßen, über welchen sie nicht hinwegkonnte. Sie mußte immer daran denken, aber sie konnte sich nicht mehr recht besinnen, was es eigentlich gewesen war. Sie war so müde, daß sie sich schon im nächsten Augenblick nicht mehr auf das besinnen konnte, woran sie noch eben gedacht hatte. So blieb sie sitzen, apathisch und still, bis sie gemahnt wurde von ihrer Wirthin, ins Bett zu gehen. Sie wäre am liebsten hier sitzen geblieben. Sie wußte, sie würde nicht schlafen können. Die Gedanken würden wieder kommen, und die Angst, und die Schmerzen in der Brust —
Aber sie mußte sich doch zu Bett schleppen.
Sie schlief indessen etwas, wenn auch nur eine Stunde. Dann wachte sie plötzlich auf, von Durst gequält und mit heftigen Stichen in der Schläfe. Sie griff mit der Hand nach dem Wasserglase neben ihr am Bett und trank. Es war nur ein Schluck noch im Glase und er vermehrte nur noch ihren Durst. Aber eher wäre sie erstickt, als bis sie sich ermannt hätte aufzustehen.
Sie schloß die Augen, um wieder zu schlafen. Aber es war umsonst. Sie wußte ganz gut, daß sie nun bis zum Morgen wachen mußte. Sie glaubte übrigens länger geschlafen zu haben, als es der Fall war. Ihre Schmerzen in den Schläfen ließen nach. Aber da kamen die Gedanken wieder, wie die Spinnen aus allen Ecken des halbhellen Zimmers und krochen an dem Bettrand empor und in die Stirn hinein, und fingen an zu bohren und zu wühlen, unablässig und quälend. Und auf einmal fiel Maxl wieder ein, was es gewesen war, das sie vorhin, als die Wirthin mit ihr gesprochen hatte über den Herrn, durchzuckt hatte. Da war er wieder, der Gedanke. —
Mit fürchterlicher Klarheit und Nüchternheit stand er nun wieder vor ihr: daß es zwecklos gewesen war, so rein zu leben, wie sie versucht hatte sich zu erhalten in täglichen Kämpfen und in trotzigem Stolz! Wie zusammengebrochen war alles plötzlich. Wozu hatte sie so gelebt? Für wen eigentlich? Weshalb hatte sie nicht das gethan, was alle Anderen auch gethan hätten? Sie hätte lachen mögen vor dumpfer Verzweiflung. Aber sie konnte ja nicht mehr weder lachen, noch weinen. Es war ihr Alles so grenzenlos gleichgültig geworden.
So plötzlich fiel dieser Gedanke wieder in ihr Bewußtsein zurück, daß er sie willenlos mit sich fortriß. Sie wußte, es lag etwas Wahres in ihm; und dies Wahre drängte sich ihr auf und nahm sie gefangen. Aber entstanden war dies Bewußtsein ganz langsam, nach und nach, in den letzten Wochen während der einsamen Stunden der Krankheit, in welchen ihr auch so manches Andere näher gerückt worden war, was ihr bis dahin ferner gelegen hatte.
Nun hatte sich alles, was sich in ihr angesammelt hatte an halben Wahrheiten, halben Zweifeln und halben Gefühlen auf sie geworfen und hatte sie überwältigt.
Sie krallte die Finger tief in die Bettdecke. In diesem Augenblicke hätte sie sich Jedem hingegeben, der hereingetreten wäre und nach ihr verlangt hätte. Jedem — für nichts! — Sie fühlte, daß sie sich selbst auf das Schmählichste betrogen hatte, um Alles: um ihre Jugend, die nun hin war, um ein Glück, das sie nie besessen, und daß sie nun dafür wieder um ihr Einziges betrogen worden war: um ihren Stolz. Was an Sinnlichkeit in ihr lag und was sie so lange nicht hatte beachten wollen und mit übermenschlicher Anstrengung erstickt hatte, es brach nun hervor aus dem kranken, elenden Körper und verlangte mit seiner ganzen Ungestümheit sein Recht. Ja, sie sehnte sich gradezu darnach, in dieser Nacht in den Armen eines Mannes zu liegen, und alles kennen zu lernen und alles selbst zu genießen, was sie so oft geahnt hatte in wüsten Träumen, in scheuer Begierde und in schreiender Sehnsucht; alles von dem sie so oft hatte sprechen hören in halben Worten, in cynischen Andeutungen, in unterdrückten Seufzern; was sie gelesen hatte in langen, gierigen Blicken, in halbverstandenen Bewegungen, in seltsamem Lachen; alles, was fortwährend nach ihr über die Mauer gelugt hatte, mit welcher sie sich in ihrer stolzen Reinheit so kühn umgeben hatte und hinter welcher sie sich so sicher geglaubt hatte. Ja, Alles, Alles! ——
Wofür hatte sie sich denn bezwungen bis heute in diesem unausgesetzten, bitteren Kampfe, in dem sie nicht einmal Siegerin geblieben war? — Waren diese Menschen alle, von denen sie umgeben war, es denn überhaupt werth gewesen, daß sie, um von ihnen geachtet zu werden, so gelebt hatte. Ob sie von Menschen, wie diese alle waren, ge- oder verachtet wurde, konnte ihr das nicht im Grunde genommen völlig gleichgültig sein? Von Menschen, vor denen allen sie selbst nicht die Spur Achtung hegen konnte? Es war so bitter, dies Denken, aber es riß sie fort und sie lag da mit aufgerissenen Augen und trockenen Lippen und starrte in das schweigende Dunkel — niemand, niemand! —— Da war nicht ein Einziger, für den sie ihrem Handeln noch irgend einen Zwang hätte auferlegen mögen . . . Mochten sie alle von ihr denken, was sie wollten! Was hatte es ihr genützt, dies Alleinstehen unter den Anderen? Wer bewies ihr denn Achtung? Kein Mensch! Sie war die Kellnerin, das verachtete Mädchen, welches sich selbst unter den Strich gestellt hatte, welchen die Ehrbarkeit zwischen sich und die „Anderen“ gezogen hatte. Zum ersten Male wurde ihr dies völlig klar. Sie hatte bisher alles um sich her mit ihrem eigenen Blicke betrachtet. Nun sah sie auf einmal alles mit den Augen der Anderen, und alles hatte sich plötzlich verschoben und erschien ihr in anderem Lichte.
Sie fühlte in diesen Stunden keine Schmerzen und keine Müdigkeit. Fest in die Kissen gepreßt lag sie da und biß in das Leinentuch, um vor Verzweiflung nicht aufschreien zu müssen und ihre Wirthin zu wecken, welche so leicht schlief und für welche der Schlaf so kostbar war nach der schweren Arbeit des Tages.
Und Maxl dachte immer weiter.
Alles hätte anders sein können. Wie trostlos lag nun alles vor ihr! — Ihre Gedanken verwirrten sich; sie kreisten immer um Eins, aber sie wurden immer verworrener und kamen ihm nicht näher. Nur ein dumpfes, halbklares Gefühl schrie ihr fortwährend zu: das, was du für gesundes Gefühl gehalten hast ist nichts weiter gewesen als eine hochmütige Überhebung über deine eigene Natur, welche nun dies Alles von sich abgeschüttelt und ihr Recht verlangt hat. Nicht einmal das Bewußtsein blieb ihr, daß sie wahr gewesen war. Nein, sie wußte jetzt sogar, daß sie sich selbst fortwährend belogen hatte, und es dämmerte ihr auf, daß wahre Sittlichkeit nicht darin besteht, die gesunden Regungen der Natur in den albernen, wahnwitzigen Ansichten eines kranken, unnatürlichen Sittengesetzes zu ersticken.
Sie ahnte das nur. Ihr kleiner, beschränkter Geist, welcher nie über die Stunde, nie über den engen Kreis ihres armen Lebens hinausgesehen hatte, tastete nur halb unsicher, halb angstvoll an all diesen Vorurtheilen, und suchte vergebens nach einem Ausweg. Aber wenn in diesen Stunden eine andere Leidenschaft ihr genaht wäre, sie wäre ihr willenlos erlegen. Denn sie wußte garnicht mehr: was war Recht und was war Unrecht, was war Sünde und was war Wahrheit! Sie wollte es auch garnicht mehr wissen, sie wollte leben, leben! Es kümmerte sich ja doch kein Mensch um sie, ob sie lebte, oder ob sie starb, ob sie rein oder entehrt war. Und im Grunde war es auch egal, ob sie sich des Abends da draußen auf der Straße umhertrieb und in Sammet und Seide ging, oder ob sie sich in dem elenden Loch abquälte für die paar Pfennige Trinkgeld, und dort die Rohheiten und Gemeinheiten mit anhören mußte, oder ob sie wieder nach Hause ging, und sich von dem schändlichen Weibe prügeln ließ und von Neuem das Elend ihres Schwächlings von Vater mit ansah —— aber nein, daran wollte sie nicht mehr denken, damit wenigstens war sie fertig. Lieber tausendmal sterben, als das noch einmal! —
Der Sturm ihrer Sinnlichkeit hatte sich gelegt. Sie war wieder zurückgesunken in die Theilnahmlosigkeit der letzten Wochen. Aber sie war in dieser Nacht eine ganz andere geworden.
Alle ihre Anschauungen hatten sich geändert, alles lag vor ihr in anderem Licht, und in ihr Herz hatte sich der Haß gesenkt, dieser seltsame Bruder der Liebe, dies urwüchsige Kind des Rechtsgefühls, diese einzig wahre Regung des Menschenherzens, welche in die eine Seele den Schatten, und in die andere das Licht wirft, den Haß, welcher himmelhoch die Liebe überragt, wie das Gefühl den Gedanken, und welcher die scheußlichste Frevelthat und die edelste That der Überzeugung mit ganz den gleichen Mitteln gebärt.
Maxl wußte jetzt, was Leben heißt: daß die Schwere und Härte des Lebens nicht in der Schwere und Härte der Arbeit, sondern in der dumpfen Angst, welche es mit jeder neuen Erkenntniß in das Herz senkt, besteht.
Sie war in einen halben Schlummer gefallen; aber er war so leicht und unstät, daß sie fühlte, wie die Schmerzen in ihrem Körper wieder begannen.
Es war fast Morgen, als sie ganz erwachte. Die graue Wirklichkeit trat wieder vor sie hin und sie dachte jetzt nicht mehr daran, ob ihr Denken und Handeln gut oder falsch war, sondern ob sie heute noch von ihrem wenigen Gelde zu leben im Stande sei, oder ob sie auch heute Appetitlosigkeit heucheln sollte, um für morgen einen Bissen mehr zu haben, oder ob sie nicht auch zu schwach dazu sei. Und jetzt fiel ihr auch auf einmal wieder Hans Grützmeyer ein.
Ihre Gedanken flüchteten aus der Noth und der Angst wieder zu ihm, der ihr in letzter Zeit immer wie der einzige Fleck festen Landes gewesen war. Da dachte sie auch plötzlich daran, daß sie ja Geld genug habe — hatte sie denn ganz vergessen, daß er ihr gestern Abend Geld gesandt hatte? — Gestern Abend? — Ja, was war denn alles gestern Abend gewesen? —
Da — während sie dalag und ihr alles wieder einfiel und der Morgen immer klarer ins Zimmer fiel — da drang plötzlich durch die helle Stille ein lautes, aufkläffendes Bellen an ihr Ohr, und in athemlosem Entsetzen richtete sie sich jäh in die Höhe. Der Hund — da war er wieder! Sie lauschte in bebender Spannung. Es dauerte fort. Ganz dieselben langgezogenen, schrillen, nervenerregenden Laute, wie an jenem Morgen. Sie warf sich nieder und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Aber es half nichts.
Sie vermochte es nicht zu ertragen. Sie sprang auf und griff nach ihren Kleidern. Sie wollte fort. Hinaus! Fort von hier! Einerlei wohin!
Und während sie sich ankleidete, durchzuckte jäh ein Gedanke ihre Stirn, welcher ihr bis dahin ganz fern gelegen hatte. Wie, wenn sie zu Hans Grützmeyer ginge? ——! —
Sie dachte in fliegender Eile weiter, immer und unaufhörlich verfolgt von jenem Bellen. Das war das Einzige, was ihr noch übrig blieb. Dieser Mann war der Einzige, der ihr geholfen hatte, der sie geliebt hatte, dem sie vertraute!
Wenn sie hier bliebe, würde es doch in wenigen Tagen wieder beginnen, das Elend, welches ihr jede Kraft genommen hatte, es auch noch einen Tag länger zu ertragen.
Aber Hans würde ihr helfen und rathen, und sie dort behalten, bis sie genesen war — und —
Sie dachte alles in stürmischer Hast durch. Etwas von ihrer alten Kraft und Energie war wieder über sie gekommen, und ließ sie diesen Gedanken festhalten und verfolgen. Sie dachte nicht daran, wie thöricht und verzweifelt er war, sie überlegte keine Folgen, sie wollte nur gerettet sein. Und dazu gab es nur noch diesen einen Ausweg. So stand es bei ihr fest. Jetzt, jetzt brauchte sie Liebe! Und jetzt wollte sie Liebe geben! ——
Sie raffte zusammen, was ihr in die Hände kam, wahllos und unordentlich und band es zu einem Bündel. Dann griff sie nach ihrem Gelde. Es mußte reichen bis dahin. Dann hatte sie nichts weiter nöthig.
Sie ließ ihrer Wirthin ein paar Zeilen zurück in ihrer großen, zitternden Schrift. Nichts sagen — sie würde sie nicht gehen lassen! Recht leise, damit keiner geweckt würde. . . .
Sie war fertig. Da wollte ihr der Muth sinken. Aber das Bellen schreckte sie wieder von Neuem auf, welches sie in den letzten Minuten ganz vergessen hatte.
Vorsichtig und leise öffnete sie die Thür. Dann trat sie noch einmal an den Tisch und schrieb, während sie in der linken Hand fest ihr kleines Bündel hielt, auf das Papier noch: „Vielen, vielen Dank für Alles!“
Sie sah sich noch einmal um. Sie hatte ein Gefühl, als habe sie etwas Wichtiges vergessen. Aber es war wohl nichts. Fort, nur fort! Jeden Augenblick konnte Jemand kommen.
Sie glitt die Treppe hinunter. Der Schlüssel in der Hausthür ging so schwer; sie mußte beide Hände zu Hülfe nehmen, um ihn umzudrehen. Das Schloß sprang klirrend zurück. Sie riß die Thür auf und machte sie schnell wieder hinter sich zu.
„Wenn mich nur Niemand hört“, war ihr einziger, fortwährender Gedanke, „und mich zurückholt —“
Als sie draußen stand, fühlte sie erst, wie schwach sie war. Sie eilte aber trotzdem hastig die leere Straße hinunter. An der Ecke stand ein Wagen; der Kutscher schlief. Sie rief ihm nach kurzem Besinnen zu.
„Ich will zum Bahnhof“, sagte sie.
Der Kutscher richtete sich mürrisch auf und blinzelte auf sie nieder.
„Zu welchem Bahnhof denn?“
Sie nannte ihm den Namen der Stadt.
Sie mußte sich selbst den Schlag öffnen. Als sie endlich saß und der Wagen fortrollte, kam eine Art dumpfer Betäubung über sie; so saß sie bewegungslos und halb schlafend, bis der Wagen hielt.
— Maxl hat sich nie mehr daran erinnert, was an diesem Tage mit ihr vorgegangen ist.
Sie wußte noch, daß sie den Kutscher bezahlt und sich ein Billet genommen, und daß sie dafür fast ihr ganzes Geld hingegeben hatte; daß sie dann im Waggon einer grobschrötigen Frau mit einem stillen, häßlichen Kinde, dessen Augen entzündet waren, gegenübergesessen hatte und daß ihr diese von ihrem Essen mitgetheilt und ihr viel erzählt hatte; daß diese gutmüthige Frau ihr dann gesagt habe, wo sie aussteigen müsse, und daß sie dann den andern Menschen nachgegangen war, worauf sie auf einen ziemlich leeren Platz vor dem Bahnhof gelangt war, und das Schild eines Gasthauses gelesen hatte. Dann, daß ein schmutziger Kellner sie in das Zimmer gebracht hatte, in welchem sie jetzt war. Alles andere hatte sie vergessen; der ganze, lange Tag schien garnicht von ihr erlebt zu sein; sie mußte alles halb besinnungslos gethan haben, in einer unbewußten, dumpfen Stumpfheit. Sie wußte nicht mehr, woran sie gedacht hatte; sie hatte sich weder gefreut noch geängstigt, Hans Grützmeyer wiederzusehen; nach dem plötzlichen, nervösen Aufraffen am Morgen war eine lange, dämmernde Gleichgültigkeit gefolgt, welche sie völlig der Wirklichkeit entrückt hatte.
Erst jetzt trat diese ihr wieder näher und es kam ihr allmählich zum Bewußtsein, wo sie war und was sie gethan hatte.
Sie saß noch immer regungslos auf demselben Stuhl, auf welchen sie sich müde hatte hinfallen lassen, als sie vor einer Stunde angekommen war. Das Zimmer war klein und niedrig, und die Wände mit einer schmutziggrünen Tapete bedeckt. Es lag nach hinten hinaus, aber nur einen Stock hoch. Durch das halboffene Fenster drangen die Gerüche der darunter liegenden Küche in das Zimmer, widerlich und erstickend. Der Tisch war mit einer ordinären, rothen Decke bedeckt und das einzige, was darauf stand, war ein ausgetrocknetes Tintenfaß. Als Maxl dies sah, fiel ihr ein, daß sie Hans schreiben müsse, daß sie hier sei. Aber als sie schon aufstehen wollte, um nach dem Kellner zu rufen, durchdrang sie eine Art Scheu davor, was wohl Hans sagen würde, wenn er so plötzlich die Nachricht bekäme. Und sie blieb sitzen. Sie war auch so müde.
Ihre Gedanken aber wurden immer klarer. Immer mehr dachte sie über alles nach, was sie gethan hatte am Morgen, und was sie nun thun wollte und mußte. So nah war sie ihm — wo er wohl wohnte? Vielleicht nur wenige Häuser entfernt. Und er hatte keine Ahnung, daß die Maxl ihm so nah war. Dann dachte sie wieder an das Wiedersehen. Was er wohl sagen würde? war der immer wiederkehrende Gedanke. Ob er sie wohl in die Arme nehmen würde, und sie küssen würde, wie schon einmal?
Sie fühlte sich jetzt so sicher und hatte gar keine Furcht mehr. Wozu auch? Sie war ihm ja so nah, und dann liebte er sie. Und für einen Menschen, den man liebt, thut man Alles. Sie glaubte auch, daß sie wieder gesund werden würde, denn sie hatte trotz der langen Reise gar keine Schmerzen.
Noch einmal wollte sie aufspringen, um ihm zu schreiben. Sie sehnte sich nach ihm, nach irgend einem Menschen. Es war alles so eigenthümlich still und bedrückend in diesem Hause. Aber wieder blieb sie sitzen. Sie wollte bis morgen warten. Er war gewiß auch garnicht zu Hause, denn sie wußte, daß er Abends meist ausging.
Es mußte auch schon spät sein. Sie würde sicher gar keinen Boten mehr finden.
Wenn sie nur schlafen könnte! Aber besser sie blieb noch etwas sitzen, bis sie müder wurde. Sie hätte wohl gern etwas zu essen gehabt, aber sie mochte nicht rufen.
Es war so kalt und ungemüthlich in diesem Gasthof. Wie leer und fremd dies Zimmer war! Sie sah sich um. An der Wand hingen zwei Bilder. Maxl konnte von ihrem Stuhl aus nicht erkennen, was sie vorstellen sollten. Aber sie sah doch, daß sie sehr schlecht und roh waren. Sie hatte guten Geschmack, und konnte recht wohl Gutes und Schlechtes unterscheiden. Aber sie hatte fast nichts gesehen, und ihr Gefühl war völlig unausgebildet.
Sie wandte ihren Blick weg und sah zum Fenster hinaus. Sie konnte ein Stück vom Ende des Hofes sehen und die Stallungen, welche dort lagen. Mehrere Leute arbeiteten dort. Sie erkannte den Kellner, welcher sie in dies Zimmer gewiesen hatte. Er hatte seinen schmutzigen Frack abgelegt, und stand in Hemdärmeln da. Sie hörte, wie er mit einem der Frauenzimmer sprach, aber obwohl sie nicht den Sinn verstand, erschien ihr seine Sprechweise doch seltsam fremd und schwerfällig.
Es wurde immer dunkler im Zimmer. Die Schatten schienen von der Decke auf sie herabzufallen. Die Luft, welche träge zum Fenster hereinquoll, war feucht; es war einer jener trostlosen Abende zwischen Herbst und Winter, die wie Ahnung eines Kommenden auf den Menschen liegen. Keine hoffende Freudigkeit, nur brütende Angst und absterbende Trauer, wohin das Auge reicht.
Im Hause war es nun völlig still. Maxl hatte nun stundenlang so gesessen, auf dem Stuhl am Tische, die Hände müde im Schooße und vor sich hin sehend. Da stand sie endlich auf. Sie wollte zu Bett. Aber als sie die Decke zurückschlug und sah wie schmutzig und gebraucht es war, nahm sie ein Kopfkissen und trug es zum Sopha. Dann wollte sie ihre Hände waschen und ein Glas Wasser trinken. Aber alles war ausgetrocknet und der Boden der Flasche mit gelbem Staub bedeckt.
So ging sie wieder zum Sopha zurück und streckte sich darauf aus. Die Lage war so unbequem, daß sie glaubte nicht schlafen zu können. Aber sie blieb liegen. Sie war völlig angekleidet geblieben; nur ihren Strohhut hatte sie abgelegt.
Noch einmal dachte sie an Hans. Morgen würde alles anders sein, wenn sie mit ihm gesprochen haben würde. Er würde für seine kleine Maxl sorgen. Er war immer so freundlich und zuvorkommend gewesen. . . . Dann schlief sie ein. Sie hatte während der Nacht lange, unklare Träume. Aber sie führten sie alle weit von der Wirklichkeit weg.
Sie hatte ihm geschrieben und wartete nun auf ihn. Nur wenige Worte: sie sei da und er möge kommen. Sie wartete auf ihn, mit einer stillen Freude und doch mit der ängstlichen Unruhe, welche wir vor der Erfüllung jeder Hoffnung empfinden.
Der Kellner war dagewesen, und hatte ihr Wasser und Frühstück gebracht. Aber sie ließ beides unberührt, trotzdem ihre Hände staubig und feucht und ihre Lippen trocken und durstig waren. Ihre wachsende Erwartung ließ sie zu nichts kommen.
Sie hatte dem Kellner alles Geld gegeben, was sie noch besaß und er hatte ihr erfreut versprochen, den Brief gleich selbst zu besorgen. „Gewiß kenne er den Herrn Grützmeyer, der sei der Sohn von dem reichen Herrn etc.“ Er hoffte auf weitere Trinkgelder, und dann wollte er auch gerne wissen, was dies Mädchen mit dem jungen Herrn Grützmeyer zu thun habe. Gewiß eine nicht ganz saubere Geschichte.
Daher gab er denn auch den Brief nicht ab, sondern verlangte den jungen Herrn persönlich zu sprechen. Hans Grützmeyer war eben aufgestanden und wurde vom Frühstückstisch fort an die Thür gerufen. Er war schlechter Laune und nahm den Brief schnell aus der Hand des Überbringers.
„Antwort?“ fragte er.
„Ich weiß nicht, Herr Referendar, wollen Sie bitte lesen —“
Hans Grützmeyer sah auf die Adresse. Als er die Schriftzüge erblickte zuckte er zusammen, und riß den Brief auf. „Ich bin hier. Bitte komme bald zu mir. Deine Maxl.“
„Wer hat Ihnen dies gegeben?“ stieß er hervor.
„Eine Dame in unserm Hotel, die gestern Abend ankam.“
„In welchem Hotel?“ —
Als er den Namen desselben hörte, athmete er auf. Also in einem der kleinsten, und ganz nah am Bahnhof, wohin sich keiner seiner Bekannten verirrte. Das war sein erster Gedanke.
„Sagen Sie der Dame, ich käme, sobald ich irgend könnte; sie möge auf keinen Fall ausgehen, bis ich dagewesen sei.“ Er sprach es leiser, damit ihn das Dienstmädchen nicht verstehen sollte, welches gerade vorbeiging. Dann drückte er dem Boten ein Trinkgeld in die Hand, und ging schnell in das Frühstückszimmer zurück, nachdem er den Brief in seiner Brusttasche verborgen hatte.
Die ganze Familie saß beim Frühstück. Ein lebhaftes, angeregtes Bild.
„Was war denn das?“ fragte der Vater. Denn er wollte stets alles wissen, was in seiner Familie vorging. „Von einem Freund, eine Verabredung,“ sagte Hans leichthin und lachte dann mit seinem jüngsten Bruder, der neben ihm saß, einem prächtigen Bengel von neun Jahren, seinen besonderem Liebling. Aber er mußte immer an den Brief denken, und hatte große Mühe seine innere Aufregung zu verbergen. Er wußte, daß er bei unangenehmen Empfindungen die Gewohnheit hatte, die Lippen zwischen die Zähne zu drücken, und damit es keiner merken sollte, sprach er viel und lebhaft; denn sie kannten sie alle, diese Gewohnheit, und wußten sofort, wenn er verstimmt war.
„Du bist ja so froh auf einmal“, sagte freundlich seine Mutter, und sah ihn an, „das muß gewiß eine angenehme Botschaft gewesen sein.“
Er bejahte es lachend und sprach von etwas Anderem.
Aber sobald er konnte, stand er auf und ging in sein Zimmer. Während er sich zum Fortgehen anschickte, überlegte er, wie er am besten in das Hotel eintreten könne, ohne gesehen zu werden. Er eilte sich.
Als er auf der Straße war, kam ihm erst recht zu Bewußtsein, wie unangenehm und peinlich für ihn dieser gänzlich unerwartete Zwischenfall werden konnte. Es lief ihm kalt über den Rücken, wenn er daran dachte, daß morgen vielleicht schon die ganze Stadt sich in geheimer Freude und in offener Entrüstung erzählen würde, da sei eine Kellnerin, welche ihm von Berlin hierher nachgelaufen sei. Er dachte unablässig daran. Was würde sein Vater sagen, was die in diesen Dingen so strengdenkende Mutter? Und die anderen Glieder der Familie, die Tanten, und die Klatschbasen der Stadt, welche nur auf solche Gelegenheiten lauerten, um ihr Gift zu verspritzen? Wie höhnisch würden die Bemerkungen seiner Freunde, und wie albern das Benehmen der prüden jungen Damen sein? Auch an das Mädchen dachte er, welches schon halb seine Braut war; dann an deren Eltern, und wieder an seinen Vater — er wurde abwechselnd heiß und kalt und ging immer schneller. Es würde ein öffentlicher Scandal werden, und er war dann in der Gesellschaft, welche sich heimliche Extravaganzen zwar gern gegenseitig vergab, aber über alle öffentlichen Vorkommnisse solcher Art schonungslos hart urtheilte, so gut wie unmöglich. Seine Carrière, die so angenehm und gut begonnen hatte, Dank der günstigen Verhältnisse, vielleicht verdorben, sicher aber gehemmt; oder das Verlorene war nur durch angestrengte Arbeit wieder zu erreichen; und Hans war grade so froh, daß er in den nächsten Jahren etwas Ruhe hatte . . .
Er trocknete sich die Stirn. Nichts hätte ihm begegnen können, gerade jetzt, was ihm unangenehmer sein konnte! Und dabei war er eigentlich ganz unschuldig. Aber wer würde seinen Erklärungen glauben? Kein Mensch. Seine Eltern so wenig, wie alle anderen. Sie würden ihn auslachen, wenn er sagen würde, er habe nur aus Freundschaft und Mitleid so gegen das Mädchen gehandelt. Da war es doch besser, stillzuschweigen, als ausgelacht zu werden, und immer noch besser für einen Mädchenjäger zu gelten. Aber die Sache hatte in jedem Falle, wenn sie bekannt wurde, neben der ernsten, vernichtenden, auch eine lächerliche Seite. Ein Mädchen, das ihm nachlief! . . . Eine Kellnerin! Wie würden sie lachen! —
Dann packte ihn plötzlich der Ärger.
Dies alberne Frauenzimmer! Was fiel ihr ein, hierher zu kommen, und ihn sogar hier noch mit ihren Betteleien zu belästigen? Hatte er nicht so an ihr gehandelt, wie es vielleicht kein Zweiter gethan haben würde, in jeder Beziehung so!? Er wurde ordentlich aufgeregt, und mußte sich besinnen, langsamer zu gehen, damit er den Vorübergehenden nicht auffiel. — Was hatte er denn von dieser ganzen, verdammten Geschichte gehabt? Nichts als Ärger, Unkosten und Zeitverlust — nun das Letztere war das Wenigste —, aber das dies auch noch dazu kam, das war zu viel, und es enthob ihn wirklich jeder weiteren Verpflichtung und Rücksicht. Ja, wenn sie wirklich seine Geliebte gewesen wäre, wenn er sie zur Mutter gemacht und dann verlassen hätte, dann konnte ein solcher Schritt von ihm wenigstens verstanden und vielleicht sogar entschuldigt werden! Aber so war es nichts, als eine Ankletterei allergewöhnlichster Art. Und ihre Krankheit? Nun, mit der konnte es wohl so schlimm nicht sein, wenn sie hierher reisen konnte. Vielleicht war alles nur Schwindel gewesen, um sein Mitleid zu erwecken. Immer mehr redete er sich innerlich in seinen Zorn hinein ——
Er war in die Nähe des Bahnhofs gekommen; die Straße war fast ganz leer. Nur einige Arbeiter kamen die leichte Anhöhe hinunter. Es würde ihn niemand sehen. So ging er denn schnell und dicht an den Wänden der Häuser entlang bis zum Gasthof und trat in den Flur. Er war ganz unbekannt hier. Aber schon kam ihm der Kellner entgegen und wies mit verständnißinnigem Lächeln auf die Treppe. Hans machte nur eine Handbewegung, welche richtig verstanden wurde. „Nur nicht viele Worte. Gehen Sie voran“ — lag darin.
Er ging dem die Treppe hinaufhüpfenden nach. Er versuchte vergebens seinen Ärger zu dämpfen; eine Art Wuth hatte sich seiner bemächtigt, darüber, daß er in all diese ekelhaften Unannehmlichkeiten hineingezogen war. Hans Grützmeyer haßte alle Menschen, welche seine Bequemlichkeit störten. Das war der einzige Zorn, dessen er fähig war. Alles andere war ihm ziemlich gleichgültig.
— Maxl stand in der Mitte des Zimmers mit zusammengepreßten Händen. Sie hatte Schritte gehört und sah in höchster Erwartung unverwandt auf die Thür. Und als sie sich nun öffnete, und seine breite Gestalt in ihr erschien, sah sie nur ihn und stürzte mit einem Freudenschrei auf ihn zu, halb lachend, halb weinend, daß er da war.
„Hans, da bist Du endlich — Hans! —“
Sie lag an seiner Brust und versuchte bebend ihre Arme um seinen Hals zu schlingen.
Aber Hans sah in diesem Augenblick auf dem Gesichte des Kellners, welcher ihm die Thür geöffnet hatte und sich langsam zurückzog, ein vieldeutiges Lächeln bei dem Gebahren des Mädchens, und der Zorn übermannte ihn. Er wehrte schnell ihre Umarmung ab, schloß die Thür, und sagte währenddessen mit halb erstickter Stimme und roth vor Aufregung:
„Sie sind doch wirklich nicht recht gescheit. Sehen Sie denn nicht —“
Aber weiter sprach er nicht. Denn er hatte sich dem Innern des Zimmers zugewandt und sein Blick war auf sie gefallen, und auf den Ausdruck des unfaßbaren Entsetzens, der sich über ihre kranken Züge gebreitet hatte. Sie war zurückgetreten, und starrte ihn an, so erschreckt, als habe sie ihn nicht recht verstanden, und möge nicht glauben, was sie doch gehört hatte. Dieser Blick brachte ihn wieder zur Besinnung und um die Wirkung seiner Worte, welche er so nicht beabsichtigt hatte, abzuschwächen, trat er nun auf sie zu und sagte sich mühsam bezwingend, halb tadelnd, halb freundlich: „Aber wie kannst Du auch solche Geschichten machen, Maxl.“ Er wollte nach ihrer Hand greifen.
Aber sie wich weiter vor ihm zurück und er sah, wie sich plötzlich krampfhaft ihre Brust hob, ein Zittern ihre Glieder durchlief, und ihre großen, grauen Augen, welche sie unverwandt auf ihn geheftet hatte, sich mit Thränen füllten, welche langsam ihre Wangen herunterrollten.
Er wurde durch diesen Anblick so aus der Fassung gebracht, daß er nicht wußte, was er thun und lassen sollte.
Da ging sie plötzlich zu dem Tisch, ließ sich auf den Stuhl fallen und legte den Kopf in die Arme, indem sie in ein krampfhaftes Schluchzen ausbrach.
Es war noch keine Minute vergangen, seitdem Hans eingetreten war.
Er stand da und überlegte, wie er es nur anfangen könne sie zu beruhigen. Er wartete; dann ging er einigemale im Zimmer auf und ab, unschlüssig, wie er beginnen sollte. Als sie sich aber garnicht um ihn kümmerte, fing er endlich an, und als er sah, daß er auf seine Fragen keine Antwort bekam, sprach er, halb begütigend, halb vorwurfsvoll lange davon, wie sehr sie ihn überrascht habe, wie eigenmächtig und seltsam doch eigentlich ihr Hierherkommen sei, und ob sie denn garnicht bedacht habe, welche unangenehme Folgen ihr Benehmen für ihn haben könne; und er sprach immer weiter und lenkte so schließlich auch auf das hinüber, was ihn am meisten beunruhigte: was denn nun werden sollte? Es sei doch wohl besser, sie kehre nach Berlin zurück.
Maxl hörte nichts von allem, was er sagte. Sie lag da, und dachte unablässig an das, was sie eben gesehen hatte. Er hatte „Sie“ zu ihr gesagt, er hatte sie fortgestoßen, er hatte sie gescholten; und sie fühlte, das war der wahre Hans Grützmeyer gewesen, der, den sie bis dahin nicht gekannt hatte, dem die Maske abgefallen war. Aber die Entdeckung war zu plötzlich gekommen, und sie war zu grausam gewesen, als daß sie so schnell daran glauben konnte. Sie war wie erstarrt in ihrem Erschrecken gewesen, bis sie ein ausbrechender Schmerz überwältigt hatte. So lag sie da, den Kopf in den Händen, wie ein gestraftes Kind.
Sie hatte nichts von dem gehört, was Hans während seines Umherwanderns im Zimmer vorgebracht hatte. Da aber drang sein letztes Wort — „zurück nach Berlin“ in ihr Ohr und eine furchtbare Angst ergriff sie. Zurück? — zurück? — in das Elend und den Jammer, dem sie eben entronnen war? Sie quoll in ihr empor, die Angst, in die Kehle, in die Stirn, und sie vergaß alles, was eben geschehen war, sie dachte an garnichts mehr, als an das eben Gehörte. Und sie sprang auf und ehe Hans es hindern konnte, hatte sie sich vor ihm niedergeworfen, seine Knie umschlungen, und tastete nach seiner Hand:
„Nein, nicht zurück, Hans! Nicht zurück!“ rief sie. „Ach, Hans, so hilf mir doch, Du bist ja der Einzige, den ich noch habe“ —. Sie wußte nicht mehr, was sie that und sagte; sie fühlte nur die entsetzliche Angst, und fast schreiend rief sie halb wahnsinnig vor Verzweifelung, indem sie von Neuem seine Hand zu ergreifen versuchte: „Ich will auch alles thun, was Du willst, Hans, alles, was Du von mir verlangst, nur hilf mir noch dies eine Mal —“
Er stand da und wußte nicht, wie er sich ihrer erwehren sollte. Diese Scene war ihm unerträglich. Er sah auf sie nieder, und begriff plötzlich nicht, wie er sich für dies Mädchen, welches ihm jetzt mit dem grauen, kranken, verweinten Gesicht, auf dem noch der Staub der Reise lag, mit dem wirren, ungemachtem Haar, der eingefallenen Brust, den feuchten Händen und dem unordentlichen Anzuge gradezu häßlich erschien, jemals hatte interessiren können. Und als sie sich ihm jetzt sogar von selbst anbot, erschien sie ihm gradezu abstoßend, und dies peinlich unangenehme Empfinden malte sich deutlich auf seinem Gesichte wieder.
Grade in diesem Augenblick aber traf ihn der angstvolle, flehende Blick Maxl’s, nur eine Secunde lang.
Aber in dieser Secunde hatte Maxl gesehen, daß dieser Mensch, vor dem sie auf den Knieen lag, schlecht war.
Und sie stand auf.
Sie wußte jetzt, daß sie von ihm kein Mitleid zu erwarten hatte, und wurde plötzlich ruhig. —
Er konnte sich ihr Benehmen nicht erklären, empfand es jedoch als eine Erleichterung, daß dieser unangenehme, excentrische Anfall zu Ende war.
Sie stand am Fenster und hatte ihm halb den Rücken zugekehrt. Während er wieder im Zimmer auf- und abging, und wieder an zu sprechen begann, dachte sie wieder an ganz Anderes. Sie sah nun ganz klar. Und auf einmal verstand sie Alles. Sie wußte jetzt, daß sie mit diesem Mann mit den schönen, weichen Händen und den weißen Manschetten, mit dem offenen Gesicht und dem gewinnenden Wesen, der da vor ihr im Zimmer auf- und abschritt und so viel sprach, nichts, aber auch garnichts gemeinsam hatte. Daß er ihr fremd gewesen war, wie nur ein Mensch dem andern fremd sein kann; daß sie nie ein Gefühl, einen Gedanken, ja auch nur das geringste Empfinden mit ihm gemeinsam gehabt hatte, und nie einen haben konnte. Es hatte immer dasselbe Unübersteigliche, Kühle, Fremde zwischen ihnen gelegen, damals und heute! Sie kannten sich gegenseitig nicht, und sie würden sich auch nie und nimmer verstehen, und wenn sie ein ganzes Menschenleben zusammen lebten. Sie waren verschieden im Sprechen, im Handeln, im Denken, in Allem und Jedem!
Es wurde ihr alles klar, immer klarer! Sie dachte nicht mehr an ihre Krankheit und an ihre Lage, nicht mehr an Gestern und an Heute; sie empfand nur eine Art Scham, daß sie diesem Menschen ihr Innerstes gezeigt hatte.
Ihr war plötzlich wieder alles gleichgültig geworden. Es war kein Schmerz mehr in ihr, denn sie fühlte, daß Hans Grützmeyer garnicht im Stande war, ihr Schmerz zu bereiten. Selbst dazu war er ihr zu fremd.
Aber was sie hatte erschaudern lassen, daß war dieser Ausdruck gewesen, den sie nun schon zum zweiten Male so blendend-deutlich in dem Gesichte eines Menschen gesehen hatte, jenen Ausdruck der eisigen Kälte, des ungeheuren, schrankenlosen Egoismus, dem alles fremde Freuen und Leiden das Herz um keinen Schlag schneller oder langsamer schlagen läßt, wenn es nur ihn direct nicht berührt und stört, jene erbarmungslose Unempfindlichkeit, welche nichts, nichts anderes kennt, als das eigene Wohl! Und Maxl glaubte diesen Ausdruck jetzt in allen Gesichtern sehen zu können, wenn sie sich nur Mühe gäbe. Sie blickte in den Hof hinaus, während alles dies sie durchschauerte. Sie hörte nicht, was er sagte, und doch wußte sie was es war. Sie sah jetzt wieder mit den Augen der Anderen, und sie verstand nun Alles: jede Miene, jede Absicht, jeden Wunsch. Es war ihr nun klar, weshalb es ihm unangenehm war, daß sie hierhergekommen war. Denn er schämte sich ihrer; sie wußte nun, weshalb er sie gerne forthaben wollte: denn sie konnte ihn in ein unangenehmes Licht setzen; sie fühlte nun, weshalb sie ihm gleichgültig geworden war: denn sie war krank und häßlich geworden; und zuletzt ward ihr auch klar, weshalb er in Berlin so oft zu ihr gekommen war.
Und weshalb alles so gekommen war, auch das fühlte sie jetzt: weil sie ein Herz voll Freundlichkeit und Vertrauen gehabt hatte, und er keines; und auch das fühlte sie, daß sie besser war, als dieser Mann.
Eine unbezwingliche Lust überkam sie, vor ihn hinzutreten und ihm die Maske abzunehmen. Aber eben weil sie besser war, unterließ sie es; und dann lag auch noch immer auf ihr ein Gefühl der Dankbarkeit gegen ihn, welches ihr Herz zu schwach war, von sich abzuschütteln, obgleich sie ahnte, daß auch dies Gefühl sie belogen hatte und belog, wie sie bisher von jeder anderen Regung ihres Herzens belogen war.
Wie nun, da sie klar sah, ihr plötzlich alles verständlich wurde! Jeder kleine Zug, jedes bisher Mißverstandene, jedes bis dahin oft ihr seltsam und befremdend Erscheinende! . . .
Aber wie gleichgültig ihr auch Alles auf einmal wurde! . . .
Hans Grützmeyer hatte unterdessen viel und eingehend gesprochen. Dies Mädchen war ihm unbegreiflich. Zuerst lag sie vor ihm auf den Knieen, wie eine, die nicht recht bei Verstande war — er haßte exaltirte Menschen —, und nun stand sie da, so ruhig und sicher, und achtete garnicht auf ihn. Er blieb stehen, und fragte endlich, indem er nach seiner Uhr sah und that, als ob er erschrocken sei über die späte Stunde:
„Was soll denn nun werden, Maxl? Ich habe nicht mehr länger Zeit, und Du mußt mir endlich sagen, was Du eigentlich von mir willst. Hier kannst Du doch nicht bleiben, das wirst Du doch selbst einsehen. Ich wüßte Dir keinen besseren Rath zu geben, als nach Berlin zurück oder zu Deinen Eltern zu gehen. Wenn Du kein Geld mehr hast, bin ich gern bereit, Dir zu geben, soviel ich entbehren kann.“
Er wartete auf ihre Antwort. Er hatte nur den einen Wunsch, sie möge einwilligen; es wurde ihm immer unbehaglicher zu Muthe, wenn er daran dachte, was sich alles ereignen könnte, wenn sie hier bliebe und ihn noch länger belästige.
Aber zu seinem größten Erstaunen hörte er wie Maxl ruhig sagte: „Ich will zurück.“
Er war so freudig überrascht, daß er zuerst garnicht antworten konnte.
„Der nächste Zug geht in einer Stunde,“ sagte er dann.
Er sah nicht den Blick ihrer Augen. Sie hatte sich ihm voll zugewandt und sah ihn fest und fast prüfend an, wie er am Tische stand, und einige Geldstücke aus seiner Börse nahm, und fortfuhr:
„Hier im Hotel brauchst Du nichts zu bezahlen. Das will ich schon abmachen. Ich möchte Dich gern zum Zug bringen, aber ich kann wirklich nicht.“
Er sah etwas verlegen noch einmal nach seiner Uhr. Dann trat er halb unentschlossen auf sie zu.
„Nun, so leb’ denn wohl, mein Kind! Ich wünsche Dir alles Gute. — Du hast mir ordentlich einen Schreck eingejagt,“ sagte er, und wollte lächeln, aber es war nur ein Aufathmen. „Und wenn Du mehr brauchen solltest, als das,“ er zeigte auf den Tisch zurück, „so schreib mir nur wieder. Du weißt ja, daß Du immer auf mich rechnen kannst. Aber ich hoffe, Du erholst Dich bald und bekommst eine gute Stelle.“
Sie schwieg und sah ihn fest an. Er konnte ihren Blick nicht ertragen.
So standen sie einen Augenblick.
Sie fühlte, wie sie ihm noch etwas entgegnen wollte. Sie wußte auch, was es sein sollte; und doch ließ sie es.
Die Morgensonne war halb in das Zimmer gedrungen, und lag auf der grünen Tapete mit dem geschmacklosen Muster. Maxl stand fast voll in dem grellen Schein. Hans Grützmeyer hörte, wie sie unruhig athmete, aber sie war äußerlich fast unnatürlich ruhig.
Er fühlte, wie es immer ungemüthlicher wurde. Er hätte der Sache so gern einen hübschen, glatten Abschluß gegeben; aber es lag so etwas in ihrem Auge, was er noch nie gesehen hatte. Und dann kam sie ihm so eigenthümlich verändert und fremd vor.
„Also vergiß nicht, in einer halben Stunde geht der Zug — der Kellner wird Dir bei Allem helfen. Ich werde mit ihm sprechen.“
Er sah sich um, als suche er etwas. Dann reichte er ihr die Hand und sagte schnell:
„Adieu, Maxl.“ Er mußte sie ansehen.
„Adieu,“ sagte sie, langsam und ruhig, und ließ ihren Blick nicht von ihm, indem sie ihm ebenso langsam und ruhig die Hand gab.
Er kehrte sich ab, und nahm seinen Hut und seinen Stock. Sie blieb unbeweglich stehen. Als er die Thür öffnete, wandte er sich noch einmal um, und nickte ihr zu. Aber er sagte nichts mehr, sondern beeilte sich, hinauszutreten.
Das war ja gradezu eine Folter gewesen! Doch als er auf der Treppe war und die Stufen niederstieg, durchdrang ihn das angenehme, erleichternde Gefühl der Freude, daß die Sache so gut abgelaufen war. Besser, weit besser, wie er gedacht hatte! Ohne jede Unannehmlichkeit für ihn — es hätte garnicht besser gehen können!
Er sprach mit dem Kellner, der eilfertig herbeigesprungen kam.
„Nehmen Sie sich etwas der Dame an. Sie reist mit dem nächsten Zuge nach Berlin — in einer Viertelstunde. — Hier, nehmen Sie das zur Begleichung der Rechnung und behalten Sie den Rest für sich —
Und hören Sie“ —, und er trat etwas näher an ihn heran, „machen Sie nicht viel Redens von der Sache. Die Dame —“
„Verstehe schon, verstehe schon, Herr Referendar, die Dame ist etwas —“, und der Mensch machte eine bezeichnende Bewegung mit der Hand nach seiner Stirn, indem er verständnißvoll lächelte.
Hans Grützmeyer lachte leise auf. Er fühlte sich ja so leicht.
Dann trat er vor die Thür und ging schnell die Straße hinunter. Niemand hatte ihn gesehen. Er hatte scharf aufgepaßt.
Als er so dahin ging, gerieth er bei dem Gedanken, wie gut diese ganze unangenehme Geschichte abgelaufen war, in eine so menschenfreundliche Stimmung, daß er beinahe so etwas wie Mitleid mit Maxl zu fühlen begann, und sich vornahm, wenn sie wieder an ihn schreiben sollte — aber lieber wäre es ihm, wenn das nicht geschehe — ihr noch einmal zu helfen. Aber er glaubte es nicht, daß sie es thun würde, denn es schien ja fast, als sei sie beleidigt gewesen, als sie so dagestanden und ihn angesehen hatte . . . Wie sie so dagestanden hatte, so ärmlich und unscheinbar — und doch so — und dann diese Augen!
Es war ihm doch immer noch nicht so recht behaglich.
Das kam von diesen plötzlichen, unverhofften Geschehnissen — da hatte man nie recht Zeit, vorher zu überlegen, wie man handeln sollte, da mußte man sich so schnell entschließen und wie leicht konnte da das Gefühl nicht fehlgreifen ——
Aber er hatte doch wohl richtig gehandelt? Was hätte er anders thun sollen? — Nein, er hatte sogar gut gehandelt, er hatte an ihr gehandelt, wie ein Anderer wohl schwerlich gehandelt hätte, in Anbetracht dessen, daß er nichts von ihr gehabt hatte. —
Er hatte ihr geholfen, nicht einmal, sondern dreimal, mit ziemlichen Summen. —
Nun, er würde nicht darüber sprechen, denn gute Thaten sollen verschwiegen werden, wie die bösen.
Und doch, und doch war er noch nicht ganz zufrieden. Wenn sie doch nur erst wieder fort wäre!
Er nahm den Hut ab und trocknete sich mit seinem seidenen Tuche langsam das feuchte, dichte Haar.
Aber nun wollte er nicht mehr daran denken. Diese ganze dumme Geschichte hatte ihm schon Kopfzerbrechen genug gemacht.
Und, kurz und gut, sie war jedenfalls abgemacht, und würde ihm schwerlich noch weitere Verdrießlichkeiten bereiten. Und Hans Grützmeyer sah nach seiner Uhr, und bemerkte mit Befriedigung, daß es allenfalls spät genug war, um anständigerweise zum Frühschoppen gehen zu können.
Sie hatte ihm noch etwas sagen wollen. Aber als sie sein Gebahren sah, wie er von ihr Abschied genommen und das ganze gequälte Wesen, mit dem er sich in der Thür noch einmal umgewandt hatte, da fühlte sie, daß es besser sei zu schweigen. Und während er die Treppe hinunterging und mit dem Kellner über sie lachte, stand sie, und wurde mit ihm fertig. Ohne Schmerz, ohne Bitterkeit, ohne Zorn geschah es, und als sie nach einigen Minuten in das Innere des Zimmers trat, hatte sie es überwunden. Sie stand am Tisch und sah nieder auf die durcheinander liegenden Geldstücke.
Da dachte sie zum ersten Male daran, was nun werden sollte. Sie zitterte; wie hülflos sah sie sich im Zimmer um, als müsse sie irgend etwas dort finden. Aber dann ließ sie sich wieder auf den Stuhl fallen. So saß sie einige Minuten. In diesen Minuten aber glitt alles an ihr vorüber, was noch ihr war, und sie suchte unter diesen wenigen Menschen nach dem, zu welchen sie sich nun flüchten könne. Sie fand keinen. Sie hatte es vorher gewußt.
Da stand sie wieder auf; und wie wenn plötzlich eine große Angst sie ergriffe, so nahm sie schnell das Geld vom Tische, setzte ihren Hut auf und griff nach dem Bündel, welches noch immer unberührt auf dem Bette lag; und ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, ging sie schnell hinaus und die Treppe hinunter, von keinem anderen Wunsche bestimmt, als nur von hier fortzukommen.
Der Kellner sah, wie sie schnell an der Gaststubenthür vorbeiging, vor die Hausthür trat und nach kurzem Umherschauen dem Innern der Stadt zuschritt. Er hatte es sich so gut ausgedacht, und zu diesem Zwecke die Rechnung geschrieben: denn sollte sie nach derselben fragen, so konnte er sicher sein, daß Hans Grützmeyer ihr nicht gesagt hatte, dieselbe sei schon von ihm bezahlt. Nun aber ging sie fort, und fragte nicht darnach, und er sah sich in seiner unschuldigen Hoffnung getäuscht. Nun, mochte sie gehen. Wenigstens brauchte er sich nun nicht mehr um sie zu kümmern. Aber er sah ihr doch neugierig von der Thür aus nach, wie sie langsam und halb zögernd dahinging, das Bündel in der linken, müde herabfallenden Hand und mit dem schleppenden, matten Schritt. Er wunderte sich, daß sie in die Stadt, statt zum Bahnhof ging. Aber er hatte gar keine Veranlassung, sich darum zu sorgen.
— Maxl ging langsam fort. Sie hatte nur aus jenem Hause heraus wollen. So ging sie, ohne zu wissen wohin und weshalb, auf dem ersten Wege weiter, der sie von dort wegführte. Nun sie draußen im Freien war, bemächtigte sich eine dumpfe Gleichgültigkeit ihrer und sie sah nicht auf, sondern ging gedankenlos weiter. Eine breite und lange Straße that sich vor ihr auf. Es war die Hauptstraße der Stadt. Das Pflaster war schmutzig, und die Häuser waren sehr verschieden an Alter: einige waren ganz neu, und aufdringlich-massiv, andere wieder standen etwas zurück und sahen traurig und alt aus. Es herrschte wohl Leben in der Straße. Aber es war doch ganz anders wie in Berlin. Alles war so gewöhnlich und uninteressant.
Mehr sah Maxl, die stillgestanden war und einen kurzen, unschlüssigen Blick die Straße hinunter geworfen hatte, nicht. Denn ihr fiel plötzlich ein, daß ihr jeden Augenblick Hans Grützmeyer begegnen könne, und zusammenschaudernd drehte sie sich um, und ging schnell den Weg zum Bahnhof, den sie eben gekommen war, zurück. Sie ging so schnell, wie es ihr nur irgend möglich war. Denn sie glaubte jetzt, jeden Augenblick müsse er aus einem der Häuser treten; und dann war ihr wieder eingefallen, daß sie mit dem Zuge fortfahren wollte, und sie eilte sich um ihn noch zu erreichen, trotzdem es längst über die bestimmte Zeit war. Aber ihre Gedanken waren alle so seltsam verwirrt, daß sie alles vergessen zu haben schien. Sie mußte an so Vieles denken, und doch war es ihr, als könne sie das, woran sie denken wollte, nicht finden. Und während dessen fielen ihr dann wieder eine Menge Dinge ein, an welche sie nicht denken wollte.
Als sie keuchend am Bahnhof angelangt war, trat sie an das Schalter, welches ganz leer war. Als sie sagte „ein Billet nach Berlin“, erhielt sie zur Antwort: der Zug sei vor einer halben Stunde schon abgefahren. Sie erschrak, aber als sie wieder zurückgetreten war, dachte sie daran, daß sie ja im Sinne gehabt hatte, nicht nach Berlin zurückzugehen. Wie wirr ihre Gedanken waren! Einmal wollte sie das, und in der nächsten Minute das; und vergaß dann das eine über das andere.
Sie wußte nicht, was sie nun anfangen sollte. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn jemand gekommen wäre und ihr gesagt hätte, was sie thun sollte. — Da sah sie, als sie mit ihren müden, umschleierten Augen in dem öden Raume umherschaute, eine Bank, und sie setzte sich nieder. Ihr Bündel legte sie neben sich. Und so saß sie lange; niemand von den wenigen Personen, die vorbei gingen, kümmerte sich um sie. Fast eine Stunde saß sie so da.
In dieser Stunde beschloß sie zu sterben.
Nicht plötzlich war ihr dieser Gedanke gekommen, und merkwürdigerweise auch nicht in dem Übermaß einer wahnsinnigen Verzweiflung — nein, sie hatte ganz ruhig und fest überlegend überall umher geblickt und alle Wege versperrt, alle Thüren verschlossen gefunden und in logischer Folge war ihr suchender Geist nun bei dem letzten Wege angelangt, der offen vor ihr lag, wie er jedem Leben immer und immer als letzter Zufluchtsort offen steht, wenn es nicht mehr ein und aus kann. Sie warf in dieser Stunde noch keinen Blick auf diesen Weg, und dachte nicht darüber nach, ob sie auch stark genug sei, ihn zu gehen. Sie stand an seinem Anfang, und fühlte nur und dachte nur daran, wie traurig es doch sei, so verlassen und hülflos zu sein, wie sie war. Sie fühlte auch, daß sie nie mehr wieder gesund werden würde. Sie hatte zwar keine Schmerzen jetzt, doch sie wußte, daß ihre Sehnen an mancher Stelle wie durchschnitten seien, denn es machte ihr Mühe, die Hand zu heben und den Kopf nach einer anderen Richtung zu wenden.
Und auch nicht eben erst war ihr der Gedanke des Sterbens gekommen. Zuweilen schon hatte sie sich in den einsamen Stunden ihrer kranken Nächte mit ihm beschäftigt, aber noch nie war er ihr so nah getreten, wie in dieser Stunde. Noch mochte sie sich nicht entschließen, und glaubte immer noch eine Öffnung zu finden, durch welche sie durchschlüpfen könnte. Aber immer mehr sah sie auch ein, daß es sein mußte. Alle unglücklichen, betrogenen Mädchen gingen in’s Wasser. Auch sie war unglücklich und betrogen worden. So blieb ihr nur übrig, dasselbe zu thun.
Ganz langsam gingen die meisten ihrer Gedanken; und dann kamen wieder einige plötzlich ruckweise und schnell. Oft verwirrten sie sich. Aber sie kehrten immer wieder zu dem Einen zurück. Endlich blieben sie davor stehen. Und von jetzt an dachte sie nur noch an dies Eine.
Sie erhob sich mühsam und trat vor den Bahnhof. Aber als sie einige Schritte gethan hatte, kehrte sie wieder um — nein, es sollte nicht hier sein, wo er lebte. Er sollte sie nicht wieder sehen. Er brauchte es nicht zu wissen. Es war keine Überwindung für sie, ihm dies zu ersparen.
Aber als sie wieder in der Nähe des Schalters stand, mußte sie wieder alle ihre Gedanken zusammennehmen, um sich darüber klar zu werden, was sie eigentlich wollte. Ihr Blick fiel auf eine Karte der Gegend, und sie trat vor dieselbe hin. Unter dem Namen der Stadt, wo sie sich befand, war ein dicker blauer Strich gezogen. So fand sie, was sie suchte. Und neben dem Flusse, der mit scharfer Krümmung dort sich von Norden nach Süden wandte, sah sie den Strich laufen, der die Eisenbahnlinie bezeichnete; und indem sie mit dem Finger dieser Linie nachging, las sie den Namen des nächsten größeren Ortes, der an diesem Flusse lag. Sie sprach ihn halblaut vor sich hin, um ihn einzuprägen. Dann trat sie zum Schalter und wiederholte ihn laut. Sie griff in die Tasche und legte eines der Goldstücke hin. Als ihr gleichgültig das Billet und das gewechselte Geld zurückgeschoben war und sie beides zu sich genommen hatte, suchte sie nach dem Perron.
Sie mußte etwa eine halbe Stunde warten, bis der Zug kam. In dieser Zeit ging sie entweder langsam auf und ab, oder lehnte sich still an die Wand. Sie war wieder in eine halbe Bewußtlosigkeit zurückgesunken. Einmal fühlte sie Hunger, und dann einige Minuten lang einen brennenden Durst; aber sie wußte nicht, wo sie etwas zu essen bekommen konnte; und dann war beides wieder vergangen. — Als ein Beamter vorbeiging, zeigte sie ihm wortlos ihr Billet. „In zehn Minuten auf diesem Gleis“, erhielt sie zur Antwort. Es kümmerte sich niemand um sie; das Perron füllte sich langsam mit Menschen. Neben ihr stand eine Gruppe Arbeiter, mit rauchgeschwärzten Gesichtern. Sie lachten und sprachen laut. Aber sie verstand nicht, was es war, worüber sie lachten und sprachen.
Dann entstand eine kleine Bewegung unter den Leuten, welche ihr sagte, daß der Zug nun gleich kommen müsse. Ihr kam der Gedanke, nach der Uhr zu sehen. Es war noch nicht drei. Sie glaubte, es müsse schon Abend sein. Aber es war noch nicht drei — sie hatte ganz richtig gesehen.
Als der Zug heranbrauste, stand sie so dicht an den Schienen, daß ein Mann sie zurückschob. Nun dachte sie secundenlang daran, sich der Locomotive entgegen zu werfen. Dann war es auch vorbei. Aber sie hatte nicht den Muth dazu.
Sie wurde halb von dem Andrang der Anderen in den Wagen geschoben. Ihr Billet hatte sie noch immer in der einen Hand, und die andere ließ sie nicht von ihrem Bündel.
Sie saß an dem Fenster, welches niedergelassen war. Sie war fast allein im Coupé. Nur drei der Arbeiter saßen an der anderen Seite, aber sie stiegen schon auf der nächsten Station aus. Sie sah während der ganzen Fahrt unablässig zum Fenster hinaus. Zuerst sah sie noch Theile der Stadt, und sie mußte unwillkürlich einen kurzen Augenblick wieder an Hans Grützmeyer denken. Aber die Stadt verschwand rasch in der immer trüber werdenden Ferne. Dann sah sie neben sich plötzlich den Fluß. Er floß von nun ab die ganze Strecke neben ihr her. Sie sah unverwandt auf das starkfließende Wasser. — Es lag ihr schwer auf der Brust; ihr war es, als könne sie kaum mehr athmen, und je weiter sie fuhr, desto heftiger fühlte sie wieder die Schmerzen in der rechten Schläfe werden.
Sie drückte sich dichter in die Ecke. Doch nur soweit, daß sie noch das andere Ufer des Flusses im Auge behalten konnte. Die Arbeiter waren ausgestiegen und sie war allein. Sie hörte nichts mehr, als das einförmige, dumpfe Stampfen der Maschine und das Rasseln der Räder auf dem Eisen.
Der Schaffner ging durch den Wagen. Sie vernahm, wie er sie fragte. Doch sie verstand ihn nicht, und reichte ihm mechanisch ihr Billet. Er nickte. „Nächste Station“ sagte er und ging weiter.
Nächste Station schon! So bald! — Und ganz plötzlich ergriff sie eine entsetzliche Angst. Eine Angst, so groß, daß sie am ganzen Leibe zitterte. So saß sie mit bebenden Lippen und starren Augen da, bis der Zug hielt. Sie wußte nicht, daß sie ausgestiegen war. Aber sie befand sich auf einmal wieder draußen und ging wieder den Anderen nach. Erst als sie nicht mehr gedrängt und geschoben wurde, sah sie auf. Zur Linken lag die Stadt: graue Massen, Thürme und Rauch — alles halb verschwommen. Vor ihr, wo die meisten Menschen, welche mit ihr angekommen waren, gingen, zog sich eine lange Chaussee hin. Sie besann sich nicht lange und ging denselben Weg. Es würde schon recht sein.
Sie senkte wieder den Kopf und sah nur, wie sich der Weg langsam unter ihren Füßen fortschob; ihr war, als ginge nicht sie, sondern der Weg, und als würde sie fortgeschoben. Erst als die Chaussee eine Biegung machte, sah sie sich wieder um; sie stand an einem Kreuzweg. Links führte es zur Stadt, welche nun schon ganz nahe lag. Rechts durch die Felder durch; sie glaubte in der Ferne den Fluß zu sehen. So ging sie auf diesem Wege weiter, obwohl er ganz menschenleer war. Sie war so müde, daß sie sich am liebsten auf die Erde niedergeworfen hätte, um zu schlafen.
An das, was sie wollte, dachte sie kaum. Es lag wieder die dumpfe Betäubung auf ihr.
Auf einmal fuhr sie zusammen. Es war jemand an ihr vorbei gegangen. Sie blieb stehen. Es war ein Herr gewesen, der sich umdrehte, als er sah, daß sie nicht weiterging. Sie ging zögernd einige Schritte zurück und auf ihn zu. Aber als sie nahe bei ihm stand, wußte sie nicht, was sie wollte. Er sah sie erstaunt an.
„Ist dort das Wasser?“ fragte sie endlich.
Der Herr fixirte sie scharf. Er hatte eine goldene Brille auf und einen langen, wohlgepflegten Bart. Maxl fühlte, wie seine kalten, scharfen Augen auf ihr ruhten.
„Ja“, sagte dann der Herr kurz. Es schien, als ob er sie noch etwas fragen wollte. Aber als er sah, wie sie weiter ging, setzte auch er kopfschüttelnd seinen Weg fort.
Maxl glaubte noch zu fühlen, wie er ihr nachsah. Deshalb ging sie schneller, wie vorher.
Es begegnete ihr niemand mehr; nach einer Weile aber sah sie eine alte Frau an einem der Bäume kauern. Da kam ihr ein Gedanke, und indem sie auf die Frau zutrat, griff sie in die Tasche und legte behutsam alles Geld, welches sie mit den Fingern erfaßt, in die Hände der Alten. Das Weib rührte sich kaum; es war entweder blind oder schlief. Maxl beugte sich nieder, um ihr Gesicht zu sehen. Aber es war so vornüber gebeugt und die grauen, wirren Haare fielen so dicht darüber hin, daß sie nichts sehen konnte. Sie seufzte auf und ging weiter.
Wie traurig doch alles war!
— Sie sah jetzt ganz deutlich den Fluß. Da ging sie über die Felder hinweg, immer schneller, in fast athemloser Hast, trotzdem ihr die Füße schmerzten und sie mehreremale über die Furchen stolperte, so daß sie fast gefallen wäre, bis sie an dem Ufer stand. Sie keuchte.
Jetzt! — der Rand des Ufers fiel flach ab. Er war mit Gras bedeckt, und an den meisten Stellen reichten dichte Schilfe und hohe Halme über ihn hin.
Maxl stand auf dem Kies des Weges, welcher sich oberhalb der Böschung hinzog. Sie sah sich um. Es schien ihr, als käme etwas den Weg hinauf. Sie ging ihm entgegen. Da sah sie, daß es Pferde waren, welche mühsam ein breites, flaches und bis zum Sinken beladenes Schiff stromaufwärts zogen. Sie wartete, bis sie näher kamen und vorbei waren; bis das Knallen der Peitsche, und die eintönigen Laute, mit denen der Schiffer seine Pferde unablässig antrieb, verhallt waren.
Es dauerte sehr lange. Sie stand und blickte zum Himmel empor. Er lag da, so weit sie zu sehen vermochte, in einem sonnenlosen, feuchtdunstigen, trüben Grau; undurchsichtig und wolkenlos-öde, soweit sie auch blicken mochte. In der letzten Ferne verdämmerten die Dächer der Stadt. Drüben am andern Ufer, jenseits der beiden Felder erhoben sich Hügelmassen, an deren Fuß sich eine Landstraße hinzog. Wie ein kaum erkennbarer Punkt zog dort zuweilen ein Wagen hin.
Die Wiesen und Felder lagen vereinsamt. Nirgends ein Arbeiter. Und außer dem Schiffer, der langsam mit seinen Pferden an ihr vorbei schwankte, rings kein Mensch. Sie schaute wieder den Weg hinauf und hinunter. Aber alles lag stumm und regungslos.
Zuweilen kam von Westen ein etwas stärkerer Windzug über die Felder und den Fluß und wehte durch ihre Kleider. Sie fröstelte dann, und die Wellen am Uferrand plätscherten etwas vernehmlicher. Aber wenn er über die Stoppeln dahin geweht war, lag alles wieder kahl und leer.
Jetzt! — Ihr Blick war ganz starr geworden und ihre Lippen bebten, so entsetzlich war ihre Angst. Aber es mußte sein. Ihre Aufregung wurde so groß, daß sie nichts Anderes mehr fühlte, keine Schmerzen und keine Müdigkeit mehr.
Sie klomm langsam die Böschung hinab und kauerte sich am Rande nieder.
Sie zögerte und zögerte. Wenn jetzt jemand gekommen wäre, sie hätte sich vor ihm hingeworfen und ihn um ihr Leben gebeten. Zuletzt glaubte sie selbst, es müßte jemand kommen. —
Sie hörte ganz deutlich das einförmige Rauschen des Wassers. Dicht vor ihr strömten und kreisten die gelben, kleinen Wellen.
Da plötzlich sprang sie mit einem halbunterdrückten Schrei in die Höhe — der Tod hatte sie angesehen — eben — ganz deutlich ——
Und sie griff mit der einen freien Hand in das Gras und zog sich mit aller Kraft in die Höhe.
Ein namenloses Entsetzen durchrieselte sie. Sie fühlte es kalt am Rücken hinabgleiten.
Was sie eben gesehen hatte — wie furchtbar! So hatte sie sich das Sterben nicht vorgestellt!
Und plötzlich raffte sie sich von Neuem auf, und stolperte den Abhang empor.
Es war ringsum lautlos-still, als sie dahinlief, so schnell sie es nur vermochte. Zuweilen blieb sie stehen, als könne sie nicht weiter. Aber immer wieder schrak sie zusammen und taumelte weiter über den lehmigen, unebenen Weg.
Eben noch hatte sie sich nur vor dem Sterben gefürchtet. Doch jetzt graute ihr vor dem Tode selbst.
Sie fiel nieder und schlug mit dem Gesicht so heftig auf die Steine, daß es blutete. Aber sie fühlte nichts; die Angst und das Grauen beraubten sie ihrer Sinne. Und wieder wurde sie von ihnen emporgerissen. Aber plötzlich fühlte sie einen schneidenden Schmerz im Herzen; sie konnte nicht weiter. Keuchend stand sie da. Das Haar war über die Stirne gefallen und sog das rieselnde Blut auf. Ihre Lippen waren fahl und zitterten nicht mehr.
So stand sie eine Minute.
Und in dieser Minute dachte sie wieder ganz klar. Es war ihr, als käme über die grauen Felder mit den Schatten des Abends das Elend ihres Lebens, und lange nach ihr. Sie riß die Augen weit auf und starrte in die Ferne.
Als wanke etwas Unsichtbares auf sie zu, ging sie Schritt für Schritt rückwärts, die Böschung hinunter und die Hände halb vorgestreckt, um es abzuwehren. Aber es kann immer näher, und immer weiter mußte sie zurückweichen.
Sie stand an dem äußersten Rande des Ufers. Die Stirne hintenüber gebeugt und in athemloser Erstarrung.
Dann wandte sie sich jählings um und warf sich mit geschlossenen Augen und zusammengepreßten Lippen, die Arme weit ausbreitend, doch ihr Bündel krampfhaft festhaltend, in das Wasser. Die Wellen schlugen sofort über ihr zusammen und trugen sie einige Schritte weit fort. Sie gelangte erst wieder zum Bewußtsein, als sie auftauchte. Ihre Hände griffen in die Luft, als wollten sie sich an etwas halten. Das Bündel entglitt ihren Fingern und sank. Sie versuchte zu schreien, aber es war nur ein gurgelndes Röcheln, denn sowie sie die Lippen öffnete, füllte das Wasser ihren Mund. Sie schlug mit den Händen um sich. Ein furchtbarer Druck preßte ihre Brust zusammen. In den Ohren fühlte sie ein Sausen und Brausen. Noch einmal drang ein halber Schrei aus ihrem Munde. Dann tauchte sie wieder unter, gewaltsam fortgerissen. Sie fühlte nichts mehr. Doch noch einmal tauchte sie auf; sie lebte noch. Sie fühlte noch, wie sie das Ufer streifte und wollte greifen — aber sie vermochte es nicht mehr. Es war nur noch ein bewußtloses Zucken der Hände. Ihr Kopf glitt wieder unter das Wasser. Dann verlor sie jedes Bewußtsein.
Sie ging langsam unter. Ihre Kleider füllten sich mit Wasser. Immer weiter wurde sie fortgerissen. Aber sie fühlte nichts mehr.
Dann starb sie endlich.
Die Wasser strömten weiter und nirgends war mehr eine Spur von der Toten.
Die Gegend lag schweigend und öde, wie vorher.
Von Maxl Braun hat kein Mensch jemals wieder das Geringste weder gesehen noch gehört.
Hans Grützmeyer aber lebte weiter und wurde ein sehr zufriedener Mensch; mit der Welt und vor Allem mit sich selbst.
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Einige orthografische Fehler wurden berichtigt.
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Some typographical errors have been corrected.
[The end of Moderne Stoffe by John Henry Mackay]