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Title: Wie Hilde Simon mit Gott und dem Teufel kämpfte
Date of first publication: 1918
Author: Artur Landsberger (1876-1933)
Date first posted: Jan. 23, 2022
Date last updated: Jan. 23, 2022
Faded Page eBook #20220126
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EINBANDZEICHNUNG VON PAUL RENNER
COPYRIGHT 1918 BY GEORG MÜLLER MÜNCHEN
XXV.
Meiner Freundin
Motto: „Mein teuflisch passionierter Hang zur Dummheit läßt mich in den Entstellungen falscher Beschuldigungen ein merkwürdiges Vergnügen finden.
Da ich rein bin wie das Papier, nüchtern wie das Wasser, zur Andacht geneigt wie eine Kommunikantin, unschuldig wie ein Opfer, würde es mir nicht mißfallen, für einen Wüstling, einen Säufer, einen Gottlosen, ja für einen Mörder gehalten zu werden ...
Sobald ich allgemeinen Ekel und Schrecken eingeflößt, werde ich die Einsamkeit erobert haben.“
Charles Baudelaire.
„Der Mensch ist das einzige
Geschöpf, das erzogen
werden muß.“
Kant.
Als am Abend das Licht in ihrem Zimmer gelöscht und die Zofe eingeschlafen war, stand Hilde behutsam auf und schlich in ihrem leichten Hemdchen, ohne Schuhe und Strümpfe an den Füßen, den Korridor entlang zur Tür ihres Vaters. Sie sah durch die Scheiben den leichten Schimmer eines Lichts und öffnete leise die Tür.
Der Vater richtete sich im Bette auf, und entsetzt blieb das Kind in der Tür stehen. Wie lange war sie krank gewesen, daß der Vater sich so verändern konnte? Die Augen lagen weit zurück und waren tiefschwarz umrändert. Blaß war er immer gewesen, aber jetzt war seine Farbe grau und fahl wie die eines Toten; das Gesicht war eingefallen, und seine schmalen Hände, auf denen die blauen Adern wie Kirschsaft auf weißem Linnen lagen, schienen ohne Kraft wie die knochigen Arme, die das Hemd nur knapp über die Ellbogen bedeckte.
Mit starren Augen sah er unbeweglich zu ihr hinüber. Er überzeugte sich, daß sie es diesmal wirklich war und nicht wieder, wie schon so oft, eine im Fieber erregte Erscheinung. Dann streckte er mit aller Kraft seine beiden Arme nach ihr aus, raffte sich hoch und stieß qualvoll, fast bettelnd, als fürchte er, sie könne umkehren und wieder von ihm gehen, die Worte aus:
„Bleibe, mein Kind, bleibe.“
Hilde war’s, als würde sie von tausend Armen an das Bett ihres Vaters gezogen, und sie stürzte sich auf ihn.
„Vater, du bist krank?“
Er küßte sie, und sie weinten lange.
„Wirst du jetzt öfter kommen?“ fragte er sie.
„Es darf niemand zu dir, die Ärzte haben es verboten. Doch ich sehnte mich so nach dir.“ Und mit weicher Stimme fügte sie hinzu: „Nur sehen wollte ich dich, denn ich will dich doch nicht noch kränker machen, Vater.“
„Die Ärzte lügen. Sie wissen genau, daß sie mir nicht helfen können. Niemand kann mir helfen — außer dir.“ Und dabei wühlten seine weißen Hände unruhig in ihren dunklen Haaren. „Sieh, wenn du bei mir bist, dann trage ich die Schmerzen leichter.“ Und dabei änderte er fortgesetzt sein Lager, Stiche quälten ihn, und es schmerzte ihn in den Seiten, im Rücken und in den Schulterblättern.
Hilde setzte sich an das Bett des Vaters. Lange sah er sie an. Leid, das aus vergrämtem Herzen kam, trat in seine Züge, auf denen bisher nur der kranke Ausdruck körperlicher Schmerzen lag. Jetzt, da er das Ende nahen fühlte, erschien ihm der Gedanke, daß das Schicksal seines Kindes der Mutter überlassen blieb, deren ganzes Leben in Äußerlichkeiten dahinging, besonders trostlos. Denn zu gut nur wußte er, daß dieser Frau jedes instinktive Verständnis für das Gefühlsleben eines Kindes fehlte. Das behutsame Nachspüren jeder Bewegung und jeder Veränderung in diesem Seelchen, das sich nun der Welt erschloß, das Sehnen, jede noch so leise Regung in den zarten Blüten zu vernehmen, sie zu begreifen und das ganze Wesen auszufüllen mit der großen Liebe, die man für es empfindet .... diesen einzigen Wunsch jeder guten Mutter kannte sie nicht.
Anders der Vater. Dies blasse Kind ließ in ihm die Tage seiner eigenen Kindheit wieder erstehen. Das war so gewiß sein Kind, daß er es, ohne es je gesehen zu haben, unter tausend anderen Kindern mühelos herausgefunden hätte. So und nicht anders mußte sein Kind aussehen, an dem er sein eigenes Elend maß.
Als kranker Mann hatte er diese Frau, die schön und klug war, geheiratet, weil er sie besitzen wollte, wie er hundert andere vor ihr besessen hatte. Und sie sah in ihm den reichen Mann aus einer der besten Berliner Familien, der ihr eine Position schaffen sollte. Und das war der Wesenszug ihres Charakters, das Ziel ihres Strebens: etwas zu gelten, eine Rolle zu spielen in der Gesellschaft. Da sie berechnend genug war, ihre Tugend nicht ohne den Preis der Ehe zu geben, so war sie seine Frau geworden. — —
„Erzähl’ mir ein Märchen, Vater, das bringt dich auf andere Gedanken“, unterbrach Hilde das Schweigen.
„Ich will’s versuchen. Aber erst zieh dir meinen Schlafrock an. Dort, den.“ — Er wies auf die Wand. Sie kroch schnell hinein und setzte sich dann wieder zu ihm aufs Bett.
Die Krankenschwester trat ins Zimmer. Ihrem erstaunten Gesicht drängten sich zwei tieftraurige, bittende Augen entgegen.
„Ich will ja nur dem Papa die Schmerzen ein wenig erleichtern, dann gehe ich wieder“, und sie rieb ihn lange und kräftig mit Chloroform ein. Dann gab sie ihm Kreosot und stellte Anistropfen und Jod auf den Nachttisch. Hilde folgte mit größter Spannung, fragte, wie oft das zu geschehen habe, und bat um die Erlaubnis, diese Nacht die Wärterin spielen zu dürfen.
Vater und Schwester widersprachen. Sie verstand es aber, mit so viel Wärme und Beharrlichkeit zu bitten, daß man ihr endlich nachgab. Sie umarmte die Schwester und gab ihr einen Kuß.
„Innigen Dank, Schwester. Das werden die schönsten Stunden meines Lebens sein.“
„Aber wenn das kleine Fräulein müde wird, muß es mich rufen.“
Hilde versprach’s und saß gleich wieder an der Seite ihres Vaters, stellte alle Arzneiflaschen so auf, daß sie sie mühelos erreichen konnte, und bat nun um das versprochene Märchen.
Er legte die Hand auf die seines Kindes. Beide sahen sich an und er begann:
„Vor vielen tausend Jahren lebte abseits von allen Menschen ein alter Mann mit seinem Weibe und seinen drei Töchtern. Sein ganzes Leben war nur ein Beten zu Gott für sich und die Seinen. Sie nährten sich von den Früchten des Feldes, das sie bestellten, und von dem Wasser, das aus der nahen Quelle floß. Sie brachen keine Blüte von den Sträuchern und taten keinem Tiere etwas zuleide. Gott gefiel das Leben dieser Menschen, und eines Tages erschien er dem alten Manne in einer weißen Wolke beim Gebet und sagte ihm: er solle sich etwas wünschen. Der antwortete: er habe ein treues Weib und drei Töchter, die brav und schön seien wie die Sonne; er selber sei wunschlos. Da wandte sich Gott mit der gleichen Frage an die Töchter.
Die Älteste sprach: ‚Wenn ich mir wünschen darf, was ich will, dann möchte ich, daß ein Prinz kommt in goldenem Wagen und mich auf sein Schloß führt. Ich möchte Königin sein, und mein Wort soll mehr gelten als das aller anderen Frauen im Reiche. Die mächtigste möchte ich sein und die reichste.‘ Und Gott sagte: ‚Deine Bitte sei erfüllt.‘
Die Zweite sprach: ‚Was nützt es mir, daß ich Königin bin, wenn im Lande Frauen leben, deren Schönheit heller strahlt als die meine. Kann ich nur die Schönste sein, so verlange ich nichts mehr.‘ ‚Auch deine Bitte‘, sprach Gott, ‚will ich erfüllen.‘
Gott kam zur Dritten; die sprach: ‚Ich liebe dich, Gott, und ich liebe deine Sonne und deine Tiere und alles, was du groß und frei geschaffen hast. Ich will all das immer lieben, an allem mich immer freuen dürfen, vor niemandem mich beugen, niemandem dienen müssen als nur dir. Will die Wege gehen dürfen, die mir gefallen. Will Ich sein dürfen bis zu meiner letzten Stunde. Dafür lasse ich dir alle Kronen und alle Schätze und alle Schönheit der Welt.‘
‚Du verlangst viel,‘ sprach Gott, ‚aber du verlangst weise. Ich will auch deine Bitte erfüllen.‘
Nach Jahren beschloß Gott zu erforschen, wie die drei Töchter mit ihrer Wahl zufrieden waren. Er ging in das Schloß des mächtigen Königs Morses, der über die halbe Erde herrschte und dessen Reichtum unermeßlich war. Er hatte die älteste der Schwestern zur Frau genommen und, eine Königin, saß sie auf einem goldenen Sessel in einem Saale, der von tausend Lichtern strahlte, Sklaven und Dienerinnen ihr zu Füßen. Als Gott eintrat, fuhr sie zusammen, erhob sich und ließ die Dienerinnen sich entfernen. Dann warf sie sich Gott zu Füßen und weinte bitterlich. ‚Warum klagst du, erfüllte ich nicht deine Bitte, bist du nicht die mächtigste Frau im ganzen Reiche?‘
‚Wohl bin ich die mächtigste. Aber wenn du mir schon die Macht gabst, warum machtest du mich nicht auch so schön, daß ich meinem Gatten vor allen andern Frauen gefiele? Anfangs, da liebte er mich, und seine Zärtlichkeit war mir mehr wert als alle Macht und aller Reichtum, die er mir schenkte. Dann aber ließ seine Sorgfalt nach, und nun vernachlässigt er mich und buhlt mit den Frauen des Hofes. So verweine ich meine Nächte, ohne Schlaf zu finden. Hilf mir, großer Gott, und gib mir seine Liebe wieder!‘
Gott sprach: ‚Schenkte ich dir nicht Sohn und Tochter, die stark und schön und der Neid mancher Mutter sind?‘
Sie schüttelte wehmütig den Kopf. ‚Einen Sohn? Nein! Den habe ich nicht. Wohl schenkte ich dem Könige einen Knaben, den aber nahm er mir früh schon von meinem Schoße, um ihn das Kriegshandwerk zu lehren. Kaum daß er Mutter sagen konnte. Aber einen Sohn? Er ist der Prinz, ich bin die Königin. Aber das alles will ich ertragen; denn all das muß wohl so sein. Aber meine Tochter! Errette sie!‘
‚Was ist mir ihr? Gibt’s eine Jungfrau im ganzen Lande, die schöner ist als sie?‘
‚Sie liebt einen Prinzen, vor dessen Bildung die Weisesten im Reich sich beugen. Nun aber verlangt der König und sein Rat, daß sie in des Reiches Interessen an den Barbarenkönig Miesoloch verkuppelt werde, einen Tyrannen, vor dessen Grausamkeit die Völker zittern.‘ Sie stand auf. Fast drohend rief sie: ‚Bat ich dich darum um die Größe und die Macht, daß ich als Königin mein eigenes Blut vor der Gewalt nicht schützen kann? Gib sie einem Bettler, der sie liebt, und ich will dir danken bis zu meinem letzten Tage. Nimm mir die Krone, die mir nichts als Sorge brachte! Treibe mich aufs Feld, daß ich mich selbst ernähre! Aber errette mein Kind! —
Bin ich zu dir gekommen, kamst du nicht zu mir und fordertest, ich sollte wählen? Was wußte ich denn vom Leben, was von der Macht? Jetzt kenne ich beides.‘
Gott kam zur Zweiten.
Jeder in der Stadt kannte ihren Namen und allerorts pries man laut ihre Schönheit.
‚Bist du zufrieden?‘ fragte sie Gott. ‚Du bist so schön, daß, wer nicht zu dir betet, dich beneidet.‘
‚Was habe ich von meiner Schönheit, wenn du mir die Gabe, mich ihrer zu freuen, versagtest? Ich vernehme, was sie mir sagen, und weiß, daß sie glücklich sind, wenn ich sie erhöre. Ich selbst aber bleibe kalt und fühle nichts. Andere Frauen, selbst wenn sie krumm gewachsen und häßlich waren, jubeln, wenn deine Sonne scheint und deine Bäume blühen. Sie finden ihr Glück in den Armen des Mannes und als Mütter bei ihren Kindern. Ich war schöner als sie alle, habe Männer und Kinder mein genannt, war reich und habe nie gewußt, was Schmerzen und Sorgen sind; aber ich habe auch nie empfunden, was es heißt: glücklich sein. Ich habe dahingelebt, ohne zu denken und ohne mir Rechenschaft zu geben, was ich besitze, was ich mehr habe als andere. Ich lasse dir meine Schönheit, wenn du mich empfinden lehrst.‘
Hier unterbrach er seine Erzählung, der Hilde voll Andacht lauschte. Ein trockener Husten mit schleimigem Auswurf hinderte ihn am Weitersprechen. Hilde war ängstlich um ihn bemüht. Schnell änderten sich ihre Mienen, die eben noch den Ausdruck reiner Freude zeigten. Sie hatte gänzlich im Banne der Erzählung gestanden. Jetzt war ihr ganzes Wesen nur noch Hilfsbereitschaft. Ihre Augen suchten bald auf dem Tisch und blickten dann ernst und traurig umher, als erkannten sie, daß alle diese Medikamente doch keine Rettung bringen konnten; bald waren sie auf den Kranken gerichtet und bemühten sich dann, voll Hoffnung zu scheinen. Aber das Lächeln um ihren Mund schien gezwungen. Und so sehr sie sich wehrte: schwere, dicke Tropfen fielen aus ihren Augen, als sie ihm mit der Hand den Rücken stützte und mit der andern ein wollenes Tuch mit warmem Wasser um die Brust zu legen suchte.
Er wehrte ab und sprach mühsam, stoßweis, dauernd von kurzem, rauhem Husten unterbrochen:
„Es eilt, ich fühl’s, daß ich zu Ende komme.“
Voll Angst und Mitleid sah sie ihn an.
„Willst du nicht ...“
„Laß, laß nur, es reicht noch für die Geschichte.“
Dann fiel er erschöpft zurück:
„... empfinden lehrst“, wiederholte er langsam und tonlos.
„Vater!“ schrie Hilde entsetzt und stürzte sich auf ihn. Er sah sie an, unbeweglich, starr, ohne Mienenspiel.
„Aber die Dritte ...“, röchelte er und atmete tief, „die Dritte — du, — hörst du, hörst du, Kind — die ...“ und mit seiner letzten Kraft richtete er sich in die Höhe, „... versprich mir — daß du ... die Dritte ...“
„Ja, Vater, ich will — ich habe dich verstanden. Die Dritte, Vater, hatte das Richtige erwählt. Ich schwör’ dir’s, Vater!“
Sie umschlang ihn und weinte laut, barg ihr Köpfchen an seiner Brust, die sich immer schneller hob und senkte. Sie sah nicht mehr, daß sich in diesen Todeskampf ein zufriedenes dankbares Lächeln mischte. Sein Kind hatte ihn ja verstanden.
Und lange schon hatte der Puls aufgehört zu schlagen, als Hilde noch immer laut schluchzend über ihrem Vater lag.
Heute vor einem halben Jahre ist Papa gestorben. Großmutter wollte mich mit auf den Kirchhof nehmen, aber Mama hat es abgeschlagen. Ich hörte, wie sie durchs Telephon sagte, ich sei erkältet und draußen zöge es. — Es wäre gescheiter, sie zahlten seine Wechsel, statt in Pietät zu machen, meinte Mama, als sie die Hörer anhing. Und erkältet bin ich auch nicht. Ich fragte, was das denn sei, Wechsel, und da hat Mama es mir auseinandergesetzt. Papa hätte sich immer mit Frauenzimmern herumgetrieben, mit ihnen Champagner getrunken und Schulden gemacht. Und da er kein Geld hatte, so habe er mit Papier bezahlt, auf das er seinen Namen schrieb mit der Verpflichtung, später zu bezahlen. Und das nenne man Wechsel.
Ich werde Großmutter fragen, ob das wahr ist. Neulich, als Mama ihn schlecht machte, war Großmutter sehr empört und schickte mich hinaus. Später hat sie mir dann gesagt, Mama habe sich geirrt. Ich sollte nicht glauben, daß mein Vater schlecht gewesen sei.
Als ob sie mir das zu sagen brauchte. Ich weiß am besten, wie gut er war. Niemand weiß es wie ich, und darauf bin ich stolz. Mama mag nur immer reden. Manches Mal, da möchte man ja fast glauben, daß die Geschichten wahr sind, die sie erzählt. Sie weint oft und schreit dann laut auf, wenn sie von ihm spricht. Dann tut sie mir leid. Aber neulich, als von ihm die Rede war und sie ihn wieder so schlecht machte, da weinte sie so laut wie ein Kind und bedauerte mich, weil er doch mein Vater war. Als es aber klingelte und Emma den ekligen Amerikaner meldete, da war sie im selben Augenblick ganz ruhig und sah so froh aus, daß sie aufstand, um es zu verbergen. Ich habe es aber doch gesehen. Und auch, daß sie gar nicht geweint hatte. Wenigstens nicht mit dem Herzen. Ich tat aber, als merkte ich nichts und bedauerte sie. Wenn sie nun aber wieder weint, dann glaube ich es nicht mehr. Auch wenn es echt ist. Denn wie soll ich das unterscheiden? Emma, der ich das erzählte, und die mich sehr lieb hat, lachte mich aus, als ich sie fragte, ob es denn Menschen gäbe, die weinen und lachen können, wann sie wollen. Geh’ doch ins Theater, da siehst du es alle Tage, meinte sie. Das möchte ich schon. Aber es geht nicht. Allein kann ich doch nicht ins Theater gehen, und Emma sagt, es wäre zu gefährlich, auch wenn Mama in Gesellschaft sei. Man könne uns sehen und dann verlöre sie ihre Stellung. Ich werde sie wohl aber doch noch überreden.
Den Amerikaner mag ich nicht. Und Papa sage ich auch nicht zu ihm, wenn er jetzt auch alle Tage kommt. Papa ist tot und ich werde nie zu einem andern Manne Papa sagen.
Seit der Amerikaner da ist, ist immer Geld im Hause. Und wenn Rechnungen kommen, werden sie bezahlt. Der große silberne Kasten ist auch schon zurück.
Emma meint, ihr wäre der Amerikaner schon recht, sie bekäme nun wenigstens ihren Lohn pünktlich, wenn’s auch ’ne Schweinerei sei.
Ich soll ein Fräulein bekommen. Der eklige Amerikaner will’s, damit Mama ungebundener ist. Ich binde sie doch gewiß nicht. Bin froh, wenn sie nicht da ist. Denn entweder schimpft sie auf Papa und Großmutter und ist häßlich zu mir oder sie küßt mich ab und drückt mich halb tot. Das tut sie aber nur, wenn ein Brief von der Bank kommt oder eine Einladung von Frau Generalkonsul Deutz. Die wäre sehr fein, sagt Mama, und bei ihr verkehrten lauter Grafen und Barone. Aber das verstünde ich nicht, dazu wäre ich noch zu dumm. Das wäre für später. Wenn ich aber ein neues Kleid anhabe, und Linke mich hübsch frisiert hat, dann tobt sie mit mir durch die Zimmer und küßt mich ab. „Unter einem Großfürsten tun wir’s nicht“, sagte sie neulich zu Linke, stellte mich vor den Spiegel und hing mir ihren sämtlichen Schmuck um, so daß ich kaum atmen konnte.
Dann denke ich immer an Papas letzte Nacht und an die Märchen. Das tue ich überhaupt oft. Wie schön war das! Manchmal wünschte ich, daß Papa noch lebte — schon der Märchen wegen und dann, weil er so gut zu mir war. Solche Wünsche aber sind gewiß schlecht, denn für ihn ist es besser, daß er tot ist und nicht mehr leidet. Nun aber habe ich niemanden mehr, der mich lieb hat. Emma ist ja sehr gut zu mir, aber so vieles kann sie nicht verstehen. Emma sagt, daß sie nie denkt. Sie meint, sie sieht nur und das genüge ihr. Ich würde lieber auf das Sehen als auf das Denken verzichten.
Gestern habe ich begonnen, mir alle Märchen aufzuschreiben, die mir Papa erzählt hat. Beim letzten habe ich so geweint, daß ich aufhören mußte. Mit der Ältesten, die Königin wurde, meinte er gewiß Mama, vielleicht auch mit der Zweiten. Ich weiß es nicht. Die Dritte aber, das ist gewiß, das sollte ich sein. Ich will das Märchen doch noch aufschreiben. Gewiß verstehe ich es später einmal ganz, wenn ich erst älter bin.
Wenn ich nur nicht schlecht werde, bevor ich groß und stark genug bin. Denn jetzt weiß ich schon oft nicht, was gut und was schlecht ist, und habe niemanden, den ich danach fragen kann.
Vielleicht ist es gut, daß ein Fräulein zu mir kommt.
Wir sind heute eine Viertelstunde zu spät nach Hause gekommen. Es war so prachtvoll, und ich stellte meine Uhr zurück, was gewiß recht unrecht war. Hätte ich die Folgen geahnt, ich hätte es sicher nicht getan.
Als wir nach Hause kamen, lag Mama auf der Chaiselongue und hatte Weinkrämpfe. Scheußlich sah sie aus! Alt und häßlich. Und kann doch so schön sein, wenn sie sich herrichtet.
Als Miß und ich ins Zimmer traten, fing sie noch lauter an zu schreien, stürzte sich auf mich und drückte und herzte mich ganz unbändig. Wie eine Hundemutter ihre Jungen. Dann ging sie auf Fräulein los und schimpfte so häßlich, wie ich es seit Papas Tode nicht mehr von ihr gehört hatte. „Frauenzimmer“ und „Umhertreiben“ und sie solle ihre Sachen packen und sich wegscheren; mir war von dem Auftritt schwarz vor den Augen. Mama sah so gefährlich aus, daß ich zuerst die Wahrheit von der Uhr nicht sagen wollte. Als ich aber Miß sah, die wie versteinert, aber stolz und ohne ein Wort zu erwidern, Mama ansah, da gestand ich, daß ich die Schuldige war und die Uhr zurückgestellt hätte. Nun ging Mama auf mich los. Sie wollte mich in eine Besserungsanstalt sperren; ich würde noch einmal auf der Straße enden. Dann packte sie mich und zerrte mich hin und her, bis es mir gelang, mich loszureißen und in mein Zimmer zu flüchten.
In meinem Zimmer traf ich Miß, die ihre Sachen packte. Ich bat sie zu bleiben, denn sie war die einzige Person, mit der ich reden konnte. Sie meinte, „bei dieses Weib dürfen ich nicht bleiben, dann gingen ich unter. Hierher müssen der Vormund einschreiten.“ Ich sagte, der wäre ein guter Bekannter von Mama und dächte gar nicht daran. Dann kam Mama herein. Sie sah kreidebleich aus und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Alle fünf Minuten übergab sie sich. Es war ekelhaft. Sie bot Miß an, zu bleiben, was die aber entschieden ablehnte. Sie bot ihr erst zehn, dann zwanzig, schließlich fünfzig Mark. Miß verbat sich das und erklärte: „Dies seien eine Beleidigung. Sie sei gewohnt, als Dame behandelt zu werden.“ Das letzte sagte sie auf englisch, so wütend war sie.
Mama bekam sofort einen neuen Anfall: was sie sich dächte, sie sei Dienstbote wie jeder andere, und das käme nur davon, wenn man Angestellte wie Menschen behandle. Sie wüßten’s eben nicht zu würdigen und würden frech, und sie verbäte sich den Ton. Miß ließ ihre Sachen liegen und ging.
Was nun wird, weiß der Himmel. Mama liegt krank im Bett, und ich weine, daß Miß fort ist.
Da Papa ein Jahr tot ist — gestern war der erste Sterbetag — so ist Mama mit dem ekligen Amerikaner heute abend im Metropoltheater.
Die Position des ekligen Amerikaners ist erschüttert, sagt Emma. Mama hat heute zum ersten Male über zwei Stunden lang mit mir so zärtlich gesprochen, daß ich ihr um den Hals fallen und sie küssen mußte. Sie gibt den Amerikaner auf, weil er mich nicht leiden mag. Dabei hat er Millionen, und ich weiß, daß Mama Geld fast so sehr liebt wie ihre Brillanten. Und heiraten wollte er sie auch. Aber nur, wenn ich in eine Pension gesteckt würde. Das wäre mir schon recht. Aber Mama meint, da bekomme man ansteckende Krankheiten und müßte den ganzen Tag mit „Bisses“ zusammensitzen. Bisses sind gewöhnliche Menschen, die nie eine Rolle im Leben spielen, weil sie keine Manieren haben und die Moral für eine Tugend halten. Und eine Rolle im Leben zu spielen, sei die Hauptsache. So erklärt’s Mama. Emma sagt, Bisses seien Juden. Woher soll Emma das aber wissen? Sie stammt aus einem Dorfe, in dem kein einziger Jude wohnt. Jedenfalls wäre ich sehr gern in eine Pension gegangen. Vielleicht hätte ich dort eine Freundin gefunden. Meinetwegen könnte es auch eine Bisse sein. Aber daß Mama den Amerikaner meinetwegen aufgibt, finde ich rührend. Und wenn ich lange darüber nachdenke, dann meine ich, sie muß mich wohl doch sehr lieb haben.
Mama will eine große Dame aus mir machen. Sie hat mir heute allen Ernstes ihre Pläne anvertraut. Wenn ich bedenke, daß ich im Dezember vierzehn Jahre werde, so ist das immerhin ein seltenes Vertrauen. Während Lili — so heißt meine einzige sogenannte Freundin — sich den Kopf zerbricht, um für ihre einundzwanzigste Puppe einen noch nicht benutzten Namen zu finden, klärt Mama mich auf; zwar kenne ich aus den Unterhaltungen zwischen Papa und Mama längst alles, was sie mir erzählt. Aber die Art, in der Mama mir die Dinge vorträgt, wirkt so widerwärtig, daß ich mich wohl sehr kindisch benahm, mir die Ohren zuhielt, hinauslief und laut weinte. Mir war’s, als ob mich jemand absichtlich schwer kränkte.
Mama schüttelte sich vor Lachen und sagte nur: „Äffchen.“
Heute kommt der neue Onkel, sagte Emma, als sie mich badete. Da auch Fräulein nicht wußte, wer gemeint ist, so fragte ich beim Kaffee Mama. Die wurde rabiat, schmiß das Geschirr zusammen und setzte Emma an die Luft. „Ordinäres Frauenzimmer!“ schimpfte sie hinter ihr her, als sie das Haus verließ.
Das ist sehr schlimm, daß Emma fort ist. Denn da das neue Fräulein verliebt ist, so kann man kein einziges vernünftiges Wort mit ihm reden. Sie spricht entweder von ihrem Bräutigam, der mich langweilt, oder liegt auf der Erde und betet, da sie sehr fromm ist. Beides darf Mama nicht wissen, meint sie, und so tue ich nichts weiter, als an der Tür im Nebenzimmer horchen, ob Mama kommt.
Emma meint zwar, sie wäre mannstoll und inseriere in den Zeitungen, und das mit dem Beten wäre Schwindel. Sie schlösse sich immer nur ein, um in Ruhe die Briefe zu beantworten. Emma mag recht haben; denn um zu beten, schmeißt man sich doch nicht auf die Erde, das kann man auch im Sitzen machen. Sie tut’s gewiß nur, um mich zu täuschen.
Ich hatte eine großartige Idee, damit Emma wiederkommt. Mama ist heute, wo sie den ekligen Amerikaner endgültig verabschiedet hat, in entsetzlicher Stimmung. Wenn sie wie heute ist, rast sie über jedes vergnügte Gesicht. Ich gehe also mit strahlendem Gesicht in ihr Zimmer und singe die Donauwellen. Das ist ihr Lieblingslied, muß sie heute also ganz besonders ärgern.
„Hör’ auf!“ sagt sie barsch zu mir, „ich will nicht, daß du singst!“
„Laß mich doch, Mama. Ich bin so froh, daß die Emma fort ist, die hat mich immer wie ein Baby behandelt. Das neue Mädchen soll sich das nicht herausnehmen.“ Und damit singe ich weiter.
„Du sollst mit deinem dämlichen Gesang aufhören!“ schreit sie mich an.
„Das Lied ist gleich zu Ende“, sage ich und singe weiter.
Wütend stürzt sie auf mich zu. Ich stehe ganz still; das macht sie rasend, ich weiß es, sehe sie fest und strahlend an, singe weiter. Schwapps! Habe ich einen Schlag im Gesicht. Ich rühre mich nicht und antworte nur: „Gut, daß es die Emma nicht mehr sieht, sonst würde sie in der Küche wieder erzählen, das Kind war ungezogen ... und hat ...“
„Ich werde sie wiederkommen lassen, schon deinetwegen!“ schreit sie mich an. „Zur Strafe, und dann scheint sie wirklich einen guten Einfluß auf dich zu haben.“
„Das wirst du nicht tun!“ sage ich sehr entschieden und bumse mit dem Fuß so laut auf den Boden, wie das meine leichten Lackschuhe und der weiche Teppich nur irgend zulassen.
„Ich werde es tun!“
„Nein!“ sage ich und weiß, daß Emma damit auf alle Fälle zurückgeholt wird, stürze auf mein Zimmer, überrasche dort Miß, die nicht so bald auf mich gerechnet hatte, und die wie vom Blitz getroffen von ihrem Stuhl aufspringt, auf die Knie fällt und betet. Aber tableau! In ihrer Bestürzung hat sie den Federhalter, statt ihn auf den Tisch zu legen, in den Mund gesteckt und sitzt nun mit gefalteten Händen, den Halter krampfhaft im Munde haltend, auf der Erde. Ich bin in der richtigen Stimmung über meinen Erfolg, drehe sie dreimal auf der Erde herum, befreie sie von dem Halter und verschwinde wieder, damit sie sich sammeln und die Berge von Liebesbriefen, die auf dem Tische liegen, zusammenpacken kann.
Inzwischen telephoniert Mama bei allen Vermittlern herum, um Emma wiederzubekommen. Ich höre nur noch, wie sie durchs Telephon schreit: „Heut’ noch und um jeden Preis!“
Um jeden Preis, denke ich und rufe herunter: „Mama, verheb’ dich nicht, der eklige Amerikaner ist perdu!“
Diese Redensart stammt von Emma.
Hurra! Emma ist wieder da! Ich habe ihr gesagt, daß sie das mir zu danken hat. Sie will davon aber nichts wissen und meint, sie habe sich gar nicht erst nach einer neuen Stelle umgesehen, denn sie wußte, daß Mama sie zurückholen würde. Auf den „Detaille“ ließe sie sich nicht ein; nur so viel brachte ich aus ihr heraus, daß sie viele Gemeinheiten von Mama wisse und daß Mama Furcht habe, sie könne sie in ihrer nächsten Stelle ausplaudern, vor allem das mit dem Ramschjuden. Weiter wollte sie nichts sagen. —
Ich bin froh, daß sie wieder da ist. Und wenn sie mir auch nicht glaubt, daß ich an ihrer Rückkehr schuld bin, so hat sie mir doch versprochen, am Mittwoch, wenn Mama bei Frau Generalkonsul Deutz ist — Mama wird immer ganz breit, wenn sie den Namen nur ausspricht — mit mir ins Theater zu gehen, vorausgesetzt, daß wir für Miß eine Beschäftigung finden.
Emma wollte durchaus in die „Walküre“, obgleich sie völlig unmusikalisch ist. Natürlich hat sie sich gelangweilt. Wir saßen im vierten Rang, und niemand konnte uns erkennen. Ich mußte den ganzen Abend stehen, konnte aber doch nur bis zum ersten Rang hinuntersehen; von der Bühne sah ich nichts. Im ersten Rang saß Onkel Albert mit einer Dame, und zwei Reihen weiter links Lilis Eltern, die furchtbar aufgetakelt waren.
Die Musik hat mich sehr ergriffen und verstimmt. Tausend Ereignisse, die ich fast vergessen hatte, kehrten wieder, und ich wurde traurig. Bei uns zu Hause ist alles so flach und äußerlich, daß man gar nicht in die Stimmung kommt, zu denken. Alles geht so hastig und ohne Ruhe. Wie ein Karussell, das von Mama dauernd in Bewegung gehalten wird, kommt’s mir vor.
Hier habe ich mich seit langem wieder einmal mit mir beschäftigen können. Ordentlich angst ist mir dabei geworden. Wenn ich bedenke, wie unsinnig wir, seit Papa tot ist, leben. Ich fürchte, daß ich nicht mehr zu mir zurückfinde, wenn ich nicht bald in andere Umgebung komme. In mir ist solche Unruhe und Unbestimmtheit. Als Papa lebte, wußte ich immer, was ich wollte und habe mich überhaupt nicht um Mama und ihren Kram bekümmert. Das viele Alleinsein war ja gewiß oft traurig, und ich habe wohl auch mehr geweint als jetzt. Aber mir scheint, als habe das alles doch wenigstens einen Sinn, als läge weit hinter all der Traurigkeit das Glück. Als wolle das Schwere erst überwunden sein. — Nicht heute und auch nicht morgen. Papa sollte mir den Weg weisen und mich davor schützen, daß ich oberflächlich würde. Ich war zu jung, als er starb. Konnte ihn immer nur halb verstehen. Nie ganz begreifen, wenn er sagte: „Man muß um des Lebens Deutung ringen und an dem Leben verzagen; erst wenn man das überwunden hat, ist ein Glück möglich, das Bestand hat.“
So hat er oft gesagt, und ich habe es aufgeschrieben, um es zu merken. Vielleicht, daß ich es später verstehe, wenn es dann noch Zeit ist. Aber ich fühle, wie unsicher ich jetzt schon bin. Tagelang tolle ich mit Mama und den andern herum, ohne überhaupt an ihn zu denken.
Ich will ja dagegen kämpfen, so gut ich’s vermag, aber wenn ich unterliege? Himmel, wie stehe ich dann vor dir da, Vater?
Wolltest du, daß ich würde, wie du es wünschtest, warum verließest du mich dann so früh schon? Warum sorgtest du dann nicht wenigstens dafür, daß jemand um mich blieb, der in deinem Sinne auf mich wirkte? Ich bin doch ein Kind und bin schwach. Du wußtest ja, bei wem du mich ließest, als du von mir gingst. Hättest du da nicht besser getan, mich mit dir zu nehmen, als mich hilflos hier allein zu lassen? Hilf mir, Vater, und laß mich nicht schlecht werden! Gib mir einen Menschen, der mich rettet, denn ich fühle, ich halte nicht stand.
Ich war ganz zerschlagen von dem Abend und habe wenig geschlafen. Wir mußten vor Schluß fort, damit wir vor Mama zu Hause waren.
Unterwegs erzählte Emma tausend Dinge, aber ich hörte kaum hin auf das, was sie sagte. Sie war sehr unzufrieden, denn sie hatte weniger Musik und mehr Text erwartet. Aber, was wesentlicher ist, die Trennung von dem ekligen Amerikaner geschah gar nicht meinetwegen. Mama hat mich also elend belogen. Sie hat einen neuen Verehrer, der sie liebt und auch heiraten will, und deswegen gab sie dem Amerikaner den Laufpaß.
Mamas neuer Verehrer ist ein Jude und heißt Behr. Er sieht furchtbar komisch aus, und wenn er kommt, muß ich immer lachen, was sehr peinlich ist. Er ist sehr schüchtern und ungeschickt, scheint Mama aber wirklich sehr zu lieben. Die verwöhnt ihn, und je plumper die Schmeicheleien sind, mit denen sie ihn überschüttet, um so komischer wird er. Er dankt immer, indem er Mama die Hand küßt, und das sieht aus, als ob ein Elefant Pfote gibt. Mama hat ihm das beigebracht. Ich finde das köstlich. Man kann mit ihm spielen und ihn behandeln wie eine Puppe. Was dem armen Menschen alles vorgeschwindelt wird, spottet jeder Beschreibung. Wäre Lügen nicht unschön — warum eigentlich?? —, man müßte Mama bewundern! Sie wickelt ihn förmlich in Lügen ein. Er ist aber sehr froh damit und Mama erreicht, was sie will. Wer also hat einen Nachteil davon? Wenn ich’s bedenke, kann ich es nicht einmal so furchtbar finden.
Behr spricht fast nie. Wenn er aber ’mal etwas sagt, dann ist es bestimmt eine Dummheit. Ich wälze mich dann vor Lachen. Mama aber klopft ihn zärtlich auf die Schultern und sagt: „Laß nur, mein Junge, in ein paar Monaten habe ich dir das alles beigebracht.“
„Er soll dressiert werden?“ fragte ich, worauf Mama vor Wut aufsprang und mich in mein Zimmer schickte.
Emma sagt, er wäre ein Prolet, und ihr Johann, der bei Schinskys zweiter Diener ist, wäre ein Kavalier dagegen.
Nachts kam Mama noch in mein Zimmer, machte Licht und setzte sich auf mein Bett.
„Du bist einen Tag verständig wie ein fertiger Mensch, mit dem man über alles reden kann, das nächste Mal görig wie ein unerzogener Backfisch.“
Sie vergaß, daß ich eben fünfzehn Jahre alt geworden war.
Ich wollte erwidern: Du bist einen Tag zu mir wie eine gute Mutter und benimmst dich wie eine anständige Frau, und am nächsten schimpfst du wie eine Kokotte und willst nichts von mir wissen. Ich unterließ es aber, nicht, weil ich einen Anfall bei ihr befürchtete, das wäre mir gleich gewesen; ich war vielmehr neugierig zu hören, was sie von mir wollte.
„Ich will verständig sein, Mama“, und ich nahm ihre Hand. Sie ist mit Liebe von meiner Seite nicht gerade verwöhnt, war daher sehr dankbar und küßte mich, um dann zu weinen. Möglich, daß es diesmal echt war. Möglich! Aber wie dumm! Sie verscherzte sich meine Sympathie, indem sie damit begann, auf Papa zu schimpfen, und nun das Beste! Sie suchte diesen krummbeinigen Narren gegen Papa auszuspielen! Er wäre die Güte selbst, nur gesellschaftlich ungewandt, verstände sich vielleicht nicht zu kleiden und habe keine Manieren, auch keine Bildung.
Ich unterbrach: „Sag’s doch schon gleich, daß er ein Idiot ist.“
Damit war der Friede gebrochen. „Du undankbares Kind!“ schrie sie, „deinetwegen heirate ich diesen ungehobelten Proleten, weil dein Vater nichts als Schulden hinterlassen hat und deine noblen Großeltern sich nicht um dich kümmern! Wenn du Pech hast, wirst du grau, ehe sie sterben und du zu deinem Gelde kommst. Dieser da aber ist ein Millionär, mit dem ich ein Haus machen und dich in die Gesellschaft einführen werde. Oder willst du die Frau des ersten besten Ladenschnösels werden?“ — Jawohl, Ladenschnösel sagte sie, ich habe es mir genau gemerkt, — dann heulte sie wieder.
„Du Undankbare, für wen lebe ich denn noch, wenn nicht für dich? Die Rolle, die mir versagt war, sollst du spielen. Du bist doch das Einzige auf der Welt, was zu mir gehört.“ Und dabei riß sie mich an sich, daß mir alles weh tat.
Ich empfand jetzt nichts für sie als den Wunsch, sie zu ärgern, denn ich glaubte ihr nicht und dachte: wie mit dem Amerikaner, so belügt sie mich auch hier wieder. Dabei sagte ich nur: „Um dir einen Salon zu machen, heiratest du diesen Behr; richte ihn lieber ab und verwende ihn in einem Zirkus.“
Es folgten die üblichen Szenen, die auch ihr Gutes haben; denn morgen liegt Mama zu Bett, Miß kann in Ruhe ihre Briefe schreiben — es hat, scheint’s, noch immer kein Dummer angebissen — und ich kann, ohne gestört zu werden, in Mamas Büchern lesen.
Bei der ewigen Unruhe und den vielen Besuchen bin ich mit Zola noch immer nicht zu Ende. Meine Lehrerin ist außer sich, daß ich Wedekinds „Frühlingserwachen“ gelesen habe. Ich fragte sie, ob sie glaube, daß Gefühle erst durch das Lesen erweckt würden. Daraus könne man doch höchstens lernen, sie richtig zu behandeln. Darauf wußte sie, wie auf so vieles, keine Antwort.
Neugierig bin ich schon und kann mir wohl denken, daß all diese verborgenen Dinge, über die auch nur zu sprechen nach ihrer Ansicht Sünde ist, sehr schön sein können. Eigentlich ist es recht dumm und sonderbar, warum man nicht über Dinge sprechen darf, die jeder kennt, die jeder tut und die dazu noch schön sind? Darin scheint Mama ganz verständig, daß sie über alles mit mir spricht. Nur die Art ist so häßlich — aber dafür kann sie nichts.
Seit acht Tagen habe ich einen neuen Papa. Pfui, wie sich das anhört! Aber er irrt sich, wenn er glaubt, daß ich jemals in ihm einen Ersatz für Papa sehen werde. Als ich sechs Jahr alt war, hatten wir einen Hausdiener, der genau wie dieser neue Papa aussah, nur intelligenter war er. Mama kleidet ihn ein und gibt ihm Anstandsstunden. Ich kugele mich und finde das himmlisch.
„Ich habe mir immer ein Hündchen gewünscht,“ sagte ich heute bei Tisch; „Mama wollte aber kein Viehzeug in der Wohnung haben, und nun hat sie sich selbst eins angeschafft.“
Der neue Diener, der mit dem Papa zusammen seine Stelle bei uns angetreten hat, ließ vor Schreck, als er das hörte, die Bratenschüssel fallen. Mama bekam Weinkrämpfe und — o Wunder — das Hündchen wurde bissig und versetzte mir, der Fünfzehnjährigen, eine Tracht Prügel, worauf sich Mamas Wut von mir ab und dem Bären zuwandte, obgleich er doch eigentlich ganz recht und zum ersten Male innerlich meine Zustimmung hatte, wenn schon die Ohrfeigen mir galten.
Mama aber schrie: „Ich lasse mein Kind nicht von dir Barbaren mißhandeln!“
„Ich halt’s nicht aus! Ich laufe davon!“ schrie er.
Beide rannten im Zimmer umher, während Johann, der neue Diener, mit der leeren Schüssel hinausging. Ich folgte ihm. Nach einer halben Stunde saßen wir wieder friedlich beieinander. Mama bekam für die Ohrfeigen, die ich erhalten habe, zwei Perlen für ihr Kollier versprochen. Mir schenkte er fünfzig Mark Schmerzensgeld, die ich in ihrer Gegenwart dem Diener überreichte, der vor Schreck zum zweiten Male die Schüssel fallen ließ und entlassen wurde.
Ich bin zu jung und zu schwach, um nicht von dem Trubel zu Hause mitgerissen zu werden. Mama läßt mich nicht aus den Augen und sorgt immer für eine neue Zerstreuung. Ich komme nicht zu mir selbst. Hin und wieder habe ich die bestimmte Vorstellung, als wenn das Leben gar nicht so ernst wäre, wie Papa es mir immer geschildert hat. Er hatte in allem Unglück und dann war er krank und nahm es wohl auch deshalb so tragisch.
Ich ertrage es nicht länger und bin entschlossen, mich dem ersten besten an den Hals zu werfen, der mich aus dieser Atmosphäre herausreißt.
Ich bin mit mir selbst vollkommen im unklaren. Weiß nicht mehr, ob Papa mit seiner Auffassung vom Leben, das er wohl nie recht kennen lernte, recht hatte oder Mama, die trotz aller Verachtung, die ich für sie empfinde, doch unbedingt den Erfolg auf ihrer Seite hat, überall beachtet, eingeladen, fast gefeiert wird, und die tatsächlich, trotz dieses gesellschaftlichen Popanz, mit dem sie sich behängt hat, ein Haus ausmacht, in das angesehene und seriöse Menschen kommen.
Ich muß mir selbst ein Urteil schaffen. Muß von diesen Zweifeln befreit werden, die mich quälen und mich krank machen. Endlich! Ich will aus eigenen Augen die Welt sehen, um mir Klarheit zu schaffen, ob Papa recht hatte oder aber, ob in diesem Leben, das die hier führen und das die Welt billigt, die Wahrheit liegt.
Noch kann ich werden, wie ich will. Gut und schlecht. Schlecht, gewiß! Und ich will es werden, so wahr ich Papa liebe, wenn alles, was er mir sagte, nur Träume waren, die das wahre Leben nicht kennt.
Einer von beiden hat mich betrogen. So muß ich selbst suchen, wo ich das Glück finde. Noch hoffe ich, daß es im Guten liegt.
In unserem exklusivsten bürgerlichen Klub, dem neben den Großen der Industrie und Börse nur wenige namhafte Juristen angehören, diskutierte man beim Lunch am „Stammtisch der Jungen“ lebhaft die gesellschaftlichen Ereignisse der letzten Woche.
Trotz der geistigen Interessenlosigkeit der jungen Leute hält die Unterhaltung hier stets ein bestimmtes Niveau. Den völligen Mangel jeder schöngeistigen Bildung ersetzt meist das sichere Gefühl für Wohlanständigkeit, das man von der Kinderstube her mitbringt. Dies Gefühl gibt auf alle Fragen des gesellschaftlichen Takts todsicher die richtige Antwort. Auch das Auge, von früher Kindheit an daran gewöhnt, nur das Gute und Wertvolle zu sehen, besitzt in den meisten Fällen Geschmack genug, um in künstlerischen Dingen das Wesentliche zum mindesten vom Kitsch zu unterscheiden. Niemals aber wird hier auf Grund positiver Kenntnisse und eines inneren Verhältnisses ein sachliches Urteil abgegeben; man vermag Gutes selten von Besserem zu unterscheiden und ist daher in erster Linie mit daran schuld, wenn auf allen Gebieten künstlerischen Schaffens heute die Größe des Erfolges durchaus kein Maßstab für die Güte eines Kunstwerkes ist. Denn wie man’s in der Jägerstraße anstimmt, so tönt’s in hundert westlichen Familien wider, die zwar nicht heilig sprechen und verdammen können, die aber doch zu den wenigen gehören, die in den Kunstausstellungen kaufen und in einem weiten Bogen um jede Leihbibliothek herumgehen.
Man verfährt bei der Aufnahme — wenigstens in der Praxis — hier nach anderen Gesichtspunkten als beim Klub der Aristokraten in der Schadowstraße. Setzt in der Jägerstraße die Aufnahme auch ein gewisses Niveau der Familie und gute Finanzen voraus, die in der Schadowstraße leicht durch ein lückenloses Pedigree ersetzt werden, so prüft man selbst durch den bestsitzenden englischen Gehrock hindurch noch den Charakter des Kandidaten, während dort die Güte der Uniform auch die Qualität des Trägers gewährleistet. Hier wie da natürlich Ausnahmen. In der Schadowstraße die Aufnahme vom Grafen aufwärts gesichert. In der Jägerstraße die Söhne der Großen auch ohne moralischen Befähigungsnachweis geduldet. Hier wie überall: je mächtiger der Protektor, um so unwesentlicher die Qualitäten des Protégés. Hier wie überall als Weisheit letzter Schluß: die Millionen. Die Berliner Gesellschaft mit ganz geringen Ausnahmen kennt keine Qualitätsmängel, die nicht durch Millionen heilbar wären.
Die Stimmung am „Tisch der Jungen“ war, wie immer, rege: Der erste Metropolball — geht man, geht man nicht. Die Flora-Büste — Bode oder Stahl. Die Winterhose — umgekrempelt oder glatt. Der bessere Lyriker — Dehmel oder Stephan George. Das smarteste Bad — Biarritz oder St. Sebastian. Der größere Könner — Débussy oder Richard Strauß. Das Knopfloch am Tage — Orchidee oder Nelke. Der wertvollere Michelagniolo — Makowsky oder Frey. Die beste Bouilla-baisse — bei Kannenberg oder bei Borchardt.
Alles das in einer einzigen Stunde. Zwischen Fisch und Käse! Und neben Gemeinplätzen plattester Flachheit hin und wieder auch ein verständiges Wort.
Es sind immer die gleichen Gesichter, die man des Mittags hier sieht. Nur die Verteilung an den einzelnen Tischen ist je nach den Neigungen und Antipathien der einzelnen eine verschiedene. Aber im ganzen halten die Jungen sich doch getrennt von den Alten.
Die tragen — ohne die Absicht einer besonderen Würde — eine vornehme Behaglichkeit in die Räume. An ihnen ist nichts gewollt. Weder in ihrer Kleidung noch in ihrem Wesen. Sie bewegen sich mit einer selbstverständlichen Sicherheit und Ruhe, und man fühlt, daß sie immer die gleichen sind: ob zu Hause allein, ob hier unter ihresgleichen, ob bei Ministern oder bei Hofe. Unauffällig kommen und gehen sie und zeigen alle jene natürliche Vornehmheit, die sich nicht erlernen läßt und die eben vorhanden ist oder nicht; die ein besonderes Persönlichkeitsmerkmal und daher auch nicht die Fähigkeit besitzt, je nach der Umgebung und Richtung des Windes sich in Haltung und Gesinnung zu verändern. — Aber wie klein ist ihre Zahl geworden, und wo anders in Berlin fände man sie sonst noch als nur eben hier.
Am Tisch der Jüngern begann — als der Kaffee längst serviert war — die große Kritik der letzten gesellschaftlichen Ereignisse. Die zehn jungen Herren, deren Papas zusammen Vermögen in Höhe des Kapitals der Deutschen Bank versteuern, fühlen sich hier — und größtenteils mit Recht — als die allein maßgebenden Sachverständigen.
„Sie haben mehr Glück als Verstand, Freudenheim“, wandte sich Helldorf, der Sohn unseres ersten rheinischen Großindustriellen, an sein Gegenüber. Er grinste dabei, die Riesen-Bülow zwischen seinen großen, blendend weißen Zähnen, halb gutmütig, halb ironisch und fügte, ob dieser Keckheit leicht errötend, hinzu: „Ich verstehe ja die Berliner Mädchen nicht.“ Er nahm die Zigarre aus dem Mund, schüttelte die Asche auf die Untertasse und beugte seinen Oberkörper leicht über den Tisch. „Die Hölderlins sind ja wohl die reichsten Leute in Berlin, noch über Mosse und Tiele Winkler. Das wären doch nun ’mal endlich Mädchen, die nach ihrem Geschmack heiraten könnten oder die,“ und er richtete sich wieder auf, „was ich durchaus verstehe, wenn sie ehrgeizig sind, ’ne sogenannte große Partie machen könnten. Nicht etwa so’n fiesen adligen Kavalleristen aus der Provinz; ne, ich meine so ’was, wat in der Hofgesellschaft ’ne Rolle spielt, ’nen guten Uradel, dem nur die Millionen fehlen, um richtig repräsentieren zu können.“
Der, dem dies galt, saß frech und in überlegener Haltung da und fühlte nicht den Affront, der in Helldorfs Worten lag. Er war stolz; denn aus der Rede spürte er nur heraus, daß er der Sieger war, der Sieger auf einem Terrain, dessen Lorbeeren eigentlich einem Vertreter des hohen Adels gehörten. — Und was gab’s denn außer dem hohen Adel anderes, was er den Millionen seiner eben 17 jährigen Braut gleichwertig zur Seite stellte?
Noch unförmiger schien er, und seine aufdringlich breite und protzige Art, die von verständigen Juden nicht minder verurteilt wird als von Christen, wirkte abstoßend.
„Er hat sich eben beizeiten herangemacht, ehe sie unter Menschen kam und andere Männer kennen lernte“, erklärte ein kleiner, untersetzter Assessor und Syndikus einer Berliner Großbank. Er sprach süddeutschen Dialekt, obschon er als Junge mit seiner Familie nach Berlin gekommen war, was nun schon über zwanzig Jahre zurücklag. Zweifellos war er der sorgsamst Gekleidete von allen, ein Muster guter Manieren, dabei bestimmt, ruhig und bescheiden. In ihm, das sah man ganz deutlich, war etwas von dem Geist des alten Herrn, Takt und vornehme Gesinnung, die man beim Nachwuchs keineswegs mehr überall antraf.
„Das ist der ganze Witz“, sagte ein Dritter.
„Sie irren, meine Herren,“ — selbstgefällig klang’s und belustigt, — „meine Braut hat vor unserer offiziellen Verlobung drei Monate lang Gesellschaften besucht und ist während dieser Zeit mehr herumgekommen als andere junge Mädchen im ganzen Winter.“
„Vorher aber hatten Sie sie sicher. Das wußte jeder Mensch. Sie gingen daher auch überall mit ihr zu Tisch, und man hat mir erzählt, daß Sie wie ein Falke über die Trägerin Ihrer Millionen gewacht haben.“
Jetzt verlor Freudenheim seine Sicherheit. Er reckte sich und schien sofort proportionierter, obschon das breite und volle Gesicht, in dem die dunklen, kleinen Augen wie schmale Risse lagen, nun noch widerwärtiger wirkte. Der kugelrunde, dicke Kopf schoß so grade empor, daß er fast nach hinten überlag und breite Falten in den feisten Nacken grub. Wie ein Rekrut auf das Kommando: Achtung! Bereit zum Ohrfeigen! Es hatte etwas durchaus Provozierendes, wie er so dasaß.
„Ganz ohne persönlich werden zu wollen,“ meinte mit einer knappen Verbeugung Dr. Sachse, ein trefflicher junger Jurist und Selfmademan, der einzige vielleicht in diesem Klub, „dieses frühe Heiraten ist doch recht bedenklich. Wie soll ein Mädchen in dem Alter schon imstande sein, eine für ihr ganzes Leben so wichtige Entscheidung zu treffen?“
„So ist das nicht,“ meinte Fleischer, der kleine Assessor, „entscheiden tun in unseren Kreisen ja doch schließlich die Eltern nach Zweckmäßigkeit, und das ist auch ganz verständig. Denn mit der Liebe ...“
„Armeleutesache“, fiel ihm Delfft ins Wort und suchte Dr. Sachse in seinem Bemühen, das Thema wieder auf neutralen Boden zu führen, zu unterstützen. „Wir haben bei unserm Monatswechsel Zerstreuung genug und können auf das bißchen Liebe gern verzichten. Wenn nur Familie und Geldpunkt stimmt, können wir schon froh sein, — na, und überfroh, wenn das Mädchen dabei noch manierlich aussieht und unsere Interessen, sei’s nun für Sport, für Reisen oder für sonst ’was teilt.“
„Oder für Mode“, sagte einer. Denn Delffts tägliche Besuche beim Schneider, sein Stiefelklapps und seine Sammlung seidener Strümpfe waren längst ein beliebter Gesprächsstoff der jungen Damen.
„Oder für Ehebruch“, warf ein Dritter dazwischen.
„Der gilt wohl allgemein als stillschweigend vereinbart“, grinste Helldorf, schob seinen goldenen Zwicker wieder in die richtige Lage und ließ dabei Freudenheim, den er nicht ausstehen konnte, nicht aus den Augen.
„Höchstens doch für die Männer“, sagte mit Bedacht Dr. Sachse, was allgemeine Heiterkeit hervorrief.
„Einer, der an die Treue unserer Frauen glaubt!! Ich bitte die Anwesenden sich von ihren Sitzen zu erheben.“ Und alle erhoben sich auf Helldorfs Aufforderung. Nur Freudenheim blieb sitzen. „So ehrt der ‚Tisch der Jungen‘ den Herold weiblicher Tugend!“ Und man ließ ihn leben.
„Und ich trinke auf die Frauen“, erwiderte Dr. Sachse und leerte sein Aleglas.
„Die treuen oder die untreuen?“ fragte Fleischer.
„Jede ist untreu, wenn der Richtige kommt“, rief Helldorf dazwischen. Und sehr aufrichtig setzte er hinzu: „Gott sei Dank.“
Ganz ohne Grund, denn längst dachte niemand mehr an Freudenheims Braut, schrie der in unfreundlichem Tone:
„Jede?“
„Für Sie nicht“, erwiderte Helldorf, belustigt über die unbeabsichtigte Wirkung. „Sonst würde ich den Betrieb einstellen.“
„Was wollen Sie damit sagen?“ fragte Freudenheim fast drohend.
„Daß ich mit Ihnen nicht teilen möchte.“
Freudenheim war außer sich. Seit acht Tagen war er mit dem reichsten Mädchen Berlins verlobt. Alle Welt wußte es und lag ihm zu Füßen. Unzählige frühere Bekannte waren seit jenem Tage für ihn erledigt. Er kannte und grüßte sie nicht mehr. Andere — und auch ihre Zahl war groß, — die ihn früher geschnitten, zum mindesten kaum beachtet und allenfalls des Nachts in den Sälen begrüßt hatten, schüttelten ihm jetzt — selbst in Uniform und unter den Linden!! — die Hand, begleiteten ihn, luden ihn ein, suchten seine Freundschaft. Ja, was glaubte denn dieser Helldorf? Wer war er denn? Konnte er nicht ebensogut wie hier mit diesen Kaufmannssöhnen im Klub heut mittag mit dem Grafen Kleist und dem Baron Recum von den Gardehusaren bei Hiller sitzen? Freilich, dann müßte er zahlen und würde womöglich noch angepumpt. Und hier zahlte jeder für sich. Aber wenn schon? Zahlte man schließlich nicht lieber für den Grafen in Uniform, als sich von diesen Herren hier freihalten zu lassen. Er wollte es diesem Helldorf schon besorgen, noch dazu, da er von seinem Vater abhängig war, während das Geld seiner Braut vom Tage der Ehe ab zu seiner freien Verfügung stand. All das schien dieser Helldorf völlig zu ignorieren. Aber er wollte es ihn schon fühlen lassen.
In wenigen Sekunden rasten diese Gedanken durch seinen Kopf, und er schrie so laut, daß man es am Nebentische hören konnte, zu dem belustigten Helldorf hinüber:
„Haben Sie etwa schon mal aus Liebe eine Frau besessen?“
Fleischer sprang auf. „Sie sind hier nicht im Séparée, Freudenheim, sprechen Sie leise oder ich stehe auf.“
„Ich ebenfalls“, sagte Dr. Sachse. „Kommen Sie“, rief er Fleischer zu. Sie verabschiedeten sich kurz und gingen.
Aber Helldorf war nur um so belustigter, je mehr Freudenheim raste.
„Aus Ihrer Clique vielleicht nicht. Aber das liegt nicht an den Frauen, sondern an mir“, sagte er ruhig und heiter.
„Keine gibt sich Ihnen“, antwortete Freudenheim und schob seine Zigarre, die in einer langen Papierspitze steckte, fortgesetzt von einem Mundwinkel in den andern.
„Jede!“ sagte Helldorf und lachte laut.
„Keine!“ kam’s zurück.
„Wollen Sie mit mir wetten?“ fragte Helldorf scherzend.
„So hoch Sie wollen. Sie wissen, ich kann zahlen.“
„Sie wollen Ihre Mitgift bei mir anlegen? Gut. Halten Sie hunderttausend Mark?“
„Ich halte!“
Sie reichten sich die Hände über den Tisch und Dr. Burg, Helldorfs Freund, schlug durch.
Die Bedingungen lauteten:
Innerhalb eines Monats. Es kann eine junge Frau oder ein junges Mädchen sein. Beide müssen der Gesellschaft angehören. Helldorf darf weder Geld geben noch Geschenke machen, noch eins von beiden in Aussicht stellen. Geschenke in Form notwendiger Aufmerksamkeiten sind gestattet. Der Name der Dame bleibt geheim.
So schlug’s Adolf Burg vor, und so wurde es von den beiden Parteien genehmigt. Die Anwesenden gelobten, über diese Wette vor ihrem Austrag Stillschweigen zu bewahren, da sonst Helldorfs Bemühen von vornherein aussichtslos wäre. — „Es sei denn, daß er sie am Gewinn beteiligt“, rief ein schlanker, eleganter, aber oberflächlicher Junge.
„Das darf er ja nicht!“ rief man dazwischen.
Heut war der 16. November. Man vereinbarte also ein Festessen, das der „Tisch der Jungen“ am 17. Dezember zu Ehren des Siegers zu geben habe. Ein Fest mit Damen, an welchem natürlich auch die große Unbekannte teilnehmen müsse. Erst am Tage nach dem Fest, für das man einen wohltätigen Vorwand schon finden werde, dürfe man, aber auch dann natürlich überall nur diskret, den wahren Grund der Veranstaltung erfahren.
Diesen Vorschlägen des kleinen Krohn stimmte man begeistert zu. — Assessor Krohn, aus Berlins reichster Verlegerfamilie, hielt sich von allem gesellschaftlichen Trubel fern. Er besaß keinen Ehrgeiz, nach außen hervorzutreten, der es ihm erschwert hätte, ein Leben nach seinem Geschmack zu führen. Als stillem Beobachter bereitete ihm die Berliner Gesellschaft Zerstreuung ohnegleichen, und für seine Liebe zum Humor erschloß sich in ihr ein dankbares Feld regster Betätigung. Dabei besaß er auch Geist und Geschmack genug, um Stil und einen tieferen Sinn — und gibt’s einen tieferen Sinn als den Humor? — in sein Leben zu bringen.
„Ich habe noch eine andere Idee“, sagte er mit dem durchtriebensten Gesicht, durch die günstige Aufnahme seines ersten Vorschlags animiert. „Niemand darf bis zum 17. Dezember wissen, wer die Dame ist. Nur dabei muß sie sein. Nach dem Fest versammeln wir uns im Klub. Ich eröffne einen Wettmarkt, und jeder wettet auf die Dame, die er für die große Unbekannte hält. Bevor Helldorf aber den Namen nennt, muß jeder seine Wahl begründen. Auf diese Weise werden wir viel interessante Details über unsere Damen hören. Dann erst hat der Sieger das Wort.“
„Also bringen Sie uns nicht um die Sensation, Helldorf“, rief Hecht.
Die Stimmung nahm Höhen an, die hier selten waren. Nur Freudenheim war in Sorge. Wenn er verlöre! Hunderttausend Mark!! Er sprach leise zu Delfft, der sein Freund war, schob sich langsam in die Höhe, suchte vergeblich den untersten Westenknopf zu schließen, trank stehend seinen 21er Meukow, warf ein Goldstück auf den Tisch, rief Fritz, den Kellner, und ging satt und schwer, ohne zu grüßen, zur Tür. —
„Mit wem versuch ich’s?“ fragte Helldorf seinen Freund Adolf, als alle anderen fortgegangen waren.
„Mit seiner Braut, das wäre ein Witz“, erwiderte der.
„Ist mir zu häßlich. Wenn mir die Sache keinen Spaß macht, bin ich schwerfällig und komme keinen Schritt vorwärts. Es muß eine Frau sein, die mich reizt.“
„Also sehr jung?“
„Oder Fähigkeiten, die das Alter rechtfertigen.“ Sie lehnten eine nach der andern ab. Viele, die geeignet schienen, ließ man fallen, sobald man in die Harmlosigkeit des Gatten Zweifel setzte. Und da dies Hindernis bei den jungen Mädchen von selbst fortfiel, so schieden die verheirateten Frauen schließlich ganz aus.
Man suchte nur noch unter den jungen Mädchen und bevorzugte Töchter, von deren Müttern man wußte, daß sie nicht eben Wert darauf legten, für besonders moralisch zu gelten.
„Ich hab’s!“ rief Adolf erfreut. „Vorzüglich! Sonderbar genug, daß ich nicht gleich darauf gekommen bin.“
„Wer ist’s?“ fragte Helldorf.
„Die Prädestinierte“, gab er zur Antwort.
„Willst du’s nicht sagen?“ und ungeduldig fügte er hinzu: „Ich werd’s ja doch wohl erfahren müssen.“
„Ich beneide dich fast,“ meinte Adolf, „am nächsten Dienstag ist Jour, ich führe dich ein. Nur einen Haken hat die Sache ... Gesellschaft ist ja wohl Bedingung! — Hm — Ob man die zur Gesellschaft — aber eigentlich gibt’s ja gute und schlechte Gesellschaft — also warum nicht?“
„Reich?“ fragte Helldorf.
„Millionen!“
„Na also! — Gute Gesellschaft natürlich.“
„Gemacht!“ rief Adolf. „Fritz, ein Clicquot gelb, aber schnell.“
„Sehr wohl, Herr Doktor!“
Und während Helldorf noch neugierig und verdutzt dasaß, stand Adolf auf, stieß mit ihm an und rief: „Es lebe Hilde Simon!“
Bei Frau Behr, verw. Simon, geb. Berger, war man heute gänzlich aus dem Häuschen. Man versuchte auch nicht anders zu scheinen, als man war.
Dem Friseur, der auf eine Stunde früher befohlen war, und der sich, um sein Benehmen danach einzurichten, stets beim ihm öffnenden Diener nach dem „Befinden“ der Gnädigen erkundigte — kam man heute wie einem alten Freunde entgegen.
„Lincke, heut ist ein großer Tag,“ empfing sie ihn, „und wer weiß, vielleicht wird ihm bald ein noch größerer folgen. Also machen Sie mich und meine Tochter so schön, wie Sie es irgend können.“
„Es freut mich, die gnädige Frau in so guter Stimmung zu sehen. Darf man fragen, was der Grund ist?“
„Man darf“, und sie wies auf das Tischchen neben der Frisiertoilette, auf dem ein großer blauer Briefbogen ausgebreitet lag. „Lesen Sie!“
„Ich bin so frei.“
Und er las laut:
Hochverehrte gnädige Frau!
Ich bitte von Ihrer Erlaubnis Gebrauch machen und am Dienstag einen guten Freund in Ihr Haus einführen zu dürfen. Bedarf es auch keiner Versicherung, daß der junge Mann die Qualitäten besitzt, die ihn und mich zu dieser Bitte berechtigen, so wird doch allein sein Name genügen, um ihm Ihr mit Recht als gastlich gepriesenes Haus zu öffnen. Es ist August Helldorf aus Düsseldorf.
Ich habe meinem Freunde zu oft von den unvergleichlichen Reizen Ihrer Jours gesprochen, als daß sein Wunsch, sie kennen zu lernen, nicht natürlich wäre.
Herr Helldorf bittet mich, Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl seine respektvollen Grüße zu übermitteln, ich selbst küsse Ihnen, sehr verehrte, gnädige Frau, die Hand als
Ihr ganz ergebener
Adolf Burg.
Lincke stand etwas hilflos, den Brief in der linken, die noch heiße Brennschere in der rechten Hand, da. Er fühlte, daß er etwas sagen müsse. Etwas, was man erwartete, worüber man sich freute.
Taktlos durfte er hier sein, das wußte er, wenn es nur schmeichelte. Er kam seit zwanzig Jahren in die besten Häuser und besaß — denn er war diskret, obschon er Friseur war — das vollkommene Vertrauen aller Frauen, die er bediente.
„Eine Verlobung?“ fragte er schüchtern.
„Pst! pst!“ und sie klopfte dreimal auf den Boden des Tisches. „Vielleicht! — Noch nicht! Aber es kann werden.“ Und sie winkte ihm mit einer kurzen Bewegung des Kopfes.
„Hier,“ sie reichte ihm das Chignon, „und Sie müssen auch noch zu meiner Tochter.“
Linke war zufrieden, das Richtige getroffen zu haben. Der Brief war hinreichend devot, fand er. Ebenso könnte er von jemandem geschrieben sein, der Geld braucht, und dann hätte Frau Behr erwartet, daß man ihn „unverschämt“ fand und „aufdringlich“. Seine Antwort, eine Verlobung, wäre in diesem Falle eine arge Entgleisung gewesen. Sein Mut also wuchs, und er wollte mehr hören.
„Gewiß ein sehr feiner und reicher Herr, der Herr Burg?“
„Schafskopf!“ erhielt er zur Antwort; „was geht der mich an? Gewiß ist auch er ein Gentleman. Aber hier handelt es sich um Helldorf. Wissen Sie wirklich nicht, wer Helldorf ist? Was Morgan und Rockefeller in Amerika, das ist in Deutschland August Helldorf.“
Lincke riß sein Maul weit auf. Er hatte den Namen noch nie gehört und glaubte doch alle Berliner Familien von drei Millionen aufwärts zu kennen.
„Ach der —“ er wiederholte mit Nachdruck den Namen, als ob er ihm geläufig wäre, — „Helldorf — natürlich.“
Hilde trat ins Zimmer. Sie war bis auf die Frisur fertig angezogen. Lincke stutzte, als er sie sah.
„Gott, Fräulein Hilde, sehen Sie hübsch aus“, sagte er, ohne daß er es wollte. Man brauchte in der Tat nicht gerade ein Friseur zu sein, selbst nicht ein derart mit Geschmack begabter, um diesem Urteil beizupflichten. Man konnte sie mit den verwöhnten Augen eines Künstlers messen, um hier des Schönen noch genug zu finden.
Und jeder Künstler, der sie so sah in ihrer ersten schlanken Blüte, ganz in Weiß gekleidet, schuf sich als Hintergrund im Geiste einen dunkelgrünen Vorhang und sah Karls I. Töchterchen Anna mit all den bestrickenden Reizen eines Kindes, die wir in den vielen Gruppenporträts der kleinen Prinzessin von der Hand Anton van Dycks bewundern.
Bis auf die Augen! Groß und braun störten sie mit ihrem bittenden, fast wehmütigen Blick das ruhige Gleichmaß; und wie sie beständig so in alle Tiefe träumten, glichen sie dem Kinde mit der Rose des Velasquez, der Franziska oder Ignatia, dem einzigen Kinde spanischer Rasse.
Noch war die Frage nach der Frisur zu lösen. Eine Aufgabe war’s, würdig, von einem Piero della Francesca oder Bellini gelöst zu werden. Hier war Frau Traute in ihrem Element, und sie entwickelte fieberhaft ihre Ideen, die ihr in der Erinnerung an schöne und berühmte Frauen durch den Kopf schossen.
„Die Prinzessin Lamballe!“ rief sie, und gedachte des Versailler Bildes mit der hochstehenden Frisur, das Haar oberhalb der Stirn flach wie ein Brett, am oberen Rande etwas breiter als die Stirn mit einem leichten Kranz weißer Blüten. „Wissen Sie, was ich meine, Lincke?“
„Ich komme nicht zur Aristokratie“, gab er zur Antwort, versuchte aber, ihren Gedanken zu folgen und überzeugte Hilde schnell, Frau Traute nur langsam von der Unmöglichkeit dieser Zusammenstellung.
„Wie im Unterrock mit Abendhut“, meinte Hilde.
„Aber ich dachte es mir doch so schön, wie die Prinzessin Lamballe,“ erwiderte Frau Traute fast traurig wie ein Kind; „doch es paßt wohl wirklich nicht.“ Dabei entwickelte sie schon wieder einen neuen Gedanken.
„Lassen Sie mich mal probieren.“ Und sie trat hinter ihre Tochter, die sich eben vor einem schmalen, dreiteiligen Standspiegel niedersetzte. Sie verband das aufgelöste Haar mit Flechten, nahm von jeder Schulter her eine Flechte nach vorn und verband beide am Ansatz des Busens durch einen alten Schmuck.
„Wie Bella Simonetta!“ rief sie. „So müßte dich d’Annunzio sehen, und du würdest ihn begeistern, wie Medicis Geliebte einst Polizian begeistert hat!“
Sie stürzte in ihr Boudoir, öffnete ihren eisernen Schrank und suchte eilig, immer das schöne Bild der Tochter vor Augen, unter ihrem Schmuck einige ihr passend erscheinende Stücke heraus. Sie nahm den Schmuck aus den Flechten und ersetzte ihn durch einen Anhänger. Was sie brachte, waren Meisterstücke. Ein Anhänger aus Kupfer mit Grubenschmelz; eine Arbeit aus dem 13. Jahrhundert aus Limoges. Er war zu schwer. Sie versuchte es mit einem silbernen Anhänger deutscher Herkunft aus dem 15. Jahrhundert. Ihn schmückten kleine Heiligenfiguren; aber er verschwand vollkommen in den weichen und schweren Flechten.
„Renaissance muß es sein!“ erkannte sie und entschied sich für ein reiches Stück aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Eine kleine Amorette tollte auf einem galoppierenden Roß, das selbst des stärksten Reiters Kunst nicht bändigen möchte, und lenkte es spielend mit einer leichten, seidenfeinen Schnur. Den Körper des Pferdes bildete eine Barockperle, die außerordentlich feinen Verzierungen waren aus Goldemail. Man war schnell einig, das Richtige gefunden zu haben. Hilde erschien das alles zwar ein wenig schwer für das leichte weiße Hängekleid, das in der Taille durch eine schmale Kette gehalten wurde, die, ohne den Eindruck einer Teilung zu bewirken, doch leise einen freien Faltenwurf andeutete.
Und sie hatte recht. Es war zu schwer. Erinnerte dieses Kleid an das französische Kindergewand des 16. Jahrhunderts, so war diese raffinierte Tracht des Haares der Schmuck einer schönen edlen Dame aus dem Quattrocento.
„Du siehst sonst wie ein Kind aus“, meinte Frau Traute. „Aber meinetwegen laß dir die Haare in kleine Löckchen brennen, und Tizians Tochter des Roberto Strozzi ist fertig, bis ins kleinste Detail; selbst die Amorette fehlt nicht.“
Den Eindruck eines Kindes wollte Hilde nun ganz und gar nicht machen. War sie entschlossen, ohne Rücksicht auf das Urteil der Welt, sich die Erfahrungen zu sammeln, die es ihr möglich machten, auf die Frage nach dem Zweck des Lebens die richtige Antwort zu finden, ohne die sie nicht weiter konnte; wollte sie also alles wagen, um ein Glück zu finden, so durfte sie auch äußerlich nicht mehr als Kind erscheinen.
Sie willigte daher auch ein, daß Frau Traute ihr zwei leichte goldene Spangen um die zarten Gelenke ihrer weißen Arme legte und die Finger mit schmalen Reifen schmückte, wodurch die Hände noch sanfter wirkten und an die Legende von den heiligen Lilien mahnten, die sich zu Händen bogen.
Dieselbe Frau, die, wenn es sich um andere handelte, erlesenen Geschmack bewies, den eine gute Bildung unterstützte, zerstörte ihr eigenes Bild, indem sie sich maßlos mit Schmuck behing und dann wie die wandelnde Reklame eines Juweliers wirkte.
Also Helldorf kam. Frau Traute stürzte zur Tür, um ihn zu empfangen. Er trug einen dressing gown und eine Riesen-Orchidee im Knopfloch; trat herein, als wenn er seit Jahren hier verkehrte, und küßte mit einigen verbindlichen Worten Frau Traute die ringbeschwerte Hand.
Hilde war vom Fenster, an dem sie eben noch mit einem jungen Manne geplaudert hatte, herangetreten. Frau Traute legte ihren Arm auf ihre Schulter und stellte vor:
„Meine Tochter.“
Helldorf lachte ungläubig.
„Glauben Sie es nicht?“ fragte Hilde. „Bin ich zu alt dafür oder zu häßlich?“
„Ihr Fräulein Schwester, gnädige Frau, nicht wahr?“
„Nein, nein!“ rief Hilde; „ich bin eben jünger und Mama älter, als Sie denken.“
„Dann darf ich Sie beide beglückwünschen“, und er reichte auch Hilde die Hand. Er hielt sie so lange, daß Fritzchen Krohn in die Westentasche griff und als elfte der Kandidatinnen, die für ihn in dem Wettstreit Helldorf/Freudenheim in Betracht kamen, Hilde Simon in sein Notizbuch eintrug.
„Sie also hat mir mein Freund Adolf bis heute verschwiegen“, sagte Helldorf voll Wärme und betrachtete sie von neuem. „Das also ist es, was die Leute zu diesen Jours zieht.“
Hilde errötete leicht, gab sich dabei aber völlig natürlich, freute sich, daß sie gefiel, und bemühte sich auch nicht, ihre Freude zu verbergen.
„Sie sind ebenso schnell wie höflich in Ihrem Urteil.“
„Und bin bekannt für unhöflich, da ich ehrlich bin. Gewiß, ich kenne Sie nicht, aber ich sehe hier etwas, Sie müssen schon verzeihen, was man nicht alle Tage sieht. Etwas ganz Außerordentliches, Seltsames; so selten, daß es in keins der vielen Musterkästchen paßt, in denen ich die Bilder mir wertvoller Frauen aufbewahre.“
„Wohl aber kaum wertvoll genug, um dafür in Ihrem weiten Herzen einen neuen Raum zu schaffen.“
„Man kann auch ausrangieren, mein verehrtes Fräulein“, jetzt erst gab er ihre Hand frei.
„Also sicher fühlt man sich nicht bei Ihnen?“
„Das wäre langweilig für beide Teile.“
Frau Traute trat nun an Helldorf heran und stellte ihn ihrem Manne vor. Zwar störte sie nicht gern die beiden, wünschte aber doch, Helldorf mit den andern Gästen bekannt zu machen.
Behr machte einige ungeschickte Bemerkungen, die Frau Traute, so gut es eben ging, parierte. Das war nicht leicht; denn Helldorf gab sich keine Mühe, so leicht es ihm gefallen wäre, zu überhören oder durch ein paar passende Wendungen über peinliche Situationen, die immer wiederkehrten, so oft der Herr Gemahl den Mund auftat, hinwegzuhelfen. Ihn amüsierte die Unbeholfenheit dieses Parvenus, der seiner Frau zu Gefallen so gern eine gesellschaftliche Rolle spielte. Es reizte ihn förmlich, ihm durch Komplimente plattester Form — andere verstand er nicht — ein Gefühl der Sicherheit zu geben und ihn schließlich so weit aus der ihm anbefohlenen Reserve zu locken, daß er bald ganz ungeniert, ja fast energisch, seine Ansichten über gesellschaftlichen Takt zum besten gab, die natürlich derart komisch waren, daß sie mehr Heiterkeit als Widerspruch weckten.
Und jeden Erfolg durfte er mit einem freundlichen, fast dankenden Blick Hildes quittieren. Denn tatsächlich erwarb er sich mit diesem harmlosen Manöver, durch die Behr der Lächerlichkeit verfiel und Krohn einen seiner Festtage erster Ordnung erlebte, die Sympathie Hildes. Sie verachtete diesen Mann nicht, weil er an die Stelle getreten war, an der einst ihr Vater gestanden hatte ... dieser Mann war so wenig ihr Vater, daß ihr niemals dieser Gedanke gekommen wäre. Sie hätte ihn von sich gestoßen, hätte er’s gewagt, Vaterstelle bei ihr zu vertreten oder gar den Regungen ihres jungen Herzens und der Ursache ihrer häufigen Traurigkeit nachzuspüren. Von alldem nichts!
Sie verachtete ihn, weil er wie ein Hund vor ihrer Mutter umherkroch, deren Meinung stets die seine war, und, ohne auch nur nach der Ursache zu forschen, sie beschimpfte und mißhandelte, sobald die Mutter ihr zürnte; mit Zärtlichkeiten aber, die sie fast noch widerwärtiger als seine Züchtigungen empfand, sie überschüttete, sobald sie Mamas „Goldfasan“ war.
Als Helldorf den kleinen Krohn begrüßte, meinte er: „Schon notiert, trotzdem nicht konkurrenzberechtigt.“
„Wieso nicht?“ fragte Helldorf, „und wie kommt’s dann, daß Sie hier verkehren, wenn Sie die Leute nicht zur Gesellschaft rechnen? Im übrigen, ich denke nicht dran!“
„So war’s nicht gemeint; Gesellschaft sind sie natürlich nicht, wenigstens nicht im engeren Sinne, und soweit überhaupt jemand Millionen besitzen kann, ohne doch zur eigentlichen Gesellschaft zu zählen. Für Ihre Wette reicht’s aber aus, — der Haken liegt tiefer.“
„Und wo?“
„Noch tiefer!“ erwiderte Krohn und grinste so eigen, daß Helldorf unwillkürlich mitlachte und fragte:
„Also ’ne Schweinerei — Sie sehen so vergnügt aus.“ Und er selbst war in diesem Augenblick sehr zufrieden, denn er glaubte nun, daß Krohn die Alte meinte und auf Hilde keinen Verdacht schöpfte.
„Sie meinen, ich habe es mir zu leicht gemacht, oder sind Sie etwa gar der Glückliche, der hier im Sattel sitzt, das würde dann ja auch eine Erklärung für Ihren Verkehr hier sein.“
„Danke, ich bin entwöhnt, brauche keine Amme oder Mama mehr“, und er zeigte auf Behr, der teilnahmslos in einer Ecke hockte, und bei dem man nur das Teetablett vermißte, um ihn nicht für einen Lohndiener zu halten.
„Wo so ’was liebt, muß ich ergebenst passen, — ne, ne, Sie täuschen mich nicht, ich meine natürlich Hilde.“
Helldorf zuckte zusammen. „Himmel, die auch schon?“ Er wagte nicht weiter zu sprechen, — — er suchte sie und sah sie träumend an der Seite einer alten Dame, die stürmisch in sie hineinredete. Wieder sah er diesen tiefen, schweren Blick, der ihn vorhin schon so ergriffen hatte, und scharf, fast unfreundlich fügte er hinzu: „Das reden Sie so dahin, das sind Dinge, für die man Beweise haben muß, ehe man sie ausspricht!“
Krohn war in diesem Augenblick entschlossen, Hilde dick in seinem Notizbuch zu unterstreichen. Klang das nicht fast wie Zuneigung? So hatte er ja Helldorf noch nie für eine Frau erwärmt gesehen.
„Sie sind noch immer nicht im Bilde, Helldorf; für wie alt halten Sie die junge Dame denn? — Glauben Sie, daß Sie der einzige sind, der auf den 16. Geburtstag wartet?“ Und blinzelnd fügte er hinzu: „Strafbares Alter!“
Helldorf war’s, als versetzte ihm jemand eine Ohrfeige. „Wer hat zu warten? Und wen kümmert das Alter?“
„Jeden, der sich für das Mädchen interessiert,“ erwiderte Krohn, „und mir scheint fast, als hätte jeder dasselbe Recht, sich für das Mädchen zu interessieren und auf es zu warten, wie Sie.“
„Mag sein. Wie aber, wenn das Mädchen sich für jemanden so interessiert, daß es nicht warten will? Was dann?“
„So bleibt es doch immer noch strafbar. — Im übrigen“, und er machte eine kurze Verbeugung, „ich für meine Person bin völlig uninteressiert. Wenn Sie wirklich die Absicht haben,“ — er war jetzt ganz ernst, fast feierlich geworden, — „so treiben Sie kein Spiel mit ihr. Mir scheint sie eine von den wenigen zu sein, die da innen so ’was wie eine Seele haben, die nach innen leben und bei Enttäuschungen, an denen das Herz teilnimmt, zusammenklappen — einmal im Leben, aber dann für immer.“
Helldorf fehlte das Verständnis für solche Betrachtung. Für ihn gab es diese feinen Unterschiede nicht.
„Ach wat, so’n Mädel liebt eben oder liebt nich, und sehnt sich danach, ’was kennen zu lernen. ’Was anderes gibt’s nich. Sie nehmen das alles immer viel zu ernst und wichtig. An gebrochenem Herzen stirbt man heutzutage in der Berliner Gesellschaft nicht mehr. Das überläßt man neidlos den Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen. Verfolgen Sie doch nur mal eine Woche lang in unsern Zeitungen den lokalen Teil, so werden Sie unter der Rubrik ‚Selbstmord aus verschmähter Liebe‘ niemals jemanden aus der Gesellschaft finden. Man ist entschieden ruhiger und praktischer geworden und wertet sein Leben höher. Die verschmähte Liebe in der Gesellschaft hat sich ein weit schadloseres Heilmittel ersonnen als das Lysol.“
„Und das wäre?“ fragte der kleine Krohn.
„Das ist der neue Liebhaber, durch den man den ungetreuen Vorgänger nicht nur ersetzt und ärgert, sondern oft genug auch wiedergewinnt, um ihn dann erst dauernd an sich zu fesseln. Also, fürchten Sie nichts.“ Er lachte. „Und gegebenen Falls kann man nie wissen, falls Sie recht behalten, ich werde sie vormerken.“
„Aber nicht vor dem sechzehnten Geburtstag“, sagte Krohn lachend, und wandte sich einer andern Gruppe zu. Er wußte längst, daß Helldorf nicht zu überzeugen war, und er fürchtete sogar, mit ihm in Streit zu kommen. Für ihn gab es keinen Zweifel mehr, daß diese arme Hilde das Opfer war, und er fühlte sich mitschuldig.
In diesem Augenblick ging eine zweite starke Bewegung durch den Saal, stärker noch und intensiver als bei Helldorfs Eintritt. Der Diener hatte Frau Konsul Deutz gemeldet.
Und Familie Deutz erschien, mußte erscheinen, denn nach dreimaliger Absage hatte Frau Traute sie selbst den Tag bestimmen lassen — und da gab’s kein Entrinnen mehr. Frau Traute hatte sie diesmal sicher.
Sie wußte, daß sie ihren Gästen mit dieser weltgewandten Dame und ihren langweiligen, sich langweilenden drei Töchtern, die sich alle Mühe gaben, adlig zu erscheinen, eine weit wertvollere Attraktion brachte, als wenn sie ihnen Oskar Fried am Flügel oder die Destinn vorsetzte. Und billiger war es auch.
„Was haben’s mit dieser Frau?“ fragte ein Münchener Künstler, der an Helldorf und Krohn herangetreten und dem alles das sehr unbehaglich und unverständlich war.
Krohn tat sehr geheimnisvoll. „Ja, sehen Sie, das sind Dinge, von denen Sie als harmloser Münchener keine Ahnung haben.“
„Wieso net?“
„Oder haben Sie vielleicht ’nen Kaiser? Nicht einmal ’nen richtig gehenden König haben S’, Sü Philister.“
„Sie wollen mich frotzeln“, sagte der Münchner. „Dös is doch net die Kaiserin!“
„Persönlich nicht, aber beinahe!“
„Woas?“ fragte er mit einem nicht eben schlauen Gesicht, „beinoah’?“
„Ja, denken Sie,“ — und er gab sich Mühe, sehr ernst und wichtig zu erscheinen, — „diese Frau, die Sie da vor sich sehen, mit der Sie heute an einem Tische speisen, und die Ihnen vorgestellt wird, vorausgesetzt, daß Sie es geschickt anstellen, und die Sie dann auf der Straße grüßen dürfen, diese Frau ...“, und dabei reckte er sich förmlich in die Höhe, während das Gesicht des Müncheners immer länger und dümmer wurde ...
„Joa, woas is mit ihr?“
„Nun denn, ich will es Ihnen sagen: diese Frau kennt den Kaiser persönlich!“
Krohn machte, als er das mit äußerster Würde herausgebracht hatte, ein Gesicht, als erwarte er als Antwort, daß sich der Münchener namens seiner gesamten Mitbürger platt auf den Bauch werfen und dreimal Hurra schreien würde.
Von alledem aber geschah nichts.
„Joa, san S’ denn alle miteinand’ verruckt?“ war das einzige, was der sehr überzeugt und ernst herausbrachte.
„Wir sind’s!“ erklärte Helldorf auf das bestimmteste.
Das beruhigte den Münchener, und Krohn fuhr ernst fort, obschon seine Ironie sehr deutlich zutage trat.
„Sie unterschätzen das. Um als Außenseiter das allergnädigste Wohlwollen Seiner Majestät bis zu dem Grade zu erwerben, wie es diese Frau besitzt, muß man unter anderem beispielsweise jedem noch so leisen Wink, der einem in Fragen der Wohltätigkeit von maßgebender Seite huldvollst gegeben wird, mit höchster Bereitwilligkeit Folge leisten. Geschieht das, und ist auch sonst das Management das richtige, dann eben erlebt man’s, daß der Kaiser in irgendeiner Form alljährlich einmal Ihre Schwelle betritt.“
„Joa, und?“
„Und ...? Ja, ist das nichts?“
„I kann mir halt nix darunter denken.“
„Glauben Sie mir, Verehrtester, der Glorienschein kaiserlicher Huld, von dessen Bedeutung Sie als Münchener scheinbar gar keine Ahnung haben, leuchtet so wunderhell, daß man diese Frau überhaupt nicht ansehen kann, ohne daß das Bild Seiner Majestät in Lebensgröße vor einem auftaucht. Ich rate Ihnen dringend: machen Sie Ihre Landsleute mit diesen Dingen bekannt, damit sich dieses unwürdige Schauspiel, das Sie uns eben gaben, nicht wiederholt, und irgend so ein Isartrottel nach Berlin kommt und ganz naiv fragt: Soagen’s oamal, wer is eigentlich diese Frau Generalkonsul Deutz?“
„Und woas wäre dann?“
„Nun, er würde mit tödlicher Sicherheit zur Antwort bekommen: Wa—a—a—as? Das wissen Sie nicht? Gott, wie ungebüldet! Das ist doch die, bei der der Kaiser verkehrt!“
„Joa, woas beim lieben Herrgott hat man denn davon?“
„Sie fragen noch immer? Stellen Sie sich vor, wenn man dann hinzusetzen kann: Frau Deutz hat mir erst dieser Tage wieder erzählt, daß der Kaiser ihr versichert habe, die ganze moderne Kunst sei eine Schweinerei!“
„Dös is oane Gemoanheit!“ brüllte der Münchener jetzt, und Helldorf und Krohn hatten alle Mühe, ihn zu beruhigen.
„Darauf kommt es jetzt aber gar nicht an“, fuhr Krohn fort. Doch da hatte er sich höllisch in dem Münchener verrechnet.
„Soa, darauf kommt’s sehr vüll an; dös werd’ i Ihna beweisen!“
„Nicht doch, sondern das Wesentliche ist natürlich, daß die anderen nun, wie erwartet, die Frage stellen: Sooo, Sie kennen diese Frau persönlich? Wie interessant muß das sein!“
„Hören S’ endlich auf mit dem Unsinn, i versteh’ kein Wort von allem, und das mit der Kunst is ’ne Schweinerei, wenn’s woahr is; woas versteht denn der?! I laß mi a net vorstellen, fallt mi im Traum net ein; i wüll mei Ruah’, wenn i auf Gesellschaft bin, und krauchen koann i net! Adjes!“ und er stürzte, ohne sich verabschiedet zu haben, hinaus.
„Jetzt haben Sie den einzig vernünftigen und anständigen Menschen auch noch hinweggescheucht“, sagte Helldorf.
„Erlauben Sie mal, ich bin auch noch hier!“ erwiderte Krohn und schüttelte sich vor Lachen.
„Zum Kotzen! Ich möchte auch fort!“ wiederholte Helldorf, an den Frau Traute soeben herantrat. Sie bat, ihn der Familie Deutz vorstellen zu dürfen.
Das gibt ’ne Katastrophe! dachte Krohn, denn er kannte die rücksichtslose Offenheit Helldorfs.
Es zeigte sich, daß Deutz’ Sohn und Helldorf sich längst kannten; aus den Klubs, vom Rennen, aus offiziellen und inoffiziellen Gesellschaften.
„Sie sind gewiß ein begehrter Gast auf Wohltätigkeitsfesten“, meinte Frau Traute, zu Helldorf gewandt. „Sie wissen ja wohl, daß unter dem Protektorat Seiner Königlichen Hoheit von Thurn und Taxis, unter Frau Deutz’ Leitung am Mittwoch im Kaiserhof der große Bazar stattfindet.“
Ehe Helldorf erwidern konnte, drückte Frau Generalkonsul Deutz ihr die Hand und sagte:
„Richtig, gnädige Frau, ich vergaß ganz, Ihnen für die ungewöhnlich schönen Geschenke zu danken, die Sie mir auch für diesen Bazar wieder gesandt haben.“
Frau Traute wehrte ab. „Ich bitte Sie, nicht der Rede wert.“
„Sie übertreiben Ihre Bescheidenheit. Allein die Goldsachen werden Tausende bringen.“
„Und die wundervolle Wäsche!“ meinte die ältere Tochter.
„S’ ist eine ganze Aussteuer!“ sagte die dritte.
„Wenn es Ihren Beifall findet, so ist der Zweck erfüllt“, lächelte Frau Traute und war zufrieden.
„Ich dachte, es wäre für die Armen?“ warf Helldorf ein.
„Gewiß!“ meinte Frau Deutz etwas verlegen.
Einige besonders ehrgeizige Damen, die anfangs ziemlich abseits standen, waren unauffällig der kleinen Gruppe näher gerückt, so daß sie sich an dem Gespräch beteiligen konnten. Sie wetteiferten in dem Verlangen, auch ihrerseits für den Bazar beisteuern zu dürfen. Frau Konsul Deutz akzeptierte mit verbindlichem Lächeln, auf dem doch leise Ironie lag, bis sie fast beschämt abwehrte: „Kein Platz mehr, meine Damen, unmöglich.“
Hilde stand starr. Wie bereitwillig sich die Hände jetzt öffneten. Erst gestern hatte ihre Mutter einen alten Bettler, der um nichts weiter als ein bißchen warmes Essen gebeten hatte, aus dem Hause gejagt und kreischend geschrieen: „Jetzt bedreckt einem das elende Pack noch die Läufer! Hinaus mit Ihnen!“ Und dieselben Damen, die sonst mitleidslos alles, was nur von weitem an Armut erinnerte, voll Ekel von sich fernhielten, wetteiferten jetzt darin, „die Not anderer zu lindern“. Denn so stand’s ja wohl in dem Aufrufe, den das Komitee versandte. Die Damen, deren Bitten, zu dem Bazar beisteuern zu dürfen, von Frau Generalkonsul Deutz gnädigst erhört worden waren, bildeten festlich gestimmt einen kleinen Kreis um den Kamin und diskutierten lebhaft ihre Toiletten. Als aber eine Dame, die noch bei Frau Deutz stehen geblieben war, erregt und erhitzt heranstürzte und sagte, es sei durchaus nicht ausgeschlossen, daß die Prinzessin Leopold und Tochter den Bazar besuchen würden, da erhitzten sie sich immer mehr, und trotz der Kürze der Zeit entschloß sich nun mehr als eine im stillen zu einem neuen Kleid.
Keine der Damen kannte den Zweck der Veranstaltung, für die sie so bereitwillig große Opfer brachten. Keine legte auch nur Wert darauf, ihn zu erfahren. Ja selbst Frau Traute gab auf Helldorfs wohlberechtigte Frage, wer denn die Glücklichen seien, die mit all den schönen Dingen überschüttet werden sollten, die ungenierte Antwort: „Irgendeine Krippengeschichte, glaube ich“, worauf Hilde erwiderte: „Aber, Mama, der Bazar ist doch für den Erweiterungsbau der Kaiser-Friedrichkirche.“
Nicht im geringsten verlegen, erwiderte Frau Traute: „Auch möglich, ich wußte nur, daß es irgend so ’was ähnliches war.“
„Wir dürfen also auf Sie zählen, Herr Helldorf?“ fragte Frau Deutz; „ich werde Sie mit dem Prinzen Joachim bekannt machen.“
„Ich bin ohne gesellschaftlichen Ehrgeiz, gnädige Frau.“
„Trotzdem werden Sie nicht bereuen, dagewesen zu sein.“
„Ich finde es widerwärtig, sich einer Gesellschaft aufzudrängen, in die man nicht hineingehört. Die Rolle des Geduldetwerdens, die man dann spielt, setzt völligen Mangel jeder Selbstachtung voraus. Wenn man sich das Recht oder besser die Möglichkeit aber gar mit Geld erkauft wie hier, so ist das sicher nur etwas für Leute mit niedriger Gesinnung.“
Die letzten Worte sprach Helldorf laut. Alle, die sich getroffen fühlten — und außer den Schriftstellern, Künstlern und Hilde waren es alle — standen starr, wie vor einer Katastrophe, der zu entrinnen es keine Möglichkeit mehr gab. Obschon Frau Konsul Deutz ihm mit Freuden die Hand gedrückt und für diese Worte, die in die Verlegenheit dieser Gesellschaft hell wie die Sonne in ein dunkles Versteck von Verbrechern hineinleuchtete, gern gedankt hätte, mußte sie doch weiter Komödie spielen und meinte:
„Sie werden niemand sehen, der Ihnen gesellschaftlich unerreichbar wäre.“
„Ich lehne seit Jahren jede Bekanntschaft im Klub und auf Reisen mit Leuten ab, bei denen ich vermuten muß, daß sie mich für bestimmte Zwecke oder in einem bestimmten Milieu freundschaftlich behandeln, mir aber Ihre Salons entweder ganz verschließen oder mich doch nicht für voll ansehen.“
„Das alles sind doch aber Dinge, die bei Ihnen gar nicht in Frage kommen.“
Die Situation war auf das äußerste gespannt, und Fritzchen Krohn rechnete in diesem Augenblick bestimmt auf eine Entladung. Auch Frau Deutz schien ähnliches zu befürchten, denn sie fiel ihm, als er eben reden wollte, ins Wort, was durchaus nicht die Gewohnheit dieser vollendeten Dame war.
„Ihre Auffassung ist ja durchaus berechtigt, aber gerade in Fragen der Wohltätigkeit darf man schon ...“
Helldorf hatte längst auf diese Wendung gewartet.
„... mit der Eitelkeit gesellschaftlicher Streber Geschäfte machen,“ beendete er den Satz, „und ihnen vortäuschen, sie gehörten nun, wenn auch nur auf Stunden, zur Gesellschaft der fürstlichen Veranstalter. Gewiß; denn würden Sie statt auf die Eitelkeit etwa an das Mitleid appellieren, — — es wäre mindestens naiv und Sie bekämen keinen Pfennig.“
„Und die Ärmsten müßten verhungern“, sagte Hilde, „ohne daß sich auch nur ein Finger von all den Händen rühren würde, die sich hier geradezu darum reißen, mitzutun.“
Sie war in großer Erregung und hatte das Gefühl, daß dieser Mann, der es hier wagte, die Wahrheit zu sagen, in die Höhe wuchs, weit über all die andern hinaus, so daß er für keinen mehr erreichbar war. Sie sah, wie die andern erst verlegen, dann hilflos in sich zusammenkrochen und klein und winzig wurden. Sie bewunderte ihn, und ihr war’s, als sei sie die einzige, die frei und ohne Scham dastehen und ihm in die Augen blicken durfte.
„Wohlzutun“, verbesserte Frau Traute ihre Tochter.
„Nein, aber eine Rolle zu spielen, Hofluft zu atmen, von sich reden zu lassen oder gar, und das ist das Ziel höchster Opfer wert, im Zusammenhange mit Leuten genannt zu werden, die gesellschaftlich höher stehen als sie selbst“, erwiderte Hilde.
„Als gleichberechtigt anerkannt aber werden sie nie, und trotzdem werden sie ewig wie die Lakaien vor ihnen herumkriechen“, stimmte Helldorf ihr bei.
„Gewiß werden sich die gesellschaftlichen Gegensätze niemals ausgleichen lassen“, meinte Frau Deutz.
„Sollen sie auch nicht. Es wäre gräßlich, wenn diese Kriecher und Streber auch schließlich noch Erfolg haben sollten.“
„Der ganze Witz wäre verdorben“, meinte Fritz Krohn, der zu glücklich über diese Helldorfiade war, um länger den Mund halten zu können.
„Es soll nur jeder da bleiben, wo er hingehört,“ meinte Helldorf, „und dann, wenn sie wüßten, wie lächerlich sie sich gerade da machen, wo sie wirken wollen.“
Abermals suchte Frau Deutz zu vermitteln, doch Helldorf ließ es nicht zu.
„Aber warum denn, seien Sie doch ehrlich, gnädige Frau. Sie amüsieren sich doch untereinander köstlich über dieses verkümmerte Gewächs und haben vor Ihrem Gesinde mit einem geraden Rücken mehr Achtung als — man kann es nicht anders bezeichnen — vor diesem Gesindel!“
„Prachtvoll! Ausgezeichnet!“ wieherte Krohn, „nennen wir die Wohltätigkeitsbälle von heute ab Gesindelbälle!“
Alles gab sich Mühe zu lachen. Frau Traute hatte längst erkannt, daß nur ein radikales Mittel einen gesellschaftlichen Skandal verhindern konnte. Sie überlegte.
„Fall’ in Ohnmacht!“ sagte sie leise zu Hilde.
„Ihr alle hättet Grund dazu, ich nicht“, gab sie zur Antwort.
Helldorf war mit seinem Erfolge zufrieden. Er hatte Ohrfeigen verteilt und kein einziger hatte sich zur Wehr gesetzt, auch nur den Versuch dazu gemacht. An einem Skandal lag ihm nichts, so wenig, wie an dieser ganzen stillosen Gesellschaft. Sie mochten auf ihre Art selig werden oder verkommen. Letztes war ihm freilich lieber. Doch im Grunde, was kümmerten sie ihn? Er kämpfte für etwas anderes, Wertvolleres.
Es war nicht nur sein Renommée, das auf dem Spiele stand. Die Sorge hatte er nicht. Er wollte sich verpflichten, seinem Kontrahenten nach Ablauf eines Monats statt einer, ein halbes Dutzend solcher Damen der sogenannten Gesellschaft zu offerieren. Der konnte dann wählen, welche gelten sollte. Hier allein gab’s brauchbare Auswahl in Fülle. Nein! Diese Wette reizte ihn längst nicht mehr. Sie schien ihm um so geschmackloser, je leichter sie zu gewinnen war. Was ihn reizte, war diese Hilde, und was er hier unternahm, geschah ihretwegen. Er dachte gar nicht daran, weiter zu gehen und einen Skandal zu provozieren, der ihn für diesen Abend bestimmt um jede Chance brachte. Eine exponierte Stellung wollte er sich schaffen, wollte, daß dieses Mädchen, das er in diesem Augenblick aufrichtig begehrte, die Distanzen fühlte, die zwischen ihm und der ganzen Gesellschaft lagen.
Längst, bevor sie ihm beisprang, fühlte er, daß es gelungen war. Er war nun nicht mehr der erste beste Tischherr, der mit mehr oder weniger Geschick eine kluge Unterhaltung führte, dessen temperamentvolle Attacken ihm wohl für den Augenblick einen Erfolg vor einem anderen sicherten und ihm bei wirksamer Fortführung Aussicht gaben, früher oder später einmal zum Ziele zu gelangen. Diese Stümperarbeit des gesellschaftlichen Ritters vom Durchschnitt lag ihm nicht. Er mußte die Herrschaft haben, bevor das erste Wort von Liebe fiel. Und er wußte, ohne Balzac zu kennen, genau, daß man dadurch sich bei Frauen am wirksamsten Achtung und Neigung verschafft, indem man diejenigen der Lächerlichkeit preisgibt, die bisher in Geltung und Ansehen standen.
Er lenkte also ein und stellte sich Frau Deutz gern zur Verfügung, sobald es sich um Arme und Kinder handelte, denen ohne Frack und festliche Veranstaltung zu helfen sei. Und er gab der Gesellschaft ihr Gleichgewicht und bald auch die frühere sichere Haltung zurück, indem er den neuesten Klatsch vom Hofe zum besten gab und breit die Episode von der Zuckerbüchse erzählte, in die ein Offizier bei einem Mahl des Prinzen Leopold mit dem Finger griff. Und welche Komplikationen daraus entstanden seien. Und daß man eben beizeiten lernen müsse, mit der Zuckerzange umzugehen.
So kehrte die Stimmung zurück, wenngleich der eine und andere auch dies wieder persönlich nahm und auf sich bezog.
Daß er Hildes Arm nahm und sie zu Tische führte, war nur selbstverständlich.
„Das war tapfer von Ihnen“, sagte Hilde und dachte, wie geborgen sich eine Frau unter dem Schutze dieses Mannes fühlen müsse.
„Schlimm genug, wenn sich die Gesellschaft heutzutage so aufführt, daß ein besonderer Mut dazu gehört, um ihr die Wahrheit zu sagen“, erwiderte Helldorf.
„Ich bekomme sie hier nie zu hören“, entgegnete Hilde.
„Das glaube ich Ihnen gern.“
„Und habe doch solch Verlangen danach.“
„Das braucht ja nicht gerade von Ihren Eltern gestillt zu werden.“
Sie suchten ihre Plätze am unteren Ende der Tafel. Rechts von ihr hatte der Graf seinen Platz. Er war das Dekorationsstück, das auf keiner Gesellschaft fehlte; schweigsam, wenig intelligent und auch nicht kritisch, wirkte er als Träger eines guten gräflichen Namens, wie durch seine aristokratische Erscheinung äußerst dekorativ und glich einige Schönheitsfehler aus, die der Salon aufwies, und die man aus verwandtschaftlichen und geschäftlichen Rücksichten nicht vermeiden konnte.
Warum, wieso, weshalb man ihn hier traf, wußte der kleine Krohn; der fand ihn wirksamer als Schmuck und meinte, man habe ihn erst angeschafft, als kein Platz für Brillanten und Perlen mehr dagewesen sei. An seiner Echtheit sei nicht zu zweifeln; er selbst habe den Stammbaum gesehen. Übrigens bekäme jeder Gast auf Verlangen eine beglaubigte Abschrift. Perlen könne jeder haben; der Graf aber habe einen Vetter, der Botschafter in London sei. „Wollen Sie noch mehr wissen?“ Und man wußte genug und dankte.
Links von Helldorf saß Erwin Schück, ein Mann von Welt, doch ohne Schulden. Ihm begegnete man auch in besseren Häusern. Helldorf kannte ihn und fragte, durch wen er hierher käme.
„Ich habe mich auf irgendeinem Wohltätigkeitsrummel vorstellen lassen,“ und blinzelnd fügte er hinzu: „man ißt vorzüglich in diesem Hause.“
Helldorf, dem die Nachbarschaft für seine Zwecke durchaus zu interessiert war, schüttelte ungläubig den Kopf, worauf sich Schück zu ihm herüberbeugte und mit Betonung hinzufügte:
„Und billiger.“
Aber Helldorf ließ nicht locker. Auch diese Antwort — zwar war sie blamabel genug — genügte ihm nicht. Er mußte diesen Menschen auf alle Fälle für sich haben.
„Ihr Stammtisch bei Dressel besteht also nicht mehr?“ fragte er ihn und tat erstaunt.
„Gewiß, unverändert. Woraus schließen Sie?“
„Nun, weil nach dem Hellmannschen Statut wer ausbleibt, noch ein Pfund extra in die Kasse zahlen muß.“
„Allerdings!“ gab Schück klein bei.
„Dann haben Sie ein kurioses Sparsystem, oder wie hoffen Sie, den Ausfall hier wieder einzubringen? Vielleicht kann ich dabei nützlich sein?“
Schück tat etwas ungehalten und sagte: „Sie nehmen also an, daß ich einen geschäftlichen Zweck mit meinem gesellschaftlichen Verkehr verbinde?“
„Hier, ja; ich nehme es an und Sie bestätigen es mir“, und leise fügte er hinzu: „ich fände es auch unnatürlich, wenn es anders wäre. Sie bleiben als Ausschußmitglied der wichtigen Konferenz dem Automobilklub fern, um hier — ne, ne, Schück —“, und er tat sehr kameradschaftlich, nahm sein Glas: „darf ich auf gutes Gelingen mit Ihnen anstoßen?“
„Sie sind ein Ekel!“ erwiderte Schück erheitert und stieß mit ihm an.
„Also?“ fragte Helldorf, indem er sein Glas niedersetzte.
„Gerade darum bin ich hier“, und trank noch einmal, bis das Glas leer war. „Wir müssen einen anständigen Geldpreis für das nächste Rennen haben. Mir wurde versichert, daß der gesellschaftliche Ehrgeiz dieser Leutchen hier ans Pathologische grenze. Daraufhin ließ ich mich vorstellen und wurde, da ich unter der Hand meine Bekanntschaft mit dem Fürsten Ypsilanti erwähnte, sofort aufgefordert, Besuch zu machen, und öde mich heute hier zum vierten Male in zehn Tagen. Sonntag führe ich noch den Grafen Welsleben ein, der im Falle, daß der Graf mal unpäßlich oder überfüttert ist“ — er sah vorsichtig zu ihm hinüber — „für ihn einspringen muß. Und dann liquidiere ich.“
„Prachtvoll, fabelhaft!“ sagte Helldorf fast laut, so sehr erfreut war er. „Schätzen Sie Ihren Verkehr nur nicht zu tief ein. Ihr Londoner Frack ist geradezu eine gesellschaftliche Sensation und Ihr exotischer Orden“ — er war aus Haiti und noch nicht bezahlt — „würde selbst auf der Brust des serbischen Gesandten Aufsehen machen.“ Er griff abermals zum Glase: „Es lebe der Ehrenpreis des Herrn Behr und seiner Traute im Werte von dreißigtausend Mark!“ Sie stießen vergnügt an.
Schück seufzte: „Wenn der Sieger ahnte, in welchem Schweiße ich den Preis ersessen und ergessen habe.“
„Ich will die Garantie für den Erfolg übernehmen“, sagte Helldorf.
„Was, Sie wollen?“ Schück brachte vor Staunen kein Wort heraus. Helldorf reichte ihm die Hand.
„Wenn es Ihnen gelingt, Ihre Nachbarin bei Tische so zu fesseln, daß sie den ganzen Abend nicht von Ihrer Seite weicht, dann stehe ich Ihnen für die Summe ein.“
„Was haben Sie davon?“ fragte Schück und zögerte noch, einzuschlagen.
„Vielleicht eine Caprice, eine Wette, gleichviel, wollen Sie halten?“
„Mit Vergnügen!“ Und er schlug ein.
„Eine andere Frage, wie ich sie wieder los werde?“
Helldorf lachte: „Vielleicht ist es das, was mich an der Sache reizt.“ Und er war froh, ihn für die paar Stunden bei Tisch von sich und Hilde abgelenkt und ihn auf alle Fälle in seiner Hand zu haben.
Hilde, die auf einen Wink hin ihre Mutter bei der Placierung der Gäste unterstützt hatte, kehrte schleunigst zu ihrem Platz zurück. Ihr schien es ganz natürlich, daß gerade sie neben ihm saß. Als wäre diese Stunde seit Monaten zu einer Aussprache zwischen ihnen bestimmt gewesen, so sicher und selbstverständlich erzählte sie ihm alles, was sie in letzter Zeit erwogen und erduldet hatte. Keinen Augenblick kam ihr der Gedanke, daß sie ihn heute ja zum ersten Male sah.
Er war ihr Freund, das fühlte sie, der mehr wußte und klüger war als sie und der ihr helfen wollte. Und als er ihr sagte, daß es nun aber ihre Pflicht sei, ihm in allem zu folgen, da er sie aus diesem Käfig heraus dem Leben zuführen wolle, so willigte sie freudig ein. „Auf gute Freundschaft“ tranken sie, und sie versprach, von nun an ihm „aber auch alles“ zu sagen. Und sie sagte ihm alles.
Zum ersten Male in seinem Leben war Helldorf völlig erschüttert. Ihm hatte stets das Verständnis für Menschen gefehlt, die Phantomen nachjagten und so zwischen Erfüllung und Enttäuschung hin- und hergeworfen wurden, die sich mit einem großen Aufwand falscher, meist eingebildeter Gefühle von der Wirklichkeit entfernten und statt nüchtern zu rechnen und zu werten alle Dinge so sahen, wie sie für ihre Zwecke wünschenswert waren.
Hier aber stand er vor einem Kinde von sechzehn Jahren, das ohne Selbstheuchelei und ohne ein falsches Gefühl mit einer wunderbaren Klarheit und Sicherheit seinen Weg suchte, dabei seine große Leidenschaft kannte und wußte, welche Gefahren ihr durch sie drohten.
Zwingend und unerbittlich gab sie sich mit einer selbst bei erfahrenen Frauen seltenen Schärfe über jedes Erlebnis, über den geringsten Vorgang in ihrem Leben und seine Wirkung Rechenschaft; kämpfte fortgesetzt gegen die Einflüsse der Mutter, unter denen sie litt, und denen sie mehr als einmal zu unterliegen glaubte. Aber immer von neuem erwies sich ihr Wille zum Leben zu stark, als daß die Furcht vor dem schließlichen Unterliegen sie zum äußersten getrieben hätte. Sie war entschlossen, zu leben. Wie, war die Frage, auf die sie unter Helldorfs Leitung nunmehr selbst die Antwort finden sollte.
„Wissen Sie auch, daß die Lösung für manche für den ersten Blick unverständliche Handlungen auf die Liebe zurückzuführen ist?“ fragte Helldorf.
„Ja, denn ich glaube, daß, wer sich gegen die Liebe nicht schützen, auch seine Grundsätze nicht bewahren kann.“
„Und doch können Sie die Liebe nicht ausschalten, wenn Sie das Glück suchen.“
„So dürfte man also keine Grundsätze haben?“
„Aber gewiß; nur müssen sie so sein, daß sie unbekümmert um alle Dinge des Herzens bestehen können.“
„Das sollte möglich sein? Vielleicht bei kalten Naturen, aber“ — sie errötete leicht — „nicht bei mir.“
„Umgekehrt; gerade Menschen wie Sie werden ihrer Leidenschaft manche glückliche Stunde verdanken, die kalte Menschen niemals kennen lernen. Warum sie sich also durch selbstgeschaffene Gesetze erschweren? Warum vor jedem Genuß warnend die Hand erheben: das darfst du nicht, denn es verstößt gegen deine Prinzipien. Indem Sie gegen diese ankämpfen, zeigen Sie schon, daß sie falsch sind. — Ja, was suchen Sie denn? Doch das Glück? Aber erst, wenn Sie alles kennen, aber auch alles, was die Welt Glück nennt, und es gibt Ihnen nichts, dann erst dürfen Sie die Resignation zum Prinzip erheben.“
„Und wenn ich dann an einem Leben in Saus und Braus, ohne jeden Inhalt, Gefallen und nicht mehr heraus fände, vielleicht nicht mal heraus will? Was dann?“
„Dann sollen Sie in Gottes Namen so weiter leben und nicht verlogen gegen Ihre Natur ankämpfen und nach Idealen langen, die Ihnen zwar edel, aber doch höchst unbequem erscheinen“; und mit Nachdruck fügte er hinzu: „wenn Sie sich in diesem Leben aber wohl fühlen, so entspricht es eben Ihrer Veranlagung und es ist zwecklos, vielleicht gar eine Sünde, dagegen anzukämpfen.“
„So sollte man sich also gar nicht erst bemühen, seine schlechten Instinkte zu bekämpfen?“
„Schlechte Instinkte, das ist so’n schönes Wort, hinter dem man sich alles Mögliche denken kann. Wer sagt Ihnen denn, daß Ihre Instinkte schlecht sind?“
„Mein Gewissen.“
„Hu, hu, Sie werfen ja nur so mit Schlagworten herum; das ist gewiß eine sehr vornehme Sache, das Gewissen, das bei Leuten, die den Erfolg oder, wie Sie, gar das Glück suchen, längst in die entlegenste Rumpelkammer gerückt sein sollte, die man fein verschlossen hält. Aber, wenn es denn sein muß, so rate ich Ihnen, das Gewissen den Instinkten etwas mehr anzupassen. Das geht mit ein wenig gutem Willen und ist bei allen Völkern und zu allen Zeiten gegangen. Instinkt aber ist Naturtrieb. Es ist daher nicht Ihre Schuld, wenn die Welt von heute ihn verurteilt. Machen Sie den lieben Gott dafür verantwortlich oder sonst wen.“
„Trotzdem glaube ich, daß es eine große Befriedigung sein muß, mit Erfolg gegen die Instinkte anzukämpfen.“
„Versuchen Sie ’s, Zweck hat es nicht. Und wenn Sie wirklich mal den sogenannten Instinkt überwunden haben, so wird der Kampf, den es Sie gekostet hat, doch nie in einem vernünftigen Verhältnis zu dem Gewinn stehen. Dann werden Sie wahrscheinlich Ihre besten Kräfte für eine von vornherein verlorene Sache vergeudet haben. Und wer weiß, ob Sie dann noch imstande sind, das Glück, um das Sie Ihr Gewissen jahrelang betrogen hat, in seiner ganzen Schönheit zu begreifen.“
„Also genießen ohne Maß und Überlegung?“ sagte sie langsam und mit starker Betonung, mehr zu sich selbst und sah mit starren Augen vor sich auf den Tisch. Und leise setzte sie hinzu: „Wie Mama — ganz wie Mama — das also ist das Glück?!“
Helldorf hatte sie während der ganzen Zeit fest ins Auge gefaßt, hatte die Wirkung jedes seiner Worte, jede Veränderung ihrer Mienen genau verfolgt.
Zweifellos war ihr nichts neu, was er sagte, sie stand vor der Entscheidung auch ohne ihn, und das nahm ihm das letzte Gefühl der Verantwortung, das an sich nicht gerade stark entwickelt war. Und meinte er es nicht ehrlich? Gewiß war seine Auffassung nicht die ihres Beichtvaters (er vergaß, daß sie Jüdin war), moralischer als die ihrer Mutter wollte er sie schon gestalten. Und er holte zu dem entscheidenden Schlage aus. Er sagte weich, fast bittend:
„Wenden Sie sich zu mir, Sie Liebes, Gutes! Und bitte, bitte, nicht so traurig. Sie haben mich völlig mißverstanden. Von einem Genießen ohne Maß und Überlegung habe ich nicht gesprochen, und gar Ihre Frau Mutter Ihnen als Vorbild zu geben — Sie nehmen’s nicht übel —, hat mir gänzlich fern gelegen. Sie sollen Stellung zur Welt und zum Leben gewinnen; aus sich selbst heraus und unter meiner Leitung, und ein Verbrechen gegen sich selbst begehen Sie, wenn Sie dann auch nur ein einziges Mal gegen Ihre Überzeugung verstoßen, ganz gleich, aus welchem Grunde. Und sehen Sie, diese Überzeugung, der Sie, solange Sie leben, treu zu bleiben haben, ist Ihr Gewissen — Sie glaubten, ich wäre dafür, daß Sie es ausschalten wie Ihre Mutter, oh nein! Der wesentliche Faktor in Ihrem Leben soll es sein, daher kann es auch nicht aus der Kinderstube übernommen, sondern muß durchs Leben errungen werden.“
Er fühlte deutlich, wie Hildes Zuversicht wuchs.
„Nicht furchtsam sein,“ sagte er, und nahm leicht ihre Hand, die auf dem Schoße lag; „nur wer alles wagt, kann alles erringen.“
„Ich will es tun“, sagte sie fest und ließ ihm ihre Hand.
„Ich will Sie führen, und will Sie lieb haben, Hilde,“ dabei drückte er ihre Hand fester; „wollen Sie in allem mir gehorchen?“
Er rückte näher an sie heran und sie fühlte, wie er sie leicht berührte. „So lieb will ich Sie haben, Sie sollen alles vergessen, wenn Sie bei mir sind. Ich will Sie das Glück lehren, das Sie suchen. Wie zwei unabhängige Menschen wollen wir uns lieben. Nach nichts fragen als nur nach uns. Und niemand soll um uns wissen, — nur du und ich.“
„Du!“ sagte sie, und ihre Stimme zitterte. So erregt war sie. Zum ersten Male erwiderte sie jetzt den Druck seiner Hand, die sie mit ihren zarten Fingern fest umspannte. Er beugte sich, als hätte er etwas fallen lassen; und er küßte diese Hand, die immer fester in die seine wuchs und ihm die Leidenschaft verriet des Körpers, der nur den Wunsch nach Einigung noch kannte.
In diesem Augenblick wünschte Frau Traute „Gesegnete Mahlzeit“ und alles stand auf. Hilde saß unbeweglich. Ihr war’s, als strömte es von allen Seiten glühend durch ihren Körper und hielt sie fest. Sie glaubte, sie müsse verbrennen, kam er nicht und trug sie davon und erstickte das Feuer.
Helldorf legte unauffällig ihre Hand in seinen Arm. „Halt’ dich fest!“ sagte er sanft, aber bestimmt, zog sie empor und führte sie sicher durch die Menschen hindurch, aus dem Saal, den Korridor entlang. „Zeig’ mir dein Zimmer!“ sagte er fest. Sie blieb vor einer Tür stehen, die er öffnete, und sie traten in das Zimmer, in dem ihr Bett zur Nacht bereitet stand.
„Du glühst, Geliebte.“ Er preßte den heißen Kopf in seine Hände, sah ihr tief in die Augen. „Du! ... Wie liebe ich dich!“ Er bog sie sanft nach hinten. Sie sank auf das Bett, krampfte ihre Hände fest um seinen Hals, und er besaß sie.
„Du!!“ schrie sie befreit, als die höchste Spannung sich in einem Strom heißen Glückes löste. Er fuhr ihr mit den Händen leicht über die heiße Stirn, küßte sie wieder und wieder und richtete sie auf.
„Du wirst glücklich sein“, sagte er zu ihr.
Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und sah ihm lange und ernst in die Augen:
„Hoffentlich du“, gab sie zur Antwort.
Er ließ sie allein und mischte sich wieder in die Gesellschaft.
Adolf stürzte ihm entgegen.
„Du bist wahnsinnig!“ sagte er. „Eine volle Viertelstunde wart ihr fort.“
Aber schon stand Frau Traute neben ihm. Auch sie suchte ihn längst. Ihn und ihre Tochter. Doch da sie beide vermißte, so war sie zufrieden und vermutete sie friedlich in einer Ecke.
„Endlich finde ich Sie, Herr Helldorf; ich suche Sie die ganze Zeit. Wo haben Sie denn meine Tochter gelassen?“
Er tat erstaunt. „Ihr Fräulein Tochter?“ Und nach einer Pause: „Ich weiß nicht, ob ich ihre Anmut oder ihren Geist mehr bewundern soll. Die erste lohnende Unterhaltung dieses Winters, zu lohnend fast für ein Mahl, das an den Geschmack und an den Verstand gleich hohe Anforderungen stellte.“
Er wußte, daß man in diesem Hause auch über das Essen reden durfte, wußte, daß es sogar erwünscht war, als Frau Traute ihm die Hand reichte und sagte:
„Beweisen Sie durch häufiges Kommen, daß Sie nicht nur galant, sondern auch aufrichtig sind.“
„Ich danke Ihnen“, und er küßte ihr die Hand.
„Fällt es auf, wenn ich gehe?“ fragte er Adolf.
„Allerdings, ganz ausgeschlossen.“
„Wieso?“
„Ich gehe auch,“ sagte Krohn; „ich muß noch zu Gottheins, da ist der zweite Sohn Reserve-Offizier geworden, und da er seitdem keinen Zivilisten mehr sehen kann, ohne daß ihm übel wird, so feiern sie das Ereignis durch ein Kostümfest.“
„Sehr gut!“ sagte Adolf. „Als was kommen Sie?“
„Als Goy, da bin ich sicher, der einzige zu sein. Bajazzos und ähnliches Zeugs findet man zu Dutzenden.“
Helldorf, der ungeduldig war, nahm ihn unter den Arm. „Kommen Sie, wir müssen dem Hausherrn noch die Hand geben.“
„Sie wollen schon gehen?“ fragte der, als sie sich verabschiedeten.
„Wir müssen leider noch weiter“, sagte Helldorf.
„Das ist schade. Ich glaube, meine Frau hat noch eine Überraschung.“ Er zwinkerte verschmitzt mit den Augen.
„Unmöglich,“ erwiderte Krohn; „nach dem Diner.“
Behr lachte laut und unanständig. „Nichts zu essen, Herr Krohn, nur zum Ansehen.“ Und er machte einige unmögliche Bewegungen in den Saal hinein, schmiß das rechte Bein und den linken Arm in die Höhe und drehte sich mit der ganzen Ungeschicklichkeit eines 42er Mercedes um sich selbst.
„Kolossal!“ sagte Krohn. „Ah, ich verstehe, eine sehr nette Idee, daher die Türen zum Eßsaal geschlossen. Gewiß eine Vogelwiese oder ein Jahrmarkt?“
Behr lachte noch lauter: „Ne, ne, meine Tochter.“
Helldorf fuhr leicht zusammen.
„Natürlich als Verkäuferin verkleidet und verschänkt Kaffee, muß entzückend aussehen“, rief der kleine Krohn, der durchaus selbst erraten wollte, worin die Überraschung bestand.
Nun aber wiederholte Behr seine eigenartige Drehbewegung und sagte: „Ne, ne, sie tanzt.“
„Was, Ihr Fräulein Tochter tanzt heut abend? Hier vor all den Leuten?“ Es lag Ekel und Energie in Helldorfs Stimme.
„Nu ja, warum soll se nich tanzen?“ fragte Behr. „Sie tanzt ja nichts Unanständiges.“
Helldorf empfand eine arge Übelkeit. Sie wird nicht tanzen, sie darf nicht! Aber die Mutter wird sie quälen. Ich werde es nicht dulden! Halb vor sich hin murmelte er das. Adolf klopfte ihm auf die Schulter:
„Reiß dich zusammen, August, und geh’.“
„Wenn du wüßtest, rietest du anders.“
„Ich weiß, und darum eben wiederhole ich, geh!“
„Was weißt du?“ fragte er schnell und erstaunt.
„Daß du deine Wette gewonnen hast. Was willst du also hier noch? Du verrätst dich nur durch dein auffälliges Benehmen, dich und sie.“
„Du hast recht, ich werde gehen.“
Aber im selben Augenblick zogen zwei Diener die Flügeltüren zum Speisesaal auseinander. Behr rief:
„Geben Sie acht, meine Herrschaften!“ Und im Hintergrunde des fast dunklen Saals, der von einer Wand zur andern, bis beinahe zur Decke hinauf mit schwarzem Tuch bezogen war, sah man die durch schwaches Licht nur diskret angedeuteten Linien der Frau Traute, die nach dem Muster einer Frankenthaler Porzellantänzerin gekleidet und nicht eben glücklich über Haupt und Schultern einen schneeweißen Shawl von venezianischen Spitzen geworfen hatte.
Mit Bewußtsein war hier wieder viel Geschmack und viel Schönheit um ihre reine und künstlerische Wirkung gebracht.
An Stelle eines ästhetischen Genusses, den der eine oder andere Gast beim Anblick dieses klassisch schönen Bildes vielleicht empfunden hätte, hörte man nun neben dem halblauten, halb geflüsterten „wie geschmackvoll“, „wie apart“ der Frauen, neben dem zaghaften „wie blendend“, „wie entzückend“ der jungen Mädchen, neben dem „Donnerwetter“, „Teufel ja“, „Famos“ der Männer doch, wie hier und da und überall, der eine mit dem andern, über den Geldwert dieses Shawls stritt, der somit zwar das Bild zerstörte, doch seinen Zweck erfüllte.
Und abgesehen von diesem Shawl las Frau Traute mit dozierendem Ernste aus Tauberts faustdickem Folianten Sätze aus dem Jahre 1717 über den Tanz. Wie sie selbst, so verstand auch von den Gästen kaum ein einziger, was gemeint war. Sie ging den Spuren der französischen Tanzlieder, des grand siècle nach, und als das Resultat emsiger wissenschaftlicher Studien verkündete sie dem verblüfften Auditorium, daß sie die Ausgangspunkte der Lieder bei Beauchamps gefunden habe. Für wen der Gäste wirkte diese Eröffnung wohl als Befreiung, als das Ende quälender Zweifel? Wer hatte über dieses oder ähnliches jemals auch nur für Minuten oder angesichts des kultiviertesten Ballettes nachgedacht? Jetzt schienen sie aber alle, — der eine immer vor dem andern — die fachmännische Würde zu wahren und fanden es durchaus natürlich, daß man ihnen das Verdauungsstündchen mit solchen Dingen kürzte.
So war es denn auch unerheblich, wenn von Frau Traute der Musiker Rameau mit dem gleichnamigen Tanzlehrer der Pagen der Königin von Spanien verwechselt, und Beauchamps, von dem noch immer keine Tanzzeile aufgefunden ist, als der erste Tanzliterat gefeiert wurde. Das Wesentliche war ihr ja die Einführung in die Tänze ihrer Tochter, die nun folgen sollten. Marie-Anne Pagès, die unter dem Namen Mademoiselle Deschamps l’aînée als Mitglied des Corps de ballet der Großen Oper bekannt geworden ist, als Vendeuse d’amour aber eine weit größere, von Capon prachtvoll geschilderte Rolle spielte, war ihr Vorbild für die Tänze und weit wesentlicheren Kostüme gewesen, mit denen Hilde heute offiziell in der Gesellschaft debütierte.
„Du mußt eine bestimmte Note haben,“ hatte Frau Traute ihr gesagt, „und darfst nicht als eins der vielen mehr oder weniger genannten jungen Mädchen von Gesellschaft zu Gesellschaft jagen. Da du nicht singen und Klavierspielen kannst, so mußt du tanzen. Das ist außerdem aparter und deine Anlagen sind glänzend.“
Als Frau Traute ihre einleitenden Worte beendet und als ersten Tanz La Bergère d’Alceste angekündigt hatte, trat sie ab.
Ein Meer von Licht strahlte in den Saal. Schmeichelnd und gedämpft tönte die Musik Lullis, wenige Takte, und vor dem Vorhang erschien Hilde als Schäferin „Corset et jupe de toile blanche tamponnés de gaze brochée, à fleurs de différentes couleurs; draperies de toile rose couverte de gaze brochée, garnies de gaze à carraux, agrafées par des guirlandes de fleurs et ornées de noeuds et découpures roses.“ — So stand’s getreu der Caponschen Schilderung auf dem Programm.
Regungslos starrte sie in die Menge. Ihr Blick war leer. Als stände sie unter einer Hypnose. Wie elektrische Funken prickelte die Musik auf ihrem Körper. Sie konnte die Augenlider nicht senken. In ihrem Kopf lag es dumpf und schwer.
Das Publikum glaubte an ein lebendes Bild und klatschte laut Beifall. Ein Backfisch rief: „Miß Lincley von Gainsbourough!“ und wirkte fabelhaft.
Hilde verschwand jetzt alles vor den Augen in weite Fernen und verwischte sich. Als blicke sie weit, weit in tiefe Säle, wo kaum noch erkennbar, viele Menschen durcheinanderwühlten.
„Tanzen!!!“ kreischte hinter der Kulisse Frau Traute. Wie zwei rasend geschlagene Schellenschläge klatschte ihr Schrei in die dumpfe Melodie.
Hilde fuhr zusammen.
Ein paar Dudelsackpfeifer spielten „Belle qui tiens“.
Hilde machte eine biegende Bewegung — eine zweite. Der linke Fuß trat vor, der rechte schloß sich an, und nun tanzte sie leicht und harmonisch eine Arbeausche Pavane. Wund und weh sang sie leise:
„Belle qui tiens ma vie,
Captive sous tes yeux.
Qui m’as l’âme ravie
D’un soubriz gracieux.
Viens tôt me recourir
On me fauldra mourir.“
Das Lied verlosch und Hilde wankte aus dem Saale.
Es gab nur eine Stimme: sie sah bildhübsch aus. Zwar sei das Kostüm sehr kleidsam, und manch eine möchte darin gefallen. Der Tanz? — — Nun ja, welches junge Mädchen verstünde heute nicht den double-Schritt zu tanzen. Menuett sei weit schwerer, und nun gar two steps! „Sie sollten nur sehen, wie meine Tochter two steps tanzt!“ Aber immerhin war doch manch einer ergriffen und spürte, daß hier innerlich mehr erlebt war als ein paar höchst einfache Pas’. Worin dies Erlebnis bestand, darüber waren sich auch wohl diese wenigen, die etwas feiner fühlten, nicht klar, schon da sie sich nicht die Mühe machten, darüber nachzudenken.
Abermals strahlte der Saal und das schwarze Tuch wirkte, als breite sich in die Tiefe ein Riesenraum ins Dunkle. Aus ihm heraus trat Hilde. Bleicher noch als zuvor, und alles Leben schien aus ihrem Körper gewichen. Das Programm erläuterte: Jupe et draperie en forme de trousse de brasseur, le tout de taffetas blanc, imprimé argent; le jupe ornées de trois roues de rubans violet et deux roues sur le draperies; retroussis et bracelets de taffetas jaune imprimé argent; le tout garni de milleret et réseau argent.
Die Gäste klatschten und lobten laut und fast lärmend das schöne Bild. „Le matelot d’Alceste ou le Triomphe d’Alcide von Quinault“, erläuterte Frau Traute. „Ah!“ rief man allgemein, ohne zu wissen warum. Und doch war dieser Hinweis nur zu berechtigt; denn trotz des Kostüms, das Künstlerhände nach einem Aquarell Croquis aus dem Archiv der Oper entworfen hatten, trat doch jedem, der die ganze Schwermut dieses Bildes faßte, Delacroix’ trauernde Griechin auf den Trümmern Missolonghis vor die Augen. Und man gedachte wohl der Verse Lord Byrons, dessen Herz hier beigesetzt ist:
Weint um die Weinende an Babels Strand,
Schutt ist ihr Tempel und ein Traum ihr Land,
Und Judas Harfe weint — ach! sie zerbrach.
Unheiligen das Heiligtum erlag!
Die Musik spielte Weisen von Colasse, aber Hilde stand unbeweglich.
„Tanze!“ rief Frau Traute.
Sie rührte sich nicht.
Und Frau Traute schrie laut: „Sarabande!!“
Schwermütige Musik setzte ein. Hilde fühlte, wie langsam die Starrheit von ihr wich. Ihr schlanker Leib dehnte sich, man sah förmlich, wie die Haut sich spannte. Als führe ein schneidender Schmerz durch all ihre Glieder, so streckte sich der schmale Körper. Dann fühlte sie, wie ihr das Blut heiß wieder durch die Adern schoß. Alle Nerven erwachten, als wären sie plötzlich von schwerer Lähmung befreit. Die große Schwermut wich. Ihre Augen lebten. Sie begann zu tanzen. Kühn und übermütig steigerte sie, mit der Sarabande beginnend bis zur Volte, riß die Dudelsackpfeifer mit sich, die immer lärmender und schneller wurden. Sie tanzte die wehrende Daphne Chassérians, deren nackte Schönheit begehrend mehr als widerstrebend den Liebe bettelnden Apoll umflutet. Mänadisch heben und senken sich Kopf und Arme; wie in einem Wirbel rast sie dahin und erinnert in ihrer akrobatischen Kunst an Jules Chérets unvergleichliches Gemälde „Die Musik“. Doch nur für Augenblicke, und auch diese Grenzen sind übersprungen. Es folgt die Ekstase. Wie in Schmerzen hebt und senkt Hilde sich zur Erde, wirft blitzschnell beide Arme in die Höhe, als risse sie ein Kind empor vor dem Verfolger. Wie Säulen weißen Marmors ragen bleich und starr die Arme in die Luft. Jeder Muskel ihres Gesichtes, ihrer Arme spannt sich zur höchsten Kraft. Sie reißt die Augen auf und bohrt sie wie Nadeln in die starre Menge, die nichts begreift und nie geahnt, daß auch Rodin seinen Purgatoire voll aus dem Leben schöpfte. In letzter Spannung glaubt sie das Kind vom Fegefeuer sich entrissen. Entsetzen packt sie. Wie schwere Tränen gleiten ihre Hände durch die Haare. Sie fährt empor. Rasend schlägt sie wieder zu Boden. Eine Ropsiade! Ecce diabole mulier! Da verstummen die Dudelsackpfeifer vor Grauen, und in ihre letzten Töne mischt sich Hildes erlösender Schrei: „Ah! Du!!“ Dann fällt sie platt zur Erde und wird ohnmächtig hinausgetragen.
„Die zweite Duse!“
„Sie hat sich zuviel zugemutet!“
„Die Sada Yacco ...!“ flüstern die Gäste und entfernen sich leise; wissen nicht, ob sie beim Abschied begeistert sein oder „Gute Besserung“ wünschen sollen. Unten erst lösen sich Unbehagen und Spannung.
„Sie ist hysterisch!“
„Ach was, hysterisch! Meschugge is se! Kinder gehören ins Bett!“
Adolf packte Helldorf in ein Auto und in der Kannenbergschen Nische bringt er ihn bei etwas Tartar mit Kaviar und einem Glase Röderer Extra dry wieder zur Ruhe.
Frau Traute gehörte zu den wenigen, auf die der Tanz tief und nachhaltend gewirkt hatte. Sie war völlig erschöpft, als sie mit letzter Kraft ihrer Tochter ins Bett half.
Sie hatte anfangs geglaubt, daß Hilde aus Trotz und Eigensinn nicht tanzen wollte. Als sie zu ihr ins Zimmer gekommen war, um ihr zu sagen, daß sie vorzukommen und zu tanzen habe, hatte sie ihr Kind mit gefalteten Händen auf seinem Bette gefunden. Als ob sie betete, noch den Kopf zurückgeworfen, die Augen nach oben gerichtet, saß sie da und glich dem Bilde einer Heiligen. Sie hatte sie mit Hilfe der Jungfer gewaltsam emporgerissen; die zufriedene Ruhe auf Hildes Gesicht hatte sie nur noch mehr gereizt. „Mach’ dich nicht so schwer!“ brüllte sie laut. „Rühr’ dich!“ Aber Hildes ganzer Körper blieb unbeweglich.
Als die Gäste fort waren und Frau Traute sich in großer Angst mit ihrem kranken Kind beschäftigte, da trat ihr diese Szene, die kaum eine halbe Stunde zurücklag, wieder vor die Augen. War sie denn blind gewesen? Mußte sie nicht sehen, daß ihr Kind krank war?
Und als sich Hilde dann wie rasend und ohne Rücksicht auf mühsam ihr beigebrachte Choreographie wie eine Mänade im Tanze berauschte, da hatte sie trotz der Schnelligkeit der Bewegungen deutlich die Verzerrungen ihres Gesichts erkannt, die in immer wachsender Begierde bei ihrem Zusammenbruch sie wie ein erotisches Delirium angemutet hatten. Als der Sanitätsrat Sörges kam, ging die Ohnmacht gerade vorüber. Er fühlte Puls und Kopf, verschrieb Umschläge auf Stirn und Herz.
„Nicht der geringste Anlaß zur Beunruhigung“, sagte er. „Der erste Ball, ich bitte Sie, gnädige Frau, es ist bei Ihnen ja auch noch nicht allzu lange her“ — sie wehrte geschmeichelt ab — „viel anders wird es Ihnen auch nicht gegangen sein. Vielleicht auch etwas zu hastig und zu viel Alkohol, um das Ballfieber schneller zu löschen.“
Behr lachte laut. „Richtig, Herr Geheimrat, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie hätten nur sehen sollen, wie sie getanzt hat!“
Der Sanitätsrat war sehr befriedigt. „Sagt’ ich’s nicht, meine kleine Patientin, da haben wir’s. Ja, ja, man ist nicht umsonst achtunddreißig Jahre lang Hausarzt, um nicht mit solchen Dingen Bescheid zu wissen.“
Dann nahm er ihre Hand, hielt mit der andern ihre Stirn und sah ihr in die Augen:
„Ganz klar, nicht wahr, mein kleines Fräulein, jetzt sind wir wieder ganz die alte. Es hat ja alles wunderschön geklappt heut abend, nur beim Tanzen hat man sich etwas zuviel zugemutet.“
Und als sie ihn ansah, als verstände sie nicht, was er meinte, fügte er hinzu:
„Aber seien Sie unbesorgt, gefallen haben Sie. Und das ist ja die Hauptsache. — Ja, ja, aller Anfang ist schwer ...“ Und damit wandte er sich wieder Herrn Behr zu.
„Keine Rose ohne Dornen“, sagte der, obschon es keinen Sinn hatte.
„Sehr wahr!“
„Herr Behr, beruhigen Sie nur Ihre Gattin.“ Er gab beiden die Hand und empfahl sich.
Frau Traute glaubte gern, was sie wünschte; indes letzte Zweifel blieben ihr doch. Sie rief sich jede Phase des heutigen Abends wieder ins Gedächtnis. Es war ein Erfolg, konstatierte sie, trotz allem, und der Eindruck, den Hilde gemacht hatte — mag man über den Tanz denken wie man will — war ohne Zweifel kein geringer. Helldorfs Komplimente waren mehr gewesen als bloße Schmeicheleien, sie kannte die Männer zur Genüge und täuschte sich nicht, daß er ein anderer war, als sie ihn lange nach dem Essen nach ihrer Tochter fragte; da war der weltsichere Mann für Augenblicke beinahe verlegen gewesen. Das alles brachte Frau Traute wieder in Stimmung. Sie sagte Hilde sehr zärtlich gute Nacht:
„Und wenn dir August Helldorf im Traum erscheint, so grüß’ ihn.“
Hilde fuhr in die Höhe, und sehr erregt fragte sie: „Wieso glaubst du, daß er mir begegnet? Er soll mir nicht begegnen!“
Frau Traute streichelte sie: „Äffchen!“ So sehr hat er dich erregt? Schlaf nun, wir wollen morgen weiter darüber sprechen.“
„Ich will nicht mit dir von ihm sprechen! Mit niemandem!“
„Er hat mir aber von dir gesprochen.“
Erstaunt und enttäuscht wiederholte Hilde: „Er hat mit dir über mich gesprochen?“ Sie ließ ihr Köpfchen leicht sinken und sagte dann traurig: „Warum tat er das?“
„Weil ich ihn danach fragte.“
„Wonach hast du ihn gefragt?“
„Ob er mit dir zufrieden war.“
Fieberhaft verlangte alles in Hilde nach Antwort. Sie beugte sich vor, so daß ihr Gesicht ganz nahe an dem der Mutter war, sie hob die Arme halb hoch und spreizte die Finger wie lauter Fragezeichen auseinander, riß weit die Augen auf und bewegte die Lippen. Aber sie fragte nicht.
Und Frau Traute sagte: „Er fand dich klug, siehst du, und charmant — du hast ihm gefallen.“
„Mutter!“ schrie Hilde hell und freudig, fiel ihr zum ersten Male in ihrem Leben um den Hals und sagte tief heraus: „Ich bin ja so glücklich!“
Frau Traute umarmte sie, klopfte ihr leicht auf den Rücken und sagte: „Siehst du, bist du’s, mein Kind, endlich!“
Dann löste sie Hildes Umarmung, legte sie in die Kissen, deckte sie zu, gab ihr die Hand und sagte:
„Du sollst ihn haben, ich will ihn dir verschaffen.“
Sie löschte das Licht und ging hinaus.
Hilde richtete sich wieder auf, die Augen weit geöffnet, in denen ein weicher Schimmer, hell wie das Glück, lag. So saß sie da. Dann schüttelte sie leicht und bestimmt den Kopf: „Du nicht, Mutter, nein, du nicht. Aber ich!“ Und ihre Lippen lächelten zärtlich: „Ich habe ihn ja! Ich habe einen Menschen!“
Sie faltete die Hände und schlief ein.
In dieser Nacht war Hilde glücklich.
„Please, Sir.“
Helldorf fuhr aus dem Schlaf, hob den Kopf, versuchte die Augen zu öffnen, und brummte: „Ja, was is denn?“ „The bath is ready“, sagte sein Diener und hielt ihm eine Pyjama aus Kamelhaar hin.
„Ach Sie, Henri.“ Er gähnte, und der Diener hielt sich die Hand vor den Mund.
Henris Manieren waren mustergültig. „Sie sind mein business“, war seine ständige Redensart, und er hatte recht. Denn er wußte, daß die Herren ihn nur so lange behielten, bis sie ihn ausstudiert hatten. Er verlangte zwei Pfund die Woche und außerdem freie Kleidung; das war ungefähr nochmal das gleiche. Dafür war er seit nunmehr drei Jahren bemüht, den Berliner Herren, denen er diente, die Manieren eines englischen Gentleman beizubringen.
„Schon neun Uhr?“ fragte Helldorf und faßte an den Kragen seiner Pyjama, da Henri seit mehreren Sekunden intensiv auf diese Stelle starrte. Er rückte mit leisem „ach so!“ die oberste Quaste zurecht, die sich verschoben hatte.
„Yes, Sir.“
„Sprechen Sie deutsch! Wie oft soll ich Ihnen das sagen?“
Helldorf sprach laut, und Henri erwiderte:
„Ich höre, Herr.“ Das klang aber mehr, als meinte er, daß Helldorf leiser sprechen dürfe. Henri öffnete die Tür zur Badestube, in der ihn der Masseur erwartete.
„Morjen, Rebsch!“
„Guten Morgen, Herr Helldorf!“
„Ich bin wie gerädert heute. Sie müssen mich ordentlich wieder zurechtbügeln.“
„Wird gemacht, Herr Helldorf.“
Helldorf setzte ein Bein in die Wanne.
„Brr! Ist das kalt.“
Rebsch lachte: „Ja, ja, die schönen Zeiten sind vorüber.“
„Welche Zeiten?“ fragte Helldorf, froh, einen Grund zu haben, um noch einen Augenblick in der Wanne stehen zu bleiben.
„Na, ich meine, die heißen Bäder.“
„Ach so — ja, Sie haben recht — aber Henri erklärt,“ und dabei glitt er langsam immer tiefer in die Wanne, „in London bade man bei 22° und da gibt’s nichts dagegen. Huh, huh,“ — und er setzte sich ganz hinein, — „verflucht, brr! — Übrigens, Henri hat recht — im ersten Augenblick freilich — aber! Es erfrischt und (er fror furchtbar) das heiße Bad macht schlapp.“
Kaum saß Helldorf regelrecht in der Wanne, als Henri herantrat und wie jeden Morgen den Hörer des Telephons, das außen an der Wanne angebracht war, abnahm.
„Darf ich?“ fragte Henri.
„Bitte!“ sagte Helldorf, und Henri rief.
„Nummer 12642!“
Sofort plantschte Helldorf mit dem rechten Arm aus der Wanne, entriß Henri den Hörer:
„Ne, ne, um Himmelswillen! Die heute nicht. Da, hängen Sie an!“ Und er wollte ihm den Hörer zurückreichen. Henri aber war entsetzt zur Seite gesprungen und tupfte, wie eine Dame, der der Kellner Bratensauce über die Balltoilette gegossen hat, langsam jeden Wassertropfen von seiner Livree.
„Kaffer!“ rief Helldorf ihm zu, und trennte selbst die Verbindung.
„Verzeihung, Herr, aber ich konnte nicht ahnen — — denn seitdem ich in den Diensten des gnädigen Herrn stehe — das sind heute drei Monate — ...“
„Gratuliere!“ unterbrach ihn Helldorf.
Henri verbeugte sich leicht, „... muß ich jeden Morgen zuerst die Verbindung mit dem gnädigen Fräulein Lizzy herstellen.“
„Ne, ne, natürlich konnten Sie das nicht wissen. Sie klingeln nachher an und sagen, ich wäre mit dem Grafen Bredow zur Jagd. Ich brauche den Tag und kann sie heute nicht sehen.“
„Gewiß, ich verstehe“, sagte Henri, und trat vorsichtig wieder an den Apparat.
„Nun Dr. Burg!“
Und Henri verband und reichte ihm zaghaft den Hörer.
„Hallo, Adolf!“
„Na danke, so so ...“
„Erst gegen Morgen, und dann, kaum eine Stunde.“
„Ne, im Gegenteil, ich sitze schon in der Wanne.“
„Frage Henri, der ist gegen jede Veränderung in der Zeiteinteilung.“
„Na, zum Gratulieren scheint mir die Sache gerade nicht.“
„Ne, keine Spur. Ich habe seit Jahren keinen Moralischen mehr gehabt.“
„Das schien dir selber nur so. Das war so’n furchtbares Milieu, und da hob sich das andere so vorteilhaft heraus, daß es so’ne Art von Reinheit und Heiligkeit bekam.“
„Allerdings, längst verloren.“
„Eigentlich hast du recht; es ist mal so etwas, was so ganz aus dem Rahmen fällt.“
„Darum klingle ich an. Ich kann doch die Lizzy nicht von heut auf morgen abschaffen.“
„Unsinn, wer weiß. Bedenke die Jugend. In zwei Tagen irgendeine Unvorsichtigkeit, die Eltern erfahren’s und aus ist es. Dann bin ich die Lizzy auch los.“
„Bei Lizzys Eifersucht und Raffiniertheit hat sie’s beim zweiten Male heraus.“
„Famos, du bist ein Engel! Und du begleitest sie, dann bin ich sicher.“
„Erlaube mal, das ist doch keine Beleidigung.“
„Ich bitte dich, der November in Paris ist einfach fabelhaft. Wenn du wüßtest, wie ich euch beneide. Ich darf gar nicht d’ran denken. Jetzt einen Lunch auf der Pré Catelan ...“
„Solange das hier dauert.“
„Aber ich bitt’ dich! Entweder ist diese kleine Frau weit über ihre Jahre verständig — so scheint’s beinahe, nicht wahr — na, und dann wird’s eben eine Dauersache und du bringst Lizzy die Chose drüben in aller Ruhe bei; am besten natürlich, indem du sie gleich standesgemäß unterbringst. Guzmann Blanco besitzt darin ein unerhörtes Talent, Avenue Hoche 16.“
„Unsinn, du wirst es ihr eben beibringen. — Langweilt mich die Chose hier aber, oder sie geht anderswie futsch, dann drahte ich und ihr kommt zurück. Natürlich, ich bringe euch an die Bahn. Du erledigst also inzwischen alles.“
„Sehr gut. Adjes!“
„Hallo, du! Noch eins! Den Guzmann suchst du natürlich nicht auf, bevor ich genau weiß, daß die Sache hier Essig ist. Sonst bin ich die Lizzy unwiederbringlich los. Wenn der sie erst in die Finger bekommt! ...“
„Ne, ne, Vorsicht also! Au revoir!“
Er reichte Henri den Hörer.
„So, das ist alles für den Augenblick.“
Dann stieg er aus der Wanne, Henri trat einige Schritte zurück und Rebsch hielt ihm das warme Laken vor.
„Eine Palast-Revolution?“ fragte Rebsch und gönnte sich einen Augenblick Muße.
Ein empörter Blick Henris traf ihn ob dieser Indiskretion.
„In Aussicht“, erwiderte Helldorf und grinste. Er wies auf die Kniekehle hin: „Hier bin ich noch naß.“ Rebsch trocknete.
„So — bei dem Mangel an brauchbarem Material“ — dabei legte er sich auf die Chaiselongue, über die ein Laken gebreitet war — „kann man gar nicht vorsichtig genug sein.“
„Aber ich bitte, für Sie, Herr Helldorf, kann’s doch keine Schwierigkeiten haben.“
„Gerade“ — Rebsch massierte ihn und rieb den ganzen Körper mit Crême de Lentheric ein — „sehen Sie, bei mir heißt’s immer: der reiche Helldorf. Jede Frau, mit der ich in Berührung komme, denkt an nichts weiter als ans Geld und kommt vor lauter Rechnerei gar nicht auf den Gedanken, daß es zum mindesten nicht hinderlich ist, wenn man bei derlei Verrichtungen, denen ich übrigens als letzter jeden geschäftlichen Charakter abspreche, auch ein bißchen Liebe mitspielen läßt.“
Rebsch schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie übertreiben.“
„Fällt mir nicht ein! Fragen Sie Henri, der weiß es. Hier denken meist alle so, nur ich bin der einzige, der sich selbst nichts vormacht. — Ist’s nicht so, Henri? Wie war’s bei den früheren Herren?“
Henri war außer sich.
„Reden Sie, Henri!“
„Der gnädige Herr wollen mich auf die Probe stellen.“
„Was will ich?“
„Der gnädige Herr wollen sich von meiner Diskretion überzeugen.“
„Ach! Fällt mir nicht im Traum ein. Ihre Diskretion ist mir höchst langweilig. Sehen Sie, Rebsch,“ — und er wies auf Henri, der immer verlegener wurde — „das da sind die Leute, die geliebt werden; wo man nach dem Gelde nicht fragt; das heißt natürlich die Frau, der Mann fragt schon.“
Rebsch wand sich vor Vergnügen.
„So’n Mensch braucht gar nicht zu reden oder er kann die ganze Zeit über englisch sprechen und die Frau braucht kein Wort zu verstehen, nur um so besser. Aber so müssen sie aussehen, — gerade wie Henri, —“ — der wußte vor lauter Verlegenheit sich gar nicht zu bewegen, — „überlegen und resigniert! Das sind die beiden Eigenschaften; wenn sie die haben, und Henri hat sie, dann wird sie jede Frau lieben. Nicht wahr, Henri? So reden Sie doch!“
„Ich ...“, sagte er langsam und sah zur Erde.
„Wat ich? Heraus, habe ich recht?“
„Ich finde ...“
„Was finden Sie?“
„Ich weiß nicht, ob ich ...“
„Sie dürfen, also, was finden Sie?“
„Ich finde es obszön, von der Liebe ...“ und er ging schnell aus dem Zimmer.
Helldorf lachte ganz laut: „Ein Juwel! Unbezahlbar, dieser Mensch! Denken Sie, er ist bis über die Ohren in die Lizzy verschossen.“
„Was? In das Fräulein Lizzy vom Herrn Helldorf?“
„Ja, ja, er verfolgt sie mit Anträgen und spielt sich bei ihr als Gentleman auf, mir, einem deutschen Barbaren gegenüber.“
„Und Sie setzen ihn nicht an die Luft?“
„Fällt mir nicht ein. Eine Lizzy finde ich mit einiger Mühe immer wieder, einen Henri aber finde ich zum zweiten Male nicht. Und dann ist das Studium, ob man die richtige Freundin hat, weit angenehmer als das Ausprobieren eines Kammerdieners.“
Es klopfte.
Helldorf rief: „Herein!“
Henri blieb diskret an der Tür stehen: „Der Friseur, gnädiger Herr.“
„Na und — — wartet er auf die Einholung?“
Henri erwiderte fast schüchtern: „Ich wollte erst fragen, ob der gnädige Herr das Thema — — ich meinte, vielleicht, daß der Friseur dann warten könnte ...“
Rebsch ging, der Friseur Rommel wurde von Henri eingelassen. Rommel erbte seit Jahren Helldorfs abgelegte Anzüge und Stiefel. Henri fand das zwar „unästhetisch“, und Rommel führte daher bei seinen Kollegen den Beinamen „Helly“; wohl mit Unrecht, denn sämtliche Dienstmädchen, deren Herrschaften er besuchte, fanden ihn liebenswürdig und begehrenswert.
Rommel war Helldorfs Liebesmarschall. Er war Mitwisser seiner sämtlichen Verhältnisse seit nunmehr beinahe dreizehn Jahren. Aus einem sorgsam von ihm geführten Liebesalmanach, der neben dem Bildnis jeder Dame, die er besessen, genaue Angaben der Geburt, Ort und Zeit der Anknüpfung, Dauer der Beziehungen, außergewöhnliche Ausgaben, Trennungssumme und Höhe der weiterzuführenden Weihnachts- und Geburtstagsraten enthielt, machte er monatlich seine Auszüge, erinnerte, besorgte, rechnete ab. Den meisten brachte er die Geschenke selbst ins Haus, versicherte sie in wohlgesetzter Rede der dankbaren Erinnerung seines Herrn und stellte regelmäßig dessen baldigen Besuch in Aussicht, der jedoch nie erfolgte.
Viele fanden es geschmacklos, daß Helldorf sich gerade seines Friseurs für diese Dinge bediente; aber wie anders sollte er sich helfen? Auf Herren der Gesellschaft, die er Freunde nannte, war kein Verlaß. Denn wo fand man einen vollendeten Kavalier, der sich zu derartigen Dingen hergab? Zudem, brauchte man ihn, war er verreist oder durch eigene Liebesabenteuer verhindert. Und mit der Diskretion war es auch meist so ’ne Sache. Sie waren so lange verschwiegen, als nicht eigene Neigungen, deren kostspielige Seite der Betätigung man gerade in diesen Kreisen so gern auf das Konto eines andern setzte, unerwidert blieben. Sie erzwangen sich dann entweder Gehör und man war verraten; oder sie kompromittierten beide Teile, und zwar so geschickt, daß man sie selbst nie der Indiskretion überführen konnte, beleidigte Gatten, Väter und Brüder aber auf dem Halse hatte.
Rommel aber verlor sein Brot, sobald er klatschte. Klatschte er aber, so hörte man sein Geschwätz kaum an und Helldorf fragte, wenn sich jemand in seinen Beschwerden auf ihn berief: „Rommel? — Wer ist der Mann?“ Und wenn er zur Antwort bekam: „Ihr Friseur!“ so lächelte er verächtlich und meinte: „Wollen Sie oder soll ich mich zuerst mit ihm schlagen?“
Mit diesem Mann also lief Helldorf bei seinen oft recht wagehalsigen Eskapaden verhältnismäßig am wenigsten Gefahr. Und dann glaubte auch er an „Helly“, weil sich Rommel gern putzte, Hände weiß wie eine Dame hatte und Friseur war.
Das Telephon klingelte.
„Nehmen Sie den Apparat am Schreibtisch, das wird Fräulein Lizzy sein.“
Henry ging, kehrte sogleich wieder: „Eine Dame.“
„Fräulein Lizzy?“
„Nein, bestimmt nicht, heller.“
„Soll Namen nennen.“
„Darum bat ich. Herr Helldorf wüßten schon.“
„Immer derselbe Unsinn! Gar nichts weiß ich. Bekannte Stimme?“
„Nein, sehr hell, wie gesagt. Wie ein Kind.“
Helldorf sprang ohne Strümpfe an den Füßen, in den Untersachen, auf und stürzte an den Apparat.
Henri lief, außer sich, die Strümpfe in der Hand, hinter ihm her.
„Sie erkälten sich, Herr Helldorf. Ich kann ja umstellen.“
Aber schon war Helldorf am Apparat.
Seine Erregung war so auffallend, daß der sonst nicht neugierige Henri den Hörer am Haupttelephon nahm, um die Unterhaltung mit anzuhören.
„Hallo!“ begann Helldorf.
Erregt und doch sicher kam die Antwort: „Ich bin’s.“
Sofort wechselte er seine Stimme und sagte zärtlich: „Liebling, du?“
„Ich bin sehr zufrieden.“
„Nicht auch glücklich?“ fragte er. „So glücklich wie ich?“ und suchte, noch zärtlicher zu werden.
„Ich will es werden — durch dich“, antwortete sie.
„Und hast keine Reue?“ fragte er weiter.
„Reue? Worüber?“ sagte sie erstaunt. Und ihr Erstaunen war echt. „Ich habe Vertrauen und den Willen. Beides gleich stark. Warum sollte ich Reue haben?“
„Ich danke dir“, sagte er, da er keine Antwort wußte. Er sprach leiser und suchte Rührung in seine Stimme zu legen, was sie durchaus nicht begriff. Auch nicht, wofür er dankte. Sie war es doch, die zu danken hatte.
„Was wird nun?“ fragte sie unruhig.
Helldorf sah nach der Uhr. Gerade elf war es.
„Um einhalb ein Uhr mache ich bei euch Besuch. Sieh zu, daß wir uns auf wenige Minuten allein sprechen.“ Dann gab er sich einen Ruck und fragte kurzweg: „Kannst du es nicht einrichten, am Nachmittag, wenn auch nur auf eine Stunde?“
„Wie meinst du das?“
„Bei mir will ich dich haben,“ und wieder zärtlich fügte er hinzu, „wo uns niemand ruft und wir ruhig und glücklich sein können, ganz nur für uns.“
„Wird das gehen?“ Und aus ihrer Stimme klang mehr die Besorgnis, es nicht ermöglichen zu können, als etwa ein Bedenken — das ihr nicht kam —, ob ihr Besuch denn wohl auch nicht kompromittierend sei.
Helldorf fühlte das nicht recht; auch wäre es ihm wohl unnatürlich erschienen. Er sagte daher: „Wenn du willst, so wird es gehen. Bringe nur die Miß mit. Um so besser.“
„Ich will’s versuchen. Mama ruft mich. Leb’ wohl!“
Sie war fort, noch ehe er ihr etwas sagen konnte.
Henri stürzte wieder ins Toilettenzimmer und sagte nicht eben leise: „Shocking, shocking! Und das alles durchs Telephon.“
Helldorf zog sich mit aller Sorgfalt an, nahm schneller als sonst seinen Tee und setzte sich dann an seinen Schreibtisch, aus dessen linkem Fach er den Almanach der Liebe herauszog und als Nummer 47 unter dem gestrigen Datum eintrug:
Hilde,
die sechzehnjährige Tochter der Frau Traute, geb. Berger, und ihres verstorbenen Gatten Richard Simon, Rauchstr. 17.
Das sieht ja beinahe wie eine Verlobungsanzeige aus, dachte er. „Es wird doch nicht?“ sagte er vor sich hin.
Dann blätterte er zurück. Er mußte bis zu Nummer 38 zurückgehen. Da stand zum letzten Male der Name einer sogenannten anständigen Frau, hinterher waren alles Schauspielerinnen, Kokotten.
Freudenheim hat nicht so ganz unrecht, dachte er, es war Zeit, mal wieder mit einer Frau von der andern côté. Man wird zu bequem sonst. Sie machen es einem zu leicht. — Er strahlte förmlich vor Vergnügen. „Aber das!“ und er klopfte befriedigt auf das frischbeschriebene Blatt, „erfordert Spannkraft!“ Und er schrieb weiter:
Anläßlich einer hunderttausend Mark Wette mit Freudenheim durch Burgs Einführung am 2. November im Hause der Eltern kennen gelernt, zu Tische geführt und am gleichen Abend besessen.
Das letzte Wort strich er wieder aus. Es schien ihm plump — in diesem Falle fast unanständig, und er setzte dafür:
die Wette zu meinen Gunsten entschieden.
Er las das Ganze noch einmal, und zum ersten Male schien es ihm, als gehöre diese Liebesgeschichte nicht unter die andern; nicht in dieses Buch, das Fritz Krohn, ohne den Inhalt zu kennen, den „unreinen Eimer“ nannte. Rommel sollte es nicht zu sehen bekommen. Er überlegte, ob er das Blatt wieder herausreißen sollte; er sah nach, wer dadurch vorn noch zum Opfer fiele; es war Nummer 23, die junge Frau eines Freundes. Ist das nicht weit bedenklicher? fragte er sich. Und damals kam ich nicht auf den Gedanken, keinen Augenblick kam ich darauf. Freilich, ich war sieben Jahre jünger — ja, bin ich denn so weit, daß ich anfange sentimental zu werden? — Unsinn! Es bleibt! Und er klappte das Buch zu, legte es in sein Fach zurück, schloß zu und klingelte nach Henri. Der brachte Pelz, Zylinder und Handschuhe, war beim Anziehen behilflich, und als er seinen Renauld bestieg, sagte er dem Chauffeur:
„Rauchstraße 17.“
Als Hilde des Morgens erwachte und die Eindrücke des vergangenen Abends noch einmal durchlebte, hatte sie zum ersten Male seit des Vaters Tode das Empfinden, daß sie geborgen sei.
Zwar begriff sie nicht, warum er sich ihrer annehmen und sie glücklich machen wollte. Gewiß, er hatte ihr gesagt, daß er sie liebe. Und daß er die Wahrheit sprach, war sicher. Lügen heißt feig sein, und feig war er nicht. Sie wußte auch, daß sie schön war. Selbst die es nicht nötig hatten und keinen Zweck damit verbanden, sagten es ihr. Aber sie glaubte nicht, daß äußerliche Vorzüge ihm viel bedeuten könnten.
Oder ahnte er, was in ihr vorging? Sie hatte ihm viel erzählt. Ihm alle Leiden geschildert. Die Ängste, die sie quälten — er wußte alles. Aber der Glaube, der in ihr lebte, lebte trotz all dem Kummer, den die jungen Jahre ihr brachten, weiter; ja, sie glaubte noch immer an ein Glück im Guten — und diesen Glauben kannte er nicht.
Sie hatte nach Worten gesucht, um ihm auch das verständlich zu machen. Ihre Gedanken entwickelt und ihn dann gefragt, ob das möglich sei, ob es das gäbe —, was sie Glück nannte. So wie sie es sah, nach allem, was sie der Vater gelehrt hatte. Aus Erlebnissen, großen wie kleinen, das Wesentliche fassen, dabei innerlich unbefangen bleiben, eine Überzeugung keinem fremden Willen opfern, nach innen leben und so: Stellung zur Welt gewinnen und persönlichen Sinn in sein Leben legen, der jeden Konflikt mit dem Gewissen ausschloß, das war ihr Glaube vom Glück.
Und solange sie mit ihren trüben Gedanken allein blieb, schien ihr dieser schwere Weg lohnend und erstrebenswert. Sie fühlte dann: wollte sie nicht werden wie die Mutter und die meisten andern Menschen, nicht auch wie diese ihr Leben, ohne sich um dessen Deutung zu mühen, ohne Bewußtsein dahinleben, dann mußte sie den Weg gehen, schnell und entschlossen.
Gewiß, all die andern, die, ohne zu denken dahinlebten, kamen nur selten in einen Konflikt mit ihrem Gewissen. Wohl mochten auch sie hin und wieder an den Erscheinungen, die das Leben spiegelte, herumdeuten und sie nach ihrem Geschmack, ihren Stimmungen und Rücksichten — nach diesen vornehmlich! — dann und wann auch selbst zu gestalten suchen. Aber sicher kam ihnen nie der Gedanke, nach dem Grunde dieser Erscheinungen zu forschen und sich an den Erfahrungen selbst zu bilden. Immer wurden sie nach den Bedürfnissen gewertet.
Als Hilde ihm diese Gedanken, die sie fortgesetzt beschäftigten, entwickelte, da freilich schien es ihr zum ersten Male, als klängen die Worte kalt und leer, als wüßte ihr Herz nichts von diesen ernsten Dingen, die ihr Mund sprach. Als wären es zwei verschiedene Menschen, die da lebten.
Als Last empfand sie hier zum ersten Male, was sie emsig, fast stolz in Jahren aufgebaut, immer fester gefügt und wie den Urquell, aus dem ihr alles Leben fließen sollte, gehütet hatte. Und diese Last beschwerte sie. Wie an einem milden Frühlingsmorgen lag es heut in ihren Gliedern; ihr war’s, als spanne sich ihre Brust weiter, als ginge ihr Atem freier; als könnte sie jetzt glücklich sein, wenn sie nie die schweren Stunden durchlebt und der Vater sie nie gelehrt hätte, daß der Weg zum Glück hart sei und über steile Klippen führe.
Doch nur für Augenblicke. Dann kehrte die Überzeugung von der Notwendigkeit schwerer Kämpfe zurück, der Glaube an den Bestand des Leichterrungenen schwand und sie überzeugte sich, daß der Wille in ihr noch stark war.
Daß dieser Helldorf alles in ihr in hellen Aufruhr versetzt hatte, schreckte sie nicht. Sah sie doch nun zum ersten Male die Welt, die bisher einsam nur ihre Gedanken errichtet hatten, in Wirklichkeit vor sich erstehen, und der Mann, dem sie sich erschlossen hatte, war ihr willig gefolgt. Nach ihm gab es keinen Begriff — wenigstens keinen, der allgemein gälte —, der Gewissen hieß. Jeder Charakter entwickle sich und mit ihm das Gewissen. Beide in Einklang zu bringen, das war nach seiner Ansicht das Wesentliche und Schwere. Davon hatte ihr der Vater nichts gesagt. Aber sie konnte sich wohl denken, daß es so war. Sie vertraute ihm. Und sie glaubte an ihn mit jener kindlichen, fast frommen Liebe, mit der wir uns eigenwillig an Werte hängen, die wir mehr fühlen als begreifen und die wir williger aus dem Gefühle des Geborgenseins, als aus der Pflicht des Gehorsams heraus anerkennen. Und das galt, soweit es ihr grübelnder Sinn überhaupt zuließ, auch für das Verhältnis, in dem sie zu August Helldorf stand.
In dieser Stimmung erhob sie sich trotz der Erschütterung, die der vorige Tag gebracht hatte, früher als sonst und benutzte die erste Gelegenheit, um unbemerkt bei August Helldorf anzuklingeln.
Dieses Gespräch brachte ihr eine Enttäuschung. Ihr schien die Distanz vom Tage zuvor verwischt. Da hatte sie zu ihm wie zu einem, der alle überragte, emporgeblickt, und auch nicht für einen Augenblick war ihr da der Gedanke gekommen, daß sie sich etwas vergäbe. Und so mußte es ja sein, wenn sie ihm in ihrer Unerfahrenheit vertrauen und auf allen Wegen, die er sie wies, folgen sollte.
Und jetzt am Telephon? Konnte das nicht auch jeder andere gewesen sein? Aber sie beruhigte sich schnell. Gewiß war er nicht allein und dann, wer gäbe sich am Telephon wie er ist.
Sie stürzte zu ihrer Miß und erklärte ihr sehr lebhaft, daß sie am Nachmittag statt zu dem Kunstvortrag auf eine Stunde zu Herrn Helldorf ginge, und daß die Miß sie, wenn ihre Freundschaft nicht nur Redensart sei, dorthin begleiten müsse.
Als Miß ein sehr verdutztes Gesicht machte und reden wollte, kam sie ihr zuvor, hielt sich die Ohren zu und winkte dann lebhaft mit beiden Händen ab.
„Lassen Sie! Ich bitte Sie. Sagen Sie nichts. Ich weiß ja, das schickt sich nicht; gewiß! Und Ihre Verantwortung, und überhaupt zu einem Herrn in die Wohnung. Und sechzehn Jahre! Also bitte lassen Sie’s! Sagen Sie mir, daß Sie mich lieb haben, Sie haben es mir so oft gesagt, dann weiß ich auch, daß Sie es mir nicht abschlagen. Ich muß hin! Und ich gehe hin! Geschieht es in Ihrer Begleitung, nun, so ist der Moral wenigstens notdürftig Genüge geschehen. Und glauben Sie mir: ich lerne bei ihm mehr als bei Stahl, und ich weiß, was ich verantworten kann. — Nun, Sie tun’s?!“
„Was bleibt mir übrig?“
Hilde fiel ihr um den Hals und küßte sie.
„Ich wußte, daß Sie mich lieb haben.“
Miß schüttelte sehr unzufrieden den Kopf: „Sie bringen mich in eine arge Zwangslage, was bleibt mir anderes übrig?“
Frau Traute riß erregt die Tür auf:
„Hilde, dein Ritter!“
„Wer?“ fragte sie.
„Äffchen, verstehst du nicht? Aber mehr Haltung als gestern bitte ich mir aus. — Zeige mal, wie du aussiehst? Na,“ Frau Traute lächelte befriedigt, „du kannst dich schon sehen lassen. Miß, gehen Sie mit nach vorn, ich komme gleich nach.“
Hilde wurde rot, stürzte aus dem Zimmer und rief:
„Miß, kommen Sie!“
Als der Diener Hilde die Tür zu dem Salon öffnete, in dem Helldorf wartete, war sie durchaus nicht verlegen; sie trat sehr schnell auf ihn zu, nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte, und sagte:
„Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.“
„Sie danken mir, und dabei wissen Sie genau, daß ich seit gestern abend keinen andern Gedanken hatte als diesen.“ Jetzt erst gab er ihr die Hand frei, nachdem er sie mit einer Leidenschaft, die nicht einmal echt schien, länger als Miß es schicklich fand, geküßt hatte.
„Und heute nachmittag? Wir werden uns sehen?“ Dabei sah er sie fest an, obschon er die Antwort von der Miß erwartete. Hilde wandte sich zu ihr:
„Ja, ich denke, Miß hat es mir versprochen.“
Helldorf ging auf die Miß zu, reichte auch ihr die Hand und dankte.
„Es ist serr unrecht, daß ich es tue. Fräulein Hilde müßte in die Unterricht zu Raffael.“
„Ich werde es nachholen“, sagte Hilde schnell.
„Auch schickt es sich nicht.“
„Wenn Sie bei sind, Miß?“
Mit einem Ernst, der wichtig schien, sagte Helldorf:
„Ich verstehe Ihren Standpunkt durchaus, verehrte Miß, obschon er mehr deutsch als englisch ist. Hier aber“ — und er wurde geradezu feierlich — „würden Sie keinen Augenblick schwanken, was Sie zu tun haben, wenn Sie wüßten“ — und er blickte zu Hilde hinüber, der man ihr Glück und ihre Entschlossenheit ansah — „daß es sich hier um mehr als bloß um eine Leidenschaft handelt.“
„Das wußte ich auch,“ erwiderte Miß mit einer Nüchternheit, die nach dem kunstlosen Pathos von Helldorf nur um so stärker wirkte, „ich hätte Fräulein Hilde sonst ihre Bitte bestimmt abgeschlagen.“
Helldorf fühlte sich unsicher. Hilde verlangte Wärme und Begeisterung, Miß Kühle und Zurückhaltung, so schien es ihm. Wählte er die Mitte, so enttäuschte er beide. Er überlegte und sah in der Miß den augenblicklich wertvolleren Faktor.
„Wir werden Tee trinken und von Raffael reden.“
„Dann wäre es vielleicht richtiger, Sie begleiteten uns zum Vortrag.“
„Aber der Tee“, sagte Hilde schelmisch.
„Sie sehen, Fräulein Hilde liegt an dem Tee mehr als an Raffael, also ...“
In diesem Augenblick trat Frau Traute, die sich noch einige Augenblicke mit ihrer Toilette beschäftigt hatte, ins Zimmer.
Er fand es fast aufdringlich, sie äußerst schmeichelhaft, daß er gleich am folgenden Tage seine Aufwartung machte. Er pries noch einmal den schönen Abend — „zu dessen Erfolg Sie soviel beigetragen haben“, erwiderte sie.
Er pries die anregende Gesellschaft. Hilde stutzte.
„Die smartesten Leute unserer Bekanntschaft sind leider nicht dagewesen“, klagte sie.
Er pries die liebenswürdige Wirtin. —
„Die Stimmung bringen die Gäste“, behauptete sie.
Er pries — last not least — das gute Essen.
„Unsere Köchin hat an diesem Abend durchaus nicht das Höchste geleistet“, versicherte sie.
Sie forderte ihn auf, zum Lunch zu bleiben. Er dankte. Sie lud ihn zum Essen um sechs. Er dankte, er war für die nächsten Tage vergeben. Man vereinbarte für Samstag ein gemeinsames Diner, und er ging.
Er fuhr bei Lizzy vor, die glücklich war, wieder einmal nach Paris zu kommen. Als er die Treppe hinunterging, überlegte er, wie er dem ersten Besuch Hildes wohl eine gewisse Weihe geben könnte. Er war sich noch nicht klar, was er von ihr zu halten habe. Verträumt schien sie ihm und vom vielen Träumen ein wenig überspannt; geistig außerordentlich rege und doch jedem Einflusse unterworfen, so daß sie auf Gutes wie Böses gleich stark reagierte.
„Ein seltener, aber kein schwieriger Fall,“ meinte er, „solange man im Intellekt ihr überlegen ist, und vor allem an Erfahrung.“
Er frühstückte statt im Klub bei Kannenberg, weil er hoffte, dort seinen Freund Dr. Feld zu treffen, der ihm einiges über Raffael erzählen sollte. Der würde vielleicht auch sonst den einen oder andern guten Gedanken haben, auf welche nicht aufdringliche Art er seiner Wohnung ein etwas festtägliches Gepräge geben könnte.
Er fand ihn vor einem Riesenhummer à la Vanderbilt und einer 95er Bocksteiner, und überzeugte ihn nur schwer, daß die gleichzeitige Einführung eines Laien in die Kunst Raffaels den Reiz seiner angenehmen Tätigkeit nur erhöhen könnte.
Dr. Feld willigte schließlich ein. Doch bat er Helldorf, nahe an ihn heranzurücken, damit er nicht gezwungen sei, laut zu sprechen. Denn es sei einigermaßen genant, in diesem kulinarischen Tempel einem Barbaren die Grundbegriffe Raffaelscher Kunst beizubringen.
„Bist du krank?“ fragte Helldorf erstaunt, als er sah, daß es ihm tatsächlich ernst mit seinen Worten war. Er faßte sich an den Kopf. „Mir passieren heute fortwährend die fabelhaftesten Geschichten.“ Er erinnerte sich der Unbefangenheit, mit der ihm Hilde begegnet war, und die er beispiellos fand, „und jetzt dieser neue Blödsinn,“ sagte er kopfschüttelnd; „am Ende liegt es doch an mir?“
Aber Dr. Feld verzog keine Miene. Auf seinen Wink legte der Kellner einen halben Hummer auf Helldorfs Teller, goß ihm von dem Bocksteiner ein und verschwand. Als er fort war, sagte Dr. Feld:
„Ich verstehe dein Erstaunen ganz und gar nicht. Es zeigt mir höchstens, daß du ein durchaus unkünstlerischer Mensch bist.“
„Ach so!“ sagte Helldorf fast befreit. „Du meinst also, daß es profan sei, beim Essen über künstlerische Dinge zu sprechen. Ich hatte es umgekehrt verstanden, und du wirst mir zugeben, daß ich das verrückt finden durfte.“
„Nein, lieber Helldorf, keine Spur. Du hattest mich durchaus richtig verstanden. Ein Mensch mit künstlerischen Empfindungen und Gewissen — ihr nennt es wie alles, was ihr als fortschrittlich bewundert und je nach eurer Bildung mehr oder weniger begreift, ja wohl Kultur — also sagen wir ein Mensch mit Kultur — natürlich, das ist ja wohl das Schlagwort der Gesellschaft, die etwas auf Bildung hält und die einen derartigen Unfug mit diesem Worte treibt, daß man es in anständiger Gesellschaft überhaupt nicht mehr anwenden kann.“
Er erregte sich ordentlich und sprach jetzt so laut, daß Helldorf lächelnd sagte: „Kannenberg wird es doch noch hören, wenn du nicht leiser sprichst.“
„Du hast recht.“ Dr. Feld machte eine kleine Pause, brach sich ein Stückchen Brot ab, aß es, trank dann einige Schlucke Wein, wischte sich den Mund, und fuhr fort:
„Ein Mensch ist eben Künstler oder ist es nicht; das ist an sich ganz gleich, ob er malt, dichtet, Tennis spielt, reitet, Brautnacht feiert oder mit einer Kokotte im Séparée zusammensitzt. Du wirst ihn überall mit Leichtigkeit herausfinden. Er wird jede Handlung, jedes Geschehnis in irgendein Verhältnis zu seinem künstlerischen Gewissen bringen, das ihn vor Geschmacklosigkeit bewahrt. Bei allen Dingen liegt der Unterschied allein im ‚wie‘, das ‚was‘ ist Nebensache. Und wenn die Menschen heute fast ausnahmslos nur das ‚was‘ beurteilen, ohne nach dem ‚wie‘ zu fragen, so zeigt das nur, daß unsere Zeit, wie sie unkünstlerisch ist bis auf die Knochen, so auch bis auf die Knochen materiell ist. Ein Erlebnis mit der verrohtesten Dirne kann sittlich ungleich höher stehen als ein Erlebnis mit der eigenen kirchlich und staatlich angetrauten Frau, ohne daß sich hier etwa obszöne Szenen abzuspielen und dort Bekehrung und Wiedergeburt gefeiert zu werden brauchen.“
„Ich gebe zu, daß mancher das empfinden wird,“ erwiderte Helldorf, „aber aussprechen wird es keiner.“
„Und warum nicht? Weil es in unsere heutigen Begriffe von der Moral nicht hineinpaßt. Die Moral sollte der abstrakteste aller Begriffe sein und ist im Laufe der Zeit der konkreteste geworden. Vorsichtige Leute sagen auch längst nicht mehr: Dies oder das ist, sondern verständigerweise gilt als moralisch. Du kannst tausend Geschehnisse, ohne Personen, Motive, Begleitumstände auch nur zu erwähnen, anführen und jeder wird dir im Augenblicke sagen: das ist moralisch, das ist unmoralisch.“
„Na, na, du übertreibst.“
„Absolut nicht. Die heutige Moral ist nichts weiter als ein Komplex von konkreten Dingen. Ich hätte nicht übel Lust, ein lückenloses Lexikon der Moral herauszugeben. Ich könnte dir bis in die Nacht hinein Beispiele nennen, die es beweisen.“
„Tue das nicht“, wehrte Helldorf ab.
„Also geben wir es auf. Lassen wir es dahingestellt, ob du unter allen Umständen recht hast, wenn du sagst: es ist zwar keine Entwürdigung dieses Hummers, wenn ich während des Verzehrens dir Raffaels Kunst in großen Linien schildere; aber es ist wohl eine Entwürdigung Raffaels, wenn ich dir von seiner Kunst erzähle und dabei Hummerbeine lutsche.“
Helldorf dauerte das alles viel zu lange. Er bedauerte längst, hierhergekommen zu sein, anstatt sich für eine Mark ein Buch über Raffael gekauft zu haben.
„Also, bitte, bitte“, sagte er endlich ziemlich verzweifelt und sah nach der Uhr. „Kehren wir endlich in die Welt der Tatsachen zurück. Du verwirrst mich völlig und sagst mir nichts, was ich gebrauchen kann. Also höre: In einer Stunde kommt ein sechzehnjähriges Mädchen aus dem Tiergarten mit ihrer Miß zu mir, das seit gestern mir gehört. Sie versäumt dieses Besuches wegen ihre Raffaelstunde. Ich muß sie daher außer mit Liebe auch mit ein wenig Kunst entschädigen — wenigstens die Miß. Gibt’s keine Rara in Raffaels Kunst?“
„Was für Dinger?“ fragte Dr. Feld.
„Na, wie bei Büchern, Seltenheiten, Privatdrucke oder ähnliches.“
„Du wirst ihr doch keinen Raffael schenken?“
„Warum nicht? Einen hübschen Stich? — Aber ich muß dann auch so ’ne kleine Ahnung von der Sache haben.“
Dr. Feld amüsierte sich über die Maßen. „Raffaelsche Rara“, wiederholte er lächelnd. „Hm. Nicht einfach.“ Und nach einigen Augenblicken fuhr er fort: „Überhaupt Raffael.“
„Wie — was?“ fragte Helldorf.
„So mußt du sagen“, erklärte Dr. Feld.
„Wie muß ich sagen? — Warte mal —,“ der Kellner brachte Papier und Bleistift, „— also noch mal.“
Dr. Feld brachte vor Lachen kaum ein Wort heraus.
Helldorf wiederholte und schrieb: „Überhaupt Raffael ... ja, warum denn nicht Raffael?“
„Das ist’s ja eben! Also weiter. Warum spricht Ihr Lehrer nicht über Rembrandt? Rembrandt ist der größte Maler aller Zeiten.“
„Du, blamier’ ich mich auch damit nicht? Ist das sicher?“ fragte Helldorf, „so allgemein?“
„Verlaß dich drauf. Augenblicklich sucht wohl Greco zu ihm aufzurücken. Es wird sicherlich aber bei dem Versuche bleiben. Und zwischen beiden wird Velasquez mühelos seinen zweiten Platz behaupten. Also für heut und die nächsten Jahre stimmt es sicher. Karl Neumanns Werk sollte in keiner Familie, die auf Bildung hält, fehlen. Vergiß das nicht. Rembrandts Radierungen von Hamann setzt du ebenso als bekannt voraus, wie alles, was Muther, Hamerton, Knackfuß, Kaim, Peters, Bode, Graul, Blanc, Verhaeren, Stahl, Rovinski über ihn geschrieben haben. Dann aber erwähnst du natürlich Rembrandt als Erzieher.“
„Langsam, langsam. So, nun noch irgend etwas so Allgemeines.“
„Hm, ja, schreib’ mal: Das Anschwellen des Ausdrucks läßt sich gerade bei Rembrandts Radierungen schwerer darlegen, wenn wir das fertige Werk auf uns wirken lassen, als wenn wir seiner Technik nachgehen.“
„Du, das sind Plattheiten“, sagte Helldorf, hielt beim Schreiben inne und grinste ihn an.
„Erlaube mal, woraus schließt du das?“ fragte Dr. Feld.
„Ganz einfach daraus, daß ich jede Silbe von dem, was du sagst, begreife, ohne mich auch nur im geringsten anzustrengen.“
Dr. Feld lachte: „Du unterschätzt dich entschieden — also schreib’ ruhig, was ich dir sage. Das sind keine Plattheiten, sondern Wahrheiten.“
„Es gibt auch platte Wahrheiten, und das hier mit dem Schwellen des Ausdrucks ist so eine.“
„Wieso?“
„Weil man das wahrscheinlich von jeder Radierung sagen kann.“
„Und von keiner mit solchem Recht, wie von der Rembrandts. Bitte schreib’.“
Helldorf las nochmal den letzten Satz und Dr. Feld fuhr fort:
„... und das so weit treiben, bis wir den einzelnen Strich bemerken. Was der Japaner Hokoesay sich für sein Alter wünschte, daß jeder Zug seiner Feder einen Lebensausdruck bedeute, das hat Rembrandt zu vierundzwanzig Jahren erreicht. Bei Rembrandt ...“
„Himmel!“ schrie jetzt Helldorf ganz entsetzt dazwischen, „du redest ja andauernd von Rembrandt und ich schreibe mich krank. Ich brauche ja Raffael.“
„Richtig, wie leicht man sich verläuft. Du bestellst bei mir Raffaelsche Rara und ich liefere dir Rembrandtsche Gemeinplätze.“
Helldorf sah nach der Uhr. „Aber bitte, nun eil’ dich. Du erzählst mir tausend Dinge; nur um was ich dich bitte, verschweigst du.“
„Du kannst das ruhig verwahren, vielleicht mußt du ihr das nächstemal über Rembrandt lesen.“
„Fällt mir nicht ein; so’n Blödsinn mache ich das erstemal, öfter nicht.“
„Ich meine auch, der lebendige Helldorf sollte auf ein sechzehnjähriges Mädchen nachhaltender wirken als ein guter Raffael oder Rembrandt. Mir scheint übrigens am sinnigsten, und auf das Sinnige legst du ja wohl den Hauptwert, du schenkst ihr einen guten Stich nach Raffael.“
Sie zahlten und fuhren ins Maysche Antiquariat.
„Wie wär’s mit der heiligen Cäcilie?“ fragte der Antiquar. „Es darf doch eine Heilige sein?“
„Paßt ausgezeichnet! Je heiliger, um so besser!“ erwiderte Helldorf.
„Vorzüglich!“ meinte May. „Ich habe den Kohlscheinschen Stich da, den werden Sie so leicht nirgends bekommen.“
Helldorf suchte schüchtern zu opponieren und begriff nur langsam, was Kohlschein mit Raffael zu tun habe; beruhigte sich aber, als May den Stich brachte, der selbst auf ihn einen gewaltigen Eindruck machte.
„Donnerwetter! Das Original möchte ich haben!“ sagte er.
„Das wünsch’ dir nicht,“ versetzte Dr. Feld, „du würdest entsetzt sein. Es ist vollkommen verderbt, abgerieben und unrein und erinnert in nichts mehr an das Überwältigende, das es vor fast 125 Jahren gehabt haben muß, als Goethe es sah.“
„Damals war es noch in Bologna“, sagte May, der auch in der Literaturgeschichte gründlich Bescheid wußte.
„Langsam, bitte!“ sagte Helldorf und hatte seinen Bogen schon wieder in der Hand, auf dem er eifrig seine Notizen machte. „Wo kam es von Bologna aus hin?“
„Nach Paris,“ sagte May, „wo es gereinigt wurde und das gelbe Kolorit annahm.“
„Und wenn du nicht fürchtest, daß so viel Bildung unglaubwürdig bei dir wirkt, dann kannst du der Dame deines Herzens noch verraten, daß Wilhelm von Humboldt noch an Goethe etwa zehn Jahre nach dem Aufenthalt in Bologna hierüber berichtet hat.“
„Sie sind gut orientiert,“ sagte der alte May sichtlich erfreut, „das findet man heute selten.“
„Wird auch nicht gewürdigt,“ erwiderte Dr. Feld, „man bringt andere nur damit in Verlegenheit. Solche Dinge kann man heute nur noch verstohlen innerhalb seiner vier Wände treiben.“
„Soll man auch“, meinte May. „Das gibt doch die höchste Befriedigung. Mir wenigstens geht es so. Ich sitze am liebsten allein mit meinen Lieblingen und genieße.“
„Sehen Sie, so sind die Menschen verschieden. Ich muß immer jemanden haben, der sich mit mir freut, der das gleiche empfindet wie ich. Überall, am meisten aber bei Kunstgenüssen. Bücher ersetzen das nicht, auch wenn sie noch so persönlich sind.“
„Was wollen Sie tun? Wie wollen Sie sich helfen? Wer versteht heute etwas von diesen Dingen, wen interessieren sie? Alles ist auf äußere Eindrücke gestellt. Und selbst die wenigen, die sich heute so etwas kaufen und ins Zimmer hängen, haben meist keine Ahnung davon, was sie nach Hause bringen. Auch sie tun’s, weil’s nach außen hin den Eindruck des Kenners und der Vorstellung, die man sich von ihnen macht, eine gewisse ernste Note gibt.“
Dem Alten war es bitter ernst mit seiner Klage. Er stand, während er das sagte, mit einem wehmütigen Blick vor dem wirklich vollendeten Stich.
„Sehen Sie, Ihnen gebe ich ihn gern. Sie wissen, was Sie da bekommen. Aber schwer fällt mir die Trennung doch. Es ist eins von den wenigen Bildern, die ich in meiner Kammer verschlossen habe, in der ich des Abends, wenn ich hier schließe, bis zum Schlafengehen sitze. Sehen Sie nur“ — und die Tränen traten ihm in die Augen — „wie durchsichtig sind die tiefen Stellen und doch wie kräftig! Und wie zart die lichten! Dieser Stich muß die Arbeit vieler Jahre sein ...“
Dann nahm er ihn in die Höhe wie ein Kind, das man zum letzten Male vor einer langen Trennung an sich drückt.
Dr. Feld trat an Helldorf heran. „Wir wollen ihm den Stich lassen, was meinst du?“
„Ach wat, das is sein Geschäft; der Alte ist närrisch!“
„Das verstehst du nicht!“ erwiderte ihm Dr. Feld fast grob. „Das kannst du eben nicht verstehen! Leider! Sonst würde dich das mehr rühren als alle deine albernen Liebeshandel. Und mehr Sinn liegt hier schon, das kannst du mir glauben, und mehr Schönheit, als alle deine Frauen miteinander zusammenbringen können.“ Er wandte sich wieder zu May. „Machen Sie’s nur nicht wie Francia,“ dabei legte er voll Teilnahme die Hand auf seine Schulter, „der an der Schönheit dieses Bildes gestorben ist.“
„Weil er sich nicht zutraute, je Ähnliches fertig zu bekommen. — Ich kann ihn wohl verstehen“, sagte May. „Wer weiß auch, wenn es Perugino gesehen hätte, ob es ihm nicht ergangen wäre wie diesem Francia.“
„Jlänzend! Das ist wirksam!“ meinte Helldorf, und schrieb es auf seinen Zettel, und setzte drei dicke Striche darunter.
„ ‚Ein trunkenes Bild‘! nennt es Jakob Grimm in einem Briefe an seinen Bruder. Wahrhaftig, er hatte recht. Ich habe es zwei Monate lang Abend für Abend vor mir auf dem Tische gehabt — ein trunkenes Bild!“
„Wer war Cäcilie?“ fragte Helldorf, nachdem er den sehr hohen Kaufpreis entrichtet hatte.
„Eine Märtyrerin. Näheres suche dir in der römischen Geschichte; es genügt für deine Zwecke. Ihre Statue von Maderna darfst du noch kennen. Dann ist es aber übergenug.“
Gern folgte Dr. Feld der Aufforderung des alten May und blieb, um neu eingegangene Kunstblätter zu besichtigen. Helldorf verabschiedete sich und versprach dem alten May, über den Eindruck, den das Geschenk machen würde, zu berichten.
Unterwegs kaufte er noch einige „Studio“-Bände für die Miß, und als er nach Hause kam, erwartete ihn Henri bereits an der Tür und übermittelte ihm die telephonische Bestellung einer Dame, die unterwegs zu ihm sei und in wenigen Minuten eintreffen würde.
„Muß man nun nicht bedauern,“ sagte der alte May, als Helldorf gegangen war, „um was für Genüsse so ein Mensch kommt?“
„Es ist der alte Jammer; ich versichere Sie, selbst unsere Akademiker, die ohne Lexikon den ‚Faust‘ ins Griechische übersetzen und jede Horazode samt allen Realien im Kopfe haben, können keinen Ingres von einem Ribera unterscheiden.“
May winkte mit beiden Händen, deren starkes Zittern trotz ihrer lebhaften Bewegung deutlich war, mit aller Bestimmtheit ab.
„Lassen Sie! Lassen Sie die Kunst nicht in die Schulen dringen! Der Himmel bewahre uns davor, daß man uns auch die Freude an dem einzigen, was das Leben später noch wertvoll macht, auch schon, wie so vieles andere, in der Schule verkümmert. — Entsetzlicher Gedanke!“ — Und er erregte sich ordentlich. — „Denken Sie doch, wie es in so einem Philologen aussieht, der sein Leben lang in den unregelmäßigen Verben auf μι und dem Accusativus graecus die erlesenste Schöpfung menschlichen Geistes erblickt hat — was soll der seinen Schülern wohl von dem Genius eines Goya, des prachtvollsten Kerls aller Zeiten, was von Rembrandt oder gar von Rops erzählen? — — Na, hören Sie auf, es wäre geradezu ein Frevel! — Eine grammatikalische Kunst hieße das schaffen, und es wäre der grausigste aller Morde, die ich mir denken kann, wenn so früh schon das bißchen Liebe zur Kunst, mit dem wohl jeder Mensch zur Welt kommt, getötet würde. Das tut das Leben später schon zur Genüge — leider! — Und fast ausnahmslos.“
„Was meinen Sie mit der grammatikalischen Kunst?“ fragte Dr. Feld.
„Wie ich es sage: sprachkundlich. Damit meine ich, daß, wenn die Kunst in den höheren Schulen obligatorisch würde, zunächst natürlich ein Wettrennen unter den Oberlehrern begönne, indem jeder eine Grammatik der Kunst schriebe. Die gesamte Kunst würde in einige tausend Lehrsätze zerlegt werden, die die armen Sekundaner auswendig zu lernen hätten. Es würde ganz bestimmt sehr bald eine regelmäßige, eine unregelmäßige und eine verbotene Kunst geben. Die unregelmäßige wäre natürlich der Liebling der Herren Professoren, wie sie der Schrecken aller Schüler wäre. Und wenn Sie mit Ihrem Sohne nach dem Abitur nach Italien oder Spanien fahren, dann wird er an der Hand der 3000 auswendig gelernten Lehrsätze Ihnen bei jedem Bilde unfehlbar sagen können, ob es in das Gebiet der regelmäßigen oder verbotenen Kunst gehört. —
Natürlich ist es möglich, daß die Herren auch andere Einteilungen finden. Aber worauf es ankommt, ist der Sinn der Sätze, und darin irre ich mich nicht, seien Sie versichert!
Es wird dann endlich einmal Ordnung und möglichst auch ein königlich preußischer Geist in die Kunst aller Zeiten und Völker kommen. Die verbotene Kunst wird allmählich durch königliche Kabinettsorder abgeschafft und ihre Pflege unter Strafe gestellt, und ein königlich preußischer Kanzleirat wird endlich, ohne Schaden an Geist und Seele zu nehmen, in der Lage sein, sich mit der Kunst zu beschäftigen und die königlichen Museen zu besuchen, ohne auf Gemälde wie Jo und Jupiter, Leda mit dem Schwane, Rembrandt bei seiner Frau und ähnliches zu stoßen.“
„Sie sind bitter!“ sagte Dr. Feld.
„Ich scherze nicht; die Dinge sind mir viel zu ernst! In einem Polizeistaat wie Preußen sollte man möglichst versuchen, die Behörden und Parlamente von jeder Beschäftigung mit der Kunst fernzuhalten, so fern wie nur irgend möglich. Sobald die Leute erst anfangen, in der Kunst etwas Seriöses zu erblicken, mit dem auch ernst zu nehmende Menschen sich beschäftigen können, fällt sie unrettbar in bureaukratische Bevormundung und es ist mit ihr aus. Sie wird königlich preußisch gestempelt und erhält eine schwarz-weiße Bauchbinde. — Es muß schon so bleiben, wie es ist.“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun so, daß, wenn in diesen Kreisen von Kunst die Rede ist, jeder sofort an den Moabiter Ausstellungspark denkt und erwidert: Bei schönem Wetter ganz amüsant; ich ziehe aber den Zoologischen vor. Daß aber, wenn jemand gar vom alten Museum faselt, das Gehirn wie folgt reagiert: es erinnert sich an den letzten Besuch von Onkel Intendanzrat aus Schwerin, der damals mit uns ins alte Museum gehen wollte; da es aber anfing zu regnen, als wir unter den Linden waren, so sind wir ins Passage-Panoptikum gegangen und haben uns das siamesische Zwillingspaar angesehen. Und Onkel Intendanzrat aus Schwerin hatte die Hände über den Kopf zusammengeschlagen und immer wieder voller Begeisterung gerufen: Na, Kinder, in dem Museum mag es ja auch ganz schön sein, aber das hätten wir da nie zu sehen bekommen! Und er hatte ein halb Dutzend Ansichtskarten mit dem siamesischen Zwillingspaar nach Schwerin geschickt, wo sie acht Tage lang den allgemeinen Gesprächsstoff bildeten. Und diesen Genuß konnten auch nicht die fünfzig Pfennig Entrée beeinträchtigen, denn Onkel Intendanzrat aus Schwerin war ja bei uns zu Besuch, und wir mußten zahlen.“
Dr. Feld hatte während der Erzählung Mays einige gerahmte Blätter Rodins von der Wand genommen.
„Sie haben recht,“ sagte er; „aber erstaunlicher und weit bedauernswerter ist es, daß selbst gebildete Menschen Kunstwerken wie diesen völlig verständnislos gegenüberstehen.“
„Natürlich“, erwiderte May. „Dieser Art von Menschen erscheinen die Blätter als Skizzen, als etwas schnell Hingeworfenes, womöglich als Bemerkungen nebensächlicher Art, wie Andeutungen, die kaum die Absicht, geschweige denn die Ausführung verraten lassen. Sie ahnen nicht, daß die Zeichnungen das Endgültigste einer reifsten Kunst bedeuten.
Sehen Sie diese Buhlerin! Deren Unlust am Warten schamlos die ganze Lasterhaftigkeit verrät. Merken Sie ihr an, daß ihr die Sünde nicht von außen durchs Leben überkommen ist? Daß diese Verderbtheit in ihr steckte, längst ehe der Geschlechtstrieb bei ihr erwachte? Daß ihr Körper in einem verrufenen Leibe erzeugt und ehe er zur Welt kam, schon von einer Stätte des Lasters zur andern geschleift wurde? Und so trägt denn auch jede Linie deutlich die Spuren vollkommenster Verderbtheit an sich. Zerlegen Sie diesen Körper. Betrachten Sie den Fuß, den Arm, die Schenkel, gesondert jedes, und Sie wissen genau, daß es die Körperteile eines durch und durch lasterhaften Weibes sind.
Wo in den vollendetsten Blättern Japans finden Sie wieder Linien von ähnlicher Ausdrucksfähigkeit und doch dabei völlig absichtslos? Wo auf langen Seiten eines Dichters ausgedrückt, was in diesem Blatte liegt? Regungen und Gebärden, die unwillkürlich erfolgen, und die wir im Augenblick des Geschehens an uns selbst nicht wahrnehmen oder, als selbstverständlich, gar nebensächlich betrachten, sind ihm das Wesenartige unserer Menschennatur; er fängt sie auf und zeigt uns dann ihre fabelhafte Bedeutung. Rilke hat schon recht, wenn er sagt: Das Äußerste von Lieben und Leiden und Trostlos- und Seligsein geht von ihnen aus.“
„Rodin selbst weiß,“ erwiderte Dr. Feld, „wie wenig man mit seinen Zeichnungen anzufangen versteht. Er hat sich Grauthoff gegenüber sehr bestimmt geäußert: Das Publikum ist wie ein Kind, meint er, es hat keine Bewußtheit.“
„Das ist das wahre Wort!“ fiel May begeistert ein. „Keine Bewußtheit!“ wiederholte er und unterstrich es. „Schon Richard Dehmel sagt: Alle Unbewußten sollten sich hängen lassen.“ Und treuherzig und voll Überzeugung fügte er hinzu: „Ach, wenn sie es doch täten!“
Dr. Feld lachte. „Ich glaube, der Selbstmord wäre beispiellos, und es würden nicht viele am Leben bleiben.“
„Aber die blieben!!“ strahlte May. — „Besser wäre die Luft schon, und die Kunst käme endlich zu der Bedeutung, die sie verdiente. Aber das sind ja dumme Wünsche! Ich bin ein Narr — erzählen Sie lieber weiter, was Rodin sagt.“
„Rodin sagt weiter, daß dem Publikum einige Sätze und Theorien eingelernt seien, die es nun an jedes Kunstwerk als Maßstab legt.“
„Ah! Sehen Sie’s nun? Das Eingelernte! Genau, wie ich es Ihnen sagte.“
„Es kennt die Zeichnungen von Ingres, meint Rodin und beurteilt seine Zeichnungen nach diesem Stil, und sagt dann: Rodins Zeichnungen sind nicht schön, sie sind vollendet. Aber Ingres Zeichnungen sind nur ein Ideal und nicht das Endgültige. — Rodin will etwas anderes geben, nicht die Kontur der Ruhe, sondern das Leben, die weiche, fließende und flackernde Bewegung.“
„Wie dies hier“, sagte May und zeigte ihm L’ange de la Prière und die zehn Boutetschen Dessins.
Noch lange saßen sie voll Andacht vor den Blättern, ehe Dr. Feld dem alten Mann die Hand zum Abschied reichte und im Gewühl der Leipzigerstraße untertauchte.
Wie ist es möglich, dachte er, als er sich durch die geputzten und neugierigen Massen drängte, daß hier mitten unter hunderttausend oberflächlichen Menschen ein Heiliger haust und, ohne von diesem Strome mitgerissen zu werden, nur seiner großen Liebe lebt. Aber freilich, als dieser May jung war und seine tiefe Neigung zur Kunst erkannte, lief das Leben noch ruhiger, und er hatte Muße, und man störte ihn nicht, als er seiner Neigung nachging und so zu der Abgeklärtheit gelangte, die dann seinen Sinn für Kunst immer weiter vertiefte und seinem ganzen Leben diesen reichen Inhalt gab.
Helldorf ließ die ganze Wohnung erleuchten und bestimmte für die Blumen, die das Kammermädchen in eine Reihe Gallet- und Nancyvasen verteilt hatte, selbst die Plätze; fragte Henri, der sich unbemerkt glaubte und mit kritischer Miene in den „Studio“-Heften blätterte, ob er ihm nicht ein paar englische Bücher für den Nachmittag geben wolle.
Dieser Auftrag schmeichelte Henri und er schleppte sofort mit Hilfe des kleinen Max, der mit seinen sechzehn Jahren dazu engagiert war, eine sehr geschmackvolle Livree möglichst selbstverständlich zu tragen, und der sonst nur noch als dekorative Zier bei Ausfahrten im Dogcart zur Verwendung kam, ein halb Dutzend dicker Bände herbei.
Helldorf sah sie sich an.
Macaulays Bilder der englischen Gesellschaft, die Depeschen Malmesburys, Charles Grevilles Denkwürdigkeiten, die Briefe von Horace Walpole ...
„Etwas einseitig, Ihre Bibliothek, Mr. Henri — und etwas langweilig.“
„Mir wird es nie langweilig, Sir, über die Sitten und den Takt der guten englischen Gesellschaft etwas zu lesen.“
„Wie sieht der Teetisch aus?“ fragte er Henri.
„Wenn Herr Helldorf sich selbst überzeugen wollen.“
Henri schob die Flügeltür, die ins Nebenzimmer führte, auf, und Helldorf war mit Henris Anordnung zufrieden.
Nie hatte er sein old silver, dessen Hauptstücke in Oxford gewonnene Sportpreise waren, so wirken sehen.
„Keine Servietten, keine Bestecke?“ fragte Helldorf.
„Zum Tee? — aber nein! Ganz unmöglich!“ erwiderte Henri nicht ohne Ironie. „Und wenn ich noch auf etwas hinweisen darf.“
„Bitte!“ sagte Helldorf belustigt.
„Die Dame wird doch wissen, daß sie den Tee eingießt — nicht ich! wie neulich, so daß der footman gänzlich den Kopf verlor und wie ein Aushilfskellner den buttered toast und die concombre sandwiches herumreichte — was doch Sache der Herren ist,“ fügte er hinzu, — „wenigstens bei uns — in London — in den besseren Salons.“
„Seien Sie ohne Sorge. Es sind Damen, die wissen, was sich schickt. — Deshalb braucht sie das Dienstpersonal auch nicht zu sehen.“
„Selbstverständlich.“ Henri verneigte sich.
„Aber Sie könnten ... hm ... sagen wir ... vielleicht wenn ich zweimal läute ... so ganz unauffällig hereinkommen und sich ... hm ... natürlich nur, wenn es sich macht ... und Sie einen Anknüpfungspunkt finden ... mit Takt ... sich ein wenig, meinetwegen auch intensiver, mit der Miß ... nicht wahr ... Sie sind ja Landsleute, da findet sich gewiß für eine Viertelstunde Stoff ... ich möchte nämlich ... Sie werden begreifen, daß ich mir die junge Dame nicht zum Teetrinken eingeladen habe ... das könnte ebenso jeder für sich besorgen ...“
Henri stand unbeweglich und erwiderte nur: „Haben Sie die Güte, Herr Helldorf, abermals zweimal auf den Knopf zu drücken, sobald die Miß wieder in die Erscheinung treten darf.“
Hilde ging am Arm der Miß, die bis zum letzten Augenblick für diesen Besuch in Stimmung gehalten werden mußte, ohne Unruhe und Aufregung, aber das Herz voll Hoffnung, die Treppen zu Helldorfs Wohnung hinauf.
Henri, der das gesamte Hauspersonal mit Gratiskarten auf die Rollschuhbahn geschickt hatte, empfing die Damen in englischer Sprache an der Tür.
„Alles ist ausgeflogen. Diener und Kammermädchen sind nicht zu Hause. Sie gestatten also?“ und nahm ihnen die Sachen ab.
„Wer sind denn Sie?“ fragte Hilde erstaunt.
„Ich bin der persönliche Diener des gnädigen Herrn.“
„Die Unterschiede sind mir zu hoch, ich verstehe sie nicht.“
Henri wollte sie des längeren über die Distanzen aufklären, die den gewöhnlichen Diener von dem persönlichen trennen, als endlich Helldorf im Flur erschien.
„Mir war doch so, als ob ... richtig, Sie sind’s“, und er begrüßte Hilde und die Miß und führte sie in den Salon.
Sie betrachtete mit genügender Gründlichkeit, die weniger eine Folge des Interesses als vielmehr die übliche Verlegenheit der ersten Viertelstunde war, die Einrichtung und Kunstgegenstände der Wohnung.
Hilde gab dem Herrenzimmer den Vorzug, das nach Entwurf Bruno Pauls in dunkelgebeizter Eiche mit schwarzen Lederbezügen ausgeführt war. In die Sofaecke dieses Raumes wurde der Teetisch getragen. Man betrachtete eine Prutschersche Standuhr aus Thujaholz mit Bux- und Ebenholz-Intarsiatstreifen; das Zifferblatt und der Pendel in Silber mit Emaille; eine reichgeschnitzte Truhe in süddeutscher Renaissance, auf der eine Salome von Joseph Vierthaler stand, und neben ihr das Meisterstück eines unbekannten Künstlers, welches aus der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts eine vollendete Nachbildung der Stifter-Figur der Kaiserin Adelheid im Chore des Domes zu Meissen darstellte. Hilde war von der Anmut dieses Kunstwerks, der koketten Grazie, mit der die schmale Hand die Tasselschnur berührte, ergriffen. Sie bewunderte die Nusche, die hier schon nicht mehr das „Gold vor den Brüsten“, wie sie es aus dem Nibelungenlied her kannte, vielmehr schon eine Bratsche war. Und ihr angeborener Sinn für Form und Farbe zauberte der jungen Schwärmerin Nuschen und Fürspane in allen Formen und Farben vor. Sie erkannte in dem gegenüberliegenden Schrank, ohne etwas von englischer Renaissance zu wissen, den Abklatsch eines Originals, das sie als Zwölfjährige nur flüchtig im South Kensington Museum zu London gesehen hatte. Als wenn es gestern war, so deutlich stand der Schrank vor ihr. Nur die Jahreszahl über der Tür — A. 1603 D. — fehlte.
„Hier müssen leichte Bronzen, besser noch Porzellane hinauf. Diese Truhen erdrücken den Stil, von dem ich zwar keine Ahnung habe; aber ich fühl’s.“ Sie sah sich weiter in der Wohnung um, rief ganz ungeniert zu Henri hinüber:
„Hallo, wie heißen Sie doch?“
„Henri, meine Dame.“
„Also Henri, hier“, und damit legte sie die beiden schweren Truhen in seine Arme und setzte an ihre Stelle leichtes Porzellan, das auf einem Glasschrank im Nebenzimmer stand.
Henri stand fassungslos, die Truhen im Arme, und rührte sich nicht.
Miß sagte „shocking“ und erinnerte Hilde, daß sie hier nicht zu Hause sei.
Aber Helldorf widersprach ihr und meinte:
„Und wenn Sie die ganze Wohnung umräumen, das Unterste zu oberst kehren, ich will jedes Stück an der Stelle lassen, an die Sie es rücken, wenn Sie diese Wohnung dann als die Ihre betrachten wollen.“
Miß war von der Höflichkeit, wenngleich sie nicht ihr galt, entzückt; aber Hilde verdarb den Eindruck und meinte:
„Bis auf Henri, denn der kann unmöglich in dieser unglücklichen Stellung stehen bleiben, bis wir wiederkommen.“ Und damit hatte sie ihm auch schon die beiden Truhen abgenommen und, ehe ihr Helldorf helfen konnte, zur Erde gesetzt.
„Fräulein Hilde sollten die Kunstgewerbe studieren. Sie interessieren sich für die Sachen und wissen mit alles Bescheid. Der Lehrer hat allemal sein großes Staunen.“
Jetzt hielt Helldorf die Zeit für gekommen, um seinen Raffaelstich wirken zu lassen. Er rekapitulierte im stillen sein Manuskript und überreichte ihr dann das Bild als Ersatz für den versäumten Unterricht.
Hilde, welche schlechtere Reproduktionen des Bildes kannte, hatte eine so kindliche und ehrliche Freude an dem Geschenk, daß Helldorf das Bild, welches ihm anfangs recht teuer schien, damit bezahlt fand. Es erhielt in Gedanken sofort einen Ehrenplatz über ihrem Schreibtisch. Böcklins Hirtenknabe mußte ihm zum Opfer fallen, und man einigte sich mit Miß über die Legende, durch welche man Frau Trautes Bekanntschaft mit dem Bilde vermitteln wollte.
Als Helldorf aber vom alten May und gar von Francias Tode erzählte, den er dramatisch auszuschmücken suchte, um die Begeisterung Hildes an dem Bilde zu erhöhen, da schien’s, als würde der freudige Glanz der Augen trüber, ihre Hände fuhren unruhig über das Bild, das sie bedeckten. Dann stellte sie’s zur Erde, gab Helldorf die Hand und dankte ihm. Sie gab sich jede Mühe, an anderes zu denken. Recht froh war sie, bei ihm auch Verständnis für das zu finden, was ihr Vater so geliebt hatte. Ihm dankte sie ja das Wenige, was sie von diesen Dingen wußte, die ihre ganze Freude waren.
„Ist das Bild von Gaillard gestochen?“ fragte sie.
Helldorf hatte den Namen nicht verstanden; aber er wußte, daß das für seine Antwort keine Bedeutung hatte und sagte ja.
„Nicht möglich“, sagte Hilde. „Den Stich kannte Papa sicher nicht. Er meinte immer, daß wir die Gesundung der Stecherei ihm zu danken hätten. Von welchem Jahre ist denn der Stich?“
„Zwanzig Jahre alt“, erwiderte Helldorf, selbst ganz außer sich über die Frechheit, mit der er das vorbrachte.
„Aber dann ist er ja jünger als Gaillards Mann mit der Nelke.“
Jetzt fühlte sich Helldorf auf der Höhe, denn den Mann mit der Nelke kannte er und mit überlegener Ironie meinte er: „Aber ich bitte Sie, der ist ja von van Dyck.“
„Ja, und?“ fragte Hilde, und begriff durchaus nicht, was Helldorf eigentlich wollte. — „Neben Rembrandts Christus und die Jünger zu Emaus ist es das Beste ...“
Helldorf sah sie fast blöde an.
„... was Gaillard gestochen hat“, beendete Hilde ihren Satz.
„Ach so!“ meinte Helldorf und gleich darauf „Verflucht“! Dieses Kosewort entschlüpfte ihm immer, wenn er in Verlegenheit geriet. Aber er gewann schnell seine Haltung wieder und bestätigte:
„Zweifellos das beste.“
Hilde merkte seine Verwirrung, für die sie gar keine Erklärung hatte.
„Ich bin überzeugt, daß Gaillard das Original erst in Öl kopiert hat“, meinte Hilde.
„Anzunehmen“, sagte Helldorf und verwünschte Dr. Feld, der Schuld an den Qualen trug, die er jetzt litt. Jeden Augenblick konnte eine Entgleisung erfolgen, die ihn als völligen Kunstignoranten entlarvte. Dann war seine Stellung erschüttert; denn das fühlte er: diese Frau ging den Dingen auf den Grund, war für Redensarten unempfänglich, und jede Oberflächlichkeit mußte ihr verhaßt sein.
„Warum meinen Sie das?“ fragte Miß.
„Weil Fräulein Hilde es sagt“, hätte er beinahe geantwortet. Zum Glück kam ihm Hilde zuvor und erläuterte:
„Nun selbstverständlich, um ins Original einzudringen.“
„Ganz selbstverständlich!“ bestätigte Helldorf, fand aber, daß dem Ausfall des Kunstunterrichts nunmehr Genüge geschehen und Zeit für ein anderes Thema sei.
„Wieviel Zucker darf ich Ihnen geben, Miß?“
Hilde fand den Übergang etwas willkürlich, der Miß war er willkommen. Aber Helldorf fühlte selbst, daß er bisher nicht eben glänzend abgeschnitten hatte.
„Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht wie mir, wenn mich irgendetwas beschäftigt, wobei mein Empfinden stark engagiert ist, dann fehlt mir die Lust selbst für Dinge, die mich sonst außerordentlich interessieren.“ Das kam etwas gezwungen heraus, beinahe wie eine Entschuldigung.
„Man sollte sich überhaupt nur mit Dingen beschäftigen, für die man Interesse hat“, meinte Hilde.
„Wenn man das immer könnte, dann wäre es eine Lust zu leben“, erwiderte Helldorf.
„Das sollte es auch wohl sein, wozu lebt man denn sonst?“
„Seiner Pflichten uegen, Hilde“, dozierte die Miß.
„Das stimmt doch wohl nur insofern, als es sich um Pflichten handelt, die man sich selbst auferlegt“, erwiderte Helldorf.
„Oder die von Gott kommen“, sagte die Miß; sie war katholisch, obgleich sie aus Birmingham, und fromm, da England ihre Heimat war.
„Woher weiß man denn, ob sie von Gott kommen?“ fragte Hilde.
„Das uerden Sie nie begreifen, solange Sie keinen Glauben haben. Genau, wie ich die Bilder da nicht verstehe, da ich keinen Unterricht in die Kunst hatte.“
Helldorf befürchtete ein Gespräch über Religion und wünschte doch endlich, daß der wahre Charakter dieser bisher philiströs anständigen Teegesellschaft etwas deutlicher zum Ausdruck käme. Er versuchte, wieder den großen Mann vom Abend vorher zu spielen.
„Mir scheinen die Menschen, die für alles, was ihnen begegnet, in ihrem Glauben einen Trost und eine Erklärung finden, weit weniger bewundernswert als die Ungläubigen, die alles mit sich und ihrem Gewissen abzumachen haben. Zumal mit einem Gewissen, das keine Buße und Vergebung kennt.“
Das hörte sich ganz gescheit an. Miß fand es gottlos, ohne es verstanden zu haben, und Hilde meinte:
„Ja; falls man aber die innere Ruhe und das Glück leichter findet, wenn man gläubig ist, dann sollte man es doch ...“
Helldorf hatte den Wunsch, unter allen Umständen zu wirken, und fiel ihr ins Wort. Er meinte, daß man dann auch die Wilden in ihrem Urzustande sich selbst überlassen müßte, faselte mäßig Eigenes und gescheit Gelesenes über die Segnungen der Kultur und die Pflege der Persönlichkeit und sein Spezialgebiet: das Gewissen. Er versuchte krampfhaft, eine Stelle zu fassen, von der aus er Hilde mit sich fortreißen und erwärmen konnte; aber es wollte ihm heute durchaus nicht gelingen.
Zwar hatte sein Gespräch den Erfolg, daß Miß einen Petit-four nach dem andern verzehrte, im Studio las und längst nicht mehr hinhörte, was Helldorf erzählte.
Hilde hörte ihm zwar zu, aber ihr war’s, als läse ihr jemand aus einem Buche vor; sie fühlte keinen Zusammenhang zwischen ihm und dem, was er sagte, also auch keinen zwischen sich und ihm.
Als er — durch die Gegenwart der Miß immerhin beengt erklärte: „Oder fühlen Sie nicht wie ich?“ da sah sie ihn groß und erstaunt an und sagte:
„Ich weiß nicht! Als ob Sie ein anderer wären gestern und heut!“
Helldorf war sich bewußt, daß er in diesem Augenblick va banque spielte; er mußte jetzt entweder einen Treffer machen oder das Spiel, das kaum begonnen hatte, war ein für allemal für ihn verloren. Das duldete sein Ehrgeiz nicht. Ein Zufallssieg wäre es dann gestern gewesen, sagte er sich. Und Lizzy fort! Nein!
„Und wundert Sie das?“ fragte er.
Er gab seiner Stimme wieder den weichen und schmiegsamen Ton, mit dem er so oft schon einen letzten Widerstand gebrochen hatte.
„Noch keine Silbe habe ich heute gesprochen, die aus dem Herzen kam. Und wäre ich Ihnen heute als der erschienen, der ich gestern war“ — er schüttelte den Kopf, — „nein! Nie wäre ich dann der Mann, der Ihnen helfen könnte. — Sehen Sie das Bild hier nebenan“, sagte er mehr zu Miß gewendet, die, ohne aufzusehen weiterlas und anstandslos beide in den Salon gehen ließ.
Hier nahm er Hildes Hand und er tat traurig, daß Hilde das, was sie hier sah, für seine wahre Natur gehalten hatte. Der Eindruck, den er jetzt machte, war ernst und glaubhaft.
„Und du konntest glauben?“ sagte er mit einer Stimme, die fast verzweifelt klang. Er stand ihr jetzt gegenüber, hielt ihre beiden Hände, und sah ihr in die Augen.
Sie antwortete ihm nicht; aber ihr war doch, als hätte sie ihm unrecht getan.
„So hast du also nicht gefühlt, wie sehr ich mich beherrscht und was ich die ganze Zeit über gelitten habe? Ich mußte teilnahmslos und gleichgültig tun, um Miß in die vertrauensselige Langeweile zu versetzen, der ich jetzt dies Alleinsein mit dir verdanke.“ Und voll Zärtlichkeit fuhr er fort: „Du mußt erst mein, und immer wieder mein sein! ... Du!“
Als er sie an sich drückte, wehrte sie leicht, aber sie zitterte vor Erregung: „Und dann ...“
„Dann?“ fragte sie und sah ihn an mit ihren schweren Augen, die weniger groß und lebhaft als zuvor, doch weicher und verträumter schienen. „Und dann?“ wiederholte sie.
„Dann erst wirst du das Leben begreifen. Wenn das, was alle Menschen bewegt und mehr als irgendetwas anderes ihr Wesen beeinflußt, dir nicht mehr fremd ist. Wenn du es als etwas Eigenes kennst, das du mit allen seinen großen Erschütterungen selbst durchlebt hast. — Und du wolltest stark sein, hattest du versprochen, in allem, was zum Ziele führt.“
Klang alles das auch überzeugend, so waren es doch auch jetzt nur wieder die Sinne, auf die er wirkte. Und wie heute, mußte er sie beinahe jedesmal von neuem wieder erobern. Erst wenn Stunden hinter ihrem Zusammensein lagen und ihre Nerven sich längst beruhigt hatten, kam ihr die Vorstellung von dem, was sie durchlebt hatte, wieder ins Bewußtsein, und Zweifel folgten: War es Liebe, was sie zu ihm trieb? War es schlecht von ihr, daß sie ihm, da sie alles wissen mußte, nun auch in allem folgte? Und gingen ihre Gedanken, wenn sie bei ihm war, denn wirklich nur die Wege, die zu dem Ziele führten, das Antwort auf ihre Fragen gab? Schwand, wenn er mit weicher Stimme liebe Worte sprach, nicht alles, was sie bedrückte? War ihr ganzes Wesen dann noch etwas anderes als nur der Wunsch, daß er sie verlangte und sie sich ihm gab?
Und er verstand es, den Eindruck von damals wirksam zu erhalten und sich den Anschein zu geben, als hätte er an jenem Tage gerade sich so gegeben, wie er wirklich war. Als wolle er nur jetzt, wo es ein stilles Glück zu wahren gab, vermeiden, daß man von ihm sprach. Und indem er nun, ohne daran gewohnt zu sein und oft nicht ohne Überwindung sein wahres Gesicht verbarg, so fand er auch, wenn er mit ihr zusammen war, nicht immer gleich zu sich zurück. Erst wenn das Herz sprechen durfte und sie allein waren, dann war auch er wieder er selbst.
Alles das glaubte sie ihm, und um so mehr, als es auch Tage gab, an denen er sie stärker wohl als sonst an jene erste Begegnung erinnerte. Und der starke Eindruck dieses Abends verwischte alles. So wuchs ihr Glaube an ihn beständig; denn ohne daß sie ihn liebte, wußte sie doch, daß sie bei ihm für ihr Leben geborgen war.
Sie betrieb jetzt womöglich mit noch gründlicherem Eifer als zuvor ihre kunstgeschichtlichen Studien, verblüffte immer aufs neue ihre Lehrer, weniger durch ihren wissenschaftlichen Ernst, in dem andere sie wohl übertrafen, als durch das tiefe Eindringen in die künstlerischen Intentionen der Meister, deren seelischen Vorgängen beim Schaffen eines Werkes sie oft weiter als ihre Lehrer folgte.
Wirkungen, die sonst nur von der Musik ausgehen, zeigten sich ihr, wenn sie mit der Schärfe ihres künstlerischen Intellekts und der Tiefe ihres Herzens, das weich und schmiegsam auch den Schmerz empfand, den andere litten, sich ganz dem Eindruck eines großen Kunstwerks hingab.
Da war bald kein Raum mehr für kritische Wertung, und die Wirkung schoß schnell auch über die Grenzen des ästhetischen Genusses hinaus. Es war ein Aufgehen in die Künstlerseele. Sie sah das Werk in der Vollendung, in der die Phantasie des Meisters es geschaffen hatte und hinter der die Wirklichkeit selbst oft zurückblieb. Ihr waren diese Erlebnisse, während deren alles um sie herum verschwand und der Geist des Künstlers mit allem, was er vor Jahrhunderten empfunden und gedacht, wiederkehrte, Offenbarungen, die sie selbst vor Helldorf geheim hielt. Irgendetwas Fremdes also stand noch zwischen ihnen. Das sagte ihr deutlich ihre Scheu, mit der sie das Tiefste und Wertvollste, was sie in ihrem Herzen barg, vor ihm bewahrte. Vielleicht auch besorgte sie, daß er sie nicht verstehen werde, und dann freilich war es auch erwiesen, daß er nicht ihr Befreier sein konnte. Und ihr fehlte der Mut, um diese Entscheidung herbeizuführen.
Als Helldorf am ersten Tage zweimal auf den Knopf der Klingel drückte, war Henri sofort zur Miß ins Herrenzimmer geeilt, und es hatte nicht lange gedauert, so war ein lebhaftes Gespräch zwischen ihm und ihr im Gange.
Das Thema war gegeben.
„Oh diese Deutschen!! Oh shocking!“ sagte Henri.
„Shocking!“ erwiderte die Miß.
„Sie nennen mich einen Anarchisten, denn ich habe keine Furcht vor dem Schutzmann und beschwere mich beim englischen Konsul, wenn die Behörden mich schikanieren.“
„Und mich schelten sie dünkelhaft und verschroben, weil ich die Werbung eines fünfzigjährigen Mannes abschlug, obgleich er Geld hatte und Oberleutnant der Reserve war.“
„Auch sonst“, meinte Henri, „bewerten sie den Menschen moralisch, gesellschaftlich und politisch nicht nach Charakter und Manieren, sondern ausschließlich nach der Höhe seines Einkommens.“
„Und sie wechseln für Titel und Orden ihre Überzeugung.“
„Oh shocking!“
„Shocking!“
Pause.
„Oh, wie unschick sind diese Deutschen!“
„Und wie laut sie sind!“
„Sie essen den Fisch mit dem Messer!“
„Und stippen das Brot in die Sauce!“
„Sie gehen am Tage im Frack!“
„Und des Abends im Gehrock!“
„Sie gehen mit Hemden ins Bett!“
„Und baden wöchentlich einmal!“
„Oh shocking!“
„Shocking!“
Henri war nahe an sie herangetreten. Er legte leise seine Hand auf ihre Schulter.
„Bedauernswerte, was müssen Sie leiden?!“
„Und Sie, Ärmster!“ erwiderte sie.
„Wir wollen zusammenhalten.“
„Wir wollen“, sagte sie und legte ihre Hand auf die seine. Dann stand sie auf, und er geleitete sie mit Anstand in sein Zimmer. Hier zog er sie an sich. Einmal, zweimal. Und sie entkleidete sich ruhig und sachlich und stellte gewissenhaft ein Stück neben das andere. Das gleiche tat er. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie an sein Bett.
„Wie schwer du atmest!“ sagte er und nahm sie in seine Arme. Dann sagte er nichts mehr.
Und dieses Schauspiel wiederholte sich in den nächsten Wochen, so oft die Teegesellschaft beieinander war.
Und wenn Helldorf zum zweiten Male auf den Knopf der Klingel drückte, dann saß die Miß längst wieder an dem Teetisch, an derselben Stelle wie zuvor, und las mit unveränderter Miene in der Spezial Winter number des „Studio“ von 98/99 die Austria Book-plates auf Seite 71.
Als der Klubstammtisch Helldorf an den Austrag der Wette erinnerte, an die er selbst längst nicht mehr dachte, überließ er, da Adolf noch in Paris war, dem kleinen Krohn alle nötigen Entschließungen. Er selbst kümmerte sich um nichts. Nur so viel war bestimmt, daß Helldorf ein Diner im Kaiserhof gab mit anschließendem Tanz und Tombola, für die erste Künstler Beiträge lieferten und deren Erlös zum Besten gefallener Mädchen verwandt werden sollte.
„Ich will es übernehmen,“ sagte Fritz Krohn, „und will Ihnen ein Fest arrangieren, von dem Berlin vier Wochen lang sprechen soll, vorausgesetzt, daß ...“
„Es auf Geld nicht ankommt!“ fiel ihm Helldorf ins Wort. „Einverstanden. Sie haben weitestgehende Vollmacht.“
„Daß es Ihnen auf einen braunen Lappen mehr oder weniger nicht ankommt, das weiß ich, das wissen auch die andern. Daher werde ich versuchen, mehr durch gute Ideen als durch großen Aufwand zu wirken. Ich meine etwas anderes.“ Er rückte näher an Helldorf heran und machte (er tat es selten genug) ein höllisch ernstes Gesicht:
„Sie müssen mir etwas versprechen, Helldorf.“
„Was Sie wollen“, erwiderte der.
„Ihr Wort darauf?“
„Wenn es in meiner Macht steht, gern.“
„Es steht in Ihrer Macht, schlagen Sie ein.“
Und Helldorf gab ihm die Hand: „Mein Wort! — Also?“ Krohn stand auf, um noch feierlicher zu wirken.
„Der Einsatz Ihrer Wette darf unter keinen Umständen Hilde Simon sein.“
Helldorf erschrak. Er sprang erregt auf, stand nun dicht neben ihm und sagte mit energischer Stimme:
„Erlauben Sie, wer sagt Ihnen das?“
„Es geht mich nichts an, ich weiß es. Ich habe weder die Pflicht noch das Recht, über Ihren Takt zu wachen, ich weiß es. Für das Renommée von Fräulein Simon zu sorgen, verlangt weder ein verwandtschaftliches Verhältnis, noch etwa eine Stimme des Herzens. Ich weiß es. Aber“ — und er sprach die letzten Worte sehr laut — „eine Schweinerei zu hindern, das Recht nehme ich mir als anständiger Mensch!“
Helldorf erhob die Hand; aber Krohn fiel ihm in den Arm.
„Benehmen Sie sich wie ein Gentleman, Helldorf, und nicht wie ein krummer Fuchs oder Rowdy! Wenn Sie sich mit mir schlagen wollen, meinetwegen. Aber versprechen Sie mir, daß Sie diese Schweinerei nicht begehen werden. Dann stehe ich zu Ihrer Verfügung. Geben Sie mir diese Versicherung aber nicht“ — und abermals wurde er laut — „dann ist mir mein Leben zu schade, um es Ihretwegen aufs Spiel zu setzen!“
Helldorf fühlte, daß er moralisch unterlegen war. „Später!“ sagte er und stürzte in großer Erregung aus dem Zimmer.
Krohn ging ins Schreibzimmer und schrieb:
Hochverehrter Herr Helldorf!
Ich habe Ihnen noch für die Bereitwilligkeit zu danken, mit der Sie mir Ihr Wort gegeben haben, durch das ein nach meinem Gefühl wertvolles Menschenleben vor dem Zusammenbruch bewahrt wird.
Ich darf Sie, Herr Helldorf, versichern, daß, was strenges Geheimnis sein sollte, nicht nur mir bekannt ist. Weiß man also in unserm engem Kreis, daß Sie der moralische — dies Wort an dieser Stelle klingt seltsam — Sieger dieses Streites sind, so wird man in vollkommenster Hochachtung zu würdigen wissen, wenn Sie, statt sich durch ein neues Opfer vor dem Verlust der materiellen Seite des Streits (ideell sind Sie der Sieger) zu retten, die Wette für verloren gäben.
Die moralische Niederlage des Herrn Freudenheim würde dadurch nur eine um so vollkommenere.
Als Verfechter des Humors selbst in seiner gewagtesten Form und als einer der Hauptakteure bei der Inszenierung dieser Wette, die sich in der Theorie so harmlos ausnahm, werde ich gewiß nicht nach der moralischen Seite hin übertreiben, wenn ich heute diesen Fleischhandel, der Herrn Freudenheim gut anstehen mag, als Ihrer unwürdig bezeichne.
Je mehr Sie, Herr Helldorf, dieser meiner Auffassung zuneigen, um so bereitwilliger werden mich Ihre Herren Sekundanten zur Gewährung jeder von Ihnen gewünschten Genugtuung finden.
Ich habe die Ehre, Herr Helldorf, zu sein
in vorzüglicher Hochachtung
Ihr ganz ergebener
Fritz Krohn.
Helldorf war vom Klub aus zu einem seiner Freunde gefahren, dem er den Vorgang mit allen Details unterbreitete.
Der sah in dem Verhalten Krohns „neben einer arg zu mißbilligenden Einwirkung in Helldorfs Angelegenheiten, die an sich jedoch bei aller Taktlosigkeit nach herrschendem Ehrenkodex des S. C. noch nichts absolut Beleidigendes habe, eine schwere persönliche Kränkung deshalb, weil er eine, wenn auch noch nicht begangene, so doch immerhin im Bereich der Möglichkeit liegende, hier vielleicht sogar projektierte Handlung Helldorfs als eine Schweinerei bezeichnet habe. Und selbst in dieser unbestimmten Form sei diese Kränkung schwer genug, um mit der Pistole in der Hand gesühnt zu werden.“
So sprach nach kurzer Überlegung Eberhard Freiherr von und zu Knipphausen, Oberleutnant d. R. im 3. Garde-Ulanen-Regiment und A. H. des Corps Sachso-Borussia. Und der mußte es wissen!
Helldorfs Bemühungen, des Barons Aufmerksamkeit auf die materielle Seite der Krohnschen Einwände zu lenken und ihm die Prüfung nahezulegen, ob seine Handlungsweise vielleicht doch nicht ganz einwandfrei sei und ob man die Krohnschen Vorschläge etwa als kameradschaftliche Ratschläge auffassen könne, wies Eberhard Freiherr von und zu Knipphausen voller Entrüstung zurück.
„Ne, ne, lassen Sie nur; das is völlig schnuppe; spielt absolut keine Rolle, ob die Beleidigung berechtigt ist oder unberechtigt. Sobald se fällt, is se jefallen. Jründe sind Nebensache.“
Helldorf machte sich klar, daß Eberhard Freiherr von und zu Knipphausen recht hatte. Denn wenn er ihn jetzt einen Schafskopf nannte (wozu er nicht übel Lust verspürte), so setzte er sich damit entschieden ins Unrecht, obgleich er materiell im Rechte war. Es blieb ihm also nichts weiter übrig, als dem Baron die Erledigung der Formalitäten zu überlassen. Dann fuhr er nach Hause, wo er Krohns Brief vorfand, den er uneröffnet an Eberhard Freiherrn von und zu Knipphausen sandte, der ihn seinerseits, und zwar ebenfalls verschlossen, in ein Kuvert legte und mit dem Vermerk „Bis zum Austrag des zwischen Ihnen und Herrn Helldorf schwebenden Ehrenhandels bedauert mein Klient, Zuschriften von Ihnen nicht entgegennehmen zu können“ an ihn zurücksandte.
Krohn grinste und schüttelte den Kopf, als er die Zuschrift erhielt. „Esel!“ sagte er, drehte sich unwillkürlich um, doch war niemand im Zimmer, und warf dann die Fetzen seines Briefes in den Papierkorb.
Aber der Ehrenrat entschied nach erregter Sitzung: daß erstens eine schwere Ehrenkränkung vorläge, die mit der Pistole zu sühnen sei. Und er entschied zweitens, daß Helldorf an sein Wort nicht gebunden sei, da man ein Versprechen auf ein Handeln oder Unterlassen mit bindender Wirkung nur geben könne, nachdem im voraus der Inhalt des Abkommens festgelegt sei.
Und der Ehrenrat fügte hinzu: Versprechen wie dieses seien nicht ernst zu nehmen, denn wie, wenn Herr Krohn, nachdem er das Wort des Herrn Helldorf hatte, von diesem einen Vermögensverzicht zu seinen Gunsten, den Übertritt zu seiner Glaubensgemeinde, den Austritt aus der konservativen und den Eintritt in die liberale Partei gefordert hätte.
Trotz dieser unleugbaren Logik erklärte Krohn, daß er Herrn Helldorf solange jede Genugtuung verweigern werde, als er nicht die Zusicherung von ihm habe, daß die in Frage stehende Dame mit dem Austrag der Wette in keiner Weise etwas zu tun habe; sei es nun, daß diese Zusicherung auf Grund des ihm gegebenen Wortes oder (falls er sich nach dem Spruch des Ehrenrats nicht mehr für gebunden erachte) auf Grund eines jedem gebildeten Menschen eigenen Gefühls des Anstandes und der Natur erfolge.
Aber in dieser Erklärung sah der hochweise Rat der über Leben und Ehre entscheidenden Männer einmal eine neue Beleidigung und ein zweites Mal ein durchaus mißglücktes Manöver Krohns, um unter dem Deckmantel der Tugend und Moral zu kneifen. Und sie verhöhnten ihn und taten ihn in Verruf.
Und sie meldeten es dem Regiment, bei dem er als Vizewachtmeister stand und nun um die Chancen seiner Leutnantschaft kam. Und sie meldeten es seinem direkten Vorgesetzten, dem Oberstaatsanwalt, der ihm nun nahelegte, seine Karriere bei der königlich preußischen Staatsanwaltschaft als beendet zu betrachten. Und sie meldeten es dem Stammtisch der „Jungen“ im Klub, die ihn nun baten, seinen Lunch fürderhin an einem besonderen Tische einzunehmen. Und sie meldeten es seinem Reitklub, seinem Tennisklub, seiner Bridgepartie. Und sie alle zogen sich von ihm zurück, denn seine Ehre hatte (darin herrschte nur eine Stimme) einen endgültigen Knacks erlitten.
Nur der Verein für Literatur und Kunst prüfte selbständig und äußerte seinen Standpunkt zu dem Streite dadurch, daß er ihn in den Vorstand wählte. Aber gerade das schadete ihm mehr, als es ihm nützte. Denn daß diese Anarchisten der Moral guthießen, was der königlich preußische Staatsbürger voll sittlicher Entrüstung von sich wies, wußte man — und zwar nicht erst seit heute.
Und so gingen denn Fritz Krohn und sein Humor auf Reisen und ließen sich in Paris nieder, während Dr. Fleischer an Krohns Stelle die Vorbereitungen zum Helldorf-Fest traf.
Helldorf durfte mit diesem Ausgang seines Streits wohl zufrieden sein. Seine Wette war gewonnen; sein Vorgehen, das ihm selbst nicht ganz unbedenklich schien, war gewissermaßen schon im voraus von einem hohen Ehrenrat sanktioniert, und ein Duell, auf das er drang, vermieden worden. Und zu allem kam, daß es keiner besonderen Vergewaltigung der Wahrheit bedurfte, um das Gerücht in Umlauf zu setzen: Helldorf habe für die Ehre von Hilde Simon sein Leben aufs Spiel gesetzt.
Umso mehr war er nun darauf bedacht, für den Austrag der Wette noch in letzter Stunde einen Ersatz zu finden. Er wünschte alles zu vermeiden, wodurch der Bestand dieses Verhältnisses, das ihn anregte und auch dann beschäftigte, wenn Hilde nicht bei ihm war, gefährdet wurde. Nur aus diesem Grunde besuchte er jetzt die Five o’clock teas im Esplanade-Hotel und im Kaiserhof und machte abends Gesellschaften mit, auf denen er seinen Zwecken geeignete Frauen zu begegnen hoffte. Überall fand er Entgegenkommen; aber nirgends kam bei ihm die Stimmung auf, die der entscheidende Schritt verlangte. Eine Frage, an die er früher niemals gedacht hatte, legte er sich vor: weshalb will diese Frau mit dir zusammen sein, weshalb jene? Und die Statistik, die er auf Grund seiner Erfahrungen sammeln konnte, ergab:
Weil er der Sohn vom alten Helldorf war. Aus Lust an einem Abenteuer. Als Ausgleich für einen Ehebruch des Mannes. Aus Neugier. Um den Neid einer Freundin zu erregen. Um den Liebhaber eifersüchtig zu machen. Um Vergleiche anzustellen. Um Mutter zu werden. Um geheiratet zu werden. Materieller Vorteile wegen. Um geschäftliche Vorteile für den Mann zu erwirken. Um durch ihn in höhere Gesellschaftsklassen zu kommen.
Aber auch nicht eine einzige war dabei, von der er annehmen durfte, daß sie ihn um seiner selbst willen begehrte.
Demnach hatte er sich jedesmal erniedrigt, wenn er mit einer dieser Damen zusammengewesen war. — Damen? Ja, warum? Etwa im Gegensatz zu Kokotten? Wo lag denn da der Unterschied? Und wenn es einen gab, zu wessen Gunsten fiel er dann aus? Machten Not, Bildungsmangel, das Fehlen einer sorgfältigen Erziehung, schlechte Vorbilder, oft sogar Zwang, den Eltern oder Gewalthaber ausübten, diese Irrungen nicht verzeihlicher als die Gründe, aus denen sich die Damen der Gesellschaft prostituierten? Und zum ersten Male war es ihm klar: es gibt anständige Frauen in der Tiergartenstraße wie in der Moulin rouge, genau wie es hier und da Kokotten gibt. Man mochte schon, da man sich um den kommenden Tag nicht zu sorgen hatte, in der Tiergartenstraße vielleicht wählerischer sein als in der Moulin rouge; dafür war man hier ehrlicher und heuchelte weniger.
Und Helldorf, der, seit er mit Hilde verkehrte, zum ersten Male auch über Dinge nachdachte, die ihm, nur weil sie seit Jahrhunderten unverändert bestanden und bewertet wurden, darum auch selbstverständlich schienen, fühlte, wie sinnlos die Wette war, die er mit Freudenheim auszufechten hatte; wußte, daß er sie ohne Hilde verlieren mußte, sobald man den Begriff einer anständigen Frau nicht nach geltenden Werten, sondern dem Sinn nach faßte. Aber da Geltung und Schein wie überall, so auch hier den Ausschlag gaben, so mußte er gewinnen.
Trotzdem wachte er am Morgen des Tages, der die Entscheidung brachte, auf, ohne eine der vielen Möglichkeiten, die sich ihm boten, benutzt zu haben.
Er schrieb:
Lieber Adolf!
Bitte, nimm allmählich die Beziehungen zu Gutsmann Blanco auf. Er ist ein enthusiastischer Jäger unter der Erde und demzufolge Vorstandsmitglied des F. T. C. F. Er wird Dich also, wenn Du ihm meine Gründe bringst, nach St. Cloud zur Jagd laden. Das ist sehr gut, denn Du kannst Lizzy, ohne unhöflich zu sein, zu Hause lassen oder nach Versailles, oder, was ihr wohl am liebsten sein wird, mit einem Tausend-Francsschein nach der Rue Drouot schicken.
Enthusiasmiere Gutsmann, halte Lizzy aber trotzdem fürs erste noch im Hintergrund. Einmal erhöht das den Reiz und die Neugier, und dann — für alle Fälle; denn obgleich ich wünschte, daß nie eine Veränderung in meinen Beziehungen zu Hilde einträte, so kann man doch nie wissen, was der nächste Tag bringt. Im Klub ahnt man bereits, ohne bestimmte Behauptungen zu haben, und das ist immerhin bedenklich. Ich gebe mir aber alle Mühe, dies Verhältnis auf eine sichere und solide Basis zu stellen, so daß man nicht hinter jedem Besuch, den Henri meldet, das Hereinplatzen der Katastrophe zu befürchten braucht, was nebenbei mit der Zeit nervös macht.
Diese gesunde Basis glaube ich gefunden zu haben. Hilde muß heiraten. Es handelt sich also darum, einen Mann für sie zu finden, der keine Schwierigkeiten macht und an unserm Verhältnis keinen Anstoß nimmt. Natürlich laufen solche Ehrenmänner in der hiesigen Gesellschaft zu Dutzenden herum, und bei ihrem Vermögen wäre alles in kürzester Frist zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst, wenn die Mutter sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, durch ihren Schwiegersohn gesellschaftlich eine oder mehrere Stufen aufzurücken. Weißt Du nicht jemanden? Ich habe schon an den Grafen Arenstorff gedacht. Den müßte man möglicherweise aber, bis nach der Hochzeit wenigstens, im unklaren lassen. Der Junge hält auf Form und würde uns sehr gekränkt erklären: warum mußtet ihr mir das vor der Ehe sagen? War es nicht Zeit, wenn ich es nach der Hochzeit erfuhr? Jetzt darf ich nicht mehr. — Du kennst ihn ja und wirst mir beipflichten.
Bei Hildes Drang zur Wahrheit, den ich bisher aussichtslos bekämpfte, ist aber zu befürchten, daß sie mit „dieser Lüge“, wie sie es pathetisch nennt, „nicht in die Ehe gehen“ würde. Und da sie unglückseligerweise logisch denkt (die erste Frau übrigens mit diesem Gebrechen, die mir begegnet), so muß ich diese edle Regung gutheißen. Denn als ihr Lehrmeister und Vertrauensmann, der ich auch heute noch mehr als ihr Geliebter bin, und als der ich im Schweiße meines Angesichts mich mühe, meine Autorität zu wahren, kann ich ihr diese Ehe schwer plausibel machen.
Der Schwerpunkt liegt aber darin: obgleich weder ich noch Hilde das Wort Ehe jemals ausgesprochen haben, so nimmt sie doch als selbstverständlich an, daß ich sie heirate. Und auf welche Weise ich ihr beibringen werde, daß ich mich nach langer Selbstprüfung nicht für würdig befunden habe, ihr Mann zu werden, weiß ich heute noch nicht.
Ich schreibe Dir alles ausführlich, damit Du genau im Bilde bist und Deine Behandlung bei Lizzy (die mir noch immer wertvoll ist) danach einrichtest.
Henri ist ein Juwel.
Laß den Brief nicht herumliegen.
August.
Er kümmerte sich auch heute noch nicht um die Arrangements des Festes, ging früher als sonst in den Klub, um dem Stammtisch einen Vorschlag zu unterbreiten.
„Es lebe der Sieger!“ rief Fleischer, als Helldorf eintrat, und erhob sein Glas und alle tranken auf sein Wohl. Auch Freudenheim, dem es nicht leicht wurde.
Helldorf dankte.
„Und doch wünschte ich, ich hätte die Wette nie gemacht“, erklärte Helldorf, indem er sich setzte.
„Ich auch“, sagte Freudenheim. Fragte dann: „Etwa aus moralischen Gründen?“ und sah ungläubig zu ihm hinüber.
„Allerdings, auch wenn Sie sich das nicht vorstellen können, Herr Freudenheim.“
„Na, in hunderttausend Mark läßt sich schon ein hübsches Quantum Moral einwickeln“, meinte Schuster.
„Sie könnten ja einfach verlieren; — oder ich hätte Sie auch gegen ein Draufgeld herausgelassen. Aber gewinnen und dann den Moralhelden mimen, na, wissen Sie, das wirkt zum mindesten komisch.“
Helldorf fühlte, daß Freudenheim recht hatte, und er merkte wohl, daß die andern ebenso empfanden.
„Ich will Ihnen einen Vorschlag machen“, sagte er hastig.
„Bitte!“ antwortete Freudenheim, der auf eine grobe Antwort gerechnet hatte.
„Man entbinde mich von der Pflicht, den Namen der Dame zu nennen, und ich verzichte auf den gewonnenen Betrag zugunsten der Tombola.“
„Das ist ganz ausgeschlossen!“ sagte Freudenheim. „Bei dem Propos stehe ich um keinen Deut besser.“
„Aber die Armen!“ warf Fleischer ein.
„Wenn Herr Helldorf glaubt, daß er sich mit dem Gelde beschmutzt, so soll er es auch den Armen nicht zumuten. Ich will auf die Namensnennung verzichten, wenn ich von der Zahlung befreit werde.“
Dagegen erhob sich allseitiger Widerspruch.
„Von der Hälfte wenigstens!“ rief Freudenheim.
„Jetzt beginnt die Sache tatsächlich ekelhaft zu werden“, erklärte Fleischer.
„Sie sind doch hier nicht in einem Trödlerladen, Herr Freudenheim!“ rief Sachse.
Krohns vermittelnder Humor fehlte.
Schließlich einigte man sich dahin, die Entscheidung in die Hände Fleischers, Sachses und Delffts zu legen. Nach kurzer Beratung lautete ihr Spruch:
1. Helldorf gibt sein Ehrenwort, daß er die Bedingungen, von denen der Eingang der Wette abhängig gemacht war, sämtlich erfüllt hat.
2. Helldorf wird daraufhin von der Pflicht der Namensnennung jedem Dritten gegenüber entbunden.
3. Nach einer ehrenwörtlichen Zusicherung seitens Freudenheims, strengste Diskretion zu wahren, hat Helldorf diesem den Namen der Dame zu nennen.
4. Helldorf verzichtet auf die ausgesetzten hunderttausend Mark.
5. Freudenheim zahlt die hunderttausend Mark statt an Helldorf an die Stadt Berlin zugunsten armer gefallener Mädchen.
Alle erklärten diese Entscheidung für weise und sachgemäß. Helldorf verzichtete auf die hunderttausend Mark, um eine Dame der Gesellschaft nicht zu diskreditieren. Freudenheim zahlte statt an Helldorf an die Armen und schmückte sich so noch mit dem Lorbeer des Wohltäters.
Wenn einer schlecht abschnitt, so war es Helldorf. Trotzdem war der Spruch ganz nach seinem Wunsche und befreite ihn von der drückenden Stimmung der letzten Tage. Freudenheim aber war außer sich.
„So lassen Sie mir wenigstens die Wahl, wofür ich das Geld verwende. Ich will es der Frau Generalkonsul Deutz zum Erweiterungsbau der Kaiser-Friedrichkirche geben.“
„Damit Sie einen Orden bekommen!“ schrie Fleischer.
Helldorf hatte dagegen nichts einzuwenden. Aber Fleischer bestand darauf, daß man ihren Entschließungen zu folgen habe, worauf Freudenheim ungehalten den Klub verließ.
Als Hilde am Nachmittag mit der Toilette für das Helldorfsche Diner begann, fühlte sie arge Beklemmungen auf der Brust und am Herzen, die erst leise einsetzten, dann aber an Heftigkeit zunahmen.
Sie war seit dem Abend im Hause der Eltern nicht mehr unter Fremden mit Helldorf zusammen gekommen. Sie kannte das Gefühl noch nicht, etwas verbergen und sich anders geben zu müssen als sie war. Und sie schämte sich.
Sollte Helldorf wirklich nicht fühlen, wie qualvoll dieser Abend für sie werden konnte? Er gab ein Fest, und sie, die neben ihn gehörte, erschien als eine der vielen, mit denen ihn nichts als die gesellschaftliche Konvention verband. Eine Erniedrigung war’s, und der Mann, der sich stolz erboten hatte, sie zu führen und sie zu lehren, alles Schlechte zu verachten und das Glück nur im Guten zu finden, war es, der sie erniedrigte. Heute noch mußte er kommen und von der Mutter fordern, daß sie seine Frau würde. Und wenn die Mutter der Jugend wegen um einen Aufschub bat, dann mußten sie beide vor sie hintreten und bekennen, daß sie längst eins waren. Dies Fest heute wäre unmöglich, wenn es etwas anderes wäre als die für die Welt bestimmte Feier ihrer Zusammengehörigkeit.
So dachte Hilde. Und den ganzen Tag über hoffte sie. Aber er kam nicht.
Fleischer hatte sich alle Mühe gegeben, das Fest ruhig und vornehm zu gestalten und alles Aufdringliche und Laute zu vermeiden. Die meisten Gäste, die von dem reichen Helldorf etwas Außergewöhnliches an Glanz und Fülle erwarteten, wurden enttäuscht.
Viel frische Blumen gab’s — Kaviar — Suppe — einen weißen Fisch — ein warmes Entrée — Braten — Gemüse — Speise — und Nachtisch. Dazu Romanée Mousseux — Madeira — 95er Josefshöfer — 74iger Mursigny — 64iger Chateau Lafitte — Clicquot jaune. Selbst das leichte Fleischstück nach dem Fisch und das kalte Entrée, das man mit dem obligaten Glase Sauternes oder Chateaux Yquem in jedem besseren Hause am Kurfürstendamm vor dem Braten serviert, fehlte. Keine Reden gab’s, keine Vorträge, keine Überraschungen. Dabei hatten die Damen auf Harry Walden, die Herren auf Olga Desmond, viele auf beide gerechnet.
Das mindeste aber, was jeder erwartet hatte, war eine Kapelle; aber selbst die fehlte.
Als der Braten serviert war, erhoben sich zwei Damen, die Fleischer vorher um diese Güte gebeten hatte, gingen am Tisch herum und verteilten Lose zur Tombola. Sie waren gehalten, jede geforderte Anzahl von Losen abzugeben, aber keine Bezahlung anzunehmen. Auf jedem Los war neben der kleingeschriebenen Nummer in großen Lettern zu lesen:
„Was meint der Prediger, wenn er von guten Handlungen spricht, die dennoch schlecht sind? Er hat diejenigen im Auge, welche ihre Wohltätigkeit öffentlich üben (Talmud).“
Und darunter stand:
„Wir haben im Rauchsalon drei Büchsen aufgestellt, auf die wir diejenigen Herrschaften, die für den guten Zweck etwas beisteuern wollen, aufmerksam machen.“
Man sah, wie die Herren mit einer Befriedigung, die der Genuß des Alkohols nur schwer verbergen half, die Hände wieder aus den Taschen zogen und wie die gedrückte Stimmung allmählich der Ausgelassenheit wich. Sie alle waren zwar mit Erwartungen, aber doch nicht ohne Beklemmung gekommen. Denn Helldorfs Diner zu wohltätigen Zwecken rangierte unter den großen Ausgaben, und die Bewirtung trug nicht gerade dazu bei, die Opferfreudigkeit zu heben. Nun hatte durch dies geheime Verfahren plötzlich alle Not ein Ende, und man konnte neben dem freien Diner, das man jetzt allgemein lobte, sogar noch etwas Wertvolles gewinnen. Aber man durfte seiner Freude nicht allzu lauten Ausdruck geben, denn zu leicht hätte irgendein gehässiger Mensch den wahren Grund der Ausgelassenheit erraten. Wohl manch einer hätte sonst ein begeistertes Hoch auf den Gastgeber ausgebracht, das einer beifälligen Aufnahme sicher war.
Helldorf hatte sechstausend Mark für die Tombola-Geschenke ausgeworfen. Die drei Büchsen enthielten 284 Mark und 53 Pfennig, darunter einen Hundertmarkschein, den Helldorf selbst hineingeworfen hatte. Nicht eben erschütternd bei 56 Gästen. Ein Gast hatte einen Zettel hineingeworfen, auf dem stand: „Was einer nicht öffentlich tun darf, soll er auch nicht heimlich tun.“ Da Fritz Krohn in Paris war, wußte man nicht, wer der humorvolle Wohltäter war. Manch einer wurde verdächtigt und ließ es sich gern gefallen.
Helldorf, der ausgezeichneter Laune war, saß bei Tische rechts von Hilde, die als Tischherrn einen Gardeleutnant mit unerhörtem Stammbaum hatte, der infolge fortgesetzter Inzucht aber durchaus verblödet und daher der Abgott aller jungen Mädchen war. Bereits beim Kaviar hatte er gefragt:
„Essen gnädiges Fräulein gern Kaviar?“ und die arg verstimmte Hilde hatte geantwortet:
„Wollen Sie das bei jedem Gang fragen?“
Da dies durchaus in seiner Absicht gelegen hatte, so geriet er gleich bei Beginn des Abends in arge Verlegenheit. Doch ihm kam Rettung. Der Geist seiner Väter verließ ihn nie.
„Gnädige interessieren sich gewiß für Musik?“
„Danke, ja“, gab sie zur Antwort.
„Gnädige haben dann gewiß auch ‚Sardanapal‘ gesehen? Kolossal, nicht wahr?“
„Einfach pyramidal!“ erwiderte Hilde. Sie war entschlossen, statt sich über die Zumutung eines solchen Tischherrn zu ärgern, das Ganze humoristisch zu nehmen. Und sie unterstützte diese Absicht, indem sie mehr als es ihre Gewohnheit war, dem Alkohol zusprach.
„Kolossal bunt, nicht wahr?“ fuhr er fort.
„Sie haben eine glänzende Beobachtungsgabe, Herr Graf.“
„Jewohnheit, Jnädigste. Farbensinn prägt sich aus, wenn man von früh an nur Uniformen um sich sieht.“
Hilde seufzte. „Wie himmlisch!!!“ sagte sie. „Von Kindheit an nur Uniformen zu sehen!!“ und sah ihn mit schmachtenden Augen an.
Er war das gewohnt und fand es durchaus natürlich.
„Die hakt!“ sagte er halblaut zu sich.
„Was sagten Sie?“ fragte Hilde, obgleich sie genau verstanden hatte.
„Nur so hinjedacht“, gab er zur Antwort.
„Sie denken viel, nicht wahr?“
„Unjemein viel!“ antwortete er und saß da wie ein Sieger.
„Strengt das nicht an?“ fragte sie und legte Bewunderung und Teilnahme in ihre Stimme.
„Jewohnheit, Jnädigste, Jewohnheit. Man tut das nachjerade, ohne es zu wollen.“
„Denken Sie jetzt auch, Herr Graf?“
„Ich jenieße, Jnädigste.“
„Schreiben Sie mir einen Vers auf meinen Fächer. Ich habe das Gefühl, als müßten Sie wunderbare Verse machen.“
Er nahm den Fächer und zog einen goldenen Bleistift aus der Tasche.
„Ich werde Sie jetzt in Ruhe lassen“, sagte sie und wandte sich zu Helldorf, der jedes Wort der Unterhaltung mit angehört und längst erkannt hatte, daß alle seine Kunst nicht ausreichen würde, um, wie er gehofft hatte, diese Ehe zustande zu bringen.
„Findest du das Ganze sehr geschmackvoll?“ fragte sie ihn.
„Ich leide mehr als du“, erwiderte Helldorf.
„War das nötig?“
„Leider ja!“ gab er zur Antwort. „Was ich tue, geschieht für dich; auch das hier. Ich will es dir morgen erklären.“
Als Hilde ihn fragte: „Warum konntest du das nicht gestern tun — da du es doch wußtest — seit acht Tagen wußtest?“ dankte er es dem Grafen, daß ihm die unbequeme Antwort erspart blieb. Denn in diesem Augenblick überreichte ihr dieser mit einer kurzen Verbeugung den Fächer und schlug die Hacken unter dem Tisch zusammen.
Hilde las teilnahmslos:
„Noblesse oblige!“
Das brachte sie wieder zur Besinnung.
„Wundervoll!“ rief sie, „ganz wundervoll! Ist das von Ihnen, Herr Graf?“
„Wie meinen Jnädige das?“ fragte er.
Sie sah ihn an und mußte laut lachen, so intelligent war sein Ausdruck. Die wasserblauen Augen ohne Brauen mit den rötlich blonden Wimpern, die schmale Stirn, die das ungescheitelte Kopfhaar fast bedeckte, die vergnügte Nase und die dick geschwollenen Lippen, das glattrasierte runde Gesicht und die kleinen Ohren mit den angewachsenen Läppchen gaben ein Bild, neben dem jede Karikatur ernst erscheinen mußte.
„Sie sind ein Dichter!“
„Jnädigste schmeicheln.“
„Schmeicheln? Ist es nicht tausendmal bewundernswerter, Leutnant bei den 3. Garde-Ulanen zu sein als ein Dichter? Aber das eine ist man und das andere wird man. Sie vereinigen beides in einer Person.“
Er räusperte sich und wurde unruhig.
„Sie sind die erste Frau, die mich versteht.“
„Sie machen mich glücklich“, erwiderte sie, „und stolz.“
„Ich könnte Sie glücklich machen?“ fragte er lebhaft. „Ich“ — stotterte er, „wäre der glücklichste Mensch“, — und sein Ausdruck wurde so blöde, daß Hilde ahnte: eine gründliche Entladung war im Anzuge. Von diesem Idioten war alles zu erwarten — sogar ein Antrag. Aber ehe sie dem Gespräch eine andere Wendung zu geben vermochte, stammelte er:
„Ich liebe Sie ...“
Das war ihr zu dumm. Sie griff nach Helldorfs Hand, zog sie zu sich herüber, und, indem sie sie drückte, sagte sie:
„Wie schade — aber hier sitzt mein Freund, er hat mein Wort — Sie kommen zu spät.“
Helldorf fuhr es wie ein Blitz durch die Glieder. Er fühlte, wie er leichenblaß wurde und nicht aufzusehen wagte.
In diesem Augenblick rettete Fleischer, der Hilde gegenübersaß und alles mit angehört hatte, den Abend. Er sprang auf und sagte:
„Herr Helldorf wünscht Ihnen eine gesegnete Mahlzeit!“
Und der Graf ging auf Helldorf zu und räusperte, heiser vor Erregung:
„Dann sind Sie ein Lump, mich drauf zu hetzen.“ Er machte eine stramme Verbeugung zu Hilde hin, dann verschwand er eilig.
Helldorf reichte Hilde den Arm und bewahrte, so gut es ging, seine Haltung. Er geleitete sie an einen Sessel und entschuldigte sich dann für wenige Augenblicke mit seiner Pflicht als Wirt.
Hilde zitterte am ganzen Körper: Dann sind Sie ein Lump, mich drauf zu hetzen, wiederholte sie sich ein über das andere Mal, begriff nicht, was es bedeutete und merkte auch nicht, daß Freudenheim mit weingerötetem Gesicht neben ihr stand und sie fragte, ob sie sich mit dem Grafen und Helldorf gut unterhalten habe. Erst als er so nah an sie herantrat, daß sein heißer Atem und der Geruch des Alkohols sie genierten, wurde sie aufmerksam.
„Schade!“ sagte Freudenheim.
„Was ist schade?“ erwiderte Hilde.
Aber Freudenheim schüttelte nur den Kopf und sah sie dreist an.
„Was meinen Sie?“ fragte Hilde verärgert.
„Wissen Sie, daß Sie mich viel Geld kosten, gnädiges Fräulein? Sie dürften schon liebenswürdiger zu mir sein.“
„Ja, sind denn alle Menschen heute verrückt?!“ fragte sie wütend.
„Ich nicht!“ erwiderte Freudenheim, und trat näher an sie heran. „Sie gestatten, daß ich mich zu Ihnen setze.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, rückte er seinen Stuhl dicht neben ihren Sessel. Er wurde aufdringlich.
„Ich würde gern mit Ihnen einmal eine halbe Stunde allein plaudern.“
Hilde störte der ungenierte Ton und sie erwiderte ärgerlich: „Wozu?“
„Das fragen Sie?“ gab Freudenheim zur Antwort. „Nun, weil es Dinge gibt, die man nicht gern vor andern verhandelt.“
Hilde fuhr entsetzt zusammen. Sie richtete sich stolz auf und laut fragte sie:
„Sind Sie wahnsinnig? Was wollen Sie von mir?“
Er bohrte seine Augen frech und höhnisch in die ihren.
„Sie — will ich!“
Hilde war für einen Augenblick wie gelähmt.
„Warum soll ich nicht auch wollen, was Helldorf kann?“
Aber nur für einen Augenblick. Dann fuhr sie mit einem Schrei des Entsetzens in die Höhe und stürzte sich wie eine Wahnsinnige auf ihn. Sie schrie laut und schlug ihm die geballten Fäuste ins Gesicht. Vergebens suchte er sich zu befreien. Sie warf sich über ihn und krallte die Nägel ihrer Finger fest in seinen Hals, so daß ihm der Atem wegblieb. Sie fühlte, daß eine große Kraft über sie kam und sie fortriß. Gewalt war nötig, um sie endlich von ihm loszureißen. Aber auch jetzt noch schlug sie um sich, suchte sich selbst zu beißen, zerfleischte sich Gesicht und Brust, riß sich die Haare aus und schrie entsetzlich. Dann trug man sie hinaus. Aber es dauerte noch lange, bis die Ekstase von ihr wich und sie sich beruhigte und in tiefen Schlaf verfiel.
Freudenheim war arg zugerichtet und völlig erschöpft. Trotzdem bat er Fleischer, der dafür sorgte, daß er ohne Aufsehen aus dem Hause kam, für die Gäste eine Erklärung zu finden, durch die er bei seiner Braut und seinen Schwiegereltern nicht kompromittiert würde. Andernfalls würde er sich an sein Ehrenwort, Diskretion zu wahren, nicht mehr gebunden halten.
„Lassen Sie das meine Sorge sein“, erwiderte Fleischer. „Aber ein Lump sind Sie, das steht fest, und unter vier Augen darf ich es Ihnen ja wohl sagen.“
Dann kehrte er in den Festsaal zurück.
Mit diesem Eklat, den Frau Kommerzienrat Lewin als geradezu sensationell bezeichnete, und der in verschiedenen Gruppen verschieden diskutiert wurde, war der Erfolg des Abends entschieden.
Das war ein größerer Reiz für die Nerven, als ihn die Tänze einer Desmond, die Gewagtheiten eines Giampietro, die schwülen Klänge einer Zigeunerkapelle und selbst der älteste Sauternes erregen konnten. Der Tanz der Apachen war dagegen ein harmloser Dreck.
Was ließ sich hinter diesem „Knall“, wie es geschmackvoll Dr. Jaffé nannte, bei einiger Phantasie nicht alles vermuten! Die gewagtesten Erklärungen fanden ernste Beachtung. Von einem starken hysterischen Anfall, für den Medizinalrat Lippmann plädierte, wollte niemand etwas wissen.
„Na, na, Geheimrat, so harmlos ist die Sache nicht!“ sagte ein dickleibiger Bankier. — „Sie wollen uns nur um die Sensation bringen!“ jammerte Frau Kommerzienrat Lewin, und flüsterte, noch immer vor Erregung glühend, ihrer Nachbarin ins Ohr: „Verlassen Sie sich drauf, sie ist schwanger!“
„Himmel!“ fuhr die zusammen, faßte sich aber schnell wieder und fragte: „Von ihm? Wie interessant!“
„Aber er ist ja verlobt!“ sagte eine Dritte.
„Eben darum!“ erklärte Frau Kommerzienrat. „Sie will nicht dulden, daß er eine andere heiratet.“
„Ah!! So!“ sagten beide laut. „Natürlich! Das ist es!“
So laut, daß die Umstehenden es hörten und voll Neugier fragten: „Wie? Sie wissen, was es war?“
Und die Vermutung erschien wahrscheinlich, und da sie wahrscheinlich schien, wurde sie zur Gewißheit.
Am nächsten Morgen klingelten in Berlin-W. früher als sonst die Telephone. Jede wollte die erste sein, die ihren Bekannten die Sensation der diesjährigen Saison meldete. Da hieß es denn:
„Weißt du schon das Neueste?“ — „Nein, was denn?“ — „Die siebzehnjährige Hilde Simon kriegt ein Kind!“ — „Himmel! Das ist ja großartig! Wie ich das der Mutter gönne! Dieser aufgeblasenen Pute! Das muß ich sofort der Frau Kommerzienrat Tietz telephonieren. Die wird eine Freude haben! Vielen, vielen Dank! Leb wohl!“ — „Du!“ — „Ja, was denn?“ — „Willst du denn nicht wissen, wer der Vater ist?“ — „Gott, wie interessant! Das weiß man auch?“ — „Natürlich! Man weiß alles! Denke dir, der junge Freudenheim!“ — „Waaas?“ — „Allerdings, der Bräutigam von Else Hölderlin.“ — „Einfach prachtvoll! Na, da trifft’s mal die Richtigen!“ — „Und die Simon hat gestern auf einer Gesellschaft von ihm verlangt, daß er die Verlobung lösen und sie heiraten soll.“ — „Mir zittern die Knie vor Erregung! Schnell! Weiter! Weiter! Ach, wenn nur die Kommerzienrat Tietz noch nichts weiß.“ — „Ja, und Freudenheim hat sich natürlich geweigert, und da hat sie ihn vor allen Leuten verhauen.“ — „Was hat sie?“ — „Verhauen hat sie ihn! Nach Noten! Und vor allen Leuten!“ — „Du! Hör’ auf! Ich kann nicht mehr!! Ich bin zu erregt. So etwas war ja seit Jahren nicht mehr da! Ach, wenn man doch dabei gewesen wäre!! ... Mein Gott, wem sag’ ich’s denn nur zuerst? Weiß es die Salomon schon?“ — „Der hab’ ich’s eben telephoniert. Ich komme nachmittag zu dir, erzähl’ dir alles genau. Du kannst ja dann zu dir bitten, wer es hören will.“
Ein Festtag war’s für Berlin-W.; ein Festtag erster Ordnung. Und mancher fühlte an diesem Morgen, daß das Leben doch noch wert sei, gelebt zu werden; denn die Abwechslung, die es bot, wäre beispiellos. Das bewies deutlich wieder dieser Fall, und man war dankbar, daß man ihn miterleben durfte.
Man konnte die wenigen Mütter zählen, die, statt laut ihre Freude zu bekennen, durch diese Nachricht erschüttert waren und Mitleid mit der armen Hilde hatten, die ihre eigenen Kinder besorgt beiseite nahmen und mehr als zuvor sich mühten, so gut sie konnten, über sie zu wachen. Und wenn die Wege ihrer Kinder noch so eigene waren, sie doch durch ihre Liebe so zu lenken, daß sie zu ihrem Glücke führten.
Helldorf, der von Anfang an mit einer Taktlosigkeit von seiten Freudenheims gerechnet hatte, mußte zunächst die genaue Ursache dieses Auftrittes kennen, ehe er wußte, wie er sich zu verhalten habe.
Henri hatte sich in früher Morgenstunde mit einem Riesen-Fliederstrauß seines Herrn zu Behrs begeben, um sich nach dem Befinden der jungen Dame zu erkundigen. Er wurde von Frau Traute selbst empfangen und mit Fragen, nicht diskretester Art, überschüttet. Er gab vor, daß er weder deutsch spreche noch verstände, beantwortete aber, da er längst allen Zusammenhang kannte und besser als sein Herr über die Absichten der Frau Traute orientiert war (die Miß!!), alles so, wie es Frau Traute zu hören wünschte. So konnte er von diesem Morgenspaziergang außer einem Brief an seinen Herrn, die Sympathie einer schönen Frau und zwei glänzende Louisdor mit nach Hause nehmen.
Der Brief lautete:
Verehrter Herr Helldorf!
Ihr smarter Kammerdiener brachte Ihre duftenden Grüße für mein geliebtes Kind, das noch in tiefem Schlummer liegt. Sie müssen sich daher für den Augenblick mit dem Dank und den Grüßen der Mutter begnügen, einer Mutter, die ihr Kind zu lieb hat, um ihm Freuden zu versagen, an denen sein Herz hängt.
Ich kann Ihnen zu unser aller Trost sagen, daß Herr Sanitätsrat Sörges, den wir spät abends noch kommen ließen, einen völlig unbedenklichen Anfall von Influenza bei dem Kinde festgestellt hat. Er zweifelt nicht, daß Hilde bereits im Influenzafieber zu dem Feste gegangen ist. Durch den ungewohnten Genuß des Alkohols sei dann das Fieber und mit ihm die Reizbarkeit erheblich gesteigert worden. Damit wäre auch eine genügende Erklärung für den Anfall gegeben, der hoffentlich nur für Augenblicke den seltenen Glanz Ihres Festes gestört hat.
Ich hoffe, Sie werden bald Zeit finden, sich persönlich nach Ihrer jungen Freundin, die wohl einige Tage das Bett hüten wird, umzusehen, und so den Genesungsprozeß zu beschleunigen.
Mein Mann empfiehlt sich Ihnen, ich bin
mit freundlichen Grüßen
Ihnen ergeben ...
Die Zeilen setzten Helldorf in arge Bestürzung. Aber deutlicher als aus ihnen entnahm er aus dem, was Henri erzählte, daß Frau Traute um die Beziehungen ihrer Tochter zu ihm wußte, daß sie sie billigte, daß sie, wie Hilde selbst, mit einer Ehe rechnete.
Also (folgerte er) war das Ganze nichts weiter als eine mit großem Aufwand in Szene gesetzte und mit beispielloser Dreistigkeit durchgeführte Komödie, in der Frau Traute mit Geschick die Regie führte, während sich Hilde ihrer schwierigen Rolle mit vollendetem Raffinement entledigte.
Und er war der Gimpel, der auf den Leim gegangen war, und während er sich selbst und seine Umsicht und den Takt bewundert hatte, mit dem er dieses Liebesabenteuer ganz nach seinen Intentionen zu leiten glaubte, war er die ganzen Wochen über nichts weiter als eine Drahtpuppe gewesen, die von zwei verbündeten und raffinierten Frauen ständig in Bewegung gehalten wurde.
Wohin sie es mit ihm gebracht hatten und wie blind, wenn nicht blöde, er gewesen war, das hatte ja der gestrige Abend zur Genüge gezeigt. Hatte sie ihn dem Grafen gegenüber nicht bereits als ihren Verlobten ausgegeben, als sie ganz ungeniert seine Hand nahm und erklärte: hier ist der Mann, dem ich gehöre. Und was hatte er getan? Hatte er etwa widersprochen? Oder auch nur ein Wort gewagt, das, ohne sie zu kränken, auch nur einen Zweifel möglich machte? Der hatte denn ja auch mit genügender Deutlichkeit über dies fait accompli quittiert, ihn wie einen dummen Jungen behandelt — und wahrhaftig, der war er!
Am liebsten hätte er die Reitgerte genommen und sich eine gehörige Tracht Prügel verabreicht — er schlug sich vor den Kopf. Er! der sich über andere lustig machte und womöglich glaubte, daß er schlauer sei als der Durchschnitt. Er war auf die Intelligenz seines Kammerdieners angewiesen, um sich über die Gefährlichkeit und den wahren Charakter seiner Geliebten zu orientieren.
Und welche Rücksichten er genommen hatte! Lizzy nach Paris befördert; wer weiß: vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Nur, um ja die Zartbesaitete nicht zu verletzen. War es denn möglich, daß dieses kaum erwachsene Kind mit ihrer großen Pose von dem Glück im Guten ihn auf Wochen hinaus, von früh bis spät beschäftigt hatte? Wann früher hatte er sich für eine seiner Geliebten je ähnliche Umstände gemacht? Wann sich, wie hier, bemüht, ihre Ansprüche (und nicht zuletzt auf geistigem Gebiete) zu befriedigen? Es wäre auch ohne Johimbim gegangen. Doch das wollte er noch hingehen lassen. Daß er aber ihr zuliebe einen Kursus in der Kunstgeschichte begonnen hatte, darüber schämte er sich am meisten, — an die hunderttausend Mark wollte er schon gar nicht denken, obschon er Lizzy damit sichergestellt hätte, — wie sollte das nun weitergehen? Machte er dem gefährlichen Spiele dieser Frauen jetzt nicht mit aller Rücksichtslosigkeit ein Ende, so sollte es ihn durchaus nicht wundern, wenn er eines Tages in der Zeitung seine Verlobung mit Fräulein Hilde Simon veröffentlicht fände.
Wäre der Graf mit etwas mehr Talent und Humor als Adel und Dünkel begabt gewesen, er hätte gestern das Glas erhoben und die Tischgesellschaft aufgefordert, auf das Wohl des Gastgebers und seiner liebreizenden Braut zu trinken! Und wer weiß auch, wie er sich dabei verhalten hätte. Das wäre ein nettes Theater geworden.
Jetzt genügte es ihm nicht mehr, sich auf ruhige und anständige Weise aus der Affäre zu ziehen, dazu hatte man ihm zu böse mitgespielt. Jetzt wollte er seine Genugtuung haben ...
Mit andern Gefühlen stand er plötzlich Freudenheim gegenüber. Dem konnte das nicht passieren. In vierundzwanzig Stunden ist einer von uns erledigt! hatte er heute nacht zu Fleischer gesagt, der mit dem Grafen von Bredow am Vormittag den Grund des gestrigen Auftritts eruieren und Freudenheim dann auf Pistolen bis zur Kampfunfähigkeit fordern sollte. „Lächerlich!“ sagte er laut, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb:
Lieber Fleischer!
Situation vollkommen verändert. Gehen Sie, bitte, ohne den Grafen zu Freudenheim und sprechen Sie ihm mein Bedauern über den gestrigen Vorfall aus. Näheres im Klub.
Freundlichst Ihr Helldorf.
„Hier, Henri, lassen Sie’s mit Rohrpost befördern.“
Sofort rief er ihn zurück:
„Einen Augenblick noch!“ Er schrieb:
Dr. Burg, Hotel Astoria, Paris.
Champs Elysées.
Erwarte euch beide Berlin. Drahtet Ankunft.
„Hier, dies Telegramm nehmen Sie mit.“
In diesem Augenblick brachte das Mädchen auf einem silbernen Tablett die Karte des Grafen von Arenstorff Arenschild-Schmoldow.
„Er selbst?“ fragte Helldorf erstaunt.
Nicht einmal die Vertreter des Grafen hatte er erwartet, da er selbst doch der eigentlich Beleidigte war. Aber er vermochte diese schwierige Frage: war er oder war ich der Beleidigte? nicht zu beantworten. Er war entschlossen, die Entscheidung hierüber dem Grafen zu überlassen und sich dementsprechend möglichst reserviert zu halten.
„Ich lasse bitten!“
Graf Arenstorff trat ein, schlug die Hacken zusammen: „Morjen, Herr Helldorf.“
„Guten Morgen, Herr Graf Arenstorff. Bitte!“ und er forderte ihn auf, näherzutreten.
Der trat einen Schritt vor, stand dann wieder wie angewurzelt: „Sie werden erstaunt sein, ...“
„Erstaunt? Worüber?“ verstellte sich Helldorf.
„Mich hier zu sehen.“
„Keineswegs.“
„Um so besser.“
„Ich bitte!“ und er wies auf einen leeren Sessel.
„Ich bin so frei.“
Graf Arenstorff koppelte den Degen ab, setzte sich und stellte den Helm vor sich auf die Erde.
„Dieser sehr unangenehme Vorgang von gestern veranlaßt mich“, — diese Worte brachte er langsam und ruckweis heraus; jetzt aber griff er blitzschnell nach seinem Helm, stand mit vernehmbarem Ruck aus dem tiefen Sessel auf, schlug die Hacken zusammen und sagte mit militärisch lauter Stimme: „Darf ich wissen, ob Sie mit Fräulein Hilde Simon verlobt sind?“
Helldorf, der sich bei der Feierlichkeit, mit der der Graf diese Frage eingeleitet und hervorgebracht hatte, unwillkürlich auch erhoben hatte, war sehr froh, vor diese Frage gestellt zu sein, und erwiderte:
„Nein!! Ich bin’s weder, noch habe ich die Absicht.“
Graf Arenstorff legte die Hand an die Stirn.
„Ich danke verbindlichst. Sodann bitte ich um Entschuldigung für mein gestriges Verhalten.“ Er stand immer noch stramm wie eine junge Tanne.
Helldorf ging auf ihn zu, lächelte verbindlich, gab ihm die Hand und sagte: „Gewährt!“
Sie setzten sich wieder, Helldorf erleichtert, Graf Arenstorff mit einem wenn möglich noch blöd-verlegeneren Gesicht als zuvor.
„Sie haben sich also Hals über Kopf in die kleine Jüdin verliebt?“ fragte Helldorf und suchte ihm die Situation etwas behaglicher zu gestalten.
„Ich hatte Ursache anzunehmen, daß ich ihr sympathisch sei.“
„Was durchaus natürlich wäre.“
Des Grafen Hacken schlugen leicht aneinander, und er verbeugte sich kurz.
„Aber ...“
„Sie spielen auf das kleine Intermezzo bei Tische mit mir an?“
Der Graf nickte zustimmend.
„Aber, verehrter Graf, Sie spassen! Ein anerkannter Favorit bei Damen und einer ihrer besten Kenner wie Sie —“ — Graf Arenstorff drückte sein Monocle fester und seine Nase ragte wenn möglich noch vergnügter als gewöhnlich in die Luft — „Sie sollten wirklich?“
Helldorf sah ihn schelmisch an, als wollte er sagen: Sie sind ein ganz Schlimmer, Durchtriebener. Dabei lag vollkommenste Hilflosigkeit in seinem Bemühen, die Gedanken Helldorfs zu erraten.
„Sie meinen ...“ sagte er schüchtern.
Und laut und lebhaft erwiderte Helldorf:
„Aber natürlich meine ich — und Sie wissen es besser als ich, daß dieser kleine Scherz der jungen Dame eine wohlberechnete Koketterie war, um Sie eifersüchtig zu machen und zu reizen! Es war nur liebenswürdig von Ihnen und charmant, daß Sie mit so heiligem Ernste darauf eingegangen sind.“
Dem Grafen fiel das Monocle zur Erde.
Helldorf tat, als bemerkte er es nicht, und er fuhr fort:
„Wahrhaftig, von Ihnen können wir alle lernen.“
„Und Sie glauben ...“
„Glauben? Ich weiß! Sie hat aus ihrer Neigung durchaus keinen Hehl gemacht.“
Graf Arenstorff nahm in seinem Sessel allmählich die Figur eines Menschen an; er verzichtete endgültig auf das Monocle, das er in die Tasche steckte, stützte seine Arme leicht auf die Lehnen und ließ seinen feisten Körper in den Sessel fallen.
„Das freut mich unjemein,“ näselte er; „nur die Angelegenheit ist so fatal schwer — — nämlich — —“ und er war jetzt durchaus nicht mehr verlegen, „— Sie werden begreifen ... wir sind immerhin siebenhundert Jahre alt.“
„Sie werden in dem Hause, und speziell bei der jungen Dame, durchaus auf das nötige Verständnis dafür stoßen“, versicherte Helldorf.
„Jewiß! Das schon! ... Aber, wenn einer das tut, nicht wahr? Aus Sport tut er’s natürlich nicht! ... Man will dann wissen, warum man’s tut.“
„Selbstredend — — Sie möchten über die Verhältnisse etwas wissen. Ich habe Ihnen ja schon vor Tagen gesagt: immens reich.“
„Jawohl, aber damit is es nich jetan. Meinetwegen is es nich. Ich versichere Sie, auf Ehre, daß es sich nich um mich handelt.“
Helldorf wehrte ab.
„Ich glaube Ihnen, wenn Sie es sagen“, wennschon er nicht recht begriff, für wen es sonst sein sollte.
„Nur wegen meiner Gläubiger. Diese ekelhaft rücksichtslose Gesellschaft drängelt unaufhörlich, daß ich heirate. Ich habe also, vorgestern war’s ja wohl, als Sie mir von der Dame erzählten, versprochen, daß ich mich verloben würde. Heute früh kommt Herr Krüger — übrigens ein widerwärtiger Mensch —“
„Erlauben Sie mal, Graf, wer ist Krüger?“
„Ach so — natürlich — also Krüger, das ist ihr Vertrauensmann.“
„Der vereinigten Gläubiger?“ fragte Helldorf.
„Sehr richtig, wie jesagt, ein äußerst unsympathischer Mensch, der mir nebenbei entsetzlich zusetzt. Also dieser Krüger kommt und erklärt mir, daß er mir namens dieser Gläubiger diese Heirat verbiete.“
„Was! Das ist freilich ein starkes Stück. Und warum denn?“
„Weil die Dame erst siebzehn Jahre alt und daher noch nicht mündig sei.“
„Da haben Sie sich ja hübsch festgefahren. Also zur Sache. Die Leute müssen befriedigt werden. Darf ich nach der Höhe Ihrer Verpflichtungen fragen?“
„Dreihunderttausend Mark“, und er wollte detaillieren und beschönigen; aber Helldorf ersparte ihm das.
„Das ist durchaus keine unerschwingliche Summe“, sagte er.
„Hm — das schon — aber ...“
„Nun?“
„Dreihunderttausend Mark habe ich bekommen ...“
„Gewiß, das sagten Sie ja.“
„Jawohl, aber die Wechsel lauten auf siebenhunderttausend Mark.“
„Für dreihunderttausend Mark gaben Sie über siebenhunderttausend Mark Akzepte? Das ist ja der reine Mord!“
„Nu, ganz so schlimm is es nich, denn wo wäre ich heut’ ohne das Geld — — und dann, ich konnte ja auch sterben oder sonstwie um die Ecke gehen.“
Helldorf dachte einen Augenblick nach. „Haben Sie Vertrauen zu mir?“
„Unbejrenzt! Ich gebe Ihnen so viel Akzepte, wie Sie haben wollen.“
Helldorf wehrte ab. „Danke Ihnen, die geben Sie ja auch Leuten, zu denen Sie weniger Vertrauen haben. Worauf es für mich ankommt, ist folgendes: Sind Sie entschlossen, sich heute noch mit Fräulein Simon öffentlich zu verloben, wenn Sie Ihre Schulden los werden und eine standesgemäße Rente haben?“
Graf Arenstorff grinste erst, dann begann er laut und lange zu lachen.
Helldorf fand das widerwärtig und er achtete nicht darauf, fragte vielmehr: „Sind Sie bestimmt damit auch alle Schulden los?“
„Mein Ehrenwort — aber was heißt standesjemäße Rente? ... Ich bin ja doch schließlich nicht der erste beste ... siebenhundert Jahre wollen doch ’runterjelebt sein! Das is doch ’was!“
„Sagen wir sechzig Mille im Jahr.“
Graf Arenstorff überlegte. „Akzeptiert!“ erklärte er.
„Haben Sie sonst noch Bedingungen? Ich meine in bezug auf Konfession, Vorleben (er unterstrich dies Wort), Familienverkehr?“
Graf Arenstorff winkte deutlich ab. „Ne, ne, ja nich — von alldem so wenig wie irjend möglich — nur schnell!!“
„Sie werden trotz der Ehe beim Regiment bleiben können?“
„Fällt mir nich ein! Nich eine Stunde länger. Hätte längst quittiert; aber wie jesagt, Krüger, dieser aufdringliche Mensch: erst die Braut, dann Zivil, oder es wird präsentiert! war seine ständige Rede.“
„Hm! — einen Augenblick —“ Helldorf nahm den Hörer des Telephons.
„Henri, fragen Sie mal bei Behrs an, ob ihnen mein Besuch in einer halben Stunde genehm ist“, und, zu dem Grafen gewandt, fuhr er fort: „Wann kann ich Sie mittags erreichen?“
„Befehlen Sie.“
„Paßt es Ihnen im Automobil-Klub?“
„Abjemacht!“ Er gab ihm die Hand. „Soll Ihnen unverjessen bleiben, Herr Helldorf!“
„Sie dürfen mir glauben, Graf, daß mir seit langem nichts ähnliche Freude gemacht hat. Leben Sie wohl!“
Henri meldete, daß Frau Behr Herrn Helldorf erwarte.
Unterwegs überlegte Helldorf: Verfährt man nicht viel zu rücksichtsvoll mit den Leuten, daß man ihnen einen Schwiegersohn mit ins Haus bringt, und noch dazu einen aus dem vierzehnten Jahrhundert? Der trotz seiner Verblödung dieser saubern Frau Mama und ihrer gleichwertigen Tochter unter Umständen noch willkommener ist als man selbst?
Der Empfang war so herzlich, wie er ihn erwartet hatte. Zunächst die üblichen Redensarten des Erfreutseins, des Befindens.
„Und Ihrem Fräulein Tochter geht es besser?“
„Wir waren heute noch nicht bei ihr. Wir lassen sie schlafen, das ist das beste für die Krankheit ihres Alters.“
„Sie halten Influenza also für ein Reservat der jungen Mädchen? Leider, gnädige Frau, gibt Ihnen die Erfahrung unrecht.“
„Was nennt man nicht heutzutage alles Influenza.“
„Aber Sie schrieben doch, daß der Arzt ...“
„Unser Hausarzt kennt nur Masern, Scharlach und Ziegenpeter; alles andere rubriziert er unter Influenza.“
„Und Sie behalten ihn?“
„Es ist schwer, ihn aufzugeben. Er stammt aus sehr guter Familie, und seine Frau ist eine geborene von Holting.“
„Und er behandelt Ihr Fräulein Tochter nun auf Influenza?“
„Dafür sorge ich schon, daß nichts von dem geschieht, was er verordnet.“
„Sie meinen also, daß es von selbst vorübergeht?“
„Was?“ fragte Frau Traute und sah ihn ungläubig an. Er fühlte es, und seine Abneigung gegen diese Frau wuchs fast zum Ekel.
„Die Krankheit“, sagte er trocken.
Sie lachte laut und herzlich. „Krankheit nennen Sie das? Ich denke einfach, daß dieser Lümmel, der Freudenheim, unpassenderweise auf Dinge angespielt hat, die sie verletzen mußten. Sie ist sehr leidenschaftlich — und jung. — Und da hat sie sich eben hinreißen lassen. Verdient hat er die Prügel schon, nur wäre es mir lieber gewesen, er hätte sie von Ihnen bezogen.“
„Von mir? Ja, warum von mir?“ fragte Helldorf und tat erstaunt.
Frau Traute war einen Augenblick lang verlegen, dann sagte sie: „Nun, ich war der Meinung, daß Sie Damen, die Ihr Gastrecht genießen, gegen Insulten in Schutz nehmen.“
„Ich hätte es gewiß getan, wenn Ihr Fräulein Tochter, statt zu vergessen, wo sie sich befand, zu mir gekommen wäre.“
Frau Traute fuhr leicht zusammen. Fast ängstlich fragte sie:
„Ja, ist dieser Vorfall etwa imstande, Ihre Gefühle und Absichten zu ändern?“ und es lag ein Vorwurf in ihrem Ton, als sie fortfuhr: „Dann muß ich doch sagen, daß mich das wundert.“
„Welche Absichten meinen Sie, wenn ich fragen darf?“
Frau Traute wurde erregt. Sie sprang auf.
„Wollen wir diese Komödie noch lange spielen, Herr Helldorf? — Ich mache Sie darauf aufmerksam: ich bin die Mutter!!“ und mit erhobener Stimme fuhr sie fort: „Glauben Sie, ich werde ruhig mit ansehen, daß Sie mein Kind verführen und es bei der ersten Unbequemlichkeit, die es Ihnen macht, wie die erste beste Kokotte sitzen lassen?“
Helldorf war ruhig sitzen geblieben. Das war genau so, wie er es erwartet hatte. Rede und Gegenrede. Er war vorbereitet, sie extemporierte und befand sich außerdem in großer Erregung, während er ruhig war und ruhiger wurde, je deutlicher er seine Überlegenheit spürte.
Dieser Auftritt, den er wohl überlegt herbeigeführt hatte, wirkte auf ihn wie eine dramatisch bewegte Szene, bei der sich der Schauspieler erhitzt, das Publikum aber kalt bleibt.
Mit übertriebener Ruhe, die Frau Traute zum äußersten reizen mußte, fragte er:
„Sie glauben also, daß Ihr Fräulein Tochter zu mir in einem unerlaubten Verhältnis steht?“
Jetzt verlor Frau Traute völlig ihre Haltung.
„Ich weiß es!!“ schrie sie ganz laut.
„Und Sie dulden es?“ fragte er um so leiser.
„Weil ich glaubte, in Ihnen einen anständigen Menschen vor mir zu haben! Keinen Abenteurer!“ brüllte sie, daß es ihm weh tat.
„Dann“, sagte er, lächelnd über seine Frage, „dulden Sie den Verkehr Ihres Fräulein Tochter mit allen Männern, die Sie für keine Abenteurer halten?“
„Ein Gentleman wird die Frau heiraten, die er verführt!“
„Dann wäre ich seit zwölf Jahren mit unserer Köchin vermählt.“
„Ich hoffe, Sie vergleichen mein Kind nicht mit Ihrer Köchin!“
„Ich würde damit der Köchin unrecht tun, die sich mir gab, weil ich ihr gefiel, und die sich nicht voll Heuchelei an meinen Hals geworfen hat, nur damit ich sie verführe, um sie nachher heiraten zu müssen.“
„Haben wir Sie gerufen, Herr Helldorf? Weshalb sind Sie zu uns ins Haus gekommen?“
„Ich verkehre in Hunderten von Familien, ohne damit einen besonderen Zweck zu verbinden.“
„Aber hier trat dieser Zweck sehr schnell und deutlich zutage.“
Helldorf stand auf.
„Gnädige Frau, auch jetzt, wo ich Ihr Spiel durchschaut habe, sträubt sich etwas in mir, auf Details einzugehen, so leicht es mir fiele, die Frage nach der Verantwortung in einem Sinne zu beantworten, der mich von jeder weiteren Rücksicht enthöbe ...“
Frau Traute begann wieder zu hoffen, ihr Ton schlug um. Ihrer Stimme fehlte jede Modulation und sie klang bald wäßrig süß und schmiegsam, kam aber doch nie aus der Tiefe und vermochte daher nicht zu erwärmen; bald schlug sie, ohne einen Übergang zu finden, ins Harte und Rauhe um und wirkte dann abstoßend und gemein.
„Aber forschen wir doch bei Fragen des Temperaments nicht nach der Verantwortung“, sagte sie. „Bedenken Sie doch, ich will gar keine Schlüsse ziehen, aber hier ein unerfahrenes Kind von siebzehn Jahren und drüben ein Mann von Welt und Erfahrung mit dreiunddreißig Jahren! Das ist doch etwas, was bestehen bleibt. Alles andere ist Beiwerk.“ — Sie zwang ihn wieder auf den Sessel. — „In etwas jedenfalls haben Sie gefehlt.“
„Das wäre?“ fragte Helldorf nicht ohne Höflichkeit.
„Nun, ist es Ihre Schuld oder die meiner Tochter, daß Dritte um die Sache wissen?“
„Verflucht!“ sagte Helldorf, der sich trotz Fleischers Bemühungen noch immer nicht daran gewöhnt hatte, in solchen Fällen „damn“ zu sagen. Einmal klang das besser, und dann verriet man nicht mit dieser Deutlichkeit seine Bestürzung. „Diese Frau ist mir überlegen,“ sagte er sich, „ich habe mich zu weit vorgewagt.“
Frau Traute war klug genug, um diese Blöße nach Möglichkeit auszunutzen.
„Ja!“ fuhr sie fort. „Wenn Sie dafür gesorgt hätten, daß Ihre Schäferstunden in aller Stille unbelauscht verlaufen wären — und dafür zu sorgen wäre wohl Ihre Pflicht gewesen — dann freilich wäre ich die Letzte, die von Ihnen eine Verantwortung oder gar die Ehe fordern würde! Ganz im Gegenteil! Wer weiß überhaupt, ob Sie der rechte Mann für meine Tochter sind? Die hätte erst noch andere Männer kennen lernen müssen, ehe sie urteilsfähig war.“
Es klang jetzt fast knabenhaft, als Helldorf fragte:
„Ja, aber sehr verehrte gnädige Frau, wie sollte ich das denn anders anfangen?“
Frau Traute lächelte denn auch und sagte:
„Mein lieber Herr Helldorf, das war schon Ihre Sache. Mich dürfen Sie danach nicht fragen, — — fest steht jedenfalls, daß mein Kind kompromittiert ist, durch Sie! Zum mindesten durch Ihre Unachtsamkeit.“
„Ich gebe das zu“, erwiderte Helldorf und machte durchaus nicht mehr den Eindruck eines Siegers.
„Also?“ fragte Frau Traute, und als er schwieg, fuhr sie fort: „Werden Sie sie heiraten? Sie können ja wieder auseinandergehen, wenn Sie wollen; aber fürs erste muß die Form gewahrt werden.“
„Oder ein anderer“, sagte jetzt Helldorf, dem diese reale Auffassung der Dinge seine Haltung wiedergab.
„Haben Sie jemand?“
„Allerdings!“
„Wie heißt der Röllchenanwalt?“
„Sie werden beleidigend, gnädige Frau!“
„Also ein Armenarzt aus dem Norden — — ich danke! Diese Perser hier, auf denen nacheinander der Schah Kavadh, Khosrev, Anôscharvân und Hormizd gesessen haben, lasse ich mir nicht von den Plattfüßen zugbestiefelter Schwiegersöhne betrampeln!“
„Es ist der Graf von Arenstorff Arenschild-Schmoldow, Majoratsherr auf Schmoldow, Oberleutnant im 3. Garde-Ulanen-Regiment.“
Frau Traute wurde leichenblaß. Sie sah ihn ungläubig und ängstlich an. Nachts noch hatte sie die Genealogie von Hildes Tischherrn im Gotha nachgeblättert und Vergleiche zwischen ihm und Helldorf angestellt, die durchaus zu gunsten des Grafen ausgefallen waren. Sie hatte festgestellt, daß seine Großmutter mütterlicherseits eine geborene Komtesse Niederlohe war und also aus dem reichsunmittelbaren Geschlechte stammte, das den Hohenzollern ebenbürtig war, während ein entfernter Vetter eine richtig gehende italienische Prinzessin geheiratet hatte — — die nun Hildes Kusine wurde!!!
„Sie scherzen!“ sagte sie und verbarg nur schlecht ihre Erregung, die sie kaum ein Wort hervorbringen ließ.
Helldorf erhob sich und erklärte in förmlicher Haltung: „Ich habe die Ehre, gnädige Frau, namens meines Freundes, des Grafen Bosso Arenstorff Arenschild-Schmoldow um die Hand Ihres Fräulein Tochter zu bitten.“
Die vollkommene Fassungslosigkeit der Frau Traute setzte ihn in Erstaunen. Sie saß wie angewurzelt da, spielte nervös mit ihrem Spitzentaschentuch, preßte die Lippen krampfhaft aufeinander und starrte ihn groß an. Wie schön war die Frau noch immer! Ihre Hilflosigkeit reizte ihn! Als sehnte sie sich nach einer festen Hand, die ihr Schutz gewährte, so blickte sie zu ihm auf; als wollte sie sagen: was soll ich tun? was glauben? so hilf du mir doch!! — — Ja, er wollte ihr helfen.
Er nahm ihre Hand, drückte sie an seine Lippen und sagte:
„Sie sind mit mir zufrieden, gnädige Frau; vergessen Sie, was geschehen ist. Schenken Sie mir Ihr Vertrauen,“ — abermals küßte er ihre Hand — „und beweisen Sie mir, daß ich recht hatte, als ich zugunsten des Grafen Arenstorff zurücktrat.“
Frau Traute ließ es ruhig geschehen. Sie war an Komplimente, Zärtlichkeiten, Überraschungen gewöhnt; aber das schien ihr zuviel, als daß sie es glauben könnte; zu unerwartet, als daß sie ihr Benehmen danach hätte einrichten können. Sie hatte ja nicht erst seit heute früh, als Henri, aus Gründen, die sie nicht kannte, ihre Vermutung bestätigte, mit Helldorf als ihrem Schwiegersohn gerechnet und war entschlossen, ihren Mann zu jedem pekuniären Opfer zu bestimmen, um diese Verbindung, die für sie und ihre Tochter einen unerhörten gesellschaftlichen Ruck nach oben bedeutete, zustande zu bringen. Und nun kam dieser Helldorf und brachte ihr einen Schwiegersohn aus hohem Adel, der ihre Tochter in die Kreise hob, neben denen bei offiziellen Veranstaltungen zu atmen, ihr bisher als die Grenze des Erreichbaren erschienen war. Helldorf selbst aber, der für jeden Salon ihrer Kreise eine Attraktion bedeutete, den sich jeder gleichgültige Ehemann als Hausfreund wünschte, mühte sich um ihre Gunst, die sie mit Rücksicht auf ihre Tochter längst schon nicht mehr so wahllos wie früher verschenkte.
„Ich bin zweiundvierzig Jahre alt, verehrter Freund“, sagte sie.
„Daß Sie es sagen müssen, beweist, wie jung Sie sind.“
Sie reichte ihm die Hand. „Ihretwegen will ich es glauben“, sagte sie.
Er streifte die Spitzen ihres Ärmels weit in die Höhe und küßte mit Leidenschaft ihren Arm.
Jetzt ist sie meine Geliebte, dachte er, bis des Grafen Schulden bezahlt sind.
Werden sich die Leute mehr über Hildes Erfolg ärgern oder über meinen, dachte Frau Traute.
„Und Sie werden lernen diskret zu sein?“ fragte Frau Traute, obschon sie das Gegenteil wünschte.
„Ganz und gar nicht“, erwiderte Helldorf.
„Was, Sie wollen ...“
„... für möglichste Verbreitung sorgen. Allerdings.“
Und als Frau Trautes Staunen immer größer wurde, fuhr er fort: „Einmal natürlich, weil ich ungern meine Erfolge, auf die ich, wie auf diesen, stolz sein darf, für mich behalte, dann aber auch Hildes wegen.“
„Mir wird das Ganze immer rätselhafter“, sagte sie.
„Sagten Sie nicht selbst, daß Unbefugte um meine Beziehungen zu Hilde wüßten?“
„Ja, und ...?“
„Nun, wenn jetzt Hildes Verlobung mit dem Grafen bekannt wird, und man gleichzeitig erfährt ...“ — er machte eine kurze Pause, trat näher an sie heran und sagte dann, weich und zärtlich, — „... daß wir uns lieben, so wird jeder glauben, daß er sich irrte, als er an ein Verhältnis zwischen Hilde und mir dachte.“
„Sie sind ein Weiser!“ sagte Frau Traute.
„Und diese Berichtigung sind wir schließlich auch dem guten Grafen schuldig.“
Erschreckt fragte Frau Traute: „Der weiß doch nicht etwa ...“
„Würde er sonst ...? wenn er wissen müßte ... nun aber wird kein Mensch mehr von ihm verlangen, daß er etwas weiß.“
Etwas gekränkt meinte Frau Traute: „Sie gehen weit mit Ihrer Rücksicht auf Ihre Freunde.“
„Niemals weiter, als es mein Empfinden zuläßt; und über meine Pflicht hinaus, wie hier nur,“ — und wieder wurde er weich und zärtlich — „wo mich die Liebe treibt.“
„Sie verstehen zu überzeugen, Bester. Aber denken wir jetzt an die Kinder.“
Frau Traute hatte sich schnell in ihre neue Rolle gefunden. Helldorf meinte:
„Ja, werden wir nicht zunächst ...?“ Er dachte an den Gatten und hoffte, daß sie selbst darauf kommen würde. Da das nicht geschah, sie ihn vielmehr fragend ansah, fuhr er fort: „Ich meine, deinen Mann zu orientieren?“
Sie war keinen Augenblick verlegen, rief ihn, und er kam, und da er nicht wußte, daß Helldorf da war, in Hausjacke und Morgenschuhen.
Einige Entschuldigungen erst, dann teilte Frau Traute ihm den Grund des Helldorfschen Besuches mit, das heißt, soweit er Hilde betraf. Behr empfand sogleich, daß das alles wieder neue Unruhe ins Haus bringen würde, sah aber, daß seine Frau einen fast verzückten Eindruck machte und stotterte daher einige Male:
„Freue mich sehr ... freue mich außerordentlich!“
Jetzt gratulierte Helldorf als erster beiden sehr förmlich, und auch Behr und Frau Traute drückten sich die Hand.
„Ja — und Fräulein Hilde?“ fragte Helldorf, „müßte die nicht eigentlich auch ...?“
„Das wird meine Frau machen.“
„Ich glaube, daß Sie, Herr Helldorf, in diesem Falle der Geeignetere wären.“
„Wieso denn Herr Helldorf?“ fragte Behr erstaunt.
„Nun, als gemeinsamer Freund — — und dann: er hat doch nun einmal den Auftrag.“
„Ja, das ist doch jetzt Sache des Herrn ... wie heißt er doch?“
„Graf Arenstorff Arenschild-Schmoldow“, erklärte Helldorf.
„Also des Herrn von Arenstorff“, meinte Behr.
„Graf von Arenstorff“, berichtigte Frau Traute. „Wenn der Graf“ — sie unterstrich den Titel — „bitte, gewöhne dich daran, es in dieser Form vorzieht, so wird es wohl das Richtige und in seinen Kreisen Übliche sein.“
Das klang deutlich energisch und Behr ahnte voll Grauen, daß er werde umlernen müssen.
„Ist Fräulein Hilde denn gesundheitlich imstande?“ fragte Helldorf.
„Das wird das beste Heilmittel sein“, sagte Frau Traute. „Komm, Behr,“ meinte sie, „wir wollen sie Ihnen schicken.“
Hilde lag noch in tiefem Schlummer, als Frau Traute zu ihr ins Zimmer trat, um sie zu wecken.
Für Frau Traute bedeutete dieser Tag, der ihr die mühelose Erfüllung jahrelanger Träume brachte, eine Offenbarung. Wieviele Mittel hatte sie nicht ersonnen, um aus diesem engen und gut bürgerlichen Milieu herauszukommen, um — wenn auch längst nicht dahin zu gelangen, wo sie heute stand — so doch wenigstens einige Sprossen auf der gesellschaftlichen Stufenleiter emporzuklimmen. Und nun brachte man ihr einen Schwiegersohn ins Haus, dem man, wenn er an die Türe einer Prinzessin klopfte, den Einlaß nicht verweigerte. Und mit ihm kam — nein! es war nicht auszudenken, welche Erhöhung, welche Wandlung dieser Tag, welche Umwertung aller bisherigen Vorstellungen von Macht und Würde er brachte.
Und die höchste Genugtuung empfand sie in dem Gedanken, der alles Glücksempfinden, dessen sie fähig war, in ihr löste, was wohl Frau Generalkonsul Deutz zu alledem sagen werde.
Nie hatte sie mit größerer Innigkeit ihr Kind aus dem Schlummer geküßt.
„Steh’ auf, mein Goldkind,“ sagte sie, als Hilde die großen Augen aufschlug, „er ist da!“
Hilde hing noch in ihren Träumen, und die feuchten Augen zeigten deutlich, daß sie glücklich waren. Auf einem weiten Feld war sie gewesen, auf dem schwer und tief die dunklen Wolken hingen, und das ganze Feld war dicht besät mit Menschen, die verächtlich mit den Fingern auf sie wiesen und sie verhöhnten. Da war er gekommen, alle überragend und stolz. Grabesstill wurde es auf dem Felde und die Menschen drängten gegeneinander und schufen ihm einen Weg, auf dem er, den Kopf zurückgebeugt, die Arme weit nach vorn gestreckt, auf sie zuschritt. Er faßte sie mit beiden Händen und hob sie mit großer Kraft in die Höhe. „Was wollt ihr?! Sie ist rein!!“ hatte er gerufen, daß es weithin rollte, gewaltig wie der Donner. Und in seinen Armen wuchs sie in die Höhe, weit in die Wolken hinein. Die teilten sich, und das tiefe Blau des Himmels wurde sichtbar. Da entglitt sie seinen Händen und ein sanft wehender Hauch trug sie zum Himmel. Und unter ihr knieten auf weitem Felde die Menschen und beteten zu ihr.
Da weckte sie die Mutter.
„Er ist da!“ sagte sie noch einmal.
„Ich weiß, Mutter, ich weiß!“ flüsterte Hilde, die noch immer in ihrem Traum lebte.
„Du weißt?“ fragte Frau Traute erstaunt und fuhr ihr mit der Hand über die Stirn.
Hilde richtete sich auf und sah sich um.
„Das — — ja so —,“ sagte sie, und wurde völlig wach, „du bist es ... und er ist da?“
„Ja, Kind, schnell, steh’ auf, er will dich sprechen.“
„Mich sprechen? Warum will er das?“
„Weil er dir etwas Wichtiges zu sagen hat.“
„Dann soll er zu mir kommen, ruf’ ihn, Mutti.“
„Aber, Kind, du bist im Bett, das schickt sich nicht.“
Hildes Züge veränderten sich. Sie lächelte, aber dies Lächeln schien gequält.
„Laß ihn ruhig kommen, Mutter, es ist ja nicht das erste Mal.“
„Was, Kind ... du träumst!“ verstellte sich Frau Traute.
Aber Hilde fuhr tonlos und ruhig fort: „Und da es andere wissen, warum nicht auch du, wo du die Mutter bist.“
Frau Traute nahm sie jetzt an den Arm und zog sie aus dem Bett.
„Du fieberst noch immer! Redest das unsinnigste Zeug zusammen!“
Hilde stand neben ihrem Bett. Frau Traute rief laut nach der Miß. „Eile dich, kleine Braut!“ sagte sie, dann ging sie hinaus.
Und die Miß kam.
„Braut!“ wiederholte Hilde. — Dann fiel sie der Miß um den Hals und weinte vor Freude; weinte minutenlang. Und die Miß freute sich mit ihr — sie wußte weshalb. Schnell war sie angezogen. Sie stürzte zum Salon, und zum ersten Male fühlte sie, daß sie ihn liebte.
Helldorf hatte sich während der kurzen Zeit, die er auf Hilde wartete, schnell noch einmal die Erlebnisse der letzten Wochen ins Gedächtnis zurückgerufen. Ein Kind in der Verstellungskunst erschien ihm diese Mutter gegenüber der Tochter. Die Mutter beschönigte ihre Handlungsweise nicht! Sie vertrat sie, und es kümmerte sie auch nicht, daß man den Gründen nachging und sie erkannte. Die Mittel aber, die das Kind aufwandte, schienen ihm beispiellos. Erstaunlich in der Erfindung, noch erstaunlicher in der Durchführung. Er hätte sie bewundern können, hätte sie ihre Künste an einem andern geübt. Daß er es gerade war, der daran glauben mußte, brachte ihn aus der Ruhe, und das war viel. Was ihn aber am schwersten kränkte, war die Unmöglichkeit einer Revanche. Sie war unmöglich, das erkannte er immer deutlicher.
Mit freudigen Schritten trat Hilde auf ihn zu. Helldorf war überzeugt, daß Frau Traute sie über den Zweck seines Kommens unterrichtet hatte und erwartete nun, sie zum ersten Male verlegen zu sehen. Auf diesen Augenblick, der eine gewiß bescheidene Entschädigung für soviel Verletztheit war, freute er sich.
Nun stand sie vor ihm. Bestimmt und sicher, als wäre nichts geschehen, dessen sie sich schämen müßte, heiterer als sonst. Hilde, die sogleich sein Staunen merkte, fragte, als sie ihm die Hand reichte:
„Was ist? Sehe ich anders aus, als sonst?“
„Eben nicht! Ganz unverändert. Nur fröhlicher als sonst, scheint mir.“ Das klang gekränkt, und um so aufrichtiger schien es, als er fortfuhr: „Dann um so besser!“
„Ja, gefalle ich dir plötzlich besser, wenn ich traurig bin?“
„Hat Ihre Frau Mutter Ihnen gesagt, aus welchem Grunde ich gekommen bin?“
Diese Förmlichkeit belustigte Hilde noch mehr, und sie gab sich Mühe, ernst zu bleiben. So also macht man’s, dachte sie, wenn man korrekt ist und die große Frage nach der Ehe stellt, die sie ja längst, und deutlicher als mit tausend „Ja“ beantwortet hatte; als er mit heißen Worten um sie warb und sie sein war mit ganzer Seele; einmal, und dann immer wieder.
Sie sah ihm treuherzig in die Augen.
„Lieber!! Warum in dieser Form?“ und wollte ihm um den Hals fallen.
Er ging einige Schritte zurück und sagte sehr entschieden: „Aber ich bitte! Das geht doch nicht!!“
Und als sie entsetzt die Arme fallen ließ und ihn starr ansah, als verstände sie kein Wort von allem, da fuhr er fort:
„Das hat doch nun ein Ende, denke ich. — Sie haben erreicht, was Sie wollten; nun, meine ich, sollte es genug sein.“
Hilde war so blaß in diesem Augenblick, ihr Blick so unbeweglich, wie erstarrt stand sie da und rührte kein Glied, daß er erschreckt auf sie zuging, da er ihren Zusammenbruch befürchtete. Aber er hatte nicht den Mut, sie anzufassen.
Als wäre plötzlich alles in ihr gestorben, so leer und kalt klang ihre Stimme, als sie jetzt, noch immer ohne sich zu rühren, sagte:
„Ich verstehe! — Der Vorfall gestern — ich kompromittiert — und durch dich — in solchem Falle — so steht’s ja wohl geschrieben irgendwo in der gesellschaftlichen Moral, — ist der Mann gezwungen, das Mädchen, das er verführte, zu heiraten.“ — Sie quälte sich sehr. — „Andernfalls deine gesellschaftliche Position, — nicht wahr?“ — Sie lachte gequält; dann schüttelte sie langsam und schwer den Kopf und sagte: „Ich will dich nicht! Wärest du glücklich gekommen, dann hätte ich dich gewollt, denn ich fing an, dich zu lieben — weshalb, weiß ich nicht — weil du dich um mich mühtest — und weil ich dir glaubte, — geh’! Ich will dich nicht!“
Helldorf stand sprachlos da. War das möglich? Er sträubte sich gewaltsam gegen eine innere Bewegung und kämpfte gegen Verstand und Herz, die ihn zwingen wollten zu glauben, was sie sagte.
„Du wirst ja nicht mich heiraten, Hilde.“
Hildes Kopf fuhr erstaunt in die Höhe.
„Nicht dich — etwa einen andern?“
„Den Grafen von Arenstorff Arenschild-Schmoldow“, erläuterte Helldorf.
Hilde sah ihn an; voll Angst und Sorge fragte sie traurig: „Bist du verrückt?“
„Er liebt dich“, erwiderte Helldorf in aller Ruhe.
„Du bist wahnsinnig!“ schrie Hilde.
„Nicht im geringsten. Ich komme in seinem Auftrag, um für ihn um deine Hand zu bitten.“
Es trat eine Pause ein.
„Du bittest für ihn?“ und schwer und gequält fuhr sie fort: „Und das fällt dir so leicht? — Leichter als es mir fällt, dich anzuhören?“
„Ich sagte doch schon, er ist mein Freund, und er liebt dich.“
„Gewiß, ich habe es gehört. Und da wolltest du es ihm nicht abschlagen?“ fragte sie voll Bitterkeit. Der Atem blieb ihr stecken, und jedes Wort verursachte ihr Schmerzen, — „und nun stehst du da ...“ — ihr wurde eiskalt und sie zitterte, als sie fortfuhr, — „und wartest ruhig ab, was ich dir darauf sagen werde, als ginge es dich nichts an, obschon es mich so ganz und gar angeht, — und so ausschließlich alles in mir — den Körper, der dein war, und das Herz — und was so an Hoffnung in mir war und an Vertrauen, kurz alles umfaßt, was irgendwie mit mir zu tun hat — — und dich“, fügte sie schwer, und mehr für sich, nach einer Weile hinzu. Und wie eine Befreiung klang es, als sie sich zusammenraffte und bestimmt, doch nicht ohne Innigkeit, sagte:
„Das hättest du nicht tun sollen.“
„Die gesellschaftliche Position des Grafen Arenstorff ist weit besser als die meine ...“
Er erzählte ihr alle Vorzüge dieser Verbindung und glaubte, da sie teilnahmslos und unbeweglich dastand, daß sie endlich das falsche Spiel aufgab und, gleich der Mutter, ihre freudige Überraschung nicht länger verbergen wolle. Und da er das glaubte, so kränkte es ihn von neuem, auf diese Frau, deren Leidenschaft nur Heuchelei und deren Hingabe nichts als kluge Berechnung gewesen war, soviel Aufmerksamkeit und Rücksicht verwandt zu haben. Wenn sie jetzt etwa noch seine Verstimmung merkte, so war seine Niederlage vollkommen. Nein! Sie sollte glauben, daß auch sein Gefühl nie beteiligt war und daß er ihrer Werbung, deren Nebenabsichten er von Anfang an durchschaute, nur aus Zeitvertreib und Laune gefolgt war.
Aber Hilde hörte nicht, was er erzählte. Erst als er jetzt nahe an sie herangetreten und in einem Ton, der wie Hohn klang, zu ihr sagte:
„Und dann ... sieh mal, ist das nicht auch ’was wert! Er liebt dich ...“ da fühlte sie, daß er die ganze Zeit versucht hatte, sie zu kränken.
„Willst du nun endlich aufhören, mir von diesem Menschen zu reden?“ fragte sie nervös und verzweifelt.
„Was?“ fragte Helldorf und war erstaunt. „Ich soll aufhören, von ihm zu reden?“
„Ja! Du sollst! Oder fühlst du wirklich nicht, wie geschmacklos es ist, was du da treibst?“
„Du glaubst, das Recht für dich allein zu haben, geschmacklos zu sein?“
Hilde glaubte, daß er damit den Vorfall von gestern abend meinte: „Und du denkst allen Ernstes, daß ich dieser Szene wegen mich soweit erniedrigen werde und diesen Menschen heirate?“
Helldorf antwortete sehr förmlich und entschieden:
„Ich verbiete dir, derart über meine Freunde zu sprechen! Ich wiederhole dir, daß du mit deinen Talenten an der Seite dieses Mannes eine außerordentliche Rolle in der Gesellschaft spielen wirst, wie ich sie dir niemals hätte schaffen können.“
Hilde hatte sich völlig wieder in der Gewalt.
„Und ich verbiete dir, noch eine Silbe über diesen völlig sinnlosen Vorschlag zu verlieren. Bin ich durch unsere Beziehungen kompromittiert, so sorg’ dich nicht um mich. Ich werde selbst wissen, was ich zu tun habe. Ebenso aber bitte ich dich dringend: laß mich aus dem Spiele, sofern du nötig zu haben glaubst, auf irgendeine Art dein geschädigtes Renommée in Sicherheit zu bringen.“
Helldorf war außer sich. Was wollte diese Frau eigentlich? Verstellte sie sich auch jetzt noch? Oder hatte sie diesem talentlosen Grafen während des gestrigen Abends gar auf den Zahn gefühlt und wußte nun Bescheid, warum er seinen Stammbaum prostituieren wollte? Zuzutrauen war es ihr, und daß er völlig ahnungslos auf den Leim gekrochen war, schien ihm nur zu wahrscheinlich.
„Damit ist wohl der Zweck deines Besuches erledigt?“ fuhr Hilde fort. „Was ich dir noch zu sagen habe, — es ist nicht viel, — und trotzdem, heute nicht; ein andermal. — Du wirst es immer früh genug erfahren. — Nur eine Frage gleich heute,“ — sie machte eine Pause, sah ihn lange schweigend an, dann fragte sie: „warum hast du alles das mit mir gemacht?“
Helldorf überlegte. Sagte er jetzt die Wahrheit, dann gewann die klägliche Rolle, die er in diesem Liebeshandel gespielt hatte, ein völlig verändertes Aussehen, und schließlich war es nur verständlich, wenn er Gleiches mit Gleichem vergalt. Er schwankte noch; denn er durfte nichts tun, was ihren Widerstand gegen die geplante Ehe befestigen könnte.
„Warum sollte es einen besonderen Grund haben?“ fragte er.
„Es hatte einen!“ sagte Hilde entschieden. „Ich bitte dich, nenne ihn mir.“
Helldorf kam ein teuflischer Gedanke.
„Wir sind beide kompromittiert. Ich sorge mich und finde einen Ausweg für beide —“
„Worin?“ fragte Hilde.
„In dieser Ehe. Du weigerst dich, obschon dies seltene Angebot uns beide völlig rehabilitiert, dich sogar in eine hohe gesellschaftliche Sphäre hebt, und obgleich der Mann, für den ich hier stehe ...“
Hilde wehrte ungeduldig ab.
„Du mußt schon gestatten,“ erklärte Helldorf, „wenn du Wert darauf legst, daß ich dir deine Frage beantworte, — also, obgleich dieser Edelmann dich liebt. Du verlangst, daß ich mich weiter nicht um dich kümmere, ebenso wie du es ablehnst, mir bei meiner Rehabilitation behilflich zu sein. — Und ich muß dir allerdings sagen, daß mir ungeheuer viel daran liegt, mit Anstand aus diesem Skandal herauszukommen, an dem übrigens du genau soviel Schuld trägst wie ich. Und einen Skandal gibt es, dafür haben wir beide zuviel Neider. Nimm nun an, der Grund wäre derart, daß, wenn ich ihn dir nenne, das Spiel damit für mich verloren, — für dich aber gewonnen ist.“
„Ich muß es wissen!“ sagte Hilde in hoher Erregung.
Also hatte es einen Grund, sagte sie zu sich, war keine Leidenschaft; sie war bei ihrem ersten Schritte, den sie ins Leben trat, betrogen. Sie riß sich mit aller Gewalt zusammen, und doch fühlte sie, wie alles vor ihr einstürzte. Er aber durfte diesen Zusammenbruch nicht sehen, trotz allem. So viel Stolz hatte sie bewahrt. — — Jetzt aber mußte sie wissen, was den Anlaß dazu gegeben hatte, daß sie so früh schon ihr Glück auf eine falsche Karte setzen und verlieren mußte.
„Ich muß es wissen!“ wiederholte sie mit einer Bestimmtheit, die er an ihr kannte, und die nicht zu erschüttern war.
„Erst die Antwort für den Grafen.“
„Ich kenne ihn nicht!“ erwiderte Hilde.
„Außer seinem Stammbaum ist nichts an ihm zu kennen.“
Was war verloren, was gewonnen, wenn sie ja sagte. In diesem Hause konnte sie nicht bleiben, nun schon gar nicht mehr! Was also gab es für sie anderes als den Tod — oder diese Ehe? Den Tod! Daran klammerte sie sich, der blieb ihr immer! Eine dritte Möglichkeit bestand nicht, sie mußte allein sein, lange Zeit allein. Dieser Graf interessierte sie nicht; so wenig, wie sie jeder andere interessierte; so wenig, wie alles, was vor ihr lag. Ihr Erleben lag hinter ihr, und Klarheit schaffen über das Erlebte war alles, was sie wollte. Sie sah Helldorf groß an.
„Dein Wort!“ sagte sie entschlossen.
„Mein Wort!“ und er gab ihr die Hand.
„Ich werde den Grafen heiraten.“
Helldorf triumphierte. Wie jüdisch, dachte er. Natürlich war sie von Anfang an entschlossen. Ein kleines Profitchen mußte sie auch hier noch herausschlagen und mir die Sache so schwer wie möglich machen. Wie sinnlos war doch jede Rücksicht, sagt er sich immer wieder.
„Und nun?“ ermahnte ihn Hilde ungeduldig.
„Zunächst meinen Glückwunsch!“ sagte Helldorf und reichte ihr die Hand.
Hilde beachtete es nicht. „Also bitte!“ mahnte sie ihn.
„Es wird weh tun!“ sagte er fast belustigt.
„Nichts tut mehr weh!“ erwiderte sie ihm.
„Das ist das erste wahre Wort — und zugleich das letzte in dieser Sache“, sagte Helldorf.
„Du kennst mich gut“, erwiderte sie, und ihre Stimme klang weh.
„Es ist eine Wette,“ sagte er, und etwas spöttisch setzte er hinzu, — „wie man so wettet, — gelegentlich — beim Wein.“
„Das verstehe ich nicht!“ sagte sie voll Interesse.
Er zuckte mit den Achseln. „Es tut mir leid, wenn du es nicht verstehst.“
Sehr entschieden forderte sie: „Ich habe dein Wort, erkläre es mir!“
„Nun — wir haben gewettet ...“
„Um was?“
„... daß ich dich innerhalb acht Tagen ...“
Hildes Kopf bewegte sich krampfhaft und hastig; ihre Hände schlossen sich schnell und nervös und öffneten sich wieder; sie atmete schwer, und die Stimme blieb ihr im Halse stecken, so daß sie fast unverständlich war:
„Daß du mich innerhalb acht Tagen besitzen würdest?“ hauchte sie mehr als sie sprach.
„Nicht dich!“ sagte Helldorf; „irgendjemand aus der Gesellschaft.“
„Und du wähltest mich?“ stammelte sie. Sie wankte und ließ sich auf einen Sessel nieder. „Geh’!“ sagte sie, „geh’!“
Helldorf stand noch und sah sie an. Das war seine Revanche. Nun, er durfte zufrieden sein.
Hilde erhob sich mühsam.
„Geh’!!!“ schrie sie, daß er zusammenfuhr.
Er verbeugte sich kurz.
„Ich benachrichtige den Grafen.“
Dann ging er, und Hilde sank völlig erschöpft auf dem Sessel zusammen.
Helldorf fuhr zum Grafen und brachte ihm das Ergebnis seiner nicht eben mühelosen Mission.
„Sie werfen sich nun in einen schwarzen Rock, nehmen einen hohen Hut in die Hand, eine Orchidee ins Knopfloch und lassen sich bei Behrs melden. Von Geld keine Silbe! Fängt der Alte davon an, so tun Sie geniert und weisen ihn an mich. Jedes Gespräch über Geld ist Ihnen ekelhaft.“
Graf Arenstorff suchte zu widersprechen.
„Erlauben Sie mal ...“
Aber Helldorf ließ ihn nicht zu Worte kommen, fuhr vielmehr sehr entschieden fort:
„Jedes Gespräch über Geld hat Ihnen von heute ab ganz einfach ekelhaft zu sein. Ihre Wünsche bringen Sie bei mir vor. Ferner: von dem Ausziehen der Uniform keine Silbe! Nach der standesamtlichen Trauung können Sie von mir aus im Pyjama unter den Linden herumlaufen; vorher wird in Uniform und Monocle aufgetreten. Das gilt für jede Tante, zu der man Sie schleppt. Lässige Haltung schadet nichts, solange das Monocle nur sitzt. Schlappheit wird als Degeneration gedeutet, und Degeneration ist die wirksamste gesellschaftliche Empfehlung. So’n bißchen Rückenmark ist das lebendige Pedigree.
Alle Fragen, auf die Sie keine Antwort wissen — und ich versichere Sie, die Fälle werden sich häufen — beantworten Sie mit der Redensart: laß doch, Schatz, ich habe dich lieb und alles andere interessiert mich nicht.“
„Einen Moment!“ unterbrach ihn der Graf. „Wie ging das doch? ... Alles andere, nur ...“
Helldorf schrieb ihm den Satz auf, und er versprach ihm, ihn unterwegs auswendig zu lernen.
„So oft von Kunst die Rede ist, — Ihre Braut ist nach der Richtung hin erblich belastet —, sagen Sie: Kunst fühlt man, über Kunst spricht man nicht. Wir Grafen von Arenstorff Arenschild-Schmoldow haben das als gute Katholiken sieben Jahrhunderte hindurch so gehalten.“
Der Graf machte sich eifrig Notizen.
„Ihre Position ist insofern eine leichte, als diese Parvenus — Verzeihung, ich rede natürlich Unsinn, Parvenus nur im Verhältnis zu Ihrem Geschlecht, also sagen wir, als diese Selfmademens alles, was Sie tun, als vorbildlich nehmen und nachahmen werden. Also auch die Fauxpas! Ich bitte Sie also, nehmen Sie sich ein bißchen in acht, sonst nimmt die ganze Gesellschaft Ihre Unarten an. Man wird Sie vergöttern, aber reden Sie sich darum nicht ein, bei Riche zu sein. Andererseits führen Sie keinen Hofknicks ein; sie machen’s mit, und sie verfallen alle miteinander der Lächerlichkeit. So’n Mittelding zwischen Wilhelmstraße und Moulin rouge.“
„Hm ... schön ... ich begreife, — einigermaßen wenigstens, — aber das alles is nich im Jalopp zu lernen — ein paar Tage mindestens ...“
„Keine Stunde!“ fuhr ihn Helldorf an. „Jetzt habe ich allen gründlich eingeheizt, wer weiß, wie lange das vorhält. — Die Einwilligung Ihres Familienoberhauptes, des Grafen Arenstorff, schaffe ich Ihnen. Er wird sehr froh sein, daß Sie ihm nicht länger auf der Tasche liegen. Macht er Schwierigkeiten, so muß man ihm Ihre Revenus der letzten paar Jahre ersetzen. — So, das ist alles!“
„Warum eigentlich heute in Zivil?“ bemerkte der Graf eingeschüchtert.
„Um Himmelswillen! Kein Zivil! Damit verderben Sie uns alles. Wenn ich das Wort von Ihnen nur höre, wird mir ganz elend. — Ich meine natürlich: Extra-Uniform und Helm!“
„Jott sei Dank!“ antwortete Graf Arenstorff erleichtert. „Aber dann ...?“
„Ja, was denn nun noch?“ fragte Helldorf.
„Die Orchidee!“ brachte er schüchtern heraus.
„Das geht natürlich nicht, wenn Sie die Uniform anhaben. Sie haben doch ein paar Orden?“
„Selbstredend. Ich habe sieben Auszeichnungen.“
„Mehr als ein halb Dutzend!“ rief Helldorf erfreut. „Sehen Sie mal an. Das erleichtert den Fall ja ganz bedeutend! Also, lieber Graf Arenstorff, ...“ er reichte ihm die Hand.
„Wenn ich einmal für Sie ...“ stotterte der Graf, „vielleicht bei meinem Onkel, dem Oldenburger ...?“
„Ich nehme jeden Orden, auch einen Oldenburgischen, der auf gleicher Stufe mit dem Roten Adler II. steht und kein Geld kostet.“
Der Graf grinste so furchtbar, daß man von seinem Gesicht nur Mund und Ohren sah.
„Ha, ha, einen Orden wollen Sie haben, und kosten soll er nichts? Das ist ungefähr, als wenn ich keine Schulden hätte, und Sie muteten mir zu, das kleine Judenmädchen zu heiraten. Er gab ihm die Hand. „Sie sind wahrhaftig jroßartig, Herr Helldorf.“
Als Helldorf draußen war, grinste er noch immer.
„Ha, ha, ausgezeichnet! Das muß ich meinem Onkel schreiben, der lacht sich tot.“
Hilde konnte zunächst keinen Gedanken fassen. Sie hatte das Gefühl vollständiger Leere. Auch ihr Herz, das auf alle Eindrücke, gute wie böse, stärker als sie es selbst wohl wünschte, reagierte, blieb teilnahmslos. Als hätte ein Feuer, vom Sturme getragen, in ihr gerast und alles Leben in ihr von Grund aus vernichtet und jedes Gefühl für immer erstickt, — so öde und leer war alles in ihr.
Sonst, wenn sie traurig war, fühlte sie das Bedürfnis, sich aufzurichten, und empfand es schwer, daß sie niemand hatte, zu dem sie flüchten, bei dem sie sich erleichtern konnte. In der Erinnerung an den Vater, der wie ein Heiliger als der große Dulder in ihr fortlebte, war ihr Herz immer wieder zur Ruhe gekommen. Nichts von allem bewegte sie heute. Und hätte sie Freunde besessen, denen sie trauen durfte, und die alle Schmerzen, an denen sie je litt, verstanden, sie wäre für sich geblieben. Auch die Gedanken, die sie zum Vater führten, wehrte sie ab. Wenn auf ihrem jungen Herzen schwer ein großer Kummer drückte und alles in ihr in hellem Aufruhr stand, dann brachte wohl der letzte Blick des kranken Vaters, der gütig auf sie niedersah, obschon er eigene Schmerzen trug, auch Ruhe über sie.
Aber was wünschte sie denn? Etwa einen Rat? War sie sich nicht klar über alles? Klarer denn je? Die eine große Frage, die sie an das Leben stellte, war entschieden. Bei dem Versuch, sich aus eigener Kraft ein eigenes Leben, so wie sie es im Glauben an das Wort des Vaters sich ersehnte, zu gestalten, war sie zusammengebrochen.
Wollte sie in der Gesellschaft weiter leben, dann gab es nur den einen Weg, den Helldorf wies. Glänzend nach außen und vor der Welt als Erfolg beurteilt und beneidet; einen Weg der Schande nach den Begriffen, die sie, freilich ohne das Leben und seine Klippen zu kennen, zu den ihren gemacht hatte.
Was sie erfahren hatte, war mehr als ein bloßes Mißgeschick. Aber je länger sie über das Erlebnis nachdachte, je vorurteilsloser sie den Ursachen des Zusammenbruches auf den Grund ging, um so deutlicher zeichneten sich ihr die Linien und um so bestimmter erkannte sie, daß dieser Ausgang ganz und gar nichts Ungeheuerliches hatte. Wäre sie den Lehren der Mutter gefolgt, die, dem Zweck entsprechend, ihr Gewissen änderte mit der Umgebung, so wäre ihr dieser Tag erspart geblieben. Soviel war erwiesen: ihre Grundsätze taugten nicht für die Welt, in der sie lebte; taugten sie aber nicht für diese Welt, und war sie nicht imstande, sich ihr anzupassen, so war es wohl besser, daß sie, statt des aussichtslosen Kampfes ein gewaltsames Ende machte! Was wäre da schon verloren, wo nichts zu gewinnen war! Wenigstens nicht für den, dem die Fähigkeit fehlte, materialistisch zu fühlen und zu denken.
Sie hatte nie nach ihrem Glauben geforscht; kannte keine Religion; hatte nie einen Gottesdienst besucht. Sie hing mit großer Liebe an der Mutter Gottes, wie sie sich auf den Bildern alter Meister von Köln und Siena findet. Losgelöst von allem Irdischen, dem Lärm der Welt entrückt, begeistert von dem Schimmer einer heiligen Ahnung, die wie ein leiser Hauch die milden Züge zauberhaft umschleiert und sie auf weißen Wolken, wie auf den Flügeln zarter Engel, leicht und lautlos von der Erde hebt.
Die liebte sie, und die suchte sie. Und ihre verklärten Züge ließen sie ahnen, daß es fern von dem engen Kreise, in dem sich ihre Welt bewegte, noch etwas gab, was dem Leben seine Leere und dem Tode seine Schrecken nahm.
Während diese Stürme sie durchtobten, hatte Frau Traute eine Liste all der Bekannten aufgestellt, mit denen der Verkehr augenblicklich aufzugeben war. Andere wieder sollten erst allmählich abgeschüttelt werden. Schneiderinnen und Juweliere wurden für den Nachmittag bestellt, und während der Graf, das Helldorfsche Manuskript auf dem Schoße, mit dem Gefühl, als ginge die Reise diesmal zu einem Geldverleiher, der ganz besonders harte Bedingungen stellte, zu Behrs fuhr, hatte Frau Traute außer den Redaktionen der Berliner Blätter bereits einem halben Dutzend ihr wertvoller Familien das große Evènement telephonisch mitgeteilt.
Sie ging dann zu Hilde, die noch immer, seit Helldorf fort war, in ihrem Sessel lag und nun die übertriebenen Zärtlichkeiten ihrer Mutter, die vor Glück und Eitelkeit ganz außer sich war, nicht gerade freundlich zurückwies.
Der Diener brachte die Karte des Grafen. Frau Traute ging von neuem in die Breite und suchte nach Form und Ausdruck, um ihren Wert nach Möglichkeit auch nach außen hin kenntlich zu machen. Ihre Freude war so laut, ihre Erregung so groß, daß sie Hildes abweisendes Benehmen gar nicht empfand.
„Bleib’ so sitzen,“ sagte sie zu ihr, „ändere nichts an deiner Haltung und tue, als ob du ihn nicht hörst, wenn er kommt! Es steht dir glänzend, so, wie du jetzt dasitzt. — Ich schicke ihn dir, wir werden schnell einig sein.“
Hilde hörte auch jetzt noch nichts. Sie fuhr erst zusammen, als zwei bespornte Hacken lärmend aneinanderschlugen und eine unsympathische und klangleere Stimme laut „Meine Jnädigste!“ sagte.
Sie sah zur Seite, und vor ihr stand der Held von gestern. Wenn man von einem nüchternen, Ruhe liebenden Menschen, der eine Viertelstunde lang von der aufdringlichen und lärmenden Zärtlichkeit einer hysterischen und leidenschaftlich beglückten Schwiegermutter mißhandelt wurde, sagen kann, er machte einen „ramponierten“ Eindruck, dann von ihm.
Mit einem energischen Ruck hatte Hilde ihre Träumereien von sich abgeschüttelt und stand nun wieder nüchtern den Tatsachen gegenüber.
„Was ist Ihnen, Graf? Sie sehen so — wie soll ich es nennen — ich möchte fast sagen, zerknittert aus?“
„Verzeihung, Jnädigste,“ — er machte wirklich einen sehr hilflosen und beschwerten Eindruck — „aber so ist es.“
„Und wieso?“ fragte Hilde. „Wird es Ihnen so schwer? Ich hatte Sie“ — und sie machte eine kleine Pause, — „freier und froher erwartet.“
Diese Worte klangen so teilnahmsvoll, fast bittend, daß der Graf begann, sich sicherer zu fühlen.
„Ihre Frau Mutter“, sagte er, doch immer noch zaghaft, und Hilde verstand.
„Ah, ah, ich begreife! Natürlich. Sie haben zuerst mit meiner Mutter gesprochen, Sie Ärmster!“ sagte sie, und ihre Augen sahen freundlich zu ihm hinüber. „Was werden Sie ausgehalten haben!“ fuhr sie fort. „Sie müssen das alles nicht so schwer nehmen, Graf. Wen gibt es, von dem das Leben heute keine Opfer fordert!“
Ihm wurde schwindlig. Dies Mitgefühl von dieser Seite! Was denn, wie denn? fragte er sich und faßte sich an den Kopf. Ja, ich sollte doch nicht etwa ... er stutzte ... etwa die Alte ... Unsinn! Sie hat ja einen Mann. Ich bin schon richtig! Und dann, sie sah ihn forschend an:
„Nicht wahr, Sie lieben mich doch?“
Mit einem kühnen Satze, der Hilde erschreckt in die Höhe fahren ließ, stürzte er ihr zu Füßen.
„Ich kann ohne Sie nicht leben! Ich schwöre es Ihnen!“
Diese Überschwenglichkeit mißfiel ihr.
„Stehen Sie auf, Graf!“
Er arbeitete sich mühsam in die Höhe; sie reichte ihm die Hand.
„Ich nehme Ihren Antrag an, aber ich stelle Ihnen eine Bedingung: bitte, vermeiden Sie, solange wir nebeneinander leben werden, jedes Pathos.“
Der Graf wußte durchaus nicht, was sie damit meinte. Aber er gab ihr sein Ehrenwort und versprach es.
„Ich würde gern aus Berlin heraus; auf dem Lande leben — möglichst weit von hier; — aber Sie lieben Ihr Regiment, und das geht wohl nicht?“
„Verzeihung, was ginge nicht?“
„Nun, daß Sie mir zuliebe etwa“ — sie zögerte, denn sie glaubte, ihn eher zu einem Selbstmord, denn zu diesem Verzicht auf seine Uniform zu bringen, — „den Dienst aufgäben?“
Tatsächlich war des Grafen Gesicht in diesem Augenblick so fassungslos, daß Hilde einlenkte.
„Es ist nur so ein Gedanke von mir; wie gesagt, es muß nicht sein.“
Der Graf überlegte; er tat es so ungern, diesmal aber zwang er sich dazu.
Machte sie sich wirklich nichts aus seiner Uniform? Dann war sie schlecht, undankbar, ohne Geschmack — wenn nicht gar Sozialistin!! — Aber was trieb sie dann zu ihm? — Und warum war dieser Helldorf derart in Wut geraten, als er von seinem Abschied sprach? Und noch einmal kam ihm auf einen Augenblick der Gedanke, er habe sich geirrt — die Tochter statt der Mutter. Aber nein! Er überlegte weiter. — Deibel ja! Selbstverständlich! Bluff! Racker! dachte er. Bluff wider Bluff.
Und abermals klappten seine Hacken aneinander, seine Haltung wurde stramm.
„Jnädigste,“ sagte er, „dies Leben gehört in erster Linie dem Könige, dem ich vor Ihnen den Treueid geleistet habe. Ich bin mit ganzer Seele Soldat und würde aufhören Ich zu sein, wenn ich auf diesen Rock Verzicht leistete.“
Er hatte nach diesen Worten das Gefühl einer besonderen Leistung. Hilde gefiel diese Bestimmtheit und Entschlossenheit. Je weniger kompliziert jemand ist, um so leichter, dachte sie, findet er sich im Leben zurecht. Dieser Mann ist Offizier, und damit basta. Alles andere kümmert ihn nicht.
„Sie haben recht!“ sagte sie in fast zärtlichem Ton zu ihm und gab ihm die Hand. Sein Gesicht leuchtete. Er glaubte bestimmt, nun zärtlich werden zu müssen und legte — ungeschickt genug — den Arm um ihre Taille.
Bequemer, als passende Worte zu finden, war es jetzt, sie an sich zu ziehen und zu küssen. Es war ein kurzer Entschluß, ein militärischer Ruck, und er drückte sie an sich. Er beugte den Kopf zu ihr hinab; schon spürte sie in ihrem Gesicht seinen trockenen Atem, als sie sich behend losriß und sagte:
„Graf! Ihr Versprechen! Ich bitte Sie!“
Er stand verdutzt da. Das also meinte sie mit dem Pathos?! Eine Perle, dachte er, und wurde immer zufriedener.
„Ich nehme Ihren Antrag aus Gründen an, die ich Ihnen nicht erklären will, auch gar nicht erklären kann. Sie würden mich doch nicht verstehen. — Und wenn Sie mich verständen — um so schlimmer — wenigstens für den Fall, daß Sie mich wirklich lieben.“
Graf Arenstorff wollte sich wieder ihr zu Füßen stürzen; diesmal besann er sich: kein Pathos! Er beschränkte sich darauf, zu fragen:
„Stände ich sonst hier?“
Hilde, die den wahren Grund seiner Werbung nicht kannte und überzeugt war, daß diese nur auf die Einwirkung des verschlagenen Helldorf hin erfolgte, fühlte etwas wie Mitleid. Dann fuhr sie fort:
„Ich will nicht, daß Sie über mich im unklaren sind. Sagen Sie mir offen, was hat Ihnen Herr Helldorf über mich erzählt?“
„Das Beste, Jnädigste, das Beste, ich versichere Sie!“
„Das glaube ich gern. Er wußte ja, für wen er’s tat. — Sie hätten ihm nicht alles glauben sollen.“
„Wir sind miteinander befreundet, und obgleich er der einzige Bürgerliche ist, mit dem ich verkehre, muß ich doch sagen, daß er mir teuer ist.“
„Wenn er Sie aber doch hintergangen hätte?“
Graf Arenstorff sah sie erstaunt an.
„Hintergangen? Mit wem?“
Und da ihm ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf schoß, schrie er ganz laut:
„Womit! Himmel, Jesus, Maria und Joseph! Womit!“ Er war leichtsinnig gewesen, dachte er; er hätte sich nach den Vermögensverhältnissen erkundigen müssen, ehe er warb. Aber nein! Es mußte ja gleich sein! Auf der Stelle! — Ganz sicher, es ist ein ungeheurer Betrug! Sie hat nichts! Das Ganze ist eine Revanche Helldorfs für gestern abend.
Als Hilde seine Erregung sah, bereute sie ihren Schritt; aber es war ihr nicht gegeben, auf halbem Wege stehen zu bleiben.
„Es tut mir leid; aber ich will, daß Sie’s wissen. Er hat Sie hintergangen. Er hat Ihnen etwas verschwiegen.“ Sie trat dicht an ihn heran und sah ihm fest in die Augen.
„Er hat mich verführt; ich war seine Geliebte! — Vier Wochen lang!“
Die Erleichterung, die der Graf bei dieser Eröffnung empfand, war so gewaltig, daß Hilde, die einen Ausbruch des Entsetzens erwartet hatte, mit noch größerem Ernste fortfuhr:
„Es macht Ihnen Ehre, Graf, daß Sie Ihrem Freunde solchen Verrat nicht zutrauen. Und es tut mir um so mehr leid, — wirklich! es tut mir weh, — daß ich Ihnen diesen Kummer bereiten muß.“ Nach einer Weile fuhr sie fort:
„Sie werden ja nun wissen, was Sie zu tun haben.“
Das wußte er ganz und gar nicht. Er fühlte wohl, daß er den Eindruck eines Schwerverwundeten machen mußte, eines, dessen Herz sich in Schmerzen wand. Und das wollte ihm durchaus nicht gelingen; so freute er sich, daß seine Befürchtung grundlos gewesen war.
Wie hatte er Helldorf das auch zutrauen können; Helldorf hatte sich immer anständig gegen ihn gezeigt, und im stillen leistete er ihm Abbitte. Ja, diese Geschichte, die er natürlich längst wußte, freute ihn fast. Er selbst konnte mit seiner Wissenschaft freilich nichts anfangen. Jetzt aber, wo sie selbst ihm aus Beschränktheit — Gott! So beschränkt war sie doch gar nicht (aus einem perversen Gefühl heraus, aus Furcht vor Entdeckung oder aus sonst einem Grunde, was ging der ihn an) — ihren Fehltritt gegen seinen Willen in aller Form unterbreitet hatte, jetzt wollte er ihn sich auch bezahlen lassen.
Er war ja nicht der erste beste!! Sein Stammbaum reichte ja zurück ins zwölfte Jahrhundert. — Also ja, sie hatte recht, er wußte, was er zu tun hatte. Sie aber durfte es nicht erfahren. Keine Silbe von Geld, hatte Helldorf gesagt, und bei Gott, seine Sätze hatten sich bis jetzt bewährt.
„Was erwarten Sie, meine Teuerste, von mir?“ fragte er sie.
„Mich dürfen Sie nicht fragen“, gab sie zur Antwort.
„Wen denn?“
„Sich selbst“, sagte sie. „Ich meine, Sie werden sich nun zunächst darüber klar zu werden haben, ob Sie Ihrem Herzen oder mehr den Einwirkungen von Herrn Helldorf gefolgt sind, als Sie um mich warben.“
Graf Arenstorff vermochte die Einzelheiten nicht mehr recht auseinanderzuhalten; wozu auch mußte sie noch einen Aufnahmebericht von ihm verlangen? War’s nicht genug, daß sie’s ihm erzählt und er es in aller Ruhe mit angehört hatte? Wer weiß, dachte er, was sie jetzt für eine Antwort erwartet? Weshalb sie überhaupt das Ganze angeschnitten hat? Eine bestimmte Absicht verband sie gewiß damit. Grundlos verrät keine Frau ihre Geheimnisse. Und wenn er jetzt eine große Dummheit machte — Helldorf hatte es ihm prophezeit — dann ging vielleicht die ganze Chose hops und die Lauserei mit diesen ekelhaften Gläubigern begann von neuem. Das durfte nicht sein! Unter gar keinen Umständen!
Da kam ihm der rettende Gedanke. Er trat an sie heran, nahm ihre Hand und sagte, wie Helldorf ihn gelehrt:
„Laß doch, Schatz, ich habe dich lieb, und alles andere interessiert mich nicht.“ Sein Gesicht nahm dabei einen so freudigen Ausdruck an, daß der Vorgang nur um so rätselhafter wirkte. Diese Größe der Auffassung, dachte sie, hat er unmöglich; also ist er verrückt. Der Ärmste! Das hat seinem bißchen Verstand den Rest gegeben. Was wird nun? sagte sie zu sich, doch so, daß er es hörte.
„Nichts, einfach verjessen.“
„Was?“ fragte Hilde entsetzt.
„Was vor mir war, existiert nicht.“
„Existiert nicht?“ Sie war ganz außer sich. „Ja, und Helldorf? Was wird mit ihm?“
„Der wird mir sein Ehrenwort geben zu schweigen und zu leugnen, wenn ihn jemand fragt.“
„Und das ist alles?“
„Gewiß; ich könnte mich ja auch mit ihm schlagen. Aber dann gibt’s ’nen Mordsskandal, und wenn das Glück will, daß er dabei zum Deibel jeht und nich ich, dann verbieten mir meine Leute schließlich, daß wir uns heiraten. Also,“ — er war ordentlich in Stimmung — „das Ehrenwort ist unbedingt ratsamer und bekömmlicher.“
„Und Sie wollen weiter mit ihm zusammenkommen? Womöglich verlangen, daß auch ich ...“ sie stockte. Er merkte allmählich, daß sie nicht seiner Ansicht war, ohne zunächst zu wissen, was sie anders haben wollte.
„Das wäre jewiß nich unerwünscht — der Leute wegen — muß aber nich sein, Schatz. Und wenn es dir auch nur im geringsten peinlich is, denn jeben wir’s selbstverständlich auf.“
„Ja, sagen Sie,“ und sprachlos schüttelte sie den Kopf und suchte nach einer Erklärung, „ich bin völlig verwirrt ...“ — sie faßte sich an die Stirn. „Sie sprechen da immer von mir und allenfalls noch von den Leuten, was die dazu wohl sagen könnten; aber Sie, Sie!! Von sich reden Sie gar nicht?“
„Habe ich dir nicht schon gesagt, Schatz, ich habe dich lieb, und alles andere interessiert mich nicht ...“
Sie war starr. Nein, nein! Er sagte das im Ernst. Und er war auch geistig (soweit er geistig überhaupt in Frage kam) durchaus normal.
„Und wenn ich meine Beziehungen zu Helldorf auch nach unserer Verheiratung fortführen würde, was würden Sie dann sagen?“ fragte sie sehr bestimmt.
Der Graf lächelte und fand sich witzig und geistreich, als er erwiderte:
„Wahrscheinlich gar nichts, da Sie es mir nicht sagen würden.“
„Und wenn Sie es von einem Dritten erführen?“
„Ich würde ihn über den Haufen schießen!“
„Warum?“
„Weil das meine Angelegenheiten sind“, erwiderte der Graf, im Zorn schon bei dem bloßen Gedanken, daß das möglich wäre, — „um die sich kein Aas zu kümmern hat!“
„Sollte ich als Ihre Frau und Trägerin Ihres Namens nicht auch eine von Ihren Angelegenheiten sein, um die sich zu allerletzt ein anderer zu kümmern hätte?“
„Eben, eben!“ sagte er erfreut. Sie wehrte ab und fuhr fort:
„Und würden Sie nicht der Meinung sein, daß dieser Helldorf, indem er mit mir verkehrte, sich intensiver um eine Ihrer eigensten Angelegenheiten bekümmert als derjenige, der Sie womöglich in guter Absicht darauf aufmerksam macht?“
„Ne, ne! Du denkst zu gut von den Menschen. Ich kenne sie. Aus Gefälligkeit würde kein Mensch den Schnabel öffnen. Nur aus Jehässigkeit und Schadenfreude. Und wer’s mir sagt, der sagt’s auch andern und bringt’s ’rum und kompromittiert uns tausendmal mehr als Helldorf. Der erzählt’s niemand,“ er grinste, „der wird sich hüten. Was hätte er auch davon? Höchstens Unbequemlichkeiten und Scherereien. Aber die Schwätzer und Herumträger, die sind gefährlich. Und weil se jefährlich sind, knallt man se nieder!“
Hilde war außer sich. Die Sache berührte ihn also gar nicht. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, darüber nachzudenken. Ja, er fühlte nicht einmal, worauf sie hinauswollte. Ausschließlich die Begleitumstände kümmerten ihn. Mit irgendeiner wärmeren Empfindung hatte sie bei ihm zwar nie gerechnet. Daß aber Helldorf durchaus nicht die treibende Kraft dieses sonderbaren Schauspiels war, daß der Graf zum mindesten eine selbständige Rolle darin spielte, war ihr — so rätselhaft es an sich war — jetzt klar geworden.
„Was vor Ihnen geschah, sagen Sie, kümmert Sie nicht. Gut, ich lasse das gelten. Wissen aber möchte ich, wie Sie zu dieser Auffassung kommen, und darum frage ich: Gestatten Sie mir, daß ich während der Ehe meine Beziehungen zu Herrn Helldorf fortsetze ...?“ Graf Arenstorff stutzte. „Oder bestehen Sie darauf, daß ich sie aufgebe? So ...“ sie war erleichtert. „Auf diese deutliche Frage bitte ich um eine ebenso deutliche Antwort.“
Das ist mehr als jüdische Impertinenz, dachte der Graf. Diese Ungeniertheit, Dinge zu behandeln, die eine anständige Frau, selbst wenn sie dazu gezwungen wird, nicht ausspricht, schon aus Rücksicht auf den Dritten. Ein nettes Pflänzchen, das ich da zur Frau bekomme. Aber die Summe war zu groß! Die Gläubiger drängten zu rücksichtslos.
Sonst! Ja sonst! Und er wuchs ordentlich in die Höhe bei dem Gedanken, was er sonst wohl mit dieser Frau gemacht hätte, wenn er nicht ... aber so ... es gab keine Bedingung, auf die er nicht eingehen mußte. Und schließlich — wenn er ehrlich gegen sich selbst war — paßte es ihm nicht ganz gut? Wußte er doch leider, daß er den Ansprüchen selbst der bescheidensten Frauen längst nicht mehr genügte. Dieser Helldorf, ein Prachtkerl! dachte er; die peinlichsten Fragen stellt diese Frau nun schon seit einer halben Stunde, Helldorfs Antwort aber paßt immer: und zum dritten Male trat er dicht an sie heran, nahm ihre Hand und sagte:
„Ich habe dich lieb, Schatz, und alles andere interessiert mich nicht.“
„Heißt das, ich darf?“ fragte Hilde kurz und scharf.
„Ja!“ antwortete er und versuchte abermals zärtlich zu sein und sie zu umarmen. Mit einem kräftigen Stoß wehrte sie ihn ab. Er taumelte einige Schritte zurück, stolperte über seinen Degen und setzte sich tatsächlich auf den Perserteppich, auf dem vorher der Schah Kavadh, der Schah Anôscharvân und der Schah Hormizd gesessen hatten.
„Und von da aus dort hinaus!“ schrie sie laut und wies nach der Tür.
In diesem Augenblick stürzte Frau Traute ins Zimmer. Sie hatte hinter der Portiere den Auftritt von Anfang an mit erlebt und war allmählich in eine Erregung geraten, die nicht mehr zu meistern war. Sie hob den völlig fassungslosen Grafen vom Boden auf, half ihm besorgt und zärtlich in einen Sessel.
„Du hast dir doch nichts getan, mein lieber Wolf Dietrich Bosso?“ fragte sie sanft und voll Teilnahme und schrie, noch ehe er Zeit zu einer Antwort fand, ihre Tochter an:
„Er ist zu gut für dich, viel zu gut! Du brauchtest einen, der dir mit der Peitsche deine niederträchtigen Flausen austreibt! Du hochmütiges Frauenzimmer!“
Wolf Dietrich Bosso Graf von Arenstorff Arenschild-Schmoldow, der durchaus nicht wußte, was Hilde in solche Erregung versetzt hatte, stammelte mit vor Schreck schwerem Atem:
„Ich stolperte ... mit meinem Säbel ... dort ... über den Teppich ...“ und er wies auf irgendeine beliebige Stelle auf dem Fußboden. „Ich wüßte auch gar nicht,“ fuhr er fort, „was sonst Ihr Fräulein Tochter veranlaßt hätte ...“
Inzwischen hatte Frau Traute ihr Kind in eine Ecke des Zimmers genommen, sie nicht eben sanft bei den Armen gepackt und mit einer Bestimmtheit, die jeden Widerspruch von vornherein ausschloß, kategorisch erklärt:
„Ich habe dich überschätzt. Ich glaubte, du wärest groß genug, um dir deinen Weg allein zu bahnen; darum ließ ich dich bis heut gewähren. Nun aber sehe ich, daß du einfältig bist wie eine Gans und in einem Augenblick, wo du die Wahl hast, auf den Höhen der Menschheit zu wandeln oder im Dreck zu verkommen (Hilde fuhr entsetzt zusammen) — es ist, wie ich es sage“, — sie wiederholte, da sie mit Befriedigung den Eindruck merkte, den es auf Hilde machte; — „du hast die Wahl, in Glanz und Reichtum zu leben oder als Frauenzimmer auf der Straße. Denn wenn du jetzt nicht meiner Weisung folgst, in derselben Minute, in der der Graf vorn das Haus verläßt, fliegst du die Hintertreppe hinunter und existierst nicht mehr für mich. Glaube mir: ich kenne das Leben; es ist lang. Darum vermeide Fehler, die nicht wieder gutzumachen sind. Für den Augenblick gibt es keine Wahl für dich. Was du nachher tust, ist eine andere Frage. Handle jetzt nach meiner Weisung und verspiel dein Glück nicht für eine eigensinnige Laune. Wenn du nachher einen sichern Boden unter den Füßen hast, dann tu, was dir behagt. Jetzt nimm dich zusammen! Ich rate es dir. Es geht um alles!“
Hilde zitterte. Sie sah der Mutter in die Augen, ihr Widerstand war gebrochen; jeder eigene Gedanke tot. Sie sah zu dem Grafen hinüber, der noch in der gleichen Haltung, wie betäubt, in einem Sessel saß und nun durchaus nicht wußte, was er beginnen sollte.
Wie unter einem Zwang glitt sie, ohne die Füße zu heben, zu ihm hinüber; die Augen der Mutter waren so fest auf sie geheftet, daß sie sie körperlich zu spüren glaubte, und ihr war’s, als zögen sie sie vorwärts.
Sie versuchte stehen zu bleiben, aber die Augen der Mutter zwangen sie zu gehen. Sie wollte nicht reden, aber der Blick der Mutter zwang sie zu sprechen. Sie preßte die Lippen zusammen, ihr Widerstand dauerte nicht lange.
„Auf die Knie!“ befahl die Mutter, ohne ein Wort zu sprechen.
Hilde sank zur Erde, beugte ihren Kopf auf seinen Schoß und sagte:
„Verzeih’!“
Wolf Dietrich Bosso strich mit seinen schmalen weißen Händen durch ihr Haar, dann lachte er laut und stolz und sagte: „Na also!“ denn er hatte sie ja erobert.
Frau Traute trat an sie heran; sie legte ihre eine Hand auf seine Schulter, die andere auf Hildes Kopf und sagte mit Pathos:
„Meine geliebten Kinder! Ich gratuliere euch!“
Als die Spannung von Hilde wich, begann sie laut zu schluchzen.
„Die Aufregung“, erklärte Frau Traute.
„Die Freude“, verbesserte Graf Bosso.
„Du wirst recht haben, mein Sohn“, meinte Frau Traute und gab ihm die Hand.
In ihrem Schluchzen erstickte Hildes Schmerzensschrei.
Im jüdischen Westen Berlins war die Aufnahme der neuesten Verlobung geteilt. Der Neid überwog. Und in den Familien, in denen man sich am leidenschaftlichsten nach einem adligen Schwiegersohn sehnte und für diese kostspielige Sensation gern die höchsten Preise zahlte, war die Stimmung am kritischsten.
„Die Schulden hätte kein anderer bezahlt!“
(Sie alle hätten mit Freude das Dreifache gegeben.)
„Er wird sie verführt haben!“
(Sie alle hätten sich unter dem Protektorat der Eltern von ihm verführen lassen.)
„Er soll halb verblödet sein!“
(Sie alle hätten sich ihm, und wenn er unzurechnungsfähig gewesen wäre, antrauen lassen.)
Andere Kreise gab’s, die von der Nachricht recht freudig überrascht waren. Nicht, weil sie Hilde oder gar Frau Traute diesen Erfolg gönnten; beileibe nicht! Aber sie fühlten sich, da sie bei Behrs verkehrten, die, so folgerten sie, also ihresgleichen waren, mit erhoben. Und was Behrs heute passierte, so schlossen sie, das kann ebensogut morgen uns passieren.
Sie ahnten nicht, daß sie bereits seit mehreren Stunden aus der Liste derer, die noch für wert befunden wurden, bei Behrs zu verkehren, stark durchstrichen waren. Jede Stunde brachte neue Opfer. Denn sobald Wolf Dietrich Bosso auf verwandtschaftliche Beziehungen zu sprechen kam, die im Gotha III oder gar II verzeichnet standen, so trat der unbarmherzige Rotstift der Frau Traute von neuem in Tätigkeit und verschonte selbst die nahe Verwandtschaft nicht.
Mehr Kopfzerbrechen verursachte diese Verlobung denjenigen Familien, die nach allgemeiner Schätzung, dem Range nach, über Behrs standen. Gibt es für diese Kreise auch keinen Gotha, so kann man doch jederzeit die Güte einer beliebigen Familie gegenüber jeder andern mit aller Bestimmtheit feststellen. Und somit weiß man auch bei einer ehelichen Verbindung immer, wer der gewinnende Teil ist.
Man muß einen Begriff von der pathologischen Eitelkeit und sittlichen Minderwertigkeit der besseren Kreise in der Beurteilung gesellschaftlicher Fragen haben (und die füllen zum größten Teile ihres Daseins Zweck), um zu verstehen, mit welcher Wichtigkeit derartige Dinge behandelt werden.
Neigungen und Gesinnungen, deren Ausdruck und Betätigung, sind längst kein Merkmal mehr für die gesellschaftliche Bewertung eines Menschen, und es macht daher auch keinen Unterschied, ob sie im Guten oder Bösen in die Erscheinung treten. Menschenwerte gelten als Luxusartikel der kleinen Leute, die, wie alles, was keinen Goldwert hat, längst ohne einen Anspruch auf Anerkennung, zu völliger Bedeutungslosigkeit herabgesunken sind.
Man besitzt zwar keine Vorurteile mehr; aber noch weniger ist man gar vorurteilslos geworden. Nur Wertmesser sittlicher Art, und die haben längst jede Geltung verloren, bedingen Vorurteilslosigkeit. Und was einst Vorurteil war — im guten wie im bösen Sinne — ist längst Satzung geworden.
Bestimmte Merkmale müssen erfüllt sein, und der Nachweis ist erbracht.
Nachweis, wofür? Etwa, daß man ein ehrlicher Kerl ist? Wer fragte danach! Gesinde und Portiers ließen sich’s wohl in ihrem Dienstbuch bescheinigen. In der Gesellschaft aber galt der ehrliche Kerl meist nur als Dummkopf oder komische Figur.
Was einer gilt und scheint, das ist er. Und er bleibt es so lange, als kein Skandal ihn daran hindert, weiter zu gelten und weiter zu scheinen.
Nach den Gründen der Geltung und des Scheins hat die Gesellschaft so wenig zu forschen wie nach den Gründen des Skandals.
Mag der Skandal unberechtigt, Geltung und Schein noch so berechtigt sein, so scheidet der Betroffene mit derselben Selbstverständlichkeit aus der Gesellschaft aus, mit der er ihr andererseits, auch wenn jedermann weiß, daß Schein und Geltung erschwindelt sind, erhalten bleibt, sofern nur der Skandal vermieden ist.
Nehmen wir die geltenden Merkmale des dem Hause befreundeten Kommerzienrats vom Kurfürstendamm, der zu denen gehörte, die für sich und ihre Töchter aus Hildes Verlobung einen Gewinn erhofften, als einer der ersten aber auf Frau Trautes Liste gestrichen war.
Er ist Kommerzienrat (Merkmal I); hat eine Wohnung am Kurfürstendamm, eine Villa im Grunewald, ein Automobil (Merkmal II); man sieht ihn und seine Familie im Winter bei Wohltätigkeitsfesten, bei Caruso, auf den Bällen, im Sommer in Sils Maria oder St. Moritz (Merkmal III); er ist im Besitz des Roten Adlerordens IV. Klasse (Merkmal IV); er gibt seiner Tochter eine Mitgift von dreihunderttausend Mark (Merkmal V); sein Sohn ist Jurist, getauft, Leutnant der Reserve (Merkmal VI); er ist Mitglied des Kaiserlichen Automobilklubs und macht am Nachmittag seine Bridge, Skat oder Francefuß in der Ressource oder im Klub von Berlin (Merkmal VII).
So etwa sah ein lückenloser Beweis des Herrn Kommerzienrat vom Kurfürstendamm für seine Zugehörigkeit zu der gesellschaftlichen guten Mittelklasse aus. Damit würde sich auch jede weitere Frage nach den Eigenschaften dieses Herrn erübrigen.
Denn, daß er sich den Kommerzienrattitel für fünfzigtausend Mark kaufte, die er für zwei Kirchenfenster (ausgerechnet), an denen die Kaiserin interessiert war, stiftete, sicherte ihm die Bewunderung seiner Kreise mehr, als wenn er an dem Zustandekommen eines wichtigen Handelsvertrages unentgeltlich mitgewirkt hätte.
Denn, daß er im Hause wie in seinem Geschäft skrupellos und voll Willkür schaltete, Frau und Kinder unterdrückte, mitleidslos den kleinen Leuten den Hals zuschnürte, wenn’s ihm nur Gewinn brachte, und bei seinen geschäftlichen Manövern immer hart den Zuchthausparagraphen streifte, wissen sie, heißen es ein Geschäftsgenie und bewundern es, — um es im Falle eines Skandals voll Entrüstung und Entsetzen zu verurteilen und lärmend von ihm abzurücken.
Denn, daß ihm die Armut verabscheuens- und widerwärtiger ist als das Verbrechen, und daß er einen verarmten Nächsten eher neben sich verhungern ließe, als ihm, ohne damit einen Zweck zu verbinden, eine Mark zu geben, heißen sie einen Ästheten im Wohltun, denn auf Wohltätigkeitsfesten, die unter dem Protektorat hoher und höchster Herrschaften veranstaltet werden, fehlt er mit seiner Familie nie, und er opfert denn auch, ohne nur nach dem Zweck der Veranstaltung zu fragen, Tausende, sofern sich ihm dadurch die Häuser gesellschaftlich höher Stehender öffnen.
Denn, daß er einen hohen Beitrag in den Fonds zur Verbreitung des Deutschtums in den Ostmarken nur darum zahlt, um den Roten Adlerorden IV. Klasse zu erhalten, werden nur völlig mißgünstige Neider oder Sozialisten behaupten. Kein guter Staatsbürger jüdischen Glaubens wird darüber im unklaren sein, daß lediglich das Staatsinteresse und ein wahrhaft preußisches Empfinden die großmütige Gabe veranlaßt haben.
Denn, daß er seiner Tochter eine Mitgift von dreihunderttausend Mark und mehr nur gibt, wenn sie, ohne nach Neigung oder gar nach Liebe zu fragen, den Mann nimmt, den er ihr als den passenden vorrechnet, beweist seine väterliche Fürsorge, die so weit geht, daß er auch nicht einen Pfennig geben würde, wenn es ihr etwa einfallen sollte, sich an einen Menschen fortzuwerfen, der, wie etwa der Hauslehrer seines Sohnes, statt Namen, Familie und Vermögen lediglich seine Anstellung, seine Ideale und seinen Charakter in die Ehe bringt.
Denn, daß er, der Sohn eines jüdischen Vorbeters aus Krotoschin, der bis vor wenigen Jahren noch einen frommen Haushalt führte und mit Überzeugung an dem Gotte seiner Väter hing, seinem Sohn den Übertritt zum Christentum und den Eintritt in ein Korps gestattete; daß er aus gesellschaftlichen Rücksichten für seinen Jungen, der mit aktiven Offizieren so intim verkehrte, daß er seinen Namen unter ihre Wechsel schreiben durfte, oft seinen Glauben verleugnete, daß er für den Fall, daß seine Tochter einen Offizier (doch nur wenn es ein adliger war) heiratete, sogar selbst bereit war, zum Christentum überzutreten, — zeugte das nicht alles von einer Gesinnung, deretwegen man ihm wohl manches nachsehen konnte?
Und je größer die Zahl der braunen Lappen war, mit denen man seine gesellschaftliche Position befestigte, um so leichter war auch ein Skandal, bevor er Unheil bringen konnte, zu ersticken.
Man zahlte nicht nur für Titel und Orden feste Preise; war nicht nur, um den Adel zu erreichen, an ganz bestimmte Taxen gebunden; man kaufte sich schließlich auch den gesellschaftlichen Verkehr, den man auf regelrechtem Wege nicht erwirken konnte. Und mit einem jüdisch-katholischen Industriemagnaten, der in der Kulturgeschichte Berlins des zwanzigsten Jahrhunderts, in der die Zoologie stets einen breiten Raum einnehmen wird, als besonders übelriechendes Kriechtier mit stark gekrümmtem Rücken und ständig wedelndem Schweife gar hunderttausend Mark für den Besuch eines königlich prinzlichen Paares zahlte, gewinnt das Tatsächliche bereits einen unfreiwilligen karikaturistischen Charakter.
Und immer seltener wurden die Juden, die dieser Pseudo-Aristokratie gewissenloser Pharisäer mit Ekel und Verachtung gegenüberstanden, die reich an inneren Werten auch jetzt noch mit Stolz ihren Glauben trugen und diese breite Welt des Scheins haßten. Wie lächerlich und erbärmlich waren aber auch die Versuche dieser Streber, sich in eine Welt zu drängen, in der sie doch nur geduldet waren, und in der man sie im stillen genau so verächtlich verlachte, wie es wenige Gutgesinnte ihrer eigenen Stammesbrüder taten. Waren nicht sie gerade mit ihrer Jahrtausende alten Geschichte, ihrer Jahrtausende alten Kultur, Stamm- und Geistesaristokratie zugleich? Und bedeuteten ihre geistigen und materiellen Kräfte nicht eine Macht, die ebenso unüberwindlich wie unentbehrlich war, und die es, sobald sie nur im Glauben zusammenhielten und ihre Selbstachtung wahrten, wohl darauf ankommen lassen konnte, ob man auf ihre Mitwirkung im öffentlichen Leben verzichtete.
Was aber taten sie? Statt ihres Wertes bewußt sich suchen zu lassen?
Sie krochen wie geschlagene Hunde auf dem Boden umher, wedelten und winselten, lange und immer von neuem, für die Gnade eines gütigen Blickes. Da ließ man sie mit an der großen Tafel sitzen, ganz unten, wo sie nicht auffielen, denn man schämte sich ihrer (weil sie selbst so schamlos waren), und man setzte sie so, daß man sie nicht sah und daß sie selbst nicht sehen konnten, was um sie herum vorging. Nun waren sie zwar glücklich; aber bald begehrten sie mehr. Da brachten sie ihre Schätze und opferten auch diese, wie sie vordem ihr Gewissen geopfert hatten. Und siehe da, nun schob man ihnen auch die Schüsseln hin und sie durften die Reste, die die andern verschmähten, genießen. So großer Gnade fand man sie nun für wert, und sie trugen die Köpfe hoch und die Rücken gerade und spuckten wohl auch auf die Straße, wenn sie einem ihrer Stammesbrüder begegneten, denn sie schämten sich ihrer und sahen zur Seite, aus Furcht, er könnte sie grüßen. Saßen sie aber an der reichen Tafel der andern, die sie selbst zum größten Teil bestellten, dann krümmten sie wieder ihren Rücken und erstarben in Demut. Und soviel sie auch gaben (immer mehr und mehr), es blieb bei den Resten, die man ihnen auf den Boden streute, und für die sie voll Dank auf die Knie sanken, das Vaterunser sprachen und immer weiter und weiter gaben.
So sahen die Juden aus, die Hilde kannte. Und ihr war klar: ein Volk, das sich so erniedrigte, konnte nichts wert sein. Was ihr der Vater gelegentlich aus der guten Zeit der alten Juden und aus ihrem Familienleben berichtet hatte (als hätte er es selbst noch mit-erlebt, so voller Wärme und dankbarer Erinnerung klangen seine Worte), war gewiß wie alles andere, was er ihr vom Leben erzählte, nur Gestaltungslust und Phantasie gewesen; ein Glauben aber, der nicht die Kraft besaß, seine Gläubigen gegen Verlockungen zu schützen, die in nichts anderem als in der Befriedigung einer Eitelkeit bestanden, ohne einen auch nur in den Augen derer, denen man winselnd nachlief, gleichzumachen, konnte auch nicht stark genug sein, um einen schwachen Menschen, wie sie es war, zu stützen. An eine innere Befreiung wagte sie schon gar nicht mehr zu denken.
Wie anders mußte doch der Glaube sein, der selbst die freiesten und stärksten Geister mit sich fortgerissen und eine Kunst geschaffen hatte, die allein schon zur Weihe stimmte und zur Andacht zwang, die alle Herzen, die sich ihm erschlossen, aus dem engen Tal der Sorgen in freie Höhen hob.
Und welche Fülle an Kraft, und welche Tiefe an Hingabe und Liebe mußte dieser Glaube gewähren, wenn er in den Werken der Gläubigen so stark sich äußern konnte, daß er auch die Einsamen, die nichts von dieser Kraft und Tiefe kannten, mit sich fortriß.
Und Hilde überlegte. Sah sie nicht auch bei ihrer Miß eine stille Ergebung in alles, was das Schicksal brachte? Über eine Jugend, die schwer und voll Entbehrungen war, der mit dem Verlust der Mutter einsame Jahre folgten, die eine Enttäuschung nach der andern brachte, hatte ihr, ohne daß sie bitter wurde, ihr Glaube hinweggeholfen. Und sie hatte wohl recht, wenn sie immer wieder sagte: „Sie sollten mehr glauben, Hilde, und weniger denken.“
Aber der Glaube ließ sich nun einmal nicht erlernen. Sie hätte ja gern das Denken dafür hingegeben, das ihr statt der Befreiung doch nur Kümmernisse brachte. Sie widersetzte sich durchaus nicht den Mühen, die sich die Miß gab, um sie zu bekehren. Im Gegenteil: sie folgte willig und voll Begierde. Aber der Intellekt der Erzieherin, die längst ihre Freundin war, reichte nicht aus, um auch nur den kleinsten Teil ihrer Wißbegierde zu befriedigen oder gar die Widersprüche, auf die sie überall stieß, zu deuten.
Sie war daher sehr froh und erhoffte viel davon, daß ihr Verlobter auf den sehr entschiedenen Hinweis des Generals von Arenstorff, der das Haupt derer von Arenstorff Arenschild-Schmoldow war, schon am Tage nach der merkwürdigen Werbung auf den Besuch beim Bischof drang, der ihre Seele „aus der finstern Nacht des Judentums dem hellen Licht der Christenheit zuführen sollte“. So hatte sich Bossos Onkel, das Haupt derer von Arenstorff Arenschild-Schmoldow, dem Neffen gegenüber geäußert. So hatte es Bosso sofort zu Papier gebracht, um es eine Stunde später als sein geistiges Eigentum zu Hildes Erstaunen bei Behrs vorzutragen. Daß derselbe Oheim diese Verbindung eine Schande und Schmach genannt und geäußert hatte, wenn Bosso ein echter Arenstorff wäre, so würde er seinem verfehlten Leben eher durch eine Kugel ein Ziel setzen als sich und das ganze Geschlecht derer von Arenstorff Arenschild-Schmoldow durch diese Ehe zu schänden, erzählte er nicht. Einmal wäre das taktlos gewesen und dann hätte es den Onkel recht gefühlsroh erscheinen lassen. Beides vermied er.
Und ferner hatte der Oheim gesagt:
„Wir (das galt von siebzehn männlichen und einundzwanzig weiblichen Familienangehörigen) werden an der offiziellen Verlobungs- und Hochzeitsfeier zwar teilnehmen, im übrigen aber dich deinem Glück und deiner neuen Familie selbst überlassen. Was später wird, hängt davon ab, ob es dir gelingt, deine Frau ihrer orientalischen Atmosphäre zu entziehen und an reine Luft zu gewöhnen. Im übrigen erwarte ich von dir, daß du mich von den widerwärtigen Hypothekengläubigern befreist, damit die Schweinerei endlich ein Ende hat. Das wird man ja wohl noch dafür haben können, daß man sich sein blankes Wappenschild von so einem Lauseneffen versauen läßt.“
Und Bosso fand diese Auffassung seines Onkels, die er teilte, durchaus gerechtfertigt.
Bei der Jungfer Minna Quenglig des Fräulein Lizzy im Hotel Astoria in den Champs Elysées zu Paris, Chambre Nr. 265/66, lief folgendes Schreiben ein:
„Beiliegenden versiegelten Brief wollen Sie bitte in Abwesenheit des Herrn Dr. Adolf Burg dem gnädigen Fräulein überreichen.
Im Auftrage meines gnädigen Herrn August Helldorf.
Henri, Kammerdiener.“
Jungfer Minna war aber nicht nur neugierig, sondern in den schönen und eleganten Kammerdiener des Herrn August Helldorf längst bis über die Ohren verschossen. Und wie es die Eigenart ungebildeter Frauen nun einmal ist, ihre Verliebtheit war um so toller, je deutlicher die Aussichtslosigkeit einer Erwiderung war; denn wenn Henri auch über ihre dreißig Jahre, ihre unnatürliche Magerkeit und ihre roten Hände hinwegsah, sie blieb doch immer nur eine Zofe, und für Henri war Liebe etwas so Erhabenes, daß er sie nur für Damen höheren Standes, die der Gesellschaft angehörten, empfinden konnte.
Minna Quenglig aber wies als einzige Empfehlung die Eheirrung eines früheren Dienstherrn, des Grafen Arnim, auf, der nach einem Liebesmahl im Dämmerzustand bei ihr eingebrochen, indessen (und das verschwieg sie) trotz ihrer großen Bereitwilligkeit und tatkräftigen Unterstützung infolge des Alkohols unverrichteter Sache wieder abgezogen war. Wie gesagt, Minna Quenglig hatte Witterung und öffnete mit der Liebesleuten und Verbrechern — die auch sonst verwandte Züge haben — eigenen Geschicklichkeit das Kuvert, entnahm ihm einen sorgfältig geknifften Papierbogen, von dem der eine unbeschrieben und nur als Schutz gegen indiskrete Augen bestimmt, der andere aber mit Schriftzügen übersät war, die, sie erkannte es sofort, nicht von der Hand Helldorfs, sondern von der ihres geliebten Henri herrührten.
Natürlich las sie zunächst die letzte Seite. Da stand:
„Wann endlich wird der Tag kommen, an dem Du mir ausschließlich gehören wirst. I had rather be a toad And live upon the vapour of a dungeon. Than keep a corner in the thing I love. For others uses
Dein Othello.“
Minna Quenglig zitterte. Diese Unterschrift! Deckadresse! murmelte sie. O, diese Betrüger! Der arme Herr Helldorf! Sie schlug um und las. Seite drei:
„... natürlich habe ich diese Gelegenheit benutzt, um Frau B. in alle Details dieser Liebesgeschichte ihrer Tochter einzuweihen. Ich war gewandt genug, sie glauben zu machen, daß ich mich nur durch ihre geschickte Fragenstellung zu reden verleiten ließ. Sie ist davon überzeugt, daß ich ihr unfreiwillig und fast unbewußt alles erzählt habe. An genügender Übertreibung habe ich es natürlich nicht fehlen lassen. Auf alle Fälle erreichte ich damit meinen Zweck, und dieses schamlose Verhältnis, das ich vom ersten Augenblick an als eine Beleidigung und Herausforderung gegen Dich betrachtet habe, dürfte nunmehr seinem Ende nahe und Du mir nach langen vier Wochen endlich zurückgegeben sein.“
„So ein raffinierter Hund!“ schrie Minna Quenglig unter lautem Schluchzen. „Mit so’ner Schlauheit kommt unsereins natürlich nicht mit.“ Und sie las weiter:
Auf Seite zwei stand:
„Im übrigen belästige ich Deinen Helldorf nach wie vor in der Rolle des sentimentalen und naiven Liebhabers, der in seinem Größenwahn das Weib seines Herrn begehrt. Wenn August ganz frech ist, dann führt er mich in dieser Rolle wohl auch seinen Freunden vor, die mich dann ‚riesig komisch‘ finden, mich hätscheln und mit schlecht verborgenem Spotte mir Hoffnungen zu machen suchen und sich erbieten, bei Dir zu vermitteln. Sobald ich aber draußen bin, stimmen sie regelmäßig ein unanständig lautes und albernes Gelächter an, so unerzogen und taktlos sind sie. Glaube mir, hätte ich Dich nicht, so würden mich diese deutschen Außenseiter mit ihrer würdelosen Haltung und Kleidung und mit ihren groben Witzen zur Verzweiflung treiben.“
Minna Quenglig wußte genug. Sie schloß den Brief wieder, wartete eine günstige Stunde ab und gab ihn ihrer Herrin.
Schon am nächsten Morgen erhielt Henri eine Antwort:
„Mein Henri! Deine Zeilen haben mich in dem Entschluß bestärkt, nicht wieder zu August und in den blöden Kreis dieser Berliner Lebejünglinge zurückzukehren. Ich lernte hier den Freund des Dr. Burg kennen, dessen Vater Präsident von Venezuela war und in fünf Jahren fünfhundert Millionen zusammengestohlen hat. Mehr brauche ich nicht zu schreiben, um Deine Einwilligung zu diesem Thronwechsel zu erwirken. Die Anträge, die er mir machte, hätte auch eine Königstochter nicht zurückgewiesen. Indem ich Dich, mein einziger, zum Marschall meines Hauses, Hofes und Bettes ernenne, erwarte ich voll Sehnsucht ein Telegramm, das mir Deine Ankunft meldet.
Deine Ophelia.“
Nachschrift:
„Tröste August den Bedauernswerten. Er scheint vom Pech verfolgt. Er schreibt mir: „Du weißt nun alles. Also komm! Ich kann Dich versichern, daß die Hilflosigkeit dieses Kindes, das sich seit vier Wochen einbildet, Dich ersetzen zu können, in allen Künsten der Liebe eine vollkommene ist. Sie weiß mit ihrem unentwickelten Körper nichts weiter zu beginnen, als furchtsam und zitternd alles über sich ergehen zu lassen. Daß Liebe auch Gegenliebe fordert, weiß sie nicht. Sie läßt sich von mir ausziehen wie ein Schulmädchen von seiner Gouvernante, und die tausend Varianten, durch die Du schon von dem Augenblicke an, in dem Du Dir den Handschuh von den schmalen Händen streifst bis zum Fallen des letzten Röckchens, die selbst verwöhntesten Nerven bis zur Raserei antreibst, kennt sie so wenig wie die arts selbst. Und die Scham und Keuschheit, mit der sie noch nach den schwülsten Nächten mein Haus verläßt, ist so groß, daß man bei jeder Wiederkehr von neuem ihr Begehren erwecken und vergessen muß, jemals diesen Leib besessen zu haben. Für Studenten der Liebe mag das seine Reize haben, nicht für mich, bei dem die erste Prüfung zu weit zurückliegt, um sie ohne Furcht und ohne große Mühe allabendlich wiederholen zu können! Also Lizzy komm’!!
Dein August.“
Diese Nachschrift interessierte Henri wenig, obschon sie ihm als Grund zu seiner Entlassung dienen sollte. Aber dieser Venezueler war sein Mann. Wenn Lizzy nur zwei Jahre lang mit ihm zusammenblieb, dann war er ein gemachter Mann. Daß das geschah, dafür wollte er schon sorgen. Denn solange Lizzy ihn liebte, betrog sie den Venezueler nicht, d. h. mit keinem andern als mit ihm, und nur darin konnte Gefahr liegen.
Als Helldorf sehr ernüchtert von seinem Ausflug mit Frau Traute am Abend zurückkehrte, lag auf seinem Schreibtisch ein versiegelter Brief Henris, den er erbrach.
„Hochverehrter gnädiger Herr! Nachdem ich heute unfreiwillig Zeuge des Schmerzes einer Mutter war, deren Kind Ihren Verführungskünsten erlegen ist, verbietet mir mein Gewissen, länger in Ihren Diensten, deren treue und gewissenhafte Erfüllung mir Selbstzweck war, zu verbleiben. Möge auch Ihnen bald das Gewissen sprechen, werter Herr, denn
The commencement of atonement is
The sense of its necessity.
(Byron.)
Hochachtungsvoll
Henri,
Kammerdiener.“
Helldorf war untröstlich; aber Henri war fort und blieb (für die nächsten Jahre wenigstens) verschwunden.
Zu allem andern Glücke gesellte sich bei Frau Traute noch die Freude, daß Bosso Katholik war. Das hatte sie sich im stillen immer gewünscht. Eine protestantische Ehe, die Trauung womöglich wie die aller getauften Juden in der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche, — nein, wie alltäglich, und vor allen Dingen wie jüdisch war das.
Ein Katholik war schon etwas anderes. Da konnte man den Tiergarten von der Lennéstraße bis zur Liechtensteinallee hinauf, ohne eine Querstraße auszulassen, von Haus zu Haus absuchen, ehe man eine reiche Jüdin fand, die sich mit einem Katholiken, der sogar adlig und noch dazu aktiv war, verheiratet hatte.
Und dieser Ritter konnte sich sehen lassen, meinte Frau Traute und wuchs in dem Gedanken an die jungen Nobilitierten jüdischer Rasse, die sich zu ihrem Verdruß längst über die Maßen spreizten, empor und blähte sich auf wie ein Pfau in einem Hühnerstall.
„Wir werden unsere Kinder in der Hedwigskirche trauen lassen.“ Wo konnte man in den Berliner Tiergartensalons ähnliches zu hören bekommen? He? War das nicht eine Attraktion allererster Güte? Die von Cramers mochten sich das ganze Offizierkorps der Potsdamer Husaren, die von Mandels den Kriegsminister, und die Farrar, die von Fuldas gar den Bruder des Kaisers zu Tische laden, — lächerlich, was war das alles gegen unsere Trauung in der Hedwigskirche. „Nein,“ meinte Frau Traute, „das macht uns kein Rothschild, kein Max Reinhardt nach.“
„Höchstens Cook“, antwortete Hilde, und erhielt seit Wochen den ersten strafenden Blick der Mutter.
Schon beim zweiten Zusammensein, das Helldorf mit Frau Traute vereinte, sagte er zu ihr:
„Übrigens möchtet ihr nun daran denken, den Bosso zu rangieren.“
Frau Traute sah ihn groß an.
„Ihr bekommt ja keinen Sprachlehrer oder Predigtamtskandidaten zum Schwiegersohn, sondern einen Reichsunmittelbaren, der, wenn der Zufall es gewollt hätte, heute König von Preußen wäre.“
Frau Traute wurde schwindlig. Sie genoß die Schauer, die das Gefühl einer Königin-Mutter in ihr erregten und sagte nur: „Schade.“
„Schade?“ nahm Helldorf auf. „Der Kaufpreis würde dann gewiß ein unerschwinglicher sein, während er sich jetzt doch immerhin in Grenzen hält, die in keinem Verhältnis zu dem siebenzackigen Objekte stehen, über dessen Echtheit kein Zweifel bestehen kann.“
„Wie hoch sind seine Verbindlichkeiten?“
„Rate.“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Nun, die Summe reicht kaum aus, um sich dafür den Adel zu kaufen, und ihr werdet ihn gewiß nicht dagegen eintauschen.“
„Ich danke,“ erwiderte Frau Traute; „ich kenne jemand, der zwei Millionen dafür bezahlt hat.“
„Das muß ein Hochstapler gewesen sein, der sich mit dem Kauf zugleich von anderem losgekauft hat. Für unbescholtene Bürger ist er für die Hälfte zu haben.“
„Also eine Million?“ fragte Frau Traute.
Helldorf betrachtete sie eindringlich, als suchte er zu ergründen, welchen Eindruck es machen würde, wenn er jetzt mit einem Ja antwortete. Sie schien durchaus nicht bestürzt, und er wagte es in dem Bewußtsein, daß er seinem Freunde Bosso, der ihn durch diese Ehe vor großen Unbequemlichkeiten bewahrte, keine angenehmere Überraschung bereiten könnte, als wenn er ihm dreihunderttausend Mark zu seinen Schulden hinzuverdiente.
„In der Tat,“ sagte er beherzt, „es ist nicht mehr.“
„Mein Mann wird nicht erbaut sein,“ erwiderte sie, „aber natürlich muß es bezahlt werden.“
Schon bei seinem nächsten Zusammensein, zu dem Helldorf diesmal mit erheuchelter Leidenschaft ungestüm drängte, brachte sie ihm die Einwilligung ihres Mannes.
Bosso legte auf Helldorfs Rat einen erheblichen Teil der Summe für seine nicht richtig gehenden jahrelangen Beziehungen fest und hielt damit aufdringliche Erpresser vom Leibe. Den Rest gab er dem Onkel, gleichsam als willkommenes Schmerzensgeld für den schwer reparierbaren Riß, den der Stammbaum Arenstorff Arenschild-Schmoldow durch diese Mesalliance erlitt.
Was lag nicht zwischen heut und damals, dachte Hilde, als sie nach langer Zeit wieder zu ihrem Tagebuch griff und die letzten Eintragungen durchlas.
Besaß sie nun wirklich die Klarheit, um deretwillen sie sich außerhalb aller sittlichen Gesetze gestellt, alles gewagt und so schnell auch alles verloren hatte? Gewiß hatte sie in den wenigen Wochen mehr erfahren als manche Frau zeit ihres Lebens. Wie eine Reihe lebender Bilder waren seit ihrer ersten Begegnung mit Helldorf die Ereignisse fast zusammenhanglos an ihr vorbeigezogen. Sie vermochte sich wohl über die Wirkung jedes einzelnen Rechenschaft zu geben; die Voraussetzungen aber, aus denen heraus sie entstanden, kannte sie nicht, so sehr sie selbst es war, die sie veranlaßt hatte.
Aber war nicht dieser Helldorf, kaum daß ihr Entschluß gefaßt war und ohne daß er etwas von ihr wußte, unaufgefordert in ihr Haus gekommen? Obgleich das Milieu, in dem er sonst lebte, ein anderes als das ihrer Kreise war? Und hatte er sie dann nicht schon nach der ersten Stunde, die sie zusammen waren, und in der er so groß und tapfer gegen eine Welt von Heuchelei kämpfte, mit einer Sicherheit und Selbstverständlichkeit an sich gerissen, als gehörten sie durch eine Fügung, die unabhängig von ihrem Willen war, zueinander? Durfte sie da nicht glauben, daß dieser Mann bestimmt war, sie von ihren Zweifeln zu befreien und ihr das Glück zu bringen, um das sie kämpfte?
Sie war ihm denn auch willig gefolgt. Aber in dem Augenblick, in dem sie sich der Erfüllung am nächsten glaubte ... sie gab sich Mühe, nicht zu Ende zu denken; denn so bedingungslos und beschämend in diesem Falle ihr Zusammenbruch war, so einwandsfrei lautete dann auch die Antwort auf ihre Frage, ob die gute oder schlechte Tat die Welt regiert, ob sie dem Glauben ihrer Mutter, der im Bösen lag, oder dem des Vaters, der trotz allen Mißgeschicks doch voller Zuversicht an einen Gott des Guten glaubte, folgen sollte.
Doch noch fehlte ihr der Mut, diesen letzten Schluß zu ziehen. War es nicht wirklich möglich, daß ein frommer Glaube, diese große Irrung ausgeschlossen, den Versuch unmöglich gemacht hätte? Daß es einen Glauben gab, der die Herzen so reich machte, daß sie selbst in der Ergebung in ihr Schicksal noch eine Gnade Gottes sahen?
Und immer wieder zog es sie jetzt zu den Bildern der Mutter Gottes, deren Geschichte sie kaum kannte, die aber, das sagte ihr eine innere Stimme, schwerer trug als sie, und die doch mild und selig war — und glaubte.
Der Kohlscheinsche Stich nach Raffael mit der Himmelfahrt Marias hing längst über ihrem Bette; davor kniete sie des Nachts, wenn sie mutlos wurde und nicht schlafen konnte.
„Wenn ich deinen Glauben hätte“, sagte sie dann laut und sah zu ihr empor, als suchte sie Hilfe. „Wenn ich glaubte wie du, dann wäre ich stärker! Und sie preßte die Hände fest ineinander und hing mit ihren großen Augen an dem Bilde.
„Hilf Mutter!“ löste es sich dann aus ihrem gequälten Herzen und sie konnte weinen und alle Schmerzen von sich geben, so daß ihr leichter wurde.
„Mutter!“ sagte sie noch ein paarmal, dann kam Ruhe über sie und sie schlief ein.
Der Lärm und Luxus, den Frau Traute bei den nun folgenden Verlobungsfestlichkeiten, die sich bis zu dem nahen Hochzeitstage zahllos drängten, entfaltete, war beispiellos.
Ihr erschien die Tatsache, daß ein Adelskretin eine millionenschwere Jüdin heiratete, eben da es ihr Kind traf, als ein ganz außerordentliches Ereignis. Sie hatte das bestimmteste Gefühl, daß ganz Berlin diese Auffassung teile und sich mit nichts anderem als mit dieser Ehe beschäftige. Wenn sie jetzt in ihrem Wagen saß, dann war es ihr, als ob aller Augen staunend und bewundernd an ihr hingen, und wenn sie im Theater in ihre Loge trat, hörte sie deutlich eine Bewegung durch das Publikum gehen. Sie gab sich jetzt Mühe, leutselig zu erscheinen und fühlte nicht, daß sie dadurch nur um so hochmütiger und anmaßender wirkte. Sieh nur, so etwa war der Eindruck, den sie machte, ich habe nun nicht mehr nötig, durch Zurückhaltung und künstliche Würde den Schein zu wahren, als besäße ich Geltung. Jetzt bin ich etwas. Und da seit gestern mein gesellschaftliches Prestige hell wie die Sonne strahlt und euch alle, die ihr früher gleich oder mehr galtet wie ich, beschattet, so kann ich euch nun getrost statt mit Zurückhaltung mit besonderer Freundlichkeit begegnen.
Soweit nach außen; nach innen war die Palastrevolution eine vollkommene. Man freute sich über den Fall des Nächsten, bis einen selbst der Ausschluß traf, und alles Wehren half nichts. So verzweifelt die Anstrengungen der vielen Mütter waren, die für ihre eigenen Töchter aus dieser Ehe Vorteil erhofften, so blieben sie doch alle erfolglos. Was stellte man nicht alles an, um mit Behrs zu verkehren oder den Verkehr aufrecht zu erhalten. Traf man sich im Theater, so bot man seine bessere Loge an; besaß man eine Villa im Süden oder an der See, so stellte man sie dem jungen Paare für die Hochzeitsreise zur Verfügung.
An der Börse erzählte man sich, daß es leichter sei, zu den Hoffestlichkeiten als zu einem Behrschen Diner eine Einladung zu erhalten, und selbst der gut dotierte Graf sah seine Position erschüttert. Denn trotz der von den Familienmitgliedern derer von Arenstorff getroffenen Vereinbarung, sich reserviert zu halten, wimmelte es im Behrschen Hause tagtäglich von Onkeln, Vettern, Großvettern, Freunden und Bekannten Bossos, so daß unter der großen Schar der Grafen der einzelne bald keine Beachtung mehr fand. Nur Bosso selbst kam selten und entschuldigte sich meist mit wichtigen Besprechungen, zu denen ihn das Familienoberhaupt, sein Onkel, bat.
Da bis zu dem anfangs bestimmten Hochzeitstage noch nicht sämtliche Standes- und Wahlverwandten Bossos rangiert waren und jede Zurückhaltung Behrs in diesen Dingen von seiten Bossos damit beantwortet wurde, daß er mit seinem Rücktritt von der Verlobung drohte, so mußte der Termin immer von neuem um einige Wochen hinausgeschoben werden. Erst als in einem der entlegensten Winkel Ostpreußens die letzte längstverschollene Tante derer von Arenstorff bei der Nachricht der Verlobung ihres Neffen auferstanden und von Behr in ein adliges Stift eingekauft war, erklärte Bossos Vertreter alle Hindernisse zur Zufriedenheit derer von Arenstorff für beseitigt und setzte der endgültigen Festlegung des Hochzeitstages keinen Widerspruch mehr entgegen.
Der alte Graf von Arenstorff begleitete Hilde zum Bischof, der ihm gut bekannt war, und sich daher gern zu tätigem Rate bereit erklärte. Mit Güte und Liebe, wie ein Vater, kam er ihr entgegen.
Er forderte von ihr zunächst das Versprechen, erst dann das Sakrament der Taufe zu empfangen, wenn das Gelübde auch wirklich der Ausdruck ihres Herzens sei.
„So wenig Sie Ihrem Verstande dem Glauben zuliebe auch nur das kleinste Opfer bringen sollen, so sehr soll doch Ihr Herz teilhaben an all den Gütern, welche die neue Welt der Christenheit Ihnen erschließen wird. Sie müssen mit klarem Verstande den Geist des Glaubens fassen und ihn dann mit der Kraft und Wärme Ihres jungen Herzens erfüllen, und an Stelle der Leere wird die Liebe zu Gott treten. „Willst du ein Christ sein, so mußt du wie Christus leben.“ Ein wahrer Christ ist der, der gegen jedermann sanftmütig, gütig, barmherzig ist und der sein Brot teilt mit den Armen, aber nicht, der getauft ist und den Taufschein in der Tasche trägt.“
Wie die warmen Tropfen eines Sonnenregens auf staubiges Laub, so fielen die Worte des Bischofs auf Hildes Herz, das in seiner Not nun wußte, daß hier seine Rettung lag.
Groß und feucht blickten ihre Augen zu ihm auf. Er sah ihre Verzweiflung und erkannte den Blick, der laut sprach: deine Hilfe kann mich erretten. Er fühlte die tiefe Not dieses Herzens, das litt ohne den Trost des Glaubens, das qualvoll an seinem Leben schleppte und nun, da es die Kräfte verließen, deutlich seinen Zusammenbruch spürte.
Mitleidig sah er sie an; um seinen schmalen und feinen Mund lag der Schatten eines gütigen Lächelns. Dann hob er leicht die gefalteten Hände und senkte den Kopf.
Da fiel sie vor ihm auf die Knie, faltete die Hände, und er sprach:
„Mein Kind, willst du Gottes Diener sein, so schicke dich zur Anfechtung. Halte fest und leite dich, und wanke nicht, wenn man dich davon lockt. Halte dich an Gott und weiche nicht, auf daß du immer stärker werdest. Alles, was dir widerfährt, das leide und sei geduldig in Trübsal. Denn gleich wie das Gold durchs Feuer: also werden die, so Gott gefallen, durchs Feuer der Trübsal bewähret. Vertraue Gott, so wird er dir aushelfen; richte deine Wege und hoffe auf ihn. Amen.“
Der Bischof erhob sich, reichte Hilde die Hand und bat den Grafen, sich zu entfernen. Der ging und ließ sie allein.
„Und nun, meine liebe Freundin, gehören Sie mir!“ Er nahm sie bei der Hand und führte sie in einen kleinen Erker, von dem aus eine schmale Treppe in den Garten führte. Es duftete stark nach Hyazinthen und schweren roten Nelken, die der Bischof selbst zog und liebte und die er an jedem Morgen überall auf Tischen, Schränken, auf dem kleinen Hausaltar, den eine van der Weidensche Kreuzabnahme schmückte, verteilte, und die hinter heiligen Gefäßen, Vasen und Vitrinen und dem Jesus am Kreuze wie das ewige Leben emporblühten.
In einem breiten Sessel, der am Erkerfenster stand, ließ er sich nieder, rückte einen Stuhl quer daneben, auf den sich Hilde setzte, nahm ihre Hand und sprach gütig:
„Sie müssen ganz wahr gegen mich sein; dann will ich Ihnen helfen, aber auch nur dann.“
Hilde neigte den Kopf zu ihm herab. Sie küßte voll Dank seine Hände.
„Wenn Sie in dieser Ehe auch alles finden, was Sie in Ihren Träumen suchen, wenn Sie den Mann auch noch so lieben und alles Glück der Welt von ihm erhoffen — mehr wert als alles dies muß Ihnen der Glaube sein. Darum müssen Sie sich mit aller Strenge und ohne Eigenliebe immer von neuem prüfen, ehe Sie den Glauben Ihrer Väter ablegen und das Sakrament der Taufe empfangen. Denn, Gott ist die Wahrheit selbst und daher verbietet er jede Falschheit. Offen sündigen ist kein so großes Übel wie Heiligkeit heucheln. Und, wer Gott mit den Lippen ehrt und dessen Herz weit von ihm ist, der bleibt unerhört. Daher müssen die, die ihn anbeten, ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Und es ist eine Sünde wider Gott, eine Andacht zu zeigen, die man nicht hat.“
Hilde sah zu ihm auf. In ihrem Blick lag das Versprechen und Verständnis für seine Worte.
„Und wenn Ihnen wider Erwarten die Erkenntnis für die Wahrheit unserer Kirche nicht kommt, dann reißen Sie den Bau Ihres alten Glaubens nicht wider Ihren Geist ein! Dann verzichten Sie lieber auf ein Glück, dessen Erfüllung an einer Lüge hängt. Machen Sie Ihr Herz frei von Wünschen, deren Erfüllung an Voraussetzungen hängt, die mit Ihrem Gewissen nicht im Einklang stehen.“
Schwer rang es sich aus Hildes Brust:
„Ich kann ja nicht!! Ich muß ja!!“
Er legte seine durchfurchte Hand auf ihren Kopf und sagte voll Milde:
„Wenn Sie guten Willens sind und reinen Herzens, dann wird Gott Ihnen helfen. Und ich will für Sie beten bei der heiligen Messe.“
Als Hilde ihn ansah, dankbar, doch erstaunt, fuhr er fort:
„Die katholische Kirche betet auch für Andersgläubige; denn auch die können selig werden, wenn sie nur aus Unwissenheit irren und ein rechtschaffenes Leben führen. Und wir, die wir sogar unsere Feinde lieben, sollten unsere Herzen gegenüber dem Schmerz Andersgläubiger verschließen?“
Und er erzählte Hilde Werke der Nächstenliebe gegen Juden und Protestanten aus dem Leben Pius’ IX., die ihr Herz rührten. — Und als er ihr nochmals versprach, für sie zu beten, fiel sie vor ihm auf die Knie, küßte seine Hand und dankte ihm und schluchzte:
„Ich verdien’s nicht.“
Doch der Bischof, der ihre Rührung sah, fuhr fort:
„Du sollst den Herrn deinen Gott lieben aus ganzem Herzen, das heißt mit dem Willen; aus deiner ganzen Seele, das heißt mit dem Verstande; aus deinem ganzen Gemüte, das heißt mit dem Gefühle, und aus allen deinen Kräften, das heißt in allen deinen Handlungen. Das ist das erste Gebot. Das andere aber ist diesem gleich: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die zwei Gebote der Liebe enthalten alle anderen Gebote. An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz. Wer ohne Liebe lebt, der ist tot. — Das ist unser Glaube. — — Und nun Gott befohlen, mein gutes Kind! Ich will Ihnen einen Priester geben, der Ihren Schmerzen folgen und Ihnen die Wege weisen wird, die zu Gott führen. Finden Sie ihn, so werden Sie auch Trost und Frieden finden.“
Auch heute war Hilde wieder zehn Minuten vor der vereinbarten Stunde bei Seiner Hochwürden dem Pfarrer Johannes Hauser.
Die Flügeltüren zum Nebensaale, in dem er den Kindern Religionsunterricht erteilte, standen halb geöffnet, so daß Hilde ohne Neugier hören mußte, was gesprochen wurde.
„Kann man vernünftigerweise glauben,“ fragte der Pfarrer ein blasses Kind armer Eltern, das kaum acht Jahre alt sein mochte, „daß die sogenannte, von Luther unternommene Reformation von Gott sei?“
Und wie aus einem aufgezogenen Automaten kam die Antwort:
„Dies kann niemand vernünftigerweise glauben.“
„Warum nicht?“ fragte der Pfarrer.
„Erstlich, weil der Urheber dieser Reformation nicht von Gott, zweitens weil sein Unternehmen und Werk nicht von Gott und drittens, weil die Mittel, die er dabei angewandt, ebenfalls nicht von Gott waren.“
„Warum sagst du, daß der Urheber der Reformation nicht von Gott sei?“ war die Frage des Pfarrers, die Hilde sehr verständig schien.
„Hätte Gott die Kirche reformieren wollen, so hätte er sich dazu eines solchen Mannes nicht bedient, wie Luther war“, lautete die Antwort.
„Warum nicht?“ fragte Hilde unwillkürlich.
Dem Geistlichen genügte aber diese schematische Antwort, die wie alle andern nichts weiter als in Antwort gekleidete Fragen waren. Eine Erklärung gaben sie nie.
Um so mehr wunderte sich Hilde über die Bestimmtheit, mit der sie aus diesen überzeugten Kinderherzen kamen. Die kleinen Kerle waren ordentlich stolz. Und ihre Augen glänzten, wenn sie ihre aus dem Katechismus auswendig gelernten Weisheiten herauspolterten. Ganz sicher hatten sie dabei das bestimmte Gefühl, dem Gegner mit scharfer Verstandeswaffe einen moralischen Hieb versetzt und sich ein Verdienst um den eigenen Glauben erworben zu haben.
Und Hilde sagte sich: das also ist das richtige Alter, um ein gläubiger Katholik zu werden; in dem man ohne selbst zu denken, Behauptungen für Beweise nimmt und so die Glaubenslehre nicht etwa nur als etwas Selbstverständliches gelten läßt, sie vielmehr als etwas aus eigener Anschauung Erfaßtes und als wahr Erkanntes zu seinem wertvollsten Besitztum macht, der so fest gegründet ist, daß er, sobald man zu denken beginnt, längst ein Teil des Geists vom eigenen Geiste ist, der nun keinen Widerspruch mehr duldet.
Und weiter fragte der Priester:
„Um seine derben Ausdrücke zu verschweigen, die den Anstand verletzen, führe einige von Luthers Schimpfworten über den Papst an.“
„Einen dummen Eselskopf! — Einen Lügenkönig! — Einen solchen Narren, über welchen alle Kinder lachen müßten!“
„Wie schilt er den Kardinal Albert?“
„Einen Pfaffen, in den viele Teufel gefahren! — Einen Gänseprediger und Kirchenmauser!“
„Wie schilt er den Herzog von Braunschweig?“
„Einen groben Tölpel, der mit faulen, lahmen Zoten umgeht; der sich voller Teufel gefressen und gesoffen, daß er nur lauter Teufel ausspeie!“
„Wie schilt er den Herzog von Sachsen?“
„Einen strohernen Mann, der dem Himmel mit seinem stolzen Bauch trotzt, der Christus auffressen will wie der Wolf eine Mücke!“
„Wie schilt er den Kaiser?“
„Einen armen Madensack!“
„Wie schilt er den Papst?“
„Ein ungeheures Tier, einen Bär, einen Wolf, wider den man mit Wehr und Waffen aus allen Dörfern ziehen soll!“
Auf dem Ausdruck aller Knaben lag Abscheu und Empörung, obschon sie dieses Sprüchlein nun seit einem Vierteljahre jede Woche von neuem hersagten. Wäre der Magister Martin Luther unter ihnen erschienen, Hilde war überzeugt, die frommen Knäblein hätten sich in Wölfe verwandelt und den Ketzer in Stücke gerissen.
„Können die Lutheraner und Calvinisten vernünftigerweise hoffen, daß ihnen die Trennung besser gelungen ist als so vielen andern?“
„Vernünftigerweise können sie das nicht hoffen.“
„Warum nicht?“
„Menschen, die einen Weg einschlagen, auf dem alle Losgetrennten irre gegangen sind, haben sich keines besseren Ausgangs zu getrösten, als den alle ihre Vorfahren gehabt.“
Nun sangen die kleinen, hellen Stimmen:
Habe Dank für diesen Morgen,
Der mir Zeit zum Guten schenkt.
Das sind unsere besten Sorgen,
Wenn der Mensch an Gott gedenkt.
Betet, und von Herzen singt:
Daß es durch die Wolken dringt.
Oh mein Gott, sprich selber Amen,
Denn wir sind dein Eigentum.
Alles preise deinen Namen!
Alles mehre deinen Ruhm!
Bis es künftig wird gescheh’n,
Daß wir dich im Himmel seh’n.“
Dann gab ihnen der Priester Ermahnungen mit für den Tag und das Gebet am Abend.
„Und wenn ihr mit euren Arbeiten fertig seid, das Wetter so warm und hell bleibt, dann marschieren wir am Nachmittag, wie gestern, ins Freie und singen und sind fröhlich, meine lieben Jungen.“
Nun brach ein tosender Jubel los. Sie packten ihre biblischen Lesebücher und Hefte in ihre Mappen und jeder Knirps nahm strahlend und mit geröteten Wangen mit einem festen Händedruck von ihm Abschied.
„Sie sind glücklich, meine Jungen“, sagte der Priester, als er Hilde begrüßte. „Sie wissen, daß alles Gute von Gott kommt, und sie werden alle Kümmernis, die ihrer harrt, in Ergebung tragen und Gott für jede Prüfung danken.“
Hilde sagte: „Und Ihnen werden sie es danken, Hochwürden, dies Glück und diese Ergebung, Ihnen allein.“
„Gott allein“, wehrte er ab.
„Dann Gott durch Sie“, erwiderte Hilde.
„Durch den Glauben“, gab er zur Antwort.
„Den Sie lehren.“
„Den ich bilde,“ sagte er laut, „denn er steckt in jedem Menschen. Ihn erwecken und ihn pflegen wie eine empfindsame Knospe, mit Vorsicht und Liebe, und ihn im jungen Alter schon zur vollen Blüte bringen, das ist meines Amtes in Gott.“
Mit diesen Worten geleitete er Hilde in sein Arbeitszimmer. Es war der siebente Tag, an dem sie hier — meist bis zum späten Abend — beisammen saßen und er ihr über den Glauben sprach.
„Sie selbst haben diese Kämpfe gleich oder ähnlich durchtobt, mein teurer Freund, wie unsere Hilde“, hatte ihm der Bischof geschrieben, dem er an jedem Abend über den Fortgang der Belehrungen berichten mußte. „Sie werden daher besser als irgendein anderer die suchende Seele zum wahren Glauben führen. Und ich habe ihr tief genug ins Herz geblickt, um zu wissen, daß wir der Kirche mit ihr eine tapfere Seele zuführen.“
Der Priester Johannes Hauser war streng protestantisch erzogen worden. Doch hatte seine Erziehung nicht die starke innere Skepsis zu ersticken vermocht, die als natürliche Anlage in ihm lebte. Im Gegenteil: der starre Dogmenglaube, in den man ihn einzuspannen suchte, ließ ihn den Zweifel als Qual empfinden, als Krankheit, der man zu entrinnen trachten mußte. Er vermochte nicht zu glauben, wo das Wissen versagte. Nur eine Anschauung, die jeden (religiös-ethischen) Zweifel restlos auflöste, konnte ihn befriedigen, konnte die Skepsis zum Schweigen bringen.
Mit sicherem Empfinden erfaßte er den Grundmangel, der dem Glauben seiner Kindheit anhaftete. Der Protestantismus stellte jeden Menschen einzeln, als Persönlichkeit, nicht als Glied einer umfassenden Gemeinschaft, vor seinen Gott. Er überließ die Beantwortung aller im Umkreis der Religion aufzuwerfenden Fragen der individuellen Auffassung. Seinen Sätzen fehlte die allgemeine und für ewig bindende Gültigkeit und damit die wesentlichste Vorbedingung, die Einheit der Lehre unter seinen Anhängern zu begründen und aufrecht zu erhalten. Am schwersten machte sich dieser Mangel bei der Bestimmung des Absoluten (Gottes) geltend. Der heiligste Name war weder durch ein allgemein verbindliches Glaubensbekenntnis, noch durch eine für alle Teile der Bibel gleichmäßig geltende Offenbarung, noch durch eine Jahrhunderte alte, geheiligte Tradition geschützt. Dem Protestantismus fehlte also die fundamentalste Bedingung aller Religion, ein klares Verhältnis zu ihrem obersten Prinzip, das gänzlich der Spekulation der ewig irrenden, ewig sich ändernden menschlichen Vernunft ausgeliefert ist. So konnte sich der Protestantismus gleich im Entstehen in mehrere Hauptrichtungen spalten, zu denen bald zahllose kleine Sekten und Sondergemeinden traten. Sie alle: Lutheraner, Calvinisten und Zwinglianer, Wiedertäufer und Schwarmgeister, Herrenhuter und Methodisten, die Anhänger der anglikanischen Kirche und der schottischen Hochkirche, die Orthodoxen, Positiven und Liberalen, die Puritaner und Quäker und Mormonen, die Ebenäzer, Egydianer und die Leute der Heilsarmee: sie alle tragen mit der gleichen Berechtigung den Namen Protestanten. Newton und Kant durften sich evangelisch nennen.
Ohne schweren inneren Kampf verlor er den Glauben seiner Jugend, doch bewahrte er — eine Nachwirkung des Geistes, der im Elternhause geherrscht hatte — eine tiefe Ehrfurcht vor jeder echten religiösen Überzeugung und ein reges Interesse für alle großen Äußerungen religiösen Empfindens. Einen schwachen Ersatz für den Verlust des Glaubens bot ihm das Evangelium des Guten, Wahren und Schönen, dessen Verkündigung er in David Friedrich Strauß’ Büchern fand. In der Wissenschaft suchte er die Harmonie des Weltganzen, die sein nach Erlösung von quälender Skepsis drängender Geist ungestüm verlangte, wiederzufinden. Doch erkannte er nur einzelne Gesichtspunkte, die zwar große Komplexe von Erscheinungen umfaßten, im übrigen aber unverbunden nebeneinander standen. Weiter als bis zu den Entdeckungen Schwenns, der die Zelle als das Elementarorgan des pflanzlichen und tierischen Organismus erkannte, Liebigs, der die chemischen Grundlagen der Pflanzen- und Tierphysiologie hervorhob, Schleidens, dessen physiologische Forschungen den Beweis erbrachten, daß eine besondere Lebenskraft nicht vorhanden ist, Robert Mayers, der das große Gesetz von der Erhaltung der Kraft verkündete, war die Wissenschaft nicht gedrungen. All diesen Erkenntnissen fehlte ein gemeinsamer Mittelpunkt, um den sie sich gruppierten und der die Lösung aller Rätsel darstellte. Vielmehr je weiter die Forschung von diesen grundlegenden Gesetzen ausgehend, ihre Ziele steckte, um so mehr zersplitterte sie sich, um so unvermeidlicher wurde ihre Dezentralisation, um so größer die Gefahr, daß sie im Spezialistentum erstarrte. So herrschte dieselbe Spaltung, die der Protestantismus in die Religion getragen hat, auf intellektuellem Gebiet. Dazu kam, daß die Wissenschaft allzu einseitig den Erkenntnistrieb pflegte, daß sie den Trieb des Unbewußten unterband, der in jedem unbefriedigten, suchenden, spekulativen Geiste, in jedem von Sehnsucht nach einem das Dasein gänzlich füllenden Ziele gequälten Herzen mächtig nach Entfaltung drängt.
Literatur und Kunst sollten den Ausgleich schaffen. Doch auch sie ließen ihn unbefriedigt. Der ästhetische Sinn in ihm war zwar stark genug, um ihn zu einem reinen Genuß fähig zu machen, doch zu schwach, um ihn in diesem Genuß aufgehen zu lassen. Griechen und Römer, Dante, Shakespeare, Goethe, Klassiker und Romantiker beschäftigten ihn. Die Vielseitigkeit ihres Schaffens und die Verschiedenartigkeit ihrer Bestrebungen verwirrten ihn, ohne ihn seinem Ziele, das eine zu finden, das alles andere umfaßte, näher zu bringen. Ihnen fiel die eine große Harmonie, die das All umfaßt, die er ahnte, die vorhanden sein mußte, wenn anders das Glück mehr ist als ein Wort, in tausend Einzelharmonien auseinander. Die unermeßliche Fülle von Schönheit, die in den Werken der Literatur und Kunst zum Leben erweckt ist, vermochte nicht, ihn darüber hinwegzutäuschen, daß das alles nur Stückwerk ist, daß der Urgrund des Seins, die Quelle und der Inhalt des Daseins dahinter läge.
Einen Schritt weiter brachte ihn die Philosophie: Formell: die philosophische Methode (Dialektik) wurde sein fester Besitz. Ihr verdankte er die Zunahme seiner geistigen Sehschärfe, die Fähigkeit, klar zu erfassen, wo er früher nur dunkel gefühlt und halb verstanden hatte. Das begriffliche Denken und die Gewohnheit, jeden Gedanken erschöpfend zu formulieren, beförderte seine Urteilsfähigkeit, ermöglichte es ihm, Mängel und Vorzüge eines Systems genau zu präzisieren und gegeneinander abzuwägen. Er ging die großen Systeme Kants, Fichtes, Schellings, Hegels durch, fand aber überall einen Grundmangel, der ihn davon abhielt, Anhänger des einen oder andern zu werden.
Kant beschränkt alles Wissen auf die Erfahrung, d. h. auf die Tatsachen, die vermittelst der Verstandesoperationen (der Logik) erkannt werden können. Die Vernunft ordnet zwar die Ergebnisse der Verstandestätigkeit unter allgemeine Gesichtspunkte, verbindet alle Einzelerfahrungen zu systematischer Einheit. Doch da sie an die Regeln des Verstandes nicht gebunden ist, besitzt sie keinen objektiven, allgemein und ewig geltenden Wert, sie ist im letzten Grunde abhängig von dem Temperament des einzelnen, der Summe und Art seiner Erfahrungen; wo ihre Resultate weitere Geltung besitzen, da beruht diese zuletzt auf der freien Übereinkunft einzelner. Der Mensch hat das Bedürfnis nach Einheitlichkeit seiner Anschauungen, darum stellt er sich unter die Herrschaft der Ideen, bis zur obersten Idee (Gott), die die Erscheinungsformen der Vernunft sind, doch ist ein Wissen um diese Ideen ausgeschlossen. Seelenlos ist Kants Auffassung der Religion, die bei ihm völlig auf moralischen Erwägungen basiert (unter Ausschluß des Gefühls, des Glaubens). Religion ist für ihn die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote. Sein Satz: „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“, charakterisiert seine Stellung am deutlichsten.
Fichte erhebt das Ich zum Absoluten. Das Ich ist die letzte Ursache all unseres Erkennens, Fühlens und Seins. So steht sein System völlig unter der Herrschaft des Apriori. Denn wenn das Subjekt das eine ist, das alles andere umschließt, so denkt es eben nur innerhalb seiner selbst, hat also kein Kriterium seines Denkens. Doch kann Fichte selbst die letzten Konsequenzen seiner Lehre nicht ziehen: sein Ich bricht sich im letzten Grunde an irgendwelchem unbegreiflichen Anstoß! Auch die spätere Gestalt der Fichteschen Lehre, in der hinter dem Ich Gott auftaucht als der letzte Grund des Seins, genügt dem Einheitsucher nicht. Denn dieser Gott ist nur seiend, nicht handelnd, ihm fehlt ein lebendiges Verhältnis zur Welt und zum Menschen.
Schelling faßt die ganze Natur, organische und anorganische, als lebendigen Organismus auf. Alles ist Geist, selbst die Materie Geist im schlummernden Zustand. Gott, Natur und Geist sind gleich. Die Natur ist aus Gott geboren, nicht von ihm geschaffen. Von diesen Grundsätzen ausgehend, erklärt er die ganze Natur dem damaligen Stande der Wissenschaft entsprechend. Wo eine ausreichende wissenschaftliche Unterlage fehlt, füllt er die Lücken mit symbolischen Auslegungen, mit eigenen, spekulativen Ideen. Unter dieser Unklarheit und Disziplinlosigkeit leidet das ganze System. Der Poet verdrängt oft den Philosophen. Dazu kommt, daß das Wesen seines Grundprinzips zum bedingungslosen Pantheismus und damit zum Absurden leitet.
Hegels System ist ein kühner Konstruktionsversuch, die ganze Welt des Seienden aus dem Wesen des Begriffs herauszuspinnen. Rein mit den Mitteln der Logik, die zugleich Metaphysik geworden ist. In das Triplizitäts-Schema von Position, Negation, Negation der Negation werden alle Begriffe, alle Erfahrung, alles Wirkliche hineingepreßt. Seine Philosophie ist Panlogismus. Auch die Religion hat darin Raum; sie ist wesentlich theoretisches Verhalten und erfaßt Gott (das Absolute) vor allem mit der Vorstellung, die allerdings der Sinnbilder bedarf. Hegels Lehre strebt eine Versöhnung zwischen Philosophie und Religion an. Mit ihr kann man alles beweisen. Sie bestimmt das Denken seiner Anhänger, je nach deren Temperament oder Gemütsverfassung negativ oder positiv, führt sie zum absoluten Unglauben oder wirbt sie für eins der herrschenden religiösen Bekenntnisse.
Der Zweifel hatte ihn müde gemacht. Sein Kindheitsglaube, die Wissenschaft, Kunst, Literatur und Philosophie hatten ihn unbefriedigt gelassen. Das Bedürfnis nach einer großen, einheitlichen, Mensch, Natur und Gott umfassenden Weltanschauung war krankhaft gesteigert. So nahm er begierig die Elemente der Hegelschen Philosophie in sich auf, die ihm den Weg zu seinem Ziele zu weisen schienen. Hegels Satz: „Was wirklich ist, was besteht, ist vernünftig“ und dessen Beweisführung ließ in ihm den Entschluß reifen, diejenige unter den herrschenden Anschauungen sich zu eigen zu machen, die das Weltganze lückenlos umschloß und damit für ihn, dem Harmonie des Denkens, Fühlens und Wollens den Sinn des Daseins bedeutete, die Bürgschaft höchstmöglichen Glückes enthielt. Hegels System selbst war ein grandioser Versuch, die Einheit des Weltganzen darzustellen und zu beweisen. Aber ein Versuch mit unzureichenden Mitteln. Die Ansprüche des Denkens wurden befriedigt, aber das Gefühl ging leer aus. Der unendliche Reichtum und der ewige Wechsel der Erscheinungen, die ungeheure Verschiedenartigkeit der Daseinsformen und Daseinsbedingungen in Natur und Menschenwelt, die beständig sich uns aufdrängenden Äußerungen seelischen Erlebens im Einzel- und im Gemeinwesen zerfließen in die grauen, dünnen Gespinste theoretischer Erörterungen. Und doch lassen sie sich nicht restlos auflösen. Doch verlöschen die satten Farben nicht im grauen Gespinst. Sie sind da nicht wegzuleugnen, sie glänzen und leuchten und leben, und kein Verstand vermag ihr Vorhandensein zu erklären. Es muß so sein, es zwingt uns zu der Annahme: ein großer universaler Künstler hat sie geschaffen, schafft sie noch und schafft beständig neu, kein unbewußtes Etwas, kein seelenloses Absolutes, sondern ein höchst bewußter, höchst persönlicher Wille: Gott. — — So gelangte er zum Glauben. —
Es gehört zum Wesen des Glaubens, sich in der Form eines Bekenntnisses zu äußern. Die neue Erkenntnis Gottes, die in sein Bewußtsein trat, hatte nichts gemein mit dem Glauben seiner Kindheit, dessen klar erkannte Mängel ihm die Rückkehr für immer unmöglich machten. Dagegen begann er sich eifrig mit der Lehre zu beschäftigen, die dem Glauben an einen persönlichen Gott, der die Einheit des Alls verbürgt, bisher die tiefste, nachhaltigste und weiteste Wirkung geschaffen hat: dem römischen Katholizismus. Er hatte ihm, in protestantischer Umgebung aufgewachsen, später als Wissenschaftler und Philosoph bis dahin gänzlich fern gestanden und trat ihm um so unbefangener gegenüber, als er sich von Tagesmeinungen und läufigen Ansichten ebensowenig bestimmen ließ, wie er ernsthaftes Urteil ohne eigene kritische Prüfung hinnahm.
Zunächst fiel ihm die wundervolle Einheit der katholischen Kirche auf, die ihm das äußere Abbild seines innersten Verlangens zu sein schien. Alle Kräfte des menschlichen Geistes und der Seele haben daran gearbeitet, um dieses gewaltige, komplizierte und umfassende Gebilde zu schaffen, das trotz seiner Vielseitigkeit durch seinen strengen Zusammenschluß allen anderen, noch bestehenden oder der Geschichte angehörenden religiösen (und politischen) Gemeinschaften überlegen ist. Ungeheure Energien, von einem übermenschlichen Willen beherrscht, hatten Jahrhunderte lang gewirkt und wirkten noch heute, um ein einziges Ziel zu erreichen, das Reich Gottes auf Erden zu gründen, zu befestigen und seinen Glanz zur Entfaltung zu bringen. Dieser Idee unterwarf sich bedingungslos der einzelne, unterwarfen sich die Massen, die in ihr ihr diesseitiges Glück und ihre jenseitige Seligkeit verbürgt sahen. Gern gab der Mensch seine Individualität auf, setzte seiner Vernunft Schranken und begnügte sich, das Weltbild nur so weit zu erkennen, als es ihm mit den Mitteln des Verstandes möglich war. Mit den Geheimnissen und Wundern des Glaubens füllte er die Lücken, löste er die Rätsel.
Anderthalb Jahrtausende hat die Kirche rastlos und unermüdlich danach gestrebt, die Menschheit als Ganzes und den einzelnen Menschen an sich zu ziehen. Sie hat seinem Geiste ein einheitliches, in sich geschlossenes, lückenloses Weltbild dargeboten, hat ihn gelehrt, es mit den Mitteln des Verstandes, den der Glaube ergänzt und stützt, oder, wo er nicht ausreicht, ersetzt, zu erkennen. Sie hat im Dogma, in der Verpflichtung zum Glauben, eine Form gefunden, die Skepsis zu ersticken, und hat ihre Lehre mit einer beispiellosen, suggestiven Gewalt auszustatten gewußt, in der sich in unerhört glücklicher Mischung wuchtiger Ernst und grenzenlose Liebe paarten. So erreichte sie es, daß der Glaubenszwang nicht als Zwang empfunden wurde, sondern als Wohltat, als Erlösung, als Befreiung vom eigenen, selbstgewissen Denken, d. h. vom Irrtum. Der Irrtum ist der Weg der Unruhe, des Dünkels, der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Niemals noch ist einer, der, seinem eigenen Verstande trauend, das Rätsel des Daseins zu lösen suchte, zu einem sichern Ergebnisse gelangt. Hinter jeder neuen Lösung tauchte ein neues Geheimnis auf, und die letzte und tiefste Erkenntnis, zu der der Menschengeist von sich aus vordringen konnte, war das Bekenntnis der Resignation: Ignoramus et ignorabimus. Es bedeutete die Bankrotterklärung der Vernunft und den Sieg des Glaubens, des Glaubens, der nicht resigniert, sondern freudig bekennt: Fecisti nos ad te, et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te. Und dem diese Erkenntnis das Leben, das Glück bedeutet.
Der Glaube des Katholizismus fand seinen Ausdruck in einem Kultus, der alle Sinne des Menschen in Anspruch nahm, bestimmte und das religiöse Gefühl beständig wach hielt, oder, wo es nur schwach entwickelt war, immer wieder von neuem entzündete. In der Messe schuf die Kirche eine Form des Gottesdienstes, die in ihrer getragenen Feierlichkeit und mystischen Tiefe den Geist unwiderstehlich von der Stimmung des Alltags löste und dem Gefühl die letzten Gründe des Seins näher rückte. Die tragische Idee des täglich wiederholten Opfers steigerte die einmal entflammte Liebe zu Gott zu leidenschaftlicher Anbetung und Verehrung.
Auch das Bedürfnis nach Schönheit, nach äußerem Glanz und Pracht befriedigte die Kirche. Alle Künste zog sie in ihren Dienst, alle mußten dazu beitragen, ihre sieghafte Macht zu stärken, zu festigen und auszubreiten.
Den Willen spannte die Kirche in ein festes, wohl ausgebautes, allen Zuständen und Ereignissen im Leben des einzelnen Rechnung tragendes System von Geboten und Vorschriften, die — aus der Offenbarung hergeleitet und durch die Tradition geheiligt — als ewig und unumstößlich festgelegt wurden. Die Ethik schloß sich eng an die Glaubenslehre an, der Geist des Dogmas durchdrang und befruchtete sie. Die eine ohne die andere war wertlos, der Glaube ohne Sittlichkeit blind, die Sittlichkeit ohne Glauben leer. So schmolzen Geist, Gefühl und Willen zusammen in der Liebe zu Gott: vollkommener war diese Verbindung, als sie je ein menschlicher Geist herzustellen vermocht hatte.
Und die Kirche war mild gegen den, der ihre Gebote übertrat. Wenn er nur sein Vergehen einsah und bereute. Sie überließ ihn nicht trostloser Verzweiflung, wie die philosophische Moral den, der sich gegen sie verging: sie besaß die Gnaden- und Heilmittel, die dem Bereuenden, der sie benutzte, die himmlische Vergebung verbürgten. — —
Sein Kampf war zu Ende. Der Drang nach Wissen und Erkenntnis, die Sehnsucht nach dem großen Einen, das alles ist, war eingemündet in den Glauben. Das Ziel stand klar vor seinen Augen. — Nach Erledigung der äußeren Formalitäten trat er zur katholischen Kirche über. —
„Wie weit sind Sie in der Moraltheorie gestern gekommen, Fräulein Hilde?“
„Zu Ende“, erwiderte sie ziemlich gleichgültig.
Der Priester geriet in Erregung. Er reckte sich auf seinem Sessel in die Höhe, streckte den Oberkörper nach vorn über den Tisch und sah sie fragend und strahlend an, als erwarte er von ihr den Ausbruch einer ganz besonderen Begeisterung:
„Nun — und — ?“
„Das ist trockene Philosophie und tote Ästhetik; aber kein lebendiger Glaube.“
„Es ist der tiefe Geist, der in der Lehre unserer Kirche ruht“, erwiderte er gekränkt.
„Und glauben Sie, daß Ihre Knaben ihn begreifen werden? Geben Sie denen solche Bücher zu lesen?“
Er schwieg.
„Sehen Sie“, fuhr Hilde fort. „Sie würden dann auch nur die kleinen Geister verwirren. Es würde vielleicht ihren Widerspruch wecken und dazu führen, daß sie die Dinge, die Sie sie mit dem Herzen fassen lehrten, mit dem Verstande nachprüfen. Und wer weiß, ob das dann nicht der einzige Weg wäre, um den festen Bau ihres Glaubens zu erschüttern.“
Entsetzt fuhr der Priester in die Höhe.
„Hilde!“ rief er ganz außer sich, „ist das die Frucht der vielen schönen Stunden, die wir hier lebten und uns zu Gott mühten?“
Und Hilde sah seine Zerknirschung.
„Der Weg zu Gott führt durch das Herz, hat mich der Bischof gelehrt, nicht durch den Verstand. Wenn ich Gott liebe, dann wird mir mein Gewissen auch sagen, was gottgefällig und was Sünde ist. — Wo mir aber mein gläubiges Herz keine Antwort gibt, da werden mir auch Ihre philosophischen Abhandlungen über die Kriterien der Todsünde vom heiligen Alphonso und vom heiligen Thomas nichts helfen.“
„Aber sie werden Sie lehren, den Geist der Sünde zu bekämpfen.“
„Sie haben mich vorhin durch den Anblick dieser Jungen wärmer von der Macht und Gnade Ihrer Kirche überzeugt, als wenn Sie mir die Lehren sämtlicher Heiligen über das Gewissen beigebracht hätten. Und wenn Gott untrennbar ist von meinem Gewissen, oder besser, wenn ich mein Gewissen nicht mehr trennen kann von Gott, dann werde ich für die Beantwortung dieser Frage auch keines Dritten Hilfe mehr bedürfen.“
„Aus eigenen Kräften vermögen wir weder zu glauben noch die Gebote zu halten, sagt Agliarch.“ Der Priester sagte es mehr zu sich, denn als Antwort auf Hildes Worte, die es denn auch überhörte.
„Geht das Herz aber einmal andere Wege, dann werden Ihre gescheitesten Kriterien doch nur immer Theorie bleiben, — die man aus Furcht vielleicht auch in die Praxis umsetzt. Aus Furcht sage ich; vielleicht sogar in Form der Beichte und Buße. Aber wissen Sie, was der Bischof mir gesagt hat? Offen sündigen ist kein so großes Übel, wie Heiligkeit heucheln.“ —
Sie sah den Priester an, der traurig und verzweifelt war.
„Hier haben Sie Ihre Bücher, Hochwürden. So!“ Damit klappte sie eins nach dem andern, auch die vor ihm ausgebreitet lagen, zu.
„Kein wissenschaftliches Examen will ich vor Ihnen ablegen. Sie haben mich neulich ein ganz klein wenig in Ihr Herz sehen lassen,“ — der Priester fuhr leicht zusammen — „da habe ich mehr drin gelesen, als in diesen trockenen Folianten. Und glauben Sie, daß die gelehrtesten Bücher Ihrer Gegner mir je den Glauben an das, was ich in Ihrem Herzen sah, nehmen könnten? — Nachdem ich selbst bei Ihnen die tiefe Wirkung Ihres Glaubens sah? So fest glaube ich an Sie wie an die blaue Farbe des Himmels. Und wenn tausend Gelehrte mir bewiesen, daß es eine Täuschung sei: für mich bliebe der Himmel blau und seine Schönheit und meine Freude an ihm bliebe die gleiche.“
„Die Bücher, die ich Ihnen gab, sollten Ihren Glauben befestigen“, sagte er; aber man fühlte, daß seine Antworten ohne geistige Bewegung waren. Er dachte sich nichts dabei und hing ganz nur an dem, was Hilde sagte.
„Wenn man diese Bücher nun aber widerlegte? Oder sollte das so undenkbar sein? — Hätten dann alle die Millionen Menschen, die durch den Glauben glücklich wurden, nicht glücklich werden dürfen? — Oder würde darum die große Kunst, die dieser falsche Glaube schaffte, entwertet? — Was ich empfand, als Sie mir Ihren Glauben zeigten, war so stark, daß die gelehrtesten Bücher mir diesen Eindruck nicht schwächen konnten. — Warum also setzen Sie an die Stelle des Gefühls das Wort? Würde es Ihnen jemals einfallen, die Kriterien der Liebe in Lehrbüchern zu behandeln? Gesetzt, Sie täten es, und es käme jemand und widerlegte diese Kriterien: würde das für die Welt auch den letzten Tag der Liebe bedeuten? — Jesus ist die Liebe, hat mir Ihr Bischof gesagt. Nun wohl, sobald ich also wahrhaftig diese Liebe, die sein Glaube und der Ihre und der aller guten Christen ist, spüre, so bin ich ein Christ — denke ich mir. — Was tut dabei die Frage, ob Jesus Gottes Sohn, Maria seine Mutter war, ob Jesus lebte oder nicht? Warum sollen wir uns die Liebe, den Glauben nicht versinnbildlichen? ihn uns verschönen? und das Göttliche, da wir doch nun einmal Menschen sind, nicht auch menschlich gestalten? — Das Kriterium ist die Frage nach der Liebe, nicht nach der Realität seines körperlichen Daseins. Sorgen Sie dafür, daß die christliche Liebe besteht; denn solange die lebt, lebt auch der Geist Christi! Und der Nachweis ihrer Existenz und ihre Verbreitung und Betätigung ist für den Glauben wertvoller als alle historischen und philosophischen Bedingungen.
Und was für die Liebe gilt, das gilt auch für die Barmherzigkeit und Ergebung. Man deute an der Mutter Gottes, an ihrer unbefleckten Empfängnis, ihrer Himmelfahrt — bezweifle ihre Existenz: wessen Herz an die Barmherzigkeit glaubt und die Ergebung und aus ihnen den reichen Born für sein Leben schöpft, und durch sie alle Leiden trägt, ohne zu verzagen, dem wird die Forschung — auch wenn sie lückenlos den Nachweis führte, daß die Mutter Gottes ein Mythus ist — doch nie den Glauben nehmen. — Hängen wir mit unserm Körper an Gott oder mit unserer Seele? Ist der Glaube etwas Geistiges oder Körperliches?? Was in unserer Seele lebt und seit Jahrhunderten gelebt hat, das allein ist die Frage im Glauben. Und in wem Gott lebt, in dem lebt auch die Liebe und Barmherzigkeit. Und was lebt, braucht das noch eines Beweises seines Seins? Welche äußere Form wir aber unserm Glauben geben, ist eine zweite, und zwar untergeordnete Frage. —
All das, Hochwürden, mag noch etwas konfus sein; aber im Grunde ist es doch der Glaube, den ich mir nicht aus diesen Büchern, sondern aus Ihnen, dem gläubigen Menschen, gebildet habe.“
Sie machte eine kurze Pause, dann fuhr sie fort: „Und daß nun alle Institutionen der Kirche, die äußeren Formen, den Glauben zu pflegen und zu äußern schon durch das menschliche Autoritätsprinzip, die verschiedenen Bildungsstufen und die verschiedene Artung der Menschen selbst bedingt, notwendig, ja heilig sind, gestehe ich zu und unterwerfe mich ihnen mit ganzem Herzen, weil es das Band der Liebe, das alle Menschen eines Glaubens verbindet, einigen hilft. Um so bereitwilliger, als ich überzeugt bin, daß diese Einrichtungen dazu beitragen, die Menschen früh schon — wie diese Kinder hier — ohne die oft schweren inneren Kämpfe zu dem Glauben zu führen, in dem sie zeit ihres Lebens und in ihrer Vorstellung noch weit darüber hinaus ihren Trost und ihre Hoffnung finden.“
Wäre dieses Glaubensbekenntnis als eine Druckschrift auf seinen Schreibtisch geflogen, es hätte ihm keine Ruhe gelassen, bis er Satz um Satz in den Rahmen seiner Kirche gezwängt und alles, was mit ihr nicht vereinbar war, widerlegt hätte.
Und was trug die Schuld daran, daß er es hier nicht tat? Daß es ihm fast wie eine Sünde schien, auch nur einen Stein dieses Gebäudes zu verrücken? Daß er, der fest in seinem Glauben stand und sich als Gottes Diener reicher fühlte als der mächtigste König, nun hilflos vor seiner Schülerin saß und kein Wort der Abwehr und Erwiderung fand, obschon sich sachlich viele Einwände boten. War die Macht des gesprochenen Wortes wirklich so viel stärker als die des geschriebenen? Oder war es die Begeisterung einer heiligen Überzeugung, die hier so faszinierend wirkte?
Aber war er auch ehrlich gegen sich? Wo lag denn in diesem Falle der Unterschied im Glauben? Sie hatte in der Not ihres Herzens Gott gesucht und mit der ganzen Kraft ihres Willens, der zu ihm strebte, war sie auf den rechten Weg gelangt. Und nun hatte Gott ihr reiches Herz ganz mit seiner Liebe erfüllt, und wie eine Heilige wies sie alle Lehren von sich, die von den Menschen kamen und an Gefühlen deuteten, die für die, welche wie sie, Gott sahen, keiner Deutung bedurften. Denn dieser Gott der Liebe wollte nicht erlernt, sondern empfunden sein.
Und er? Während sie in ihrem Herzen suchte, war er ruhelos durch alle Wissenschaften gejagt; hatte Erkenntnisse gesammelt, gebilligt und verurteilt. Freilich, das war leicht, denn niemand saß ihm, wie hier, gegenüber, als er nach dem Geist Gottes forschte und Hegel überwand, als er in der Einheit, dem Prinzip der christlichen Philosophie, den Weg zum Dogma des Sündenfalls und der Wiedervereinigung des Menschen mit Gott durch die Vermittlung Christi erkannte; — niemand saß dabei, wiederholte er sich, der widersprechen konnte.
Und wenn man ihn nun doch widerlegte? Nicht heute, morgen nicht, vielleicht in hundert Jahren! Was dann?? Ihren Glauben aber, den konnte niemand erschüttern, denn er war nicht erschaffen durch die menschliche Erkenntnis, an deren Stelle in tausend Jahren vielleicht eine andere trat, sondern war aus der Liebe geboren, die von Gott kam.
Aber hatte denn an seinem Mühen, die Wahrheit zu finden, nicht auch schließlich das Herz mitgewirkt? Mußte der Kummer um den Schmerz der Eltern nicht durch die größere Liebe zu Gott erst überwunden werden? Und wenn so die Liebe zu Gott in dem Augenblick zu ihrem höchsten Ausdruck kam, in dem er sich zur Einheit bekannte, war dann nicht auch sein Glaube am Ende mehr mit dem Herzen erworben als mit dem Verstande?
Diese Gedanken beschäftigten Johannes Hauser, während Hilde ihr Glaubensbekenntnis ablegte. Mit der gleichen Offenherzigkeit, mit der sie ihm alle ihre Leiden von frühester Kindheit an geschildert hatte, hatte auch er sein Leben und seine Kämpfe vor ihr aufgedeckt. Sie war bis heute der erste Mensch gewesen, dem er sich, außer dem Bischof, erschlossen hatte. Und dies Vertrauen, das mit jedem Tage wuchs, hatte in dem Augenblick sein Herz gefangen, als Hilde zum ersten Male über seine Schwelle schritt und, ohne seinen Zuspruch abzuwarten, ihm von dem Zwiespalt in ihrem Herzen erzählte.
Von der Welt, die sie ihm erschloß, wußte er nichts. Das war Satans Reich; hier also feierte der Feind seine Triumphe. Und in dieser Welt des Scheins brauchte er die Macht der Kirche, einer Kirche, die die Armut lehrte, nicht zu fürchten.
Auf dieser Hilde aber ruhte Gottes Hand; auch jetzt noch, als sie in der Verblendung ihrer Jugend unterlegen und der Lockung gefolgt war, verließ Gott sie nicht. Zu immer neuem Widerstande stärkte er ihr Herz und wies sie nun zur Kirche, dem einzigen Weg, der aus der Macht des Bösen in die Freiheit führte. Als sie ihm von den Stürmen erzählte, die sie wie einen reißenden Strom ruhelos und ohne Ziel dahintrieben; von den Klippen, an denen sie wie ein verlassenes Fahrzeug ohne die Macht ihres Willens gescheitert war; von der Qual und Mühe, mit der sie sich immer wieder losriß, und von der steten Angst, die sie verfolgte; und daß sie nun nicht mehr weiter könne, wenn — ja, wenn auch diese letzte Hilfe versagte, da hatte ihm die Stimme hell und klar wie der Betgesang schuldloser Kinder geklungen und dieser Blick schien ihm — losgelöst von allem, was sie umgab — betend und voller Ergebung am Kreuze zu hängen.
Gott hat sie mir gesandt, dachte er, um die Stärke meines Glaubens zu erproben — im Kampfe mit dem Teufel. Besitzt mein Glaube die Kraft, um ihn auf diese mir von Gott gesandte Seele so unerschütterlich zu übertragen und ihn so lebendig in ihr fortwirken zu lassen, daß er im Kampfe mit dem Bösen standhält und mühelos jede Versuchung niederringt, dann bin ich meinem göttlichen Amte gewachsen.
So hatte sich Hauser sein göttliches Amt gedacht. Mit liebevoller Sorgfalt hatte er ihr diejenigen Bücher herausgesucht, von denen er bei ihrer hohen Intelligenz annehmen durfte, daß sie ihren Glauben vertiefen und der göttlichen Lehre eine wissenschaftliche Grundlage geben würden.
Und nun wies sie jede Lehre mit der Begründung, daß man den Glauben nicht erlernen könne, von sich; sah in dem Tatsächlichen nichts weiter als die Illustration, die zur besseren Veranschaulichung diente, für die Intellektuellen jedoch nicht viel mehr als eine Art Dekorationsstück war.
Sie war den umgekehrten Weg gegangen. Etwa wie ein Dichter sein Drama schreibt, der von einer großen Idee ausgeht und sie nun an Geschehnis und Person knüpft, um ihr Leben und Gestalt zu geben.
„Aus dem Spirago habe ich mir alle Kenntnisse angeeignet,“ fuhr Hilde fort, „die zur äußeren Betätigung meines Glaubens nötig sind. — — Es ist viel,“ sagte sie nach einer Weile und sah ihn treuherzig an, „es bleibt wenig für einen selbst zu denken.“
„Aber durch die strenge Beobachtung wird das Herz schneller und immer mehr von den weltlichen Dingen ab und dem einen großen Gedanken ‚Gott‘ zugeführt. Der versteht Gott am besten, in dem kein anderer Gedanke lebt als Er. Wohin allein wird sich der Mensch aus dem Lärm der Welt in jedem Augenblicke sicherer retten als zu uns, die wir durch keine weltlichen Freuden auch nur für Augenblicke von unserm Gotte abgelenkt werden.“
„Wenn Sie aber das Leben mit all seinem Jammer nicht kennen, werden Sie dann auch immer die Handlungen der Menschen richtig beurteilen und nicht hier zu nachsichtig und da zu streng sein?“
„Die aufrichtige Reue, ohne die keine Sünde vergeben wird, ist das Entscheidende. Ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz wird Gott nicht verschmähen, sagt die Schrift. Und wenn es bußfertig ist, wird es seine Sünde weder verbergen, noch beschönigen; denn Gott kennt sie und Gott belügt man nicht.“
„Wie macht man’s, um in seinem Glauben so fest zu werden wie Sie, Hochwürden?“
„Der bekehrt sich zu Gott von ganzem Herzen, der sich von aller Anhänglichkeit an die vergänglichen Dinge abwendet“, erwiderte der Priester.
„Ich könnte es!“ sagte Hilde voll Überzeugung. „Wenn ich leben dürfte wie Sie, ich würde mich nach dem Leben da draußen nicht zurücksehnen.“
Der Priester sah sie mit weit geöffneten Augen an.
„Oder glauben Sie noch immer, daß ich mich dieser Ehe wegen um Ihren Glauben mühe?“ Und mit erhobener Stimme fuhr sie fort: „Nie im Leben hätte ich mich für diese Ehe entschlossen, wenn sie mir nicht die Tür zu Ihrer Kirche geöffnet hätte.“
Der Priester war starr. „Die Pforten unserer Kirche öffnen sich jedem, der willigen Herzens kommt“, sagte er leise, hing mit seinen Gedanken aber schon bei der Frage, die er nicht ohne Schüchternheit stellte: „Dann lieben Sie den Grafen also nicht?“
„Ich habe Ihnen alles erzählt, Hochwürden, bis zu dem Augenblicke, in dem der Graf in mein Leben trat. Ich wußte, Sie würden diese Frage an mich stellen.“
„Ich wollte es nicht. Aber nun, da ich sehe, daß Sie ...“
Sie fiel ihm ins Wort:
„Sie mußten es und ich danke Ihnen, daß Sie es taten.“ Sie erzählte ihm ausführlich, welche kurze, aber wenig christliche Rolle Graf Bosso bis zu dem Tage, an dem er um ihre Hand bat, in ihrem Leben gespielt hatte. „Aber ich hasse ihn nicht.“
„Sie verachten ihn?“ fragte der Priester, der vor Erregung zitterte und völlig fassungslos war.
„Nein!“ antwortete sie bestimmt. „Er weiß nicht, was er tut. Ihm fehlt jede Vorstellung von dem, was Recht und Sünde ist. Er ... wie soll ich nur sagen ... vegetiert mehr als er lebt. Ich glaube, er kann so wenig lieben wie er hassen kann, der Ärmste! — Er tut mir leid.“
„Tut Ihnen leid?“ fragte der Priester erstaunt.
„Ja!“ antwortete sie fest. „Wundert Sie das? — Welche anderen Gefühle sollte ich für ihn haben als Mitleid?“
„Und so groß ist Ihr Mitleid, daß Sie bereit sind ...“ er stockte.
„Ihn zu heiraten, wollten Sie sagen?“
Der Priester errötete. Bescheiden klang es, als er fortfuhr:
„Ich leugne nicht, daß es mir auf der Zunge lag. Aber ich vergaß, daß Sie mir ja sagten, aus welchem Grunde Sie das Jawort aufrecht erhielten, obgleich es von Ihrer Mutter — der gütige Vater erbarme sich ihrer — erzwungen und erschlichen war.“ — Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er mit kräftiger Stimme fort: „Fräulein Hilde! Ich fürchte, ich werde Ihnen die Pforten unserer Kirche so lange verschließen müssen, bis sich Ihre Gesinnung gegen den Grafen geändert hat. Denn da die Taufe die Vorbedingung zu dieser Ehe ist, einer Ehe, die Gott mißfällt,“ fügte er ernst hinzu, „so liegt darin bereits eine Sünde, zu der ich nie und nimmer meine Hände reiche.“
Hildes Augen strahlten.
„Und wenn ich Ihnen mit meiner ganzen Liebe zu Gott gelobe, daß ich nie und nimmer diesen Grafen heiraten werde, halten Sie mich dann für wert und würdig? Nehmen Sie mich dann in Ihre Kirche auf?“
Hildes Erregung war groß.
„Von ganzem Herzen!“ antwortete der Priester.
Hilde sprang auf. „Nie hat freudiger ein Herz ein Gelübde zu Gott gerichtet.“ Sie kniete nieder und gelobte, trotz der Mahnung des Priesters, sich von neuem zu prüfen, daß sie das Verlöbnis lösen und niemals einem Mann, den sie nicht lieben und achten könne, angehören werde.
Auch der Priester kniete und sprach in großer Rührung ein Gebet und dankte Gott für seine Gnade, mit der er die ihm anvertraute Seele erleuchtet habe.
„Und Sie werden mir meinen Glauben stärken helfen, daß ich mich immer weiter von allen vergänglichen Dingen abwende und mich Gott immer mehr nähere? Bis ich werde wie Sie?“
Er reichte ihr die Hand und versprach es.
„Und nun, Hilde, sollen Sie die unsere werden. Sie haben sich einen Spruch gewählt?“
„Ja: Maria ist das Fenster des Himmels, durch das Gott das wahre Licht in die Welt hineinscheinen ließ.“
„Es paßt zu dem, was Sie vorhin ausführten, Hilde. Leuchten Sie mit dem Lichte Christi überall da, wo Sie auf Unglauben stoßen, und vergessen Sie nie, daß Sie im Bischof und mir einen Vater und Bruder haben, die für Sie beten und an deren Tür Sie nie vergebens pochen werden.“
„Ich werde immer wie jetzt zu Ihnen kommen dürfen?“
„Immer?“ fragte er erstaunt.
Und treuherzig antwortete Hilde: „Ja! Wie jetzt! Alle Tage! — oder ...?“ Und traurig fügte sie hinzu: „... ist das zu viel? Störe ich Sie?“
„Sie dürfen, Hilde!“
Sie küßte ihm die Hand, und als sie von ihm ging, fürchtete sie nichts mehr.
Hannes Hauser schrieb an diesem Abend vierzehn lange Seiten an den Bischof. Er dankte ihm immer wieder für die große Gnade und das Vertrauen, und er versicherte immer von neuem, daß nie ein holderes Wesen an sein priesterliches Herz gepocht habe. Er schrieb, daß noch keine Belehrung auf gleich ernstes Verständnis gestoßen und daß während seiner freilich erst kurzen Priesterschaft noch keine Bekehrung aus gleich tiefer Überzeugung erfolgt sei.
Und der Bischof antwortete. Gütig wie ein Vater. Er beglückwünschte ihn zunächst zu seinem Erfolge und er nähme mit Dank für Gott erfüllter Seele Anteil an seiner Freude über die gelungene Bekehrung, und er möge fortgesetzt bemüht sein, den Glauben in der jungen Christin zu vertiefen. Auch hoffe er, daß seine Einwirkung auf die Aufhebung des Verlöbnisses sich als segensreich erweisen werde. Immerhin bedeute sie einen verantwortlichen Schritt. Aber er zweifle nicht, daß er sich dieser Verantwortlichkeit und daher auch seiner Notwendigkeit bewußt gewesen sei. Und er schloß: „Schließlich sende ich Ihnen für unsere junge Freundin, die Sie mit so viel Begeisterung stets die ‚Holde‘ nennen, meinen bischöflichen Segen. Wachen Sie über die Reinheit Ihres Herzens und nehmen Sie es einem wohlmeinenden Greise, der auch einmal jung und Priester war, nicht übel, wenn er auch für Ihr Herz betet, auf daß es nie aufhöre, ganz nur in der einen Liebe für Gott zu schlagen.“
Hauser fuhr, als er das las, erschreckt zusammen. Wie kam der Bischof auf diesen entsetzlichen Gedanken! Er wußte, daß er jedes Wort wohl wägte, ehe er es aussprach. Wußte auch, daß sein Rat oft schon zur rechten Zeit Unheil verhütet hatte. Klang, ohne daß er es wollte oder nur empfand, aus seinem Briefe an den Bischof etwas heraus, was berechtigte, in seinem Verhältnis zu Hilde etwas anderes als die auf sein Beichtkind verwandte Sorgfalt eines besorgten Priesters zu sehen? Dann freilich war die Zeit zu ernster Einkehr gekommen; dann versuchte sich der Teufel nun auch an ihm, und als Waffe zum Angriff diente ihm das Opfer, das der Priester — wie er glaubte — ihm eben erst entrissen hatte.
So sehr er seinen Verstand zu Rate zog, um sich über seine Gefühle für Hilde klar zu werden — er fand nichts Positives, was ihn mit ihr verband. Mit ihrer Auffassung vom Glauben stimmte er durchaus nicht überein. Wo war da die Sicherheit, wo jede Norm fehlte; wo die Gewißheit, daß die Empfindungen, die bei wankelmütigen Menschen wechseln wie der Wind, nicht bei der ersten großen Enttäuschung von einem Extrem ins andere schlugen?
Wenn sie die gleiche Auffassung vom Glauben also nicht verband, was dann? Ihrem Sinn für Kunst, der durchaus Veranlagung und so mehr als bloße Neigung und Verständnis war, stand er ohne innere Teilnahme gegenüber. Und sie wiederum lehnte jede Beschäftigung mit philosophischen Dingen ab, obschon sie wußte, daß sie ihm lieb waren, allein durch das, was er ihnen verdankte. Sie freilich sah gerade darin die Schwäche seines Glaubens.
Wenn also weder unser Glaube noch unsere Leidenschaften uns zusammenführen — denn ihm war die Philosophie so gewiß eine Leidenschaft, wie ihr die Kunst — was konnte es da noch für einen andern Zusammenhang geben, fragte er sich, als — die Liebe?
„Himmlischer Vater!“ rief er und stürzte auf die Knie, als er diesen furchtbaren Gedanken zu Ende gedacht hatte.
„Darum also schließe ich diese Hilde selbst in meine kürzesten Gebete ein! Darum ist mein erster Gedanke nach dem Gebet am Morgen: wird Hilde heute kommen? Darum wünsche ich immer, sie säße während des Unterrichts meiner Jungen neben mir und sähe mein Bemühen, Freude und Sonne in die jungen Herzen zu legen. Darum lausche ich im Beichtstuhl jetzt auf die Stimmen ...“ Sein Stolz lehnte sich gegen diese Gedanken auf, und er suchte sich zum Widerspruch zu zwingen. „Nein! nein! es war nicht so!“ er übertrieb. Ins Maßlose. — Gewiß, er betete für sie. Aber war es denn nicht seine Pflicht als Lehrer und Priester, für diese Hilde, die jung so schwer schon rang, die Gnade Gottes zu erflehen?
Und warum wünschte er denn, sie möchte an dem Unterricht seiner Knaben teilnehmen? Aus welchem andern Grunde, als weil er hoffte, sie werde an deren froher Zuversicht auch ihren eigenen Glauben festigen?
Und das mit dem Beichtstuhl? Stand das in irgendeinem Zusammenhang mit Hilde? — Gewiß nicht!! Denn er lauschte ja schon immer, längst bevor er Hilde überhaupt kannte, mit großer Sorgfalt auf die Stimmen, aus denen er oft Reue oder Heuchelei herauszulesen glaubte.
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und die Augen, als wollte er gewaltsam die Gedanken, die in ihm drängten, niederringen. Dann stand er auf, öffnete das Fenster, das zum Garten führte, schöpfte tief Atem, schüttelte leicht den Kopf und sagte laut, mit einem leisen, sanften Lächeln:
„Nein! — Es ist Unsinn! Ich stehe ja fest. Daß ich es denken konnte — das allein ist Sünde!“
Dann fiel er auf die Knie und betete lange, hörte auch nicht, als Hilde leise in das Zimmer trat. Vorsichtig schloß sie hinter sich die Tür, blieb regungslos stehen, preßte fest die Lippen aufeinander, um selbst den schwebenden Hauch des Atems noch zu dämpfen.
Und sie sah, da kniete der junge Priester an dem offenen Fenster, durch das man das Grün der Bäume und das tiefe Blau des Himmels sah. Hell fiel ein Sonnenstrahl auf seine Stirn; auf das schmale, lange Gesicht warf ein dunkelgrüner Vorhang einen tiefen Schatten.
Hilde stand gebannt. Das war ja ... Sie riß die Augen weit auf und starrte zu ihm hinüber. War das denn nicht die Kunst ... die höchste ... die vollendetste, ...? wie sie aus ihren letzten Grenzen heraustrat, um zu leben, ...? wie sie so oft vor den Madonnen Murillos gestanden, und nun auf das große Wunder gewartet hatte, — hier war es erfüllt.
Eine stumme, rührende Ergebung lag über dieses Bild gebreitet; ein heiliger Friede; eine lautlose Stille, in der ein gläubiges Herz zu seinem Gotte sprach. Hilde sank in die Knie. Lautlos. Faltete die Hände und betete zu Gott: „Laß ihn für mich beten!“
Dann zog sie sich still zurück und wußte, daß ihr Leben von diesem Heiligen nicht mehr zu trennen war.
In der langen Reihe der Behrschen Festlichkeiten, die an Pracht immer zunahmen und ihren Höhepunkt und Abschluß in der Hochzeit finden sollten, war als Fest erster Ordnung die feierliche Taufe vorgesehen worden.
Wochen im voraus waren mehr als dreihundertfünfzig Einladungen verschickt worden, die zur Teilnahme an dem feierlichen Akt in der Kirche und im Anschluß daran zu einem Diner im Esplanade-Hotel aufforderten. Wo irgendwo ein längst vergessener oder nie geschauter Verwandter Bossos im zehnten oder elften Grade aufzufinden war, da wurde, sofern er nur adlig und nicht gerade Versicherungsagent oder Kellner geworden war, in einem langen Schreiben, das von verwandtschaftlichen Gefühlen, und zwischen den Zeilen von eventueller Hilfsbereitschaft sprach, um seine ganz besonders ersehnte Teilnahme gebeten. Die Behrsche Verwandtschaft aber und der sonstige Berliner Anhang wurde immer von neuem gesiebt, und bei der letzten Prüfung bestanden von ehemals dreihundertvierundachtzig, die die Listen nannten, sechsunddreißig!
Und während hier Übergangene brieflich und telephonisch anfragten, ob das Ausbleiben der Einladung nicht ein Versehen oder gar ein Fehler der Post sei — und diese Aufdringlichkeit entschuldigten sie damit, daß sie nicht gern unhöflich erscheinen möchten, indem sie auf eine Antwort warten ließen, — lehnten trotz des Aufwands von Herzlichkeit und Dringlichkeit viele kurz mit dem Bemerken ab, daß die beigefügte Einladung nebst dem ebenfalls hier beigefügten Begleitschreiben wohl auf ein Versehen zurückzuführen und daher abzulehnen sei. Denn Frau Trautes lautes Strebertum erregte trotz der Begeisterung und Nachahmung, die es am Kurfürstendamm fand, doch überall da, wo man Geschmack und Takt besaß, Übelkeit und heitern Spott.
Als Frau Traute aber dem Priester Hannes ihre Karte in den Unterricht sandte und um eine Unterredung bat, ließ er der Dame hinaussagen, daß er seine Sprechstunden nachmittags von vier bis fünf Uhr abhalte. Und als Frau Traute am Nachmittag abermals bei ihm vorfuhr, wurde sie in einen kleinen Warteraum geführt, in dem bereits ein halb Dutzend armer Leute warteten, die vor ihr gekommen waren und „deren Odeur ihr den Atem benahm“, wie sie später zum five o’clock tea im Esplanade-Hotel erzählte, worauf alle Damen ihre Spitzentücher vor die gebogenen Nasen zogen.
Da hatte Frau Traute aus ihrer goldenen Tasche eine Visitenkarte gezogen und gebeten, man möge sie außer der Reihe empfangen, da sie in Eile wäre und von Ihrer Hoheit der Prinzessin von Thurn und Taxis zum Diner erwartet werde. Der Kirchendiener, der nur schwer zur Übernahme dieser Mission zu bestimmen war und eine „Belohnung“ abgelehnt hatte — Esel! dachte Frau Traute — kam mit der Karte zurück, auf die der Priester geschrieben hatte:
„Gnädige Frau! Auf die, welche da draußen mit beladenem Herzen, das Gott sucht, neben Ihnen sitzen, wartet der Allmächtige, auf daß ich sie frei mache von ihren Sünden und sie zu ihm zurückführe. Sagen Sie das der Prinzessin, die auf Sie wartet. Hauser.“
Komische Leute! dachte Frau Traute. Ich dachte, so etwas wäre nur unter Sozialdemokraten möglich.
Als sie endlich vorgelassen wurde, fand der Priester nicht einmal ein Wort der Entschuldigung. Als ob es selbstverständlich war, daß man sie warten ließ. Hätte sie den Leuten doch nur gesagt, wer sie war, und jedem ein paar Mark in die Hand gedrückt, sie hätten sie sicher vorgelassen. Aber, war es denn zu glauben? Diese Menschen waren nicht einmal aufgestanden, als sie ins Zimmer trat; kaum daß sie von ihr Notiz genommen hatten. Aber sie hatte sich jeden genau betrachtet, immer von neuem. Man konnte ja nicht wissen, ob der eine oder andere nicht einmal mit einem Anliegen oder gar um eine Stellung zu ihr kam. Dem wollte sie gehörig heimleuchten und ihn fühlen lassen, wer sie war.
Hannes Hauser erwartete nicht ohne Neugier, was sie ihm zu sagen hätte. Sie entwarf leidenschaftlich und laut ein Bild von dem äußeren Schmuck, den die Hedwigskirche am Tage der Taufe anlegen möchte. „Innen und außen ein Blumenmeer; die Kosten spielen keine Rolle. Ich lasse einen Wagen Marschalnilrosen aus Ospedaletti kommen. Auch draußen auf der großen Freitreppe soll ein künstlicher Garten aus Palmen errichtet werden — und wegen des Chors, Hochwürden, ich würde gern, um ihn zu verstärken, von der Oper ...“
Es war wohl sein erstauntes Gesicht, daß sie hinzufügte:
„... natürlich nur, wenn es möglich wäre. Und dann, damit nicht Krethi und Plethi hineinströmen und das vornehme Bild stören — wir werden etwa dreihundertfünfzig Gäste sein, darunter vierundachtzig aktive Militärs, drei Exzellenzen, zwei frühere Minister, der türkische Botschafter und der serbische Gesandte, — so möchte ich, daß der Eintritt nur gegen Karten gestattet wird, die ich natürlich auf meine Kosten drucken lasse und — wofür ich Garantie leiste, — an angesehene Leute verteilen ließe. Und dann ...,“ sie rückte näher an ihn heran, „... wenn es sich machen ließe, daß der Bischof persönlich ...“ (sie hätte die höchsten Preise für das Erscheinen eines Kardinals gezahlt).
Hauser erhob sich höchst ungehalten.
„Gnädige Frau. Ich bin weder Zeremonienmeister, noch ist die Kirche — wie Sie zu glauben scheinen — ein Ort zur Veranstaltung weltlicher Schaustellungen, für die Sie gewiß andere Räumlichkeiten in Berlin finden werden. Ich muß mich entschieden dagegen verwahren, mit Ihnen über Dinge zu verhandeln, die nicht mit dem Akt der Taufe Fräulein Hildes zusammenhängen.“
„Erlauben Sie, Hilde ist meine Tochter.“
„Es ist der Wunsch Ihres Fräulein Tochter wie des Bischofs, daß der Übertritt sich in aller Stille vollzieht. Nachdem die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter Hildes vorliegt, ist die Form lediglich Sache der Kirche, und — wie ich Ihnen eben sagte — hat die Kirche sich bereits schlüssig gemacht.“
Frau Traute war außer sich.
„Unmöglich!“ rief sie so laut, daß der Priester sie durch Erheben der Hände zu beschwichtigen suchte. — „Wenn ich Ihnen sage: einfach unmöglich! Die Einladungen sind heraus. Wir können uns doch nicht lächerlich machen! Und wenn es mich fünfzigtausend Mark an die armen Katholiken Deutschlands kostet!“
In aller Ruhe erwiderte Hauser:
„Es bleibt wie es ist. Eine Änderung ist ausgeschlossen.“
Ihr Angebot beleidigte ihn.
„So machen Sie eine Eingabe an den Papst. Schreiben Sie ihm, wie es liegt, und daß ich zu jedem Opfer bereit bin.“
„Der Bischof allein ...“
Sie fiel ihm ins Wort:
„Wo wohnt der Bischof?“ fragte sie laut und erhitzte sich immer mehr.
Hauser wurde die Aufdringlichkeit dieser Frau unerträglich. Er rief den Kirchendiener herein und sagte zu ihm:
„Führen Sie die Dame in die Kanzlei und sorgen Sie dafür, daß man ihr die Adresse des Bischofs gibt.“
Dann ging er selbst hinaus und Frau Traute fühlte erst jetzt, daß in dem Verhalten des Priesters eine Kränkung lag. Daß sie selbst ihm aber wie einem Traiteur, mit dem man das Essen für die Hochzeit bespricht, entgegengekommen war, das fühlte sie nicht.
So unerfreulich auch das Bild war, welches sich Hauser von Hildes Mutter gemacht hatte: als er sie nun vor sich sah, war sie ihm wie eine vollendete Illustration für die innere Leere und die ganze aufs Äußere gerichtete Oberflächlichkeit der Zeit erschienen. In dieser Umgebung freilich wird Hildes Glauben fortgesetzt neuen Anfeindungen ausgesetzt sein, und es wäre wohl meine Pflicht, sie dagegen zu schützen. Freilich, sie ist die Mutter! Aber was folgt daraus? Doch wohl, daß sie mehr als irgend ein anderer die Pflicht hätte, im Guten auf sie zu wirken. In dieser Frau aber steckt der Satan. — Wozu da überhaupt erst die Taufe, um sie hinterher doch wieder dem Teufel auszuliefern. Aber gemach, Frau Traute, ich werde selbst zum Bischof fahren und mit ihm beraten, wie man Hilde Ihrem Einflusse entzieht.
Und von diesem Augenblicke an sah Hauser in Frau Traute seinen persönlichen Feind, mit dem er um die Seele Hildes rang.
Als Hilde am Nachmittag zu ihm kam, war sie unruhig und ängstlich, und ihre erste Frage war:
„Sind Sie verstimmt?“
„Warum sollte ich verstimmt sein?“ fragte er.
„Nun, mir war der Gedanke, meine Mutter bei Ihnen zu wissen, unerträglich. Es ist schlecht von mir. Aber mir ist, als hätten Sie alle Fenster aufreißen müssen, als sie fort war.“ Und ärgerlich setzte sie hinzu: „Sie gehört nicht hier herein. Was sucht sie hier!“ — Es klang fast zornig, als sie jetzt rief: „Das wenigstens soll sie mir lassen! Schon daß sie mit Ihnen gesprochen hat, kränkt mich! — — ja mehr! es ängstigt mich! — Ja, fühlen Sie denn nicht, daß sie nicht öfter kommen darf? Daß sie schlecht ist — daß etwas zurückbleibt — das klebt in diesem Raume und nicht wieder herausgeht? — Da saß sie, wo ich sonst sitze, und ich werde immer daran denken müssen, wenn ich bei Ihnen bin, — hier, gerade hier, wo meine neue Welt war, in die sie nie, nie hätte hineinsehen dürfen.“
Der Priester nahm wie zur Beruhigung ihre Hand.
„Aber Hilde,“ sagte er, „so seien Sie doch verständig. Sie wird gewiß nicht wiederkommen.“
Aber Hilde erregte sich nur immer mehr.
„Gewiß wird sie!“ widersprach sie. „Oh, Sie kennen diese Frau nicht! Die läßt nicht nach! Die kommt wieder! So lange, bis sie alles zerstört hat. — Die ist erbarmungslos! — Und was das Schlimmste ist: sie ist klug! Sie setzt durch, was sie sich vornimmt, — alles, — was es auch sei. Man muß ihr folgen.“ — Sie hielt inne, und an Stelle eines starken, trotzigen Willens, mit dem sie sich bisher gegen die Einwirkung der Mutter aufgelehnt hatte, klang es jetzt fast resigniert, als sie den Kopf zur Erde senkte und sagte: „Wenigstens ich.“
„Auch jetzt noch?“ fragte der Priester voll Entsetzen und fühlte, da er die Mutter ja nun kannte, mit besserem Verständnis als zuvor, in welcher großen Gefahr Hilde noch immer schwebte.
„Solange ich hier bei Ihnen bin, natürlich nicht. Auch morgen nicht, und übermorgen nicht. Aber ich bin ja noch jung und Sie werden nicht immer hier und für mich erreichbar sein. Diese Frau aber, die werde ich in dieser Welt nicht los, und sie wird Tag für Tag versuchen, mich meines Glaubens wegen zu verhöhnen und ihn mir aus dem Herzen zu reißen“ — Hilde erregte sich — „und das werde ich nicht dulden — Gott sei Dank gibt die Kirche ja Mittel, um es zu verhindern.“
„So haben Sie’s Ihrer Mutter also doch gesagt?“
Hilde sah ihn fragend an.
„Nun, daß Sie das Verlöbnis lösen wollen.“
„Aber nein! Graf Bosso kommt erst morgen früh vom Lande zurück. Ich habe ihn über vierzehn Tage lang nicht gesehen und unser Verkehr bestand lediglich darin, daß er mir jeden Morgen telegraphierte: ‚Guten Morgen, meine Teuerste‘, worauf ich regelmäßig erwiderte: ‚Guten Morgen, Bosso‘. Dank Ihrer großen Güte wird sich der Akt der Taufe, nach dem sich mein Herz — und Sie wissen, wie sehr — sehnt, ja morgen unter Ausschluß der Öffentlichkeit vollziehen. Von diesem Augenblick an soll keine Lüge mehr über meine Lippen kommen, weder mit dem Verstande, noch — wie leider bisher — mit dem Herzen werde ich mehr die Unwahrheit sagen. Und meine erste Handlung wird sein, daß ich dieser widerwärtigen Ehekomödie ein Ende mache.“
„Es wird bittre Kämpfe mit Ihrer Mutter geben.“
Hilde hob den Kopf.
„Die Kämpfe fürchte ich nicht,“ sagte sie stolz, „denn hier ist es mir ja klar, um was es sich handelt. Wovor mir bangt, das ist dies ständige Unterminieren, das ewige Quälen, ohne daß man den Zweck recht kennt, und das am Ende wohl auf nichts anderes hinausgeht, als einen schlecht und erbärmlich zu machen, alle Ideale zu zerstören und einen glauben zu machen, daß das Schlechte allein die Welt regiert, und daß es deshalb eben ohne Sinn und Verstand ist, nach etwas anderem als nach dem Bösen zu streben.“
„Und Sie haben die feste Überzeugung, Hilde, daß der Glaube Sie gegen alle diese Anfeindungen schützen wird?“
„Ich hatte einen Traum“, gab Hilde zur Antwort, weich und zärtlich, und sah ihn groß an. Ihre Augen glänzten.
„Einen Traum?“ erwiderte der Priester und rückte unwillkürlich auf seinem Sessel umher, wie beängstigt und unruhig.
„Ja, einen Traum!“ wiederholte Hilde, „einen schönen, wunderschönen Traum. Aber nur, wenn Sie fühlen wie ich, wird er in Erfüllung gehen.“ Und sie umfaßte mit ihren Blicken förmlich den Priester, der deutlich spürte, wie jeder Gedanke und jedes Empfinden Hildes nur auf ihn gerichtet war; aber nicht, um in ihm aufzugehen, wie er es oft schon im Beichtstuhle empfunden hatte, nein, um von ihm Besitz zu ergreifen. Ehe Hilde weiter sprach, fühlte er, daß in ihr ein Gedanke so stark und mächtig wirkte, daß sie, von ihm fortgerissen und beherrscht, nunmehr versuchte, ihn auch auf den Priester zu übertragen.
„Sie wollen in ein Kloster?“ fragte der Priester, und seiner Stimme, die zitterte und bebte, merkte man an, daß er selbst nicht wußte, welche Antwort ihm willkommen war.
Hilde erhob sich; nein, sie wurde von dem Gedanken, der sie erfüllte, in die Höhe gerissen. Der Priester zitterte, als er zu ihr aufsah. Zum ersten Male sah er die Frau in ihr. Die Frau war schön. Und je bewußter sie ihre Schönheit trug, um so gewaltiger drückte sie ihn nieder. Noch kannte er ihre Gedanken nicht, aber er fühlte ihren Sieg und wußte, daß sie groß und stark waren. Das gräßlich schöne Bild Felicien Rops „La Tentation“ stieg vor ihm auf.
Aber nein! Hinter dieser Frau lockte nicht mit schelmischem Grinsen der Satan. Diese Frau war rein, er wußte es besser als irgendein anderer. Warum also sich wehren? Statt ihr zu folgen auf Wegen, die, wie er wußte, zu Gott führten. Nicht zum Teufel. Und er raffte sich auf und widersetzte sich nicht mehr.
Ihm war, als wenn ein eisiger Strahl durch all seine Glieder fuhr. Für Augenblicke! — Dann riß er sich los. Und wieder wich die Starrheit aus seinen Zügen jenem weichen und milden Lächeln, durch das er Hilde immer von neuem an die Bilder der Heiligen mahnte.
„Ins Kloster! Nein! Ins Leben will ich. Und mit Ihnen. Ich will zusammen mit Ihnen eine Stätte gründen, wo arme und elternlose Kinder ihre Liebe, ihren Gott und ihre Heimat haben.“
Er sah von einer großen Spannung befreit zu ihr auf und war erleichtert.
„Dann hätte mein Leben einen Sinn; ich wäre dem Einfluß meiner Mutter entrückt und das Erbe meines Vaters fände eine Verwendung, wie er sie wünschte. Denken Sie an das Glück, das es gewähren muß, arme, verlassene, hilflose Wesen früh schon mit Liebe zu umgeben, sie für ihr ganzes Leben so fest und stark im Glauben zu machen, daß sie jedem Schicksalsschlag gewachsen sind und jeder noch so argen Anfeindung in Ergebung standhalten.“
„Und wo soll das geschehen?“ fragte der Priester, nur um etwas zu äußern und seine Verwirrung zu verbergen.
„Wo Sie wollen. Nicht hier! Im Freien, wo man den Himmel sieht, die Sterne und die Sonne! Irgendwo auf einem schönen Flecken Erde, wo alles frei atmet und die Natur überall an Gott mahnt. Nicht hier in dieser Enge! Wo jeder bei dem, was er tut, nur an den andern denkt, niemals an Gott“ — sie sah ihn bittend an: „Wollen Sie? Sie können dasselbe wirken wie hier! Und mehr! Weit mehr! Denken Sie, daß all diese Kinder vom ersten Tage an mit uns fühlen werden, daß wir ihnen tausend schöne Dinge schon mit ins Leben geben, noch ehe sie anfangen zu denken. Dinge, die Sie ihnen, wenn sie zum Unterrichte kommen, erst mühselig beibringen müssen, verstandesgemäß, statt daß die Herzen triebmäßig die Wahrheiten empfinden, die man nicht erlernt, für deren Erkenntnis schlechte Eltern oft genug die kleinen Herzen in früher Jugend schon unempfänglich machen.“
Er stimmte zu und lächelte gütig.
„Ich weiß, daß Sie mich verstehen,“ fuhr sie fort, „daß Sie mir recht geben, mir zustimmen. Denn wem sonst habe ich diesen Plan, dem von nun an mein Leben gehört, zu danken als Ihnen. Wie habe ich die Tage und Nächte gesessen, schon als Vater noch lebte, und mir das Hirn zermartert, um etwas zu finden, um diese Furcht vor dem Leben, das so trostlos und leer vor mir lag, los zu werden. Nie wäre ich auf diesen Gedanken gekommen, nie! Hätten Sie mir nicht den Glauben der Liebe gepredigt und — was vielleicht das Entscheidende für mich war — hätte ich diesen Glauben nicht in Ihnen gefunden. Denn erst, als ich von Tag zu Tag mehr die Macht des Glaubens in Ihnen sah, da lernte ich, auch all das zu verachten, was mir vorher noch wertvoll war. Es erschien mir klein und lächerlich neben Ihnen.“
„Neben meinem Glauben, wollen Sie sagen, Hilde.“
„In diesem Falle ist das dasselbe.“
Sie trat nahe an ihn heran.
„Als ich vorgestern für großjährig erklärt wurde, habe ich diesen Entschluß gefaßt. Er ist aus Ihrem Geist entsprungen. Sie dürfen also nicht nein sagen. Sie würden damit nicht nur mich auf dem Gewissen haben, sondern alle, die an unserer Stätte den Glauben und das Glück gefunden hätten. — Es gibt ja nichts, was dagegen spricht. Ich habe das sichere Empfinden, daß der Bischof zustimmen wird.“
„Und ohne mich sollte es nicht gehen, Hilde?“
„Nur durch die Vereinigung ‚männlicher Bestimmtheit und Schärfe mit weiblicher Milde ruht und schifft das Kind wie am Zusammenflusse zweier Ströme‘; Sie wissen, wer es gesagt hat, und Sie haben es mich gelehrt, haben es mich zu einem Zwecke gelehrt, auf dem gewiß weniger als auf dem unsern die Gnade Gottes ruhte.“
„Sie haben nie Kinder erzogen; es ist schwer und mühsam; und es ruht darauf eine Verantwortung, die schwerer ist als irgendeine andere. Es will in vielen Jahren erlernt sein.“
„Nein! nein! es will empfunden sein. Nur nicht wieder wie damals, als ich den Glauben lernen sollte, aus wissenschaftlichen Büchern erlesen: Wie erziehe ich mein Kind? Hinein in jedes Kinderseelchen führt die Liebe. Freilich, man muß selbst kindlichen Herzens sein, um sie zu verstehen; und man muß sie lieben, wenn man sie recht behandeln will.“
„Es ist ein Entschluß, der Ihnen alle Ehre macht, Hilde.“
Sie wehrte ab. „Lassen Sie das; Sie wissen, es ist genug Egoismus dabei.“
„Aber es wird Mühe machen und Jahre dauern, ehe man so weit sein wird, daß man beginnen kann. Und was bis dahin —“
„Warum sollte es Jahre dauern? Morgen kann man beginnen. Es braucht ja nicht gleich an Ort und Stelle zu sein. Bis man mit dem Bau und der Einrichtung fertig ist, kann man irgendwo anders schon viel Gutes gewirkt haben.“
„Wir sind beide noch jung, da ...“
„Eben, eben, das ist es ja. Alles liegt vor uns. Und es wird uns dadurch nur um so leichter werden, ganz in diesem Wirken aufzugehen und jede Regung in den jungen Seelen, die Gott in unsere Hand legt, zu fühlen und sie zu begreifen.“
„Gewiß. Aber das meinte ich nicht.“ Er suchte nach Worten. Und mit Nachdruck sagte er: „Wir werden immer zusammen sein, Hilde! — Wenn aber — wir sind jung — und wenn wir auch im Dienste des Herrn stehen, so sind wir doch Menschen. Wenn einer von uns beiden eines Tages entdeckte, daß ihm der andere mehr ist als nur der von gleichem Streben beseelte Gefährte oder Freund — und ich gehe weiter — wenn wir uns eines Tages auch nicht mehr als Bruder und Schwester gegenüberständen, wenn einer etwas empfände, was außerhalb von allem läge — Hilde! — verstehen Sie mich denn nicht?! Der Gedanke allein ist sündig. Aber wir alle sind schwach und Sünder und sollen der Versuchung aus dem Wege gehen. — Wenn Sie mich, wenn ich Sie eines Tages liebte, was dann?“
Er war bei den letzten Worten aufgestanden und sah sie fest und ernst an, so daß sein Blick etwas Strenges hatte.
„Liebte!“ wiederholte Hilde laut, fast freudig. „Und was dann?? Fragen Sie noch?? Das wäre das Höchste! Wenn ich wert würde, Ihnen zu sagen, daß ich Sie liebe.“
„Hilde! Hilde!“ Er hielt die Hände vor das entsetzte Gesicht. „Ich bin ein Priester! Ich darf ...“
Aber Hilde ruhte nicht. Sie achtete jetzt kaum mehr auf den Priester.
„Sie dürfen nicht lieben! Ja, ich habe das gelesen, irgendwo in einem Buche, das Sie mir gaben, daß irgendjemand Ihnen verboten hat, zu lieben. Es muß ein ganz besonders kluger Mann gewesen sein, der sich da weiser dünkte als Gott. ‚Die Liebe ist stark wie der Tod‘, heißt es im Hohelied, ‚ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen.‘ Wer darf Sie heißen, die Flamme des Herrn löschen und sich wehren gegen das, was von Gott kommt? — Wenn wir beide fern von aller Welt nur im Geiste des Glaubens leben, Stunde um Stunde, vom ersten bis zum letzten Tage uns der Armen und Verlassenen annehmen, um ihnen die Liebe zu predigen und sie zu Gott zu führen, damit sie ihr Leben in Ergebung tragen — wenn dann in dieser Welt, die wir uns schaffen, unsere Seelen ineinander aufgehen — denn das erste in der Liebe ist der Sinn für einander und das höchste der Glaube aneinander — wenn wir uns dann lieben — wir uns“ — sie unterdrückte gewaltsam eine starke Erregung, — „dann wird das keine Sünde sein; vielmehr wollen wir Gott auf Knien dafür danken, dann wird unser Wirken, unser Leben, der Geist unserer Anstalt, alles wird dann eine Einheit sein und sich zu dem Höchsten verbinden, der Liebe zu Gott, die dann wie aus einem einzigen vollen Herzen zu ihm drängt. Und was die ganze Menschheit sollte, das wird im Kleinen dann bei uns erfüllt sein.“
Der Priester war fassungslos. Ihm sagte ein ganz bestimmtes Gefühl, daß es zwecklos sei, diesem Gedanken mit dem Hinweis auf das Dogma zu begegnen. Die Gestalt des heiligen Johannes stieg vor ihm auf und seine Offenbarung: einhundertvierzigtausend jungfräuliche Seelen vor dem Thron Gottes, die ein neues Lied singen, dem die andern nicht folgen konnten. Und er erinnerte sich der Worte Christi: Wer immer sein Haus oder Bruder oder Schwester oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder um meines Namens willen verläßt, der wird Hundertfältiges dafür erhalten und das ewige Leben besitzen. Und er dachte an die heilige Therese, die heilige Magd Pazzis, die heilige Rosa von Lima. Aber er fand nichts, was er ihr entgegenhalten konnte. Wenn er ihr die Marter und die Hinrichtung der heiligen Agnes erzählte oder der heiligen Agatha oder der heiligen Luzia? Es traf alles nicht den Sinn ihres Wesens. Im Gegenteil! Er fand, da er in Windeseile das Leben aller dieser Heiligen überdachte, keine Handlung, kein Empfinden, nicht einmal die Äußerung eines Gefühls, durch deren Gegenüberstellung er die gewaltige Regung dieses frommen, aber eigenwilligen Herzens tadeln oder gar eines Irrtums überführen konnte.
Dies Versagen erhöhte seine Hilflosigkeit. Jetzt dachte er gar an den heiligen Hilarius, den Bischof von Poitiers, der, ehe er Priester wurde, verheiratet war und eine Tochter hatte. Er lebte seines Glaubens wegen in der Verbannung, als ihn seine Tochter eines Tages um seine Zustimmung ihrer Ehe mit einem guten Christen bat. Und der heilige Hilarius antwortete: „Ich komme nun bald nach Hause und bringe dir das Porträt mit eines andern Bräutigams; dann magst du vergleichen und dich entscheiden für den einen oder den andern.“ Und als er heimkehrte, zeigte er ihr das heilige Kreuz Christi und gab ihr den Rat, sich Christus in ewiger Jungfräulichkeit zu weihen. Sie willigte ein. Wenige Wochen darauf starb sie. Als sie mit dem Tode rang, sagte der Bischof: „Siehe, dein Bräutigam kommt nun und lädt dich ein zum ewigen Hochzeitsmahl.“
Er erzählte Hilde diese Geschichte, obschon er wußte, daß sie keine Antwort auf ihre Werbung war.
Auch Hilde antwortete nicht. Aber ihr war, als hielte ihr der Priester das eigene Schicksal vor Augen. Das war ja sie, die des Grafen Frau werden sollte, ehe der Bischof kam und sagte: bevor du entscheidest, gehe zu dem; und er hatte sie an den Priester gewiesen, der sie den Glauben und die Liebe lehrte, und an dem sie nun hing, wie an einem Heiligen.
Der Priester sah ihre Bestürzung. Hatte diese Erzählung so stark auf sie gewirkt? Und war der Augenblick nun da, wo er mit einem letzten Aufwand von Kraft versuchen sollte, sie von der Notwendigkeit des Dogmas zu überzeugen? Das Kreuz stand vor ihm auf dem Tische, und mit einer feierlichen Geste, die ihm aus dem Herzen kam, und die so durchaus nichts Unaufrichtiges hatte, wäre ihr vielleicht in diesem Augenblicke auch diese letzte Erkenntnis gekommen. Schon hob er den Arm und näherte ihn dem Kreuze ... da legte es sich wie Blei auf seinen Körper, und er fühlte, wie ihm die Knie zitterten. Er spürte einen dumpfen Druck im Kopfe und beobachtete sich selbst, wie er leise immer wieder zu sich sagte: Laß es! Bedenke, wenn du alles damit zerstörtest!
Hilde begriff nicht, was ihn bewegte; aber sie sah, daß er litt. Sie beugte sich über den Tisch, auf dem noch immer, dicht am Kreuze, sein Arm lag und sie faßte leise seine Hand.
Weich, wie ferne Musik, klang ihm ihre Stimme in den Ohren und brachte das Dumpfe und Schwere, das in seinem Kopf und Körper lag, in sanfte Schwingung:
„Der heilige Hilarius, das ist der Bischof, und die Tochter bin ich. Und ich kam zum Bischof, meinem Vater, und sagte, daß ich heiraten solle. Aber der Bischof sprach: Warte, bis ich dir den zeige, den ich für dich bestimmte. Gehe zu ihm und sprich mit ihm. Dann erst entscheide! Und er wies mich hierher.“ — Sie legte ihre Hand fester auf seine und fühlte sein Zittern. — „Da kam ich her und sah in dies Herz und glaubte und liebte; gab den Jüngling auf, den die Eltern bestimmten, und kann nun nicht mehr leben ohne den Glauben und ohne die Liebe.“
Der Priester hielt sich nicht mehr. Er verlor seine Fassung. Wie heiße Wellen schoß ihm das Blut zu Kopf. Er erschrak selbst, so heftig ging sein Atem. Ihm fehlte die Kraft, sich von ihren Augen, die ihn festhielten, loszureißen. Er faßte fiebernd, mit beiden Händen Hildes Kopf, zog ihn über den Tisch zu sich herüber, riß ihn dann an sich:
„Hilde!!“ schrie er laut und sah ihr tief in die Augen, die sanft baten und sich zärtlich schlossen. Langsam kam er ihr nahe, und ihr Atem küßte sich.
„Hilde!“ hauchte er nur; ihr aber war, als hinge sie in seinen Armen weit über der Erde, und sie war glücklich und fühlte sich geborgen. Er drückte seinen Mund auf ihre Lider und eine tiefe Ruhe kam über sie.
So saßen sie lange beieinander. Hand in Hand. Niemand sprach ein Wort. Aber sie fühlten die Größe der Stunde und wußten beide, daß sich jetzt, unabhängig von ihrem Willen, ihr Schicksal erfüllte.
Als es dunkelte und Hilde sanft und allmählich ihre Hand, die unbeweglich in seiner lag, zurückzog, sprach sie noch immer nicht, stand langsam auf und ging hinaus. Ihre Seelen waren eins geworden miteinander. Als habe sie die heilige Weihe empfangen, so stark fühlte sie ihre Beziehung zu Gott, dem allein sie diente und unter dessen Schutz sie nun stand.
Der Priester saß bis tief in die Nacht und rührte sich nicht. Er war nicht Herr seiner Gedanken, die ihn noch einmal durch alle Kämpfe der letzten Jahre führten. Und alles, was er durchlebt hatte, wuchs ins Riesenhafte.
Jede Erkenntnis, die anderen ein gütiges Geschick mit in die Wiege gab, zu der er sich erst mühselig durchringen mußte, bis ihre Gesamtheit den großen Bau vollendete, war ein Sieg gewesen, auf den er stolz sein durfte. Aber auch sein Herz hatte Opfer gebracht; das Zerwürfnis mit den Eltern, denen sein Übertritt den Abend ihres Lebens verkümmerte, brannte wie eine ewig frische Wunde, die sich nur unter inbrünstigem Gebete und schmerzhafter Kasteiung schloß. Jetzt war auch sie vernarbt, und alle Kämpfe schienen beendet. Weit überragte der Bau seines Glaubens den seiner Brüder; denn er war selbst erkämpft. Und mit den Feinden, deren Werke jene mieden und die ein kluger Vater in weiser Vorsicht auf den Index setzte, hatte sein Herz und sein Verstand sich jahrelang herumgeschlagen und hatte sie überwunden!
Zum ersten Male zog das alles in großen Formen an ihm vorüber.
Und da kam Hilde.
„Sie sind für mich ein Altar, vor dem ich ewig knien und zu Gott beten möchte“, hatte sie ihm gesagt.
„Und Sie, Hilde, die Blume, die auf meinem Altar blüht und mich in jeder Stunde mahnt, daß glauben lieben heißt“, war seine Antwort.
Damals schien es ihm, als gewänne sein Glaube, der doch die verstandesgemäß erworbene Erkenntnis der Einheit war, Blut und Leben, als wiche die Starrheit aller Dogmen einer leidenschaftlichen Liebe, mit der er die Herzen aller Menschen erfüllen und sie so der göttlichen Gnade zuführen könne.
Aber nun stand diese Hilde plötzlich im Mittelpunkte aller seiner Gedanken. Sie war nicht mehr das Licht, das ihm voranleuchtete und seine Andacht vertiefte. Wenn sie sich jetzt in seine Gebete drängte, dann kam er über sie nicht mehr hinaus; sie hielt ihn fest und er geriet in Verwirrung. —
Und er durchlief alle Geschehnisse von neuem. Aber seine Verwirrung wurde nur immer größer. Wäre sie ihm vor zwei Jahren begegnet, ja, wer weiß, wie alles sich gestaltet hätte. Er hätte den Aufruhr seines jungen Herzens, das gar zu ungestüm die Wahrheit suchte, vielleicht auch in der Welt, die Hilde schuf, erstickt. —
Nun aber ... vereinen ... großer Gott ... das ging ja nicht! — — Mich losreißen, sagte er gedankenlos vor sich hin. „Losreißen“, wiederholte er lauter. „Ja, kann ich denn?“ Und schmerzhaft, mit einer Stimme, die fast weinte, fügte er hinzu: „Ich kann ja nicht!“ — Er stürzte zu Boden und vergrub den Kopf in den Händen und versuchte zu beten. Aber sein Herz war bei Hilde, und er mühte sich schwer, streckte den Oberkörper in die Höhe und rang die gefalteten Hände empor: „Hilf mir, Gott! Heilige Maria Mutter Gottes, bitt’ für mich Sünder! Hilf’ mir beten!“ Und er schlug mit dem Kopf wieder zu Boden, fuhr wieder in die Höhe, sah das Kreuz auf dem Tisch, riß es herab, umschlang es innig und stürzte damit in die Kapelle, warf sich auf die Knie und betete bis in den Morgen. Dann schlich er in seine Kammer und hoffte, was er mit Gebet und Tränen begonnen hatte, durch das Vergießen seines Blutes zu vollenden. Er legte sich eine schwere eiserne Kette an, schnürte den Leib mit einem dicken Strick zusammen und begann sich zu geißeln. Und für jeden Seufzer um die Schmerzen, die er litt, dankte er Gott. Spät am Morgen sank er erschöpft auf sein Bett. Aber auch hier wurde die Stunde der Ruhe zur Qual, denn die frischen Wunden brannten unter dem Druck des Bußgewandes, das er mit letzter Kraft anlegte.
In aller Stille vollzog sich am nächsten Morgen in der Hedwigskirche die Taufe Hildes. Sie hatte die letzten Tage meist allein in ihrem Zimmer gesessen und jede Gesellschaft abgelehnt.
„Der Priester wünscht,“ hatte sie der Mutter gesagt, „daß ich mich in aller Stille vorbereite.“ Und da für Frau Traute nach der ablehnenden Haltung des Priesters das ganze Fest verdorben war, für das längst alle Vorbereitungen getroffen waren, so kümmerte sie sich nicht mehr um den Akt der Taufe, der ihr an sich völlig gleichgültig war, und ließ es gern zu, daß als einzige Zeugin die Miß ihre Tochter begleitete.
Sie selbst arbeitete von früh bis spät an den Vorbereitungen für die Hochzeit. Behr, den die Bossosche Familie nun zwei Monate lang schonungslos auf seine materielle Leistungsfähigkeit hin geprüft hatte, verlangte von seiner Frau einen Kostenanschlag, und durch ein geschicktes Management der Frau Traute bildete das Hochzeitsfestprogramm schon Wochen im voraus das Tagesgespräch der Berliner Gesellschaft.
„Na? Glücklich vorüber?“ fragte Frau Traute, als Hilde aus der Kirche kam, und sah kaum von den Kleiderentwürfen auf, die ihr der junge Eltzheimer in pagodischen Verbeugungen vorlegte. „Sie kennen doch meine Tochter?“ wandte sie sich zu ihm, der nun vor lauter Ergebenheit begann, im Vierteltakt zu wackeln.
„Habe nicht die Ehre! Ehrt mich ungemein!“ Hilde bewegte kaum den Kopf.
„Ich muß dich sprechen, Mama“, sagte sie sehr bestimmt.
„Heute?“ fragte Frau Traute.
„Jetzt!“ erwiderte Hilde.
„Du bist naiv, mein Kind; ich habe, wenn Herr Eltzheimer fort ist, noch vier Konferenzen bis zum Lunch.“
„Was ich dir zu sagen habe, ist wichtiger als deine sämtlichen Konferenzen.“
„Das sagst du; frag’ mal Herrn Eltzheimer, der wird gewiß unsere Besprechung hier für wichtiger halten.“
Da Hilde ihr noch ernster schien als sonst, erschrak sie und fragte mit veränderter Stimme:
„Es hat doch geklappt heute?“
Hilde antwortete kurz: „Ja.“
Sie wußte nicht, daß der Priester seine ganze Willensstärke zusammenreißen mußte, als er ihr die brennende Kerze in die Hand gegeben und gesagt hatte:
„So leuchte dein Licht vor den Menschen, auf daß sie deine guten Werke sehen und deinen Vater preisen, der im Himmel ist.“
Dann war er mit Aufbietung seiner letzten Kraft hinausgewankt und draußen zusammengebrochen. „Zum Bischof!“ stammelte er beständig, als man ihn in sein Zimmer trug.
„Na also, dann ist ja alles in bester Ordnung und wir können die letzten Vorbereitungen für die Hochzeit treffen.“ Und wieder zu Eltzheimer gewandt, sagte sie:
„Meine Tochter ist heute nämlich zu dem Glauben ihres künftigen Mannes übergetreten.“
„Aber Mama, das interessiert den Herrn doch nicht.“
Eltzheimer widersprach: „Gewiß, gnädiges Fräulein, interessiert mich das.“ Es lag Selbstbewußtsein in ihm, als er fortfuhr: „Ich selbst bin auch zum Christentum übergetreten.“
„Sie?“ fragte Frau Traute und war erstaunt. „Warum denn Sie? Sind Sie Reserveleutnant?“
Er fühlte sich geschmeichelt, drückte unwillkürlich die Knie durch und zog die Schultern in die Höhe. „Doch nicht, gnädige Frau, aber mein Bruder.“
„Und darum haben Sie sich taufen lassen?“ fragte Hilde.
„Teils. Man hat sich damals genau nach der Familie erkundigt, und da meinte mein Bruder, daß es auf alle Fälle besser sei, daß ich auch überträte. Na, und dann: man hat ja auch so viel christliche Kunden, die nicht gern mit Juden zu tun haben.“
Hilde sah ihn verächtlich an, aber er verstand den Blick nicht.
„Und die jüdischen Kunden?“ fragte sie. „Die doch gewiß zahlreicher sind als die Christen“, ergänzte Frau Traute.
Eltzheimer lächelte verschmitzt.
„Zahlreicher?“ wiederholte er. „Neun Zehntel meiner Kunden sind Juden, wo wäre ich ohne sie; oder wenigstens getaufte Juden.“
„Und was sagen die dazu?“ fragte Hilde.
„Was soll’n se sagen?“ — er antwortete stets mit einer Frage, obgleich er getauft war, — „sie werden sich hüten, was zu sagen, denn sie wissen genau, morgen schon hält vielleicht en christlicher Kavalier um ihre Mitgift an und sie treten auch über.“
Das war für einen Mantelhändler möglichst ungeschickt, und Frau Traute wandte sich denn auch ab und begann wieder in den Vorlagen zu blättern.
„Aus Überzeugung also, meinen Sie, tritt selten jemand über?“ fragte Hilde.
Er grinste höhnisch, fast frech.
„Selten? — Den möchte ich sehen. Ja, vielleicht in Romanen; aber dann hapert’s auch immer mit der Begründung.“
„Immer?“ fragte Hilde ernst.
„Na, ich kenne keine Ausnahme. Und wenn wir ehrlich sind ... schließlich ist der jüdische Glaube doch wohl der vernünftigste.“
„Und mit der Auffassung sind Sie Christ geworden?“
„Warum nicht?“ erwiderte er durchaus nicht verlegen. „Was hat das mit der Auffassung zu tun? — Oder glauben Sie etwa ...“ er besann sich.
„Was?“ fragte sie kurz.
„Na, an den Blödsinn?“
„Welchen Blödsinn?“
„Na, an Gott?“
„Allerdings!“ sagte sie sehr entschieden und ärgerte sich, mit diesem Menschen so weit in ein Gespräch geraten zu sein.
Ironisch fragte er weiter:
„Vielleicht auch an den Sohn — und die Mutter — und die Tante?“ er vergaß ganz, wo er war und lachte laut über seinen Witz.
„Allerdings!!“ klang es jetzt fast wie eine Drohung aus Hildes Mund, „und ich finde, daß Sie ein ganz minderwertiger Halunke sind und sich schämen sollten!“
„Wa—a—as?“ fragte er ganz entsetzt. „Sie nennen mich einen Halunken, weil ich die Wahrheit sage und nicht heuchle wie die andern?“
„Gnädige Frau,“ wandte er sich an Frau Traute, „wollen Sie mich nicht gegen solche Insulten schützen, ich kann sonst unmöglich ...“
Und da Frau Traute selbst über die Ungeniertheit dieses Mantelhändlers, nicht etwa über seine Ansichten — die sie teilte — empört war und nicht reagierte, so trat er an den Tisch heran und begann seine Vorlagen zusammenzupacken.
„Dann muß ich freilich auf die Ehre verzichten, — — beschimpfen lasse ich mich nicht ... und ich muß sagen, ...“ er wandte sich wieder zu Hilde, „... Ihr Herr Bräutigam ist Offizier; nun, mein Bruder ist es auch, — und Offiziersehre ist eben Offiziersehre, ...“ er erwartete immer, daß sie einlenken würde, „... und wenn ich für meine Person“ — er dachte an das glänzende Geschäft, das ihm entgehen sollte, — „auch nicht so empfindlich wäre, so muß ich doch auf meinen Bruder Rücksicht nehmen.“ Er machte wieder eine Pause, sah fast bittend erst zu Hilde, dann zu Frau Traute hinüber. „Das schönste Blatt, gnädige Frau, liegt noch vor Ihnen; Sie werden in Berlin und Paris kein ähnliches Modell finden.“
„Es ist wahrhaftig schön“, sagte Frau Traute.
Eltzheimer strahlte. Er durchsuchte die schon zusammengerafften Blätter, entnahm eins: „Hier dies“, — und er zeigte es ihr hin, — „ähnelt, ist vielleicht noch aparter, aber weniger dezent.“
„Prachtvoll!“ rief Frau Traute. „Unvergleichlich! Hilde, sieh nur!“
„Danke, Mama, es interessiert mich nicht. Herr Eltzheimer ist gekränkt, und es macht ihm nur Ehre, wenn er seine Absicht ausführt und geht.“
Wie eine Wackelpuppe pagodete Eltzheimer jetzt zu Hilde.
„Ich bitte tausendmal um Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin. Ich war gewiß vorlaut; aber Sie dürfen sicher sein, daß ich aufrichtig bedaure ...“ er suchte vergeblich weiter nach Worten. Die Verachtung, mit der ihn Hilde ansah, entwaffnete und verwirrte ihn völlig.
Frau Traute kam ihm zu Hilfe:
„So lassen Sie doch die Entschuldigungen, Herr Eltzheimer; es war eben ein Unsinn von dir, Hilde, dich mit Herrn Eltzheimer, statt über Mäntel zu reden, über Religion herumzustreiten.
Eltzheimer lächelte und stimmte zu. Aber Hilde sagte sehr schroff:
„Entweder, Mutter, verläßt dieser Mensch jetzt auf der Stelle unser Haus oder ich gehe so lange, bis er fort ist!“
Frau Traute sah zu ihr hinüber. Sie erkannte sofort, daß hier nur ein schnelles Nachgeben eine Katastrophe verhindern konnte.
„Also, gehen Sie“, sagte sie zu Herrn Eltzheimer, der schnell und ängstlich seine Sachen zusammenpackte und aus einem freundlichen Blick der Frau Traute die Gewißheit las, daß man ihn bald wieder rufen werde. Er verbeugte sich fortgesetzt und verschwand dann, nicht ohne einen raschen Versuch zu machen, Hilde von ihrem Entschlusse abzubringen.
Als er draußen war, begann Frau Traute:
„Du benimmst dich manchmal so, daß man wahrhaftig an deinem Verstande zweifeln muß. Dieser Mensch kommt überall hin und macht dir einen schlechten Namen.“
„Was mich sehr kalt läßt, Mama.“
„Dann nimm auf mich Rücksicht; mir ist es durchaus nicht gleichgültig, wie die Menschen von dir sprechen. — Überhaupt, wo du siehst, wie ich mich von früh bis in die Nacht hinein nur für dich mühe, kann ich wahrhaftig verlangen ...“
„Du mühst dich für mich?“
„Für wen sonst? Wer heiratet, du oder ich?“
„Wer wünschte diese Heirat, du oder ich?“
„Du machtest diese Ehe notwendig und solltest dankbar sein, daß wir sie dir ermöglichen. Mit den unerhörtesten Opfern, die jemals Eltern ihrem Kinde gebracht haben.“
„Davon weiß ich nichts. Jedenfalls habe ich diese Opfer nicht verlangt, und verlange sie auch jetzt nicht.“
„Du hast gut reden. Meinst du, dieser Bosso heiratet dich deiner schönen Augen wegen? Oder gar aus Rücksicht auf euren gemeinsamen Freund Helldorf?“
„Mama!!“ rief Hilde empört. „Mit allen diesen Menschen habe ich von heute an nichts mehr zu schaffen.“
„Was soll das heißen?“
„Daß ich großjährig bin und nun allein über mich zu bestimmen habe.“
„Ich denke, daß es da nicht mehr viel zu bestimmen gibt. In vierzehn Tagen bist du Bossos Frau, und als solche scheint mir dein Weg ja ziemlich deutlich vorgezeichnet zu sein.“
„Ich habe dir doch eben erklärt, Mama, daß ich mit diesem Menschen von heute ab nichts mehr zu tun habe, — daß ich ihn nicht heirate, ihn überhaupt nicht wiedersehen werde.“
„Hilde!“ fuhr Frau Traute auf. „Um des Himmels willen! Du bist ja wahnsinnig!!“
Hilde blieb unverändert ruhig.
„Ich werde ihm heute noch schreiben — oder wenn er kommt, ihm sagen, — — daß ich mich von der Unmöglichkeit unserer Ehe überzeugt habe, und daß wir daher ohne Lärm und Feindschaft auseinandergehen wollen.“
Frau Traute machte einen völlig verzweifelten Eindruck; sie brachte kein Wort heraus; in ihrer Hilflosigkeit rang sie die Arme; ihr Kopf zitterte; fassungslos suchten die Augen umher, als fürchtete sie, daß ihr Kind im Wahnsinn sei.
Hilde sah das alles. Aber jeder Eindruck blieb aus.
„Auch werde ich euer Leben hier nicht mehr mitmachen. Unsere Wege sind zu verschieden, als daß wir auch nur nebeneinander hergehen könnten. — Darum — und es fällt mir nicht leicht, es dir zu sagen, — muß ich euch verlassen.“
Frau Traute hatte nicht mehr gehört, was Hilde sagte. Sie zwang sich zum Denken zurück. Diese Verlobung war ja kein Traum gewesen, keiner von den vielen Träumen, die sie jahraus, jahrein durchlebt; diese Verlobung bestand ja tatsächlich; sie war ja Ereignis, war Erfüllung. — Gewiß, sie hatte ja ihre Sinne beieinander, und die Hochzeit, die existierte ja nicht nur in ihrer Phantasie, die kam ja auch. So gewiß kam die wie der nächste Tag; und alles, alles war ja nun glücklich überstanden. Es war nicht leicht gewesen. Aber nun! Nichts fehlte mehr. — Und nun kam ihre Tochter! Nein!! nein!! Eine Caprice! Ein toller Einfall! Eine Überreizung! Und wenn sie jetzt nicht wollte, nun, dann mußte man sie zwingen. Aber womit? Einfach mit der Vernunft; das war ja doch der helle Wahnsinn. Man muß mit ihr reden.
Sie begann ihr alles klar zu machen. Die Notwendigkeit, den Glanz, den Neid der andern. Die ungeheuren Opfer, die gebracht waren; daß kein Mensch jemals glauben würde, daß sie nicht wollte. Die Blamage. Daß sie selbst sich nicht mehr über die Straße wagen könnte. Die Rücksichten. Die Möglichkeiten der Scheidung. Daß sie den Mann ja noch gar nicht kenne. Daß er sich noch ändern könne, als Mann vielleicht ganz anders wäre. Daß sie schon für alles sorgen würde. Daß man ja keine Kinder zu haben brauche. Daß man getrennt, und wenn es sein müsse, auch an verschiedenen Orten leben könne. — Sie überstürzte sich förmlich, warf sich dann vor Hilde auf die Knie, die sie umfaßte:
„Nur das, das tu mir nicht an! — Ich überlebe es nicht! — Laß deine Mutter nicht umsonst bitten — es wird das letztemal sein! Alles, alles, was du verlangst, soll geschehen! Nur das nicht! Das nicht!!“
Sie ließ ihre Knie los und sank erschöpft zu Boden. Sie schluchzte und stöhnte leise, bis sie in einen hysterischen Weinkrampf fiel.
Aber auch jetzt rührte sie Hilde nicht. Denn Hilde wußte, daß sie um nichts anderes als um den Zusammenbruch ihrer Jahrzehnte mühsam erkämpften gesellschaftlichen Stellung weinte. Das Glück ihres Kindes kümmerte sie nicht, und jede Lösung, auch auf Kosten dieses Glückes — war ihr willkommen, wenn nur der Schein gewahrt und der Skandal vermieden würde.
Als Frau Traute wieder bei Besinnung war, erzählte ihr Hilde ihre Pläne. Die Ruhe und Bestimmtheit, mit der sie das vorbrachte, empörte die Mutter, die gänzlich verzweifelt war und in der Tat nicht wußte, was sie beginnen sollte.
„So komm’ uns wenigstens so weit entgegen und heirate zunächst. Du kannst ja meinetwegen schon am nächsten Tage unter irgendeinem Vorwande deinen Mann verlassen. Dann ersparst du uns allen den Skandal und bist Frau Gräfin. — Wer weiß, wie du noch einmal deine Gesinnung änderst, bei deiner Jugend und deinem Temperament.“
Aber Hilde wies „dies Versprechen“ von sich:
„Keine Lüge mehr! Und gar vor Gott!“
„Der verfluchte Pfaffe hat dich vollkommen verhext! Du bist wie umgewandelt.“
„Du irrst! Der Grundton meines Wesens war das immer; mir fehlte bisher nur die Kraft und Klarheit.“
Frau Traute packte eine rasende Wut gegen den Priester:
„Warum hat man daran auch nicht gedacht, wo man doch weiß, daß diese katholischen Pfaffen, wo sie Geld wittern ... nicht eine Minute hätte ich dich mit diesem Heuchler allein lassen sollen.“ Sie zog das Taschentuch hervor und trocknete ihre Tränen. Schluchzend sagte sie: „Das ist ja der reine Raub! Diese Verführung! Du bist ja gar nicht mehr Herr deines Willens! Du mußt ja alles tun, was die wollen. Aber so leicht, wie die es sich denken, will ich es ihnen nicht machen! Gott sei Dank gibt es ja noch eine Presse; wenn alle Stränge reißen. — Du hast dich taufen lassen dieser Heirat wegen. Aus keinem andern Grunde wäre es dir sonst jemals eingefallen, katholisch zu werden. Und nicht, um dieser hungernden Kirche dein Vermögen in den Rachen zu werfen, das wir nach den Opfern jetzt weiß Gott besser gebrauchen können. Diese Ehe war stillschweigende Voraussetzung für deinen Übertritt. Das wußten sie alle! Wenn also diese Ehe nicht zustandekommt, dann besteht auch die Taufe nicht zu Recht. Das sollen sie sich gesagt sein lassen!“ Sie redete sich in großen Zorn. „Danke du Gott, daß du mich hast. Ich werde es nicht dulden. Ich will doch sehen, was der Bischof mir erwidert, wenn ich ihm mit der Presse drohe, ob sie den Kampf aufnehmen. Es ist doch noch sehr die Frage, wer den Skandal mehr zu fürchten hat: wir oder die Kirche.“
Vergebens versuchte Hilde in aller Ruhe, die Mutter davon zu überzeugen, daß sie dem Priester unrecht tue, daß es ihr eigenster und durch nichts beeinflußter Wille sei; daß ihr Entschluß feststehe, auch dann, wenn es ihr gelänge, den Bischof umzustimmen.
Frau Traute erkannte, daß sie keine Stunde zu verlieren hatte; sie bestellte ihr Automobil, und fuhr in das Hospiz am Zentrum, in dem der Bischof abgestiegen war.
Zwei Weltanschauungen standen sich gegenüber. Nach wenigen Minuten schon verließ der Bischof das Zimmer. „Was sind das für Menschen!“ sagte er auf dem Flur und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Und er beschloß in dieser Stunde, sich Hildes mit ganzer Liebe anzunehmen und sie mit besonderer Nachsicht und Güte zu behandeln.
Die Ereignisse drängten sich an diesem Tage.
Graf Bosso mühte sich auf dem Wege zu Hilde in die Rolle des Liebhabers, der nach wochenlanger Trennung endlich wieder zu seiner Braut zurückkehrt. Er war entschlossen — und dieser Entschluß war ihm nicht leicht gefallen — diesmal Hildes Order: kein Pathos, zu durchbrechen und mit der ganzen stürmischen Leidenschaft, die ein guter Wille und eine eilig heruntergegossene Flasche Clicquot aufzubringen vermochten, das Wiedersehen zu feiern.
Aber die eisige Ruhe, mit der ihm Hilde entgegentrat, entwaffnete ihn. Ein förmlicher Kuß auf die Hand war alles, und das unverkennbare Lächeln Hildes, die seine Absicht sofort erkannt und sie mit Talent und Takt vereitelt hatte, stimmte ihn fröhlich.
Sie bot ihm einen Sessel und setzte sich zu ihm.
Wie am ersten Tage! dachte Bosso.
„Ich freue mich, Bosso, daß du gekommen bist.“
Er lächelte und dankte.
„Ich habe heute früh das Sakrament der Taufe empfangen.“
Er wollte sich erheben, aber sie hinderte es.
„Dafür danke ich dir, und zwar von ganzem Herzen. Denn während ich vorher unsicher war und unzufrieden und mit einer Leere im Herzen herumging, die mich traurig und trostlos stimmte, bin ich jetzt innerlich gefestigt und ruhig, und stehe auch dir jetzt mit ganz andern Gefühlen gegenüber als früher.“
Bosso verneigte sich leicht.
„Laß mich ganz offen sein. Erst fand ich dich lächerlich ...“
Bosso sprang entsetzt auf. Ein gütiger Blick Hildes, und er setzte sich wieder.
„... dann, als ich dich genauer sah, habe ich dich verachtet ...“
Abermals versuchte Bosso aufzuspringen; da aber Hilde nicht darauf achtete, so ließ er es.
„... machen wir uns nichts vor. Ich habe dir die Tür gewiesen, aber das hat weder dich noch mich daran gehindert, daß wir uns fünf Minuten später in den Armen lagen und verlobten. — Armer Kerl! — Wie weit mußte es mit dir gekommen sein, daß du dich zu diesem zweifellos schweren und letzten Entschluß aufgerafft hast.“
Bosso senkte den Kopf.
„Ich bin sicher, daß du alles erwogen hast, und daß es der letzte Ausweg war.“
„Ich leugne es nicht“, sagte er leise.
„Siehst du; das mildert es vielleicht! Aber es spricht nicht frei. Eine Lumperei bleibt es auf alle Fälle. Ob nun die Kugel das Richtige war, — ich weiß es nicht. Ich kenne eure Ehrbegriffe wohl, aber ich verstehe ihren Sinn nicht. Doch das liegt wohl an mir. Manierlicher als das“ — und sie wies auf sich, — „wäre es ja gewiß gewesen.“
Bosso fuhr sich mit der Hand übers Gesicht; er schämte sich.
„Fehlte dir aber dazu der Mut, oder gar die Notwendigkeit, warum bist du dann nicht dahin gegangen, wohin du mit deinem Jammer gehörtest: zu deinem Priester? Warum hast du ihm nicht gebeichtet? Ich kenne jetzt deinen Bischof; der Weg wäre nicht umsonst gewesen, und du wärst jetzt ein anständiger, innerlich fester Mensch; irgendwo und irgendwie, gleichgültig als was, und niemand dürfte dir heute Dinge sagen, wie ich es tue und wie es außer mir jeder andere genau mit demselben Rechte tun könnte.“
Bosso widersprach; aber Hilde wiederholte und unterstrich: „Genau mit demselben Rechte! Und dies Recht bliebe auch bestehen, wenn du mit der Pistole Rechenschaft fordertest. Was nützte dir das? Vor Gott und dir selbst setztest du dich damit ins Unrecht, und darauf allein kommt es an.“
Er widersprach nicht mehr; er fühlte, daß sie im Rechte war.
„Du zogst es vor, dir durch eine beispiellose Niedertracht die Möglichkeit zu schaffen, dies verfehlte Leben weiterzuführen. Glücklicherweise bist du auf mich verfallen! Dir zum Glück! Denn dadurch nur begingst du nicht die Sünde, genau wie du dein Leben zerstört hast, so auch noch das Leben eines anderen, unschuldigen und unwissenden Menschen zu zerstören, der dir vielleicht geglaubt und dich mit der Hoffnung auf ein Glück geheiratet hätte. Und dies schwerste aller Verbrechen, das schwerer ist als Mord — denn du hättest Schritt für Schritt die Seele dieser Ärmsten getötet — war auf Erden nicht mehr gut zu machen. Du warst auf bestem Wege, es zu begehen. Dank deinem Gott auf Knien — ja, danke ihm! — daß du an mich geraten bist. An eine Sünderin, an der es wenig mehr zu verderben gab, die wenig noch zu verlieren hatte, die aber doch noch stark genug war, alles zu gewinnen.“
Hilde stand auf. Ihre Augen leuchteten. Sie trat vor ihn hin.
„Ich habe alles gewonnen! Gott hat deine schlechte Tat zum Guten gewendet. Sieh mich an und erkenne seine Güte!“
Bosso war wie betäubt. Er kam sich klein und schlecht vor. Aber wer griff denn nicht in seiner höchsten Not zum Äußersten? Warum hatte zuvor nie jemand so mit ihm gesprochen? Niemand, der es gut mit ihm meinte. Warum waren es alle Banditen, die ihn umgaben? Von früh an hatten sie ihn, der ja nie stark im Willen war, auf falsche Wege gebracht, ihn ausgesaugt, bis der letzte Ausweg versperrt war. Dann hatten sie ihm eine Schlinge angelegt, die sie festzogen, sobald er nicht das tat, was sie wollten. So war es gewesen bis zuletzt.
„Also, Bosso“, sie trat ganz nahe an ihn heran. „Sehen Sie hier,“ — und sie wies auf sich, — „das ist das erste Gute, was Sie gewirkt haben. — Ich habe mit Ihrem Onkel gesprochen,“ — Bosso erschrak, — „er ist weit aufrichtiger als Sie. Bedauern Sie’s nicht! Sie wissen, Ihre Schulden sind bezahlt, und sollen’s bleiben; auch das Gut Ihres Onkels ist schuldenfrei. Sie ziehen nun Ihre Uniform aus und bewirtschaften es mit dem alten Herrn gemeinsam. Das war ja wohl auch Ihr Wunsch, wenn die Verhältnisse andere gewesen wären. Und das Verlöbnis, nicht wahr, das lösen wir in diesem Augenblicke ebenso feierlich auf wie wir es begonnen haben, nur freier und froher, — das klingt wie ein Roman, — und ist doch Wirklichkeit“, setzte sie nachdenklich hinzu.
Sie reichte ihm die Hand; Bosso stand auf, und er spürte zum ersten Male etwas wie Rührung und eine große Dankbarkeit. Er hatte solche Regungen nie gekannt und erschrak über die Bewegung, in der er sich befand. Er quälte sich, etwas zu sagen, aber Hilde befreite ihn.
„Sagen Sie nichts! — Gehen Sie zum Bischof, dem danken Sie. Versprechen Sie es mir.“
Er drückte ihr nur die Hand; aber sie fühlte, daß es sein erster Weg sein würde.
Jetzt beginnt für mich ein neues Leben, dachte Bosso, als er aus dem Hause trat. Ich wußte ja nicht, daß es das gibt!
„Diese Hilde!“ sagte er vor sich hin; immerfort. Und als er beim Bischof war und dort den dicken Strich unter sein altes Leben machte, begann er die Beichte des neuen Lebens mit dem Geständnis, daß er sie liebe.
„Das ist keine Sünde“, erwiderte der Bischof und legte, nicht ohne ein leises Lächeln, beide Hände auf seinen Kopf.
„Lebe so, daß du immer ihrer Liebe würdig bist, dann werde ich um dich und deine Fahrt keine Not leiden.“
Frau Traute war vom Bischof aus in vollem Aufruhr in das Bureau ihres Mannes gefahren. Sie achtete nicht auf die Leute, die bei ihm waren, sondern stürzte keuchend an seinen Schreibtisch und schrie nach der Polizei. Sie tobte und schrie, daß alle sich entsetzten. Sie ist wahnsinnig, die Ärmste, sagten sie sich. Aber Behr, der diese Szenen von Hause her kannte, und für den die wenigen Stunden im Bureau daher die einzige Erholung waren, raffte seine letzte Energie zusammen und schob Frau Traute in das Nebenzimmer. Dann bat er die Herren, in einer Stunde wiederzukommen, ging zu seiner Frau und schloß hinter sich die Tür.
Vor dieser völlig ungewohnten Selbständigkeit ihres Mannes erschrak Frau Traute.
„Entweder du setzt mir in Ruhe auseinander, was geschehen ist, oder ich lasse dir hier ein paar Stunden Zeit, dich zu beruhigen. Wenn du dann so weit bist: da ist die Glocke; ich warte unten.“
Behr hatte kurz vorher Inventur gemacht. Die Ausgaben der letzten Monate, die zum mindesten zweifelhaften Darlehen an die neue Familie, die Schulden Bossos, die Anschaffungen und Feste mußten ihn auf die Dauer zu einem armen Manne machen. Noch ein paar Jahre in diesem Stile und er war ruiniert. Und er empfand zum ersten Male eine Abneigung gegen jene Frau, in der er, je länger er nachdachte, um so deutlicher seine Feindin sah, die ihn nur des Geldes wegen geheiratet hatte, und ihn nun ruinieren wollte.
Frau Traute wußte nicht recht, was sie von dieser Veränderung im Wesen ihres Mannes zu halten habe.
Im übrigen dachte sie: nur um so besser, wenn er wirklich einmal Energie zeigt, vorausgesetzt natürlich, daß er sie am richtigen Orte anwendet. Sie beherrschte sich also so gut es ging und erzählte ihm dann die ganze Geschichte vom Beginn an, wobei sie sich natürlich abermals stark erregte.
Und als Behr seine Empörung, die außerordentlich war, dadurch unterdrückte, daß er die Schultern in die Höhe zog, die Finger spreizte und gleichgültig, fast höhnisch sagte:
„Nun und — wundert dich das etwa? — Mich nicht, — so mußte es doch kommen!“
Da war es mit Frau Trautes Fassung völlig zu Ende. Sie überschlug sich fast in ihrer Erregung, so laut und schnell stürzte ein Wort aufs andere.
Behr schrie dazwischen, griff nach dem ersten besten Stuhl, den er so lange auf den Boden schlug, bis er kurz und klein war, und dazu schrie er taktmäßig:
„Ruhig! Zum Teufel ja! Ruhig!“ Und als ihm Frau Traute in völlig derangiertem Zustande zurief:
„Was glaubst du denn, warum ich dich, du Prolet, geheiratet habe?!“
Da ergriff Behr das vor ihm liegende schwere Hauptbuch, riß es in die Höhe und brüllte:
„Hier! Da steht es! Um mich auszusaugen!! — — Ich habe mir lange genug von dir imponieren lassen! Das hat jetzt ein Ende!“
Frau Traute erkannte, daß sie ihre Lage nur verschlechtert hatte. Aber in diesem Augenblick zu Zärtlichkeiten überzugehen, schien ihr selbst diesem Manne gegenüber zu plump. Und wie sah sie aus! Sie wußte, daß die Wut sie entstellte und häßlich machte, daß sie ihn abstieß in diesem Augenblick. Daß, wenn hier überhaupt noch etwas zu retten war, nur die äußerste Energie helfen konnte.
„Du wirst mit Hilde sprechen!“ sagte sie bestimmt.
„Fällt mir nicht ein!“
„Du wirst! Ich verlange es!“ Sie trat nahe an ihn heran.
„Gut!“ antwortete Behr. „Aber erst sage mir, ob es noch einen Zweck hat, nachdem du dich hier“, — und abermals hielt er das große Buch in die Höhe, — „davon überzeugt hast, daß ich ruiniert bin.“
Frau Traute glaubte, sie rühre der Schlag. Sie wankte bestürzt und verblüfft einige Schritte zurück:
„W—a—a—as?“ kreischte sie und sofort war das Bild dieses Menschen für sie ein völlig verändertes. Bisher hatte sie in ihm den Träger eines großen Vermögens gesehen, und ihre Gefühle zu ihm waren etwa die eines Menschen, der am Gelde hängt, einem gefüllten Geldschrank gegenüber: eine behagliche Sicherheit, Achtsamkeit und das Bedürfnis, ein einem jeden Dritten sichtbares Verhältnis zwischen seinem Inhalt und der eigenen Person herzustellen. Nun, wo er leer war, konnte sein Anblick nur Ärgernis bereiten und zum Spotte reizen.
„Und das sagst du mir so frech ins Gesicht!“ schrie sie ihn an. „Erbärmlich! Wenn es wahr ist!“
„Es ist wahr! Noch zwei Jahre so fort, und wir müssen uns in aller Bescheidenheit irgendwohin zurückziehen und können froh sein, wenn wir noch eine kleine Rente retten.“
Frau Traute fiel in ein hysterisches Lachen.
„Ich mich zurückziehen; es ist prachtvoll! Vielleicht nach Südende oder Hermsdorf! Mit einer kleinen Rente und mit dir!! Ausgerechnet mit dir! — Es ist zum Heulen komisch, dieser Gedanke; so verrückt komisch, daß man ihn tatsächlich ausführen müßte. — Das habe ich mir immer einmal gewünscht! Nur habe ich nie den passenden Mann dazu gefunden. Aber nun! ...“ — ihre höhnische Stimme klang widerwärtig — „mit dir, mein Schatz, da ist das natürlich etwas ganz anderes.“ Sie sah verächtlich zu ihm hinüber. „Ein feiner Reinfall war das! Das also war die ganze Herrlichkeit! Dafür habe ich mich drei Jahre lang mit dir herumgeschleppt und mit dir“ — sie verzog vor Ekel den Mund und spuckte aus — „Pfui Deibel! Du hast dich die Sache nicht viel kosten lassen. Aber du irrst, wenn du dir einbildest, daß ich einen Tag auch nur länger mit dir zusammenbleibe, als dein Geld reicht.“
„Und ich erkläre dir, daß wir von heute ab von unsern Zinsen leben und keinen Pfennig mehr vom Kapital anrühren.“
„Darf man die Höhe dieser Zinsen erfahren?“
„Gewiß, dreißigtausend Mark.“
„Monatlich?“
„Jährlich.“
„Köstlich! Ich sage ja, Hermsdorf; vier Zimmer und Küche, eine Schneiderin im Gartenhaus und zum Abendbrot belegte Brote.“
Sie schüttelte sich, als ob sie etwas Verdorbenes im Munde habe und wehrte mit der Hand ab:
„Für dich, mein Lieber, — zu dir mag das passen. Ich danke!“
Auf Behr, der gewiß wenig empfindlich war, wirkte dieser Auftritt so abstoßend, daß jede tiefere Regung für Traute, die ihn bisher bei jedem Streite schließlich doch immer wieder zur Versöhnung trieb, endgültig ausblieb. Was er wünschte, war ein schnelles Ende.
„Daß du dich vor dir selbst nicht schämst, Traute!“ sagte er ohne Härte.
„Ich mich schämen? Ja bist du toll? Vielleicht, daß ich so leichtsinnig war, dir zu glauben; da magst du recht haben. Ich wußte eben nicht, daß es auch Hochstapler gibt, die wie Trottel aussehen.“
„Du weißt ja nicht, was du sprichst“, und mit erhobener Stimme sagte er: „Ich hatte fünf Millionen, als ich dich kennen lernte.“
„Und der Amerikaner, den ich deinetwegen aufgab, hatte hundert.“
„Und war ein notorischer Lump.“
„Wer?“ fragte Frau Traute.
„Nun, dein Amerikaner. Du hast mir ja selbst erzählt, auf welche Weise er sein Vermögen erworben hat.“
Frau Traute wies mit dem Zeigefinger auf die Stirn.
„Mir scheint, du bist nicht gescheit. Er hatte hundert Millionen, sage ich dir; wo die herkamen, ist gleich. Hundert Millionen, das heißt fünfundneunzig Millionen mehr oder zwanzigmal so viel als du, und soll ein Lump gewesen sein? Oh nein! Er hatte seine Yacht und verkehrte mit dem Großfürsten Wladimir; ich habe sie mehr als einmal in Monte Carlo im Hotel de Paris zusammen dinieren sehen. Er war ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, der sich geniert hätte, mit dir an einem Tische zu sitzen.“
Behr machte der Unterhaltung nun rücksichtslos ein Ende. Er sagte Frau Traute manches, was sich im Laufe der Zeit an Zorn und Unwillen bei ihm angesammelt hatte. Er rechnete ab. Aber Frau Traute, für die ihr Mann jetzt nichts anderes mehr als ein Dienstbote war, für den man einen Grund zur Kündigung suchte, tobte wie rasend. Sie vernichtete den letzten Eindruck, und auch die Erinnerung an die wenigen Stunden in früherer Zeit, in denen Behr auf ihrer Seite an eine Neigung glauben durfte, zerstörte sie. Sie erzählte ihm von der Überwindung, die sie jedes Zusammensein mit ihm gekostet und von den schönen Stunden, die sie erst gestern mit anderen verbracht hatte.
An diesem Abend kehrte Behr, der nach langer Zeit zum ersten Male wieder das Gefühl hatte, als könne er wieder frei atmen, nicht mehr in seine Wohnung zurück. Er suchte seinen Anwalt auf, der schon am nächsten Tage die Klage auf Scheidung einreichte. Und Frau Traute erhob Widerklage. Doch schon nach wenigen Tagen sehnte sich Behr nach ihr zurück. Und diese Sehnsucht machte ihn krank. Er suchte, sich ihr wieder zu nähern auf alle mögliche Art; aber sie wollte „von dem Bettler“ nichts mehr wissen.
Es war noch keine Woche vergangen, da nahm Behr Gift und starb. Er konnte ohne sie nicht leben. Den Rest seines Vermögens vermachte er ihr und die Blätter meldeten, daß der bekannte Millionär Behr sich durch unglückliche Spekulationen ruiniert und aus diesem Grunde Selbstmord begangen habe. Und das Mitleid, das man mit Frau Traute empfand, war allgemein.
Bosso war kaum die Treppe herunter, als Hilde die Miß und ihre Zofe rief, die nun ununterbrochen zehn Jahre um sie waren. Wenn diese beiden auch die einzigen waren, die Hilde kannten, und in ihrem Wesen längst eine Veränderung sahen, so fiel es ihnen doch schwer, ihr jetzt zu folgen, als sie ihnen klar und knapp die große Wandlung erzählte.
Die Miß war begeistert. Sie zweifelte keinen Augenblick, daß ihr Vorbild und ihre Frömmigkeit auf Hilde entscheidend gewirkt hätten. Nur die Tätigkeit, die Hilde ihr für die Zukunft in Aussicht stellte, behagte ihr wenig. Die Pflege armer und verwaister Kinder, die man zum großen Teile nicht einmal nach ihren Vätern fragen durfte, war kein Wirkungskreis für sie, die an Etikette und manicurte Finger gewöhnt war. Die Frömmigkeit war ja gewiß etwas sehr Schönes, aber es genügte wohl, wenn man sie persönlich pflegte, und nirgends stand, daß man zu einer höheren Seligkeit eingehen werde, wenn man auch anderer Leute Kinder beten lehrte.
Diesem Gedanken gab sie Ausdruck; etwas verändert freilich; milder und voll Schonung, da sie den heiligen Eifer Hildes sah. Aber Hilde fühlte doch deutlich, daß diese Miß nicht viel anders war als die meisten, die — gleich, ob sie Juden oder Christen waren, — Frömmigkeit heuchelten oder — die letzte Neuheit! — mit ihrem Unglauben prahlten und jeden gläubigen Menschen für einen Dummkopf hielten. Am meisten schmerzte sie, daß der Glaube dieser Miß am Ende nichts anderes als Egoismus war, und daß sie dabei, — ohne ein inneres Zerwürfnis, — doch aller Gnaden der Kirche teilhaftig wurde. Also war es möglich — folgerte sie — das Gebot der Kirche, das den tiefsten Inhalt hatte, zu mißachten und ohne seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, doch ein guter Christ zu sein.
Dies war der erste Zweifel — ob ihn der Priester beseitigen werde? — Und wenn nicht? Aber er wird. Damit beruhigte sie sich für den Augenblick und gab der Miß die Hand.
„Dann müssen wir uns heut schon trennen, Miß; es fällt mir schwer.“
Und Miß, die längst eine neue Stellung in Aussicht hatte, heuchelte Rührung.
„Und Sie, Emma?“ wandte sich Hilde an die Zofe.
„Ich bin Protestantin, gnädiges Fräulein.“
„Ja, und?“
„Sie dürfen es mir schon nicht übelnehmen, Fräulein Hilde; aber das paßt dann wohl nicht. Überhaupt, wenn schon ein Pfaffe dabei ist, — ne, wirklich. Ich dachte es mir ja sehr schön, bei Ihnen zu bleiben, wenn das mit der Ehe geworden wäre, aber wenn’s denn so is, dann geh’ ich lieber.“
„Ich will Sie nicht halten; vielleicht haben Sie recht.“
Sie ließ sich ihre Sachen bringen, stieg ins Auto und fuhr zum Priester.
Statt seiner alten Mutter, die Hilde sonst regelmäßig mit großer Güte empfing, öffnete heute der Kirchendiener. Er teilte ihr mit, daß der Priester seit mehreren Stunden schon beim Bischof sei, — daß er am Vormittage nach dem heiligen Akte in der Kirche einen schweren Ohnmachtsanfall gehabt, — daß er die ganze vergangene Nacht in der kleinen Kapelle mit Beten zugebracht, — und daß er seit gestern nachmittag nichts mehr gegessen und mit niemand eine Silbe gesprochen habe. Er sähe entsetzlich aus, und niemand wisse, was sich ereignet habe.
Hilde war einer Ohnmacht nahe. Ihr war es keinen Augenblick zweifelhaft, daß sie die Ursache von allem war.
Er liebt mich! — Sie fuhr vor Schreck zusammen, als sie sich bei diesem Gedanken ertappte. Aber sie wiederholte ihn sich; erst einmal; und dann verließ er sie nicht mehr. Aber er wehrt sich dagegen. Er kämpft! Weil die Kirche ... sie hielt inne; wagte nicht weiter zu denken.
Alles trieb sie zum Bischof; da war er, und sie sprachen von ihr. Und sie war froh darüber, denn sie wußte, daß der alles verstand. — Aber freilich; die Kirche! Die verbot ja die Liebe, — ihm wenigstens verbot sie sie — andern war sie eine Offenbarung. Und manch einer, den das Leben vom Wege abgebracht hatte, fand, wenn die Liebe kam, zu Gott zurück. — Kann aber eine schlechte Tat jemals Gutes wirken? Und wenn wir denn vor Gott alle gleich sind, kann es da einen Unterschied machen, wer sie begeht? Ein ganz bestimmtes Gefühl trieb sie zum Bischof. Sie sah im Geiste, wie man in diesem Augenblicke Folianten auf Folianten häufte, und alle Kirchenbücher von vorn bis hinten durchsuchte, um etwas Gedrucktes zu finden, nur etwas Gedrucktes, das irgendeine Ähnlichkeit mit diesem Falle aufwies. Lag es auch Jahrhunderte zurück, und hatten sich die Menschen inzwischen auch noch so verändert: da stand es; und da es Jahrhunderte lang da gestanden hatte, so bestand es zu Recht und bewahrte seine Geltung bis zum jüngsten Tage.
Wie, wenn sie sich zwischen die toten Folianten drängte? — Wenn statt des vergilbten Papiers und der verblichenen Druckerschwärze ihr Herz sprach und Gott zum Zeugen dafür anrief, daß auch in dieser Liebe, die sich ganz nur in den Dienst des Herrn stellte, das Wort seines Sohnes erfüllt sei.
Als sie eben zur Tür hinauswollte, trat ihr die alte Mutter des Priesters entgegen. Um Jahre gealtert seit gestern. In den zitternden Händen hielt sie krampfhaft einen großen Bogen, den sie immer von neuem unter die dicken roten Augen schob und dann mit trostloser Gebärde zusammenfaltete.
Sie schluchzte laut und so tief aus dem Herzen, daß der ganze Körper in zuckender Bewegung war.
Als sie Hilde sah, stürzte sie auf sie zu und schloß sie mit letzter Kraft in ihre Arme.
„Weinen Sie mit mir, armes Kind! Weinen Sie!“
Hilde legte automatisch die Arme um ihre Schulter. Ihr war es, als griffe sie jemand an der Kehle, schnürte sie mit spitzen Fingern fest zu, bis ihr der Atem stockte. Sie wollte fragen: was ist; aber sie brachte kein Wort heraus.
Die alte Frau fühlte, wie Hildes Blut stehen blieb. Sie strich ihr sanft über das Haar:
„Sprechen Sie nicht, Kind, weinen Sie.“
Wieder knitterte die knochige Hand das Blatt, das schwer von vielen Tränen war, und rief:
„Das ist das letzte, was mir von ihm übrig bleibt.“ Und mit gedämpfter Stimme, die wie aus weiter Ferne klang, setzte sie hinzu: „Er läßt sich lebendig begraben.“
Hilde blieb regungslos in ihren Armen.
„Er geht in ein Kloster.“
Dann sprachen beide kein Wort mehr. Ihr Schmerz einte sich und ihre Herzen weinten so laut, daß man ihr leises Wimmern hörte, das wie die Stimme quälender Träume klang.
Es gibt nur einen, Rodin, der diesen zu Stein gewordenen Kummer, in dem die beiden Frauen ineinander wuchsen, fühlen kann, der die Tränen kennt, welche die Seele weint; Tränen, die das Auge nicht sieht, die zum Herzen fließen und den Schmerz verhärten statt ihn zu lösen.
Es war schon dunkel, als plötzlich die alte Frau die Türen aufriß und mit einer Stimme, die vor Zorn zitterte, die Leute im Pfarrhause zusammenrief. Die verehrten die Mutter des Priesters, obschon sie wußten, daß sie Protestantin war, wegen der Liebe, mit der sie an allem, was die Hausgenossen anging, Anteil nahm. Diese Stimme hatten sie nie gehört, waren bestürzt und eilten herbei.
Sie stellten sich im Kreise um sie herum und sahen entsetzt und erstaunt, daß in ihren Augen, die sonst gütig und ergeben blickten, Wut und Haß lag, und daß der sonst weiche und milde Ausdruck ihrer Züge plötzlich streng und starr geworden war.
Sie hielt das Blatt in die Höhe und schrie:
„Ihr seid alle Katholiken, he!?“ — sie sahen sich erstaunt an und schwiegen.
„Oder nicht?! — Schämt ihr euch etwa? Warum antwortet ihr nicht? — Seid ihr’s oder seid ihr’s nicht?“
„Ja. — Wir sind’s. Gewiß“, klang es zur Antwort.
„Und den Priester hier, meinen Sohn, den liebt ihr doch? — nicht wahr? Ihr habt es mir oft genug gesagt, ohne daß ich euch danach fragte.“
„Aber ja. — Von ganzem Herzen“, und ein paar Weiber fielen auf die Knie.
„Und glaubt ihr, daß euer Priester jemals eine Sünde gegen Gott begehen wird?“
„Nein! — Nein!“ klang es laut und klar wie aus einer Stimme. „Entsetzlich!“ rief der eine; „was soll das?“ schrie empört ein anderer und ballte die Fäuste. Alle kränkte die Frage.
„Glaubt ihr, daß euer Priester ein Herz hat?“
„Ja!“ schrien einige. „Sie ist toll! — Was wird das? — Wo soll das hinaus?“ ...
„Ein Herz wie das eure?“
„Besser! — Tausendmal besser!“ war die Antwort.
„Und glaubt ihr, daß euer Gott in seiner Gerechtigkeit und Güte allen Menschen das gleiche Herz gab oder dem einen ein gutes und dem andern ein böses?“
„Gott hat alle Menschen gleich geschaffen! — Gott ist gerecht! — Was wollt Ihr?“ klang es ungeduldig und bestimmter.
Jetzt nahm sie Hilde, die noch immer unbeweglich stand, an der Hand.
„Wißt ihr, wer das ist? Nehmen Sie den Kopf hoch, Kind.“
Hilde gehorchte, und sie sahen in ein vor Schmerz verzerrtes Gesicht, aus dem in tiefstem Jammer zwei große Augen starr und trostlos blickten.
„Ja!“ riefen sie. „Was fehlt ihr? — Sie ist unser! — Sie gehört zu uns! — Die Ärmste! — Was hat man ihr getan?“
„Sie ist die beste und frömmste Seele unter euch.“
„Wir wissen’s!“ riefen einige Frauen.
„Sie hat ihre reichen Eltern verlassen, ihrem Glauben zuliebe. Sie hat den Grafen Arenstorff, dessen Frau sie dieser Tage werden sollte, abgewiesen, weil sie fürchtete, Gott dann nicht mit ganzer Hingebung dienen zu können. Als sie aber den Mann sah, der groß und fromm war und ihrer würdig, und dem sie vertrauen durfte, da hatte sie ihm ihr großes und reines Herz erschlossen; mit ihrem ganzen Vermögen wollte sie armen und verwaisten Kindern eine Heimat schaffen. Mit dem Manne zusammen, den sie der Reinheit seines Glaubens wegen liebte, sollte ihr Leben ganz nur diesen Armen gehören, die sie mit der Liebe der Mutter, die ihnen fehlte, umgeben, und die sie lehren wollte, das Leben mit all seinem Leid zu tragen und Gott zu lieben.“
Die Leute rissen die Mäuler auf und starrten Hilde an, als ständen sie vor einer Heiligen.
Die alte Frau sprach das alles leise und fuhr fort:
„Und den frommen Mann rührte soviel Liebe und Güte. Er prüfte sein Herz und sein Gewissen und fand, daß auch er sie liebte. Er kannte Gott ...“
Sie machte eine Pause. Allen war, als säßen sie in der Kirche, wo man ihnen ein Kapitel aus dem Leben einer Heiligen las. — Ihre Stimme wurde lauter und sie fragte:
„Glaubt ihr, daß Gott Wohlgefallen an einem Bunde hätte, den zwei Menschen schlössen wie diese? Deren Seelen von gleich starker Liebe zu Gott erfüllt sind und die nichts anderes wollen als ihm dienen?“
„Das glauben wir! — Das wissen wir! — Sie sind barmherzig und hätten die Seligkeit! — Der heilige Karl Boromäus! — Johannes 1,3! — Das ist die Liebe in der Tat und Wahrheit!“ Wild schrien sie durcheinander.
Jetzt reckte sich die alte Frau in die Höhe, und es klang wie Empörung und Haß, als sie rief:
„Aber seht sie euch an! Eure Heilige! Er hat sie verlassen, ohne ein Wort! Ohne einen Trost! Ist davongelaufen, mitten in der Nacht. Wie ein Dieb hat er sich fortgeschlichen!“
Da geriet das religiöse Empfinden aller in rasende Bewegung; es war aufgepeitscht wie nach einer asketischen Predigt, die zum Kampfe rief gegen den Feind der Kirche.
„Es ist der Teufel!“ schrien die Weiber, denen Hilde in diesem Augenblicke zur Heiligen wurde.
„Packt ihn!“ schrien die Männer, und die Wut tobte in diesen Menschen. Sie rasten. Ihre Stimmen wuchsen und es rollte wie aus tausend Kehlen: „Elender!“
Die Frauen, die am Boden knieten, sprangen auf.
„Der Teufel! Der Teufel!“ dröhnte es immer lauter.
Drohend reckten Männer und Weiber ihre Fäuste in die Höhe; und diese Menschen, so leicht erregbar für ihren Glauben, waren in diesem Augenblicke zu allem fähig.
So wuchs die Woge ihrer Empörung, die anfangs ruhig dahinglitt, zu einer finsteren Macht gepeitscht, turmhoch an; und als sie ihre Höhe erreichte und für einen Augenblick stillstand, um dann in schäumender Wildheit herabzustürzen, als der Sturm ihrer Entrüstung wie eine Windsbraut heulend durch den Raum schoß, schrie die Alte mit scharfer, schneidender Stimme:
„Und damit ihr wißt, wer es ist, den ihr verflucht, so hört:“ — Totenstille; — aber die Fäuste blieben geballt, und unverändert der Ausdruck der Gesichte; — und sie schmetterte es gellend heraus:
„Euer Priester!“
Und im ganzen Raum setzte es sich wie ein leises Schwingen in der Luft, wie der leichte Hauch eines mehr noch empfundenen als gehörten Echos fort:
„Euer Priester!“
Kroch die Wände entlang und füllte die Luft; und mit jedem Zuge — wehrte man noch so sehr — atmete man ein: Euer Priester! Und es legte sich schwer auf die Brust und drückte wie Blei auf die Glieder. Frauen fielen zu Boden, schwer und fest wie Holz, suchten vergebens ein Kreuz zu schlagen: Arme und Hände kamen nicht in Bewegung.
Und in diese Spannung, die alle Glieder und Gedanken bannte, floß hell und schnell wie der Wahnsinn das Lachen der Alten:
„Ha, ha, ha! Ein feiner Glaube, das! Der euch mit eurem Gott oder mit eurem Priester in Konflikt bringt — he? — so entscheidet euch doch für den einen wider den andern! — Aber bedenkt, daß es der Bischof war!“
Bei dessen Nennung trat die erste Bewegung in die Menge; zwar kaum merklich, aber einige Männer streckten die Köpfe nach vorn und flüsterten: „Ah!“ —
„Der euren Priester zu diesem Schritt, — aber was sage ich, zu diesem Verbrechen angestiftet hat!“ — Die Bewegung nahm zu; man hörte leises Murmeln und Brummen; eine Frau rief: „Jesus, Maria und Joseph!“ und schlug ein Kreuz. —
„Und eurem Priester, bei dem euer aller Seligkeit ruht, fehlte das Herz, um sich gegen diesen verbrecherischen Bischof aufzulehnen! Aber hört ihn selbst:“ — sie entfaltete das Blatt und las mit gehobener Stimme: „Ich bin unter der Last dieser sündigen Liebe zusammengebrochen und folge mit reuigem Herzen dem Verdikt des Bischofs, das mich ins Kloster weist. — Dir gegenüber aber, geliebte Mutter, darf der Priester Mensch sein, und so komm denn und nimm dein gequältes Kind in deine Arme und laß es an deinem Herzen die Tränen um ein Glück weinen, das es dem mit soviel Seelenpein erworbenen Glauben opfern muß. Frage mich nicht, warum dies Opfer, denn ich weiß dir keine Antwort ... so sündig ist mein Herz.“
„Wißt ihr, warum?“ schrie sie laut. „He! Warum schweigt ihr? Sind eure Herzen etwa auch sündig? Wie?“
„Alle Menschen sind Sünder. — Weil er ein Priester ist! — Wir alle sind sündig.“
„Weil er ein Priester ist, so habt ihr’s gelernt. Weil er der Teufel ist, so hat euer Herz gesprochen!“
Und sie eiferte gegen eine Kirche, der beständig der Teufel im Nacken sitzt, dessen größte Triumphe immer da liegen, wo das Dogma am stärksten ist.
„Hütet euch! Denn auch in euch liegt er beständig auf der Lauer, und ihr habt gesehen, daß es seine Laune und nicht euer freier Wille ist, ob er euch packt und Herr über eure Seelen wird. Ja, ich begreife nun: Deshalb also eure beständige Furcht! Euer beständiges Beten! Ihr fühlt ihn, aber ihr seht ihn nicht, sonst hättet ihr Augen auch für dies Unrecht, das zum Himmel schreit. Aber ich dulde nicht, daß ihr Gott lästert und sagt: dies sei sein Wille. Daß er mich verließ — gut, ich will gern in fremden Armen sterben, wenn ihm damit geholfen ist. Dies hier aber“ — und sie wies auf Hilde — „dies Elend ist ein Werk des Teufels. Und verflucht der Bischof, der die Geschäfte des Teufels führt!“
Da rissen sie verzweifelt die Arme in die Höhe und wußten nicht, was sie beginnen sollten. Hilflos starrten sie umher und wagten nicht, zu Hilde aufzusehen.
„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt’ für uns!“ klang laut die Stimme eines jungen Weibes; aber es klang gequält und niemand hatte die Kraft zu beten.
Jetzt läutete die Glocke des Hauses. In kurzen Zwischenräumen klang ihr Laut hell durch den Raum und wirkte auf die Herzen in ihrer schweren Bedrängnis wie eine Erlösung und Offenbarung; und zum Wunder wurde dieser natürliche Vorgang und manch einer sah im Geiste eine große Glocke im leeren Raume hängen, welche die Menschen zur Einkehr zu Gott, zum Engel des Herrn rief.
Und auf der Treppe erschien der Bischof, der zum Troste Hildes und der Mutter kam.
Als Hilde, die vor Erregung halb betäubt und dem Vorgang um sich herum kaum gefolgt war, den Bischof unten stehen sah, fühlte sie von den Füßen bis herauf zum Kopfe einen stechenden Schmerz; ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen; Hände und Finger krümmten sich und die Nägel bohrten sich tief in das Fleisch.
„Der Teufel!!“ schrie jetzt mit letzter Kraft die Frau und wies mit dem Finger auf den Bischof, der langsam die Stufen heraufstieg und, ohne zu staunen, mit derselben Güte wie immer zu ihr aufsah.
Hilde stürzte durch die Menschen, die schnell und ängstlich auseinandertraten, zum Fenster, sah durch die Scheiben, auf die das rote Licht der großen Ampel fiel, wie der Bischof in die Halle trat und alle, selbst die Kinder, wie auf ein Zeichen in die Knie fielen; wie er die alte Frau jetzt bei der Hand nahm, wie auch sie zur Erde glitt; und durch das laute Rasseln der Scherben, die mit ihr in die Tiefe stürzten, vernahm sie fallend noch deutlich: „Vater unser, der du bist im Himmel, ...“ — und es begleitete sie wie der Gesang von Engeln, die sie umschwebten, bis sie auf dem Steinhaufen niederschlug.
„Ein Wunder!“ sagten die Ärzte; zwei Finger waren gebrochen und der rechte Fuß; innerlich war nichts verletzt.
Als der Bischof Hilde am nächsten Tage im Krankenhause besuchte, sagte die Schwester, die sie pflegte:
„Mit ihr ist Gott.“
Der Bischof nickte, legte seine Hand auf Hildes Stirn und sagte:
„Gott wollte sie noch nicht“, und ernst setzte er hinzu: „Noch war sie nicht gut genug für Gott.“
Hilde quälte sich mühsam in ihren Kissen empor; zum ersten Male schlug sie die Augen auf, und mit einem Munde, um den ein schmerzliches Lächeln lag, flüsterte sie leise:
„Sagen Sie lieber: noch war sie nicht schlecht genug für den Teufel.“
Motto: „In jedem Falle ist das für mich bewährt, daß das Übernatürliche existiert, ob es christlich ist oder nicht. Das Leugnen heißt: die Augenscheinlichkeit leugnen; heißt: im Trog des Materialismus, in dem stupiden Bierbottich der Freidenker waten.“
Joris K. Huysmans
in „Là-bas“.
Gegen seine Gewohnheit verließ Abbé Lavoisier diesmal Hyères schon am dritten Tage. Der eisige Mistral wütete seit einer Woche. Kaum ein Veilchen, das ihm nicht zum Opfer fiel, und die ganze Erdbeerernte war vernichtet.
Er ging vom Hotel aus nach dem Place Massilon, bestieg noch einmal den Hügel und sah zu den hyèrischen Inseln hinüber.
„Wenn man dies Portcros billig bekäme,“ dachte er laut, „denn diese Militärwirtschaft auf Porquerolles wird uns doch eines Tages unbequem werden.“
Sein Arm, der seit einer halben Stunde um seinen Hut mit dem Winde kämpfte, folgte unwillkürlich seinen Gedanken, die an Porquerolles hingen, und winkte zum Abschied hinüber. Da lag die Insel vor ihm, wuchs stolz aus dem Meere empor; ihre Felsen ragten wie eine Verhöhnung des Himmels bis in die Wolken; trotzten frech dem Sturme und den Wellen, die wie rasend an die Felsen rannten, turmhoch an ihnen emporschossen und kraftlos wieder in die Tiefen glitten.
Er sah nach der Uhr, klappte hastig den Kragen in die Höhe und eilte die Rue des Palmiers entlang zum Bahnhof. Der Hotelportier erwartete ihn. Er überreichte ihm Billett und Gepäckschein und geleitete ihn an den Zug.
„Wo haben Sie mich untergebracht?“
„Hier, Monsieur, im ersten Abteil Nichtraucher.“
„Allein?“
„Eine Dame.“
„Sonst niemand?“
„Nein, Monsieur. — Nur diese Dame.“
„Dann nehmen Sie das Gepäck schleunigst wieder heraus und suchen Sie anderswo Platz.“
„Der Zug ist überfüllt, Herr, wenigstens bis Marseille oder Toulon. Dann wird Platz.“
„Ganz gleich.“
Er stieg hinter ihm in den Wagen. „Ich bin beim Teufel nicht furchtsam,“ dachte er, „aber allein mit einer Frau! Danke! Sie braucht nur hysterisch zu sein. Erwartet vielleicht ein Abenteuer, während ich vorziehe, Legués Médecius et Empoisonneurs zu lesen. Was wird sie tun, um sich zu rächen? Nach der ersten Viertelstunde zieht sie die Notleine. Der Zug hält. Sie bezichtigt mich eines Notzuchtversuchs. Das Publikum lyncht mich. Ich werde in Ketten nach Marseille geschleppt. Beteure meine Unschuld. Da sie schwört, werde ich verurteilt. Danke!“ sagte er nochmals und beobachtete, ohne einen Blick auf die Dame zu werfen, den Gepäckträger beim Herausnehmen seiner Ledertaschen.
„Verzeihung, die Tasche gehört mir“, sagte die Dame mit einer Stimme, die ihn zwang, statt nach der Tasche, die der Träger eben auf den Flur stellen wollte, zu ihr hinüber zu sehen.
„Stellen Sie sämtliche Taschen wieder hinein, auch meine.“ Er bat sehr artig um Entschuldigung und war entschlossen, dieser schönen Frau, obschon sie ihm keine Beachtung schenkte, seinen Schlaf und seine Lektüre zu opfern.
„Kaum eine Französin“, dachte er und suchte den Klang ihrer weichen Stimme festzuhalten. „Gewiß, sie ist nicht allein. Ihr Mann wird im Speisewagen sein oder auf der Toilette, wie immer, wenn mir eine Frau begegnet, die mir gefällt.“ Er sah zu ihr hinüber. Sie las. Trotz der schlechten Beleuchtung. Ihre schmalen Hände steckten in schwarzen, weichen Schweden, die weit über die Ellenbogen reichten. Nur die Finger der rechten Hand hatte sie, um besser zu blättern, entblößt; die waren zart und weiß und gepflegt. Das erregte ihn. Auch verrieten sie deutlich jede innere Bewegung. Um so deutlicher, je mehr sie bemüht waren, sie zu verbergen. Ungeschickt genug suchten ihm diese Finger vorzutäuschen, daß sie lese. Sie wußte ja, daß er ihretwegen in diesem Wagen saß, wußte also auch, daß er sie betrachtete. Das nahm ihr die Ruhe zum Lesen, dachte er.
Aber er irrte. Er beschäftigte die Gedanken dieser Frau gar nicht. Die hingen seit Wochen in schweren Träumen, quälten sie und ließen ihr nirgends Ruhe. Der entsetzliche Schrei „Der Teufel“, der sie an jenem Abend an das Fenster riß und kopfüber auf die Straße stürzte, verfolgte sie. Sie hatte die alte Mutter des Priesters nie wiedergesehen; dem Bischof, als sie in der Klinik lag, den Eintritt in ihr Zimmer verweigert. Keinen Brief in Empfang genommen; alle Besuche abgelehnt. Selbst die Blumen der Oberin zurückgewiesen. „Ich hasse Blumen! Ich hasse die Menschen! Ich hasse die Welt! Ich hasse alles!“
Als sie zum ersten Male ins Freie durfte, war sie nicht wieder zurückgekehrt; weder zu Hause, noch in der Klinik wußte man, wo sie war. Erst am nächstfolgenden Tage kam ein Telegramm: sie sei in Florenz; es ginge ihr gut; die Schwester sei bei ihr.
Nacht für Nacht riß sie der Schrei der alten Mutter aus dem Schlaf. Sie wachte auf, machte Licht. Aber sie sah niemand. So hatte sie geträumt. Aber der Klang blieb in den Ohren. Drang zum Herzen. Und wie eine Nemesis schien er den Haß in ihr zu schüren: räche dich, und mich und meinen Sohn! Und eure Liebe! Um die man euch betrog! — „Um Gottes willen!“ hatte sie im Schlaf erwidert. „Um des Teufels willen!“ gellte die Antwort.
Seit jenem Abend betete Hilde nicht mehr. Um was sollte sie beten? Und zu wem? Zu Gott? Wenn er es war, der ihr diese letzte Prüfung sandte, dann war er nicht der allgütige Gott, an dem ihr Herz hing. Der mußte wissen, daß diese Prüfung ihr Ende war, daß sie dadurch nicht gebessert wurde. Und was für sie galt, galt zehnfach, hundertfach für den Priester. War Gott der Allwissende, dann kannte er auch das Martyrium, durch das sich der Priester bis zur Einheit durchgerungen hatte. Und nun! Um seiner Liebe willen zwang er ihn ins Kloster. Um ihn zu strafen? Wofür? Um ihn zu prüfen? Sie mußte lachen! Bitter! Wenn Gott ihn, um seinen Glauben zu erforschen, erst noch prüfen mußte. Oder um ihn zu erheben? Dadurch, daß er ihn von einem Glücke ausschloß, das in seinem Geiste errichtet war — — oder um des Teufels willen — — dann freilich! — — Noch sträubte sie sich, weiter zu denken.
Hilde war nicht lange in Florenz geblieben. Selbst in den Galerien quälten sie die Gedanken. Sie war von Genua aus im Automobil die Küste entlang gefahren, hatte sich hie und da ein paar Tage aufgehalten, war in ihrer beständigen Unruhe das eine oder andere Mal auch wieder an den vorigen Ort zurückgekehrt und hatte sich schließlich in Fréjus mit der Niederschrift ihrer künstlerischen Eindrücke in Verona einige Erleichterung verschafft. In Monte Carlo, wo sie gehofft hatte, wenigstens für kurze Zeit Ablenkung zu finden, war sie, wo sie ging, auf Berliner Bekannte gestoßen, die sie laut und ungeniert, wie ein Wunder aus der andern Welt, auf Schritt und Tritt verfolgten. Sie war schleunigst nach Ospedaletti geflüchtet. Ohne die Schwester, die in Monte Carlo von einigen Berliner Familien — die schnell zu einem Konsortium zusammentraten — bestochen, zurückgehalten und bis aufs Blut gepeinigt wurde, bis sie das letzte Detail sämtlicher Begebenheiten in Form eines regelmäßigen Kolloquiums im Café de Paris ausgeplaudert hatte, die dann in Dutzenden von Briefen an die liebe Verwandtschaft in Berlin berichtet wurden, wobei jeder, je nach Phantasie und Begabung, Eigenes beisteuerte. Die Schwester aber, die jung und hübsch war, blieb in Monte Carlo. Sie legte ihre Schwesterntracht ab und kleidete sich von dem Hörgelde der Berliner bei Worth neu ein. Ein Privatissimum, dem sie ein Berliner Anwalt unterzog, soll die unmittelbare Veranlassung dazu gegeben haben. Obgleich „Berlin in Monte Carlo“ diese veränderte Existenz der Schwester verschuldet hatte, schnitt man sie jetzt und verachtete sie, obgleich sie hübsch war und zwanzig Jahre jünger als der Durchschnitt ihrer Kolleginnen.
Hilde war von Fréjus aus nun auf dem Wege nach Paris. Sie wollte Professor Dupuy konsultieren und in ein Sanatorium gehen. Die Erinnerung an den Ausspruch Dr. Lands: „Wo denken nicht mehr hilft, da hilft nur noch der Strick“, und den Professor Zanger dahin erweitert hatte: „oder kalt Wasser“, wies ihr diesen Weg.
Freilich, wenn sie ehrlich gegen sich war, dann glaubte sie an eine Besserung durch ärztliche Hilfe nicht. Denn was sie quälte, waren Dinge, die von frühester Kindheit an in ihr wühlten. Über die sie durch Erfahrung und eigene Anschauung klar zu werden suchte. Und jetzt, nach allem, was sie selbst durchlebt und bei anderen beobachtet hatte, war es ihr längst klar geworden, daß das Gute der Macht des Bösen verfallen sei. Daß alles Sichwehren ja schon darum zwecklos blieb, weil die Erkenntnis, durch immer neues Geschehen befestigt, zu stark war, um hinter Wünschen, die ein frommer Kindersinn hegte, oder ein Herz, das zum Guten neigte, zu verblassen.
Als in Hyères jemand in ihr Coupé stieg, achtete sie kaum darauf. Ja, sie kam nicht einmal auf den Gedanken, daß sie der Grund war, aus dem der Herr in ihrem Wagen blieb. Sie hatte in den vielen Wochen kaum ein Buch zu Ende gebracht; auch jetzt waren ihre Gedanken längst nicht mehr bei ihrer Lektüre. Sie wußte nicht, was sie las, und wenn ihre Finger blätterten, so geschah das absichtslos.
Sie erschrak daher, als der Herr sie in spanischer Sprache anredete und fragte:
„Ich bin ein Verehrer von Goya, meine Gnädige; ich sehe, Sie lesen den Vasconcellos?“
„Ich blättere. Mein Spanisch ist sehr lückenhaft. Ich verstehe nur wenig“, erwiderte Hilde auf französisch und sah ihn an.
Die stechenden schwarzen Augen fielen ihr auf, und die weiße Farbe des schmalen Gesichts, die der schwarze Vollbart noch nüancierte. Er mochte Mitte der Vierziger sein.
„Um so besser,“ meinte er; „denn was Sie da lesen, ist nicht Goya, der Atheist und Revolutionär. Ich kenne das Buch: es ist Goya, das Kind; ein Rokokomensch, ein Sassoferrato.“
„Es behandelt wohl nur die ersten Jahre seiner Kunst. — Und doch —“, sie überlegte, ob sie sich in ein weiteres Gespräch mit ihm einlassen sollte, „sieht man schon deutlich, wie er Manet und seinen Kreis beeinflußt hat.“
Der Herr nickte und lächelte überlegen:
„Der erste Impressionist war er! Keiner, weder Manet noch irgendein Maler nach ihm kann ihm das Wasser reichen. Hätte er geschrieben was er malte, als Ketzer und Revolutionär hätte man ihn verbrannt. Aber Karl IV. war zu borniert und verstand ebensowenig wie die Königin Marie Luise, die widerwärtigste Kokotte, die je auf einem Throne saß, was er malte. Kennen Sie das Bildnis Godoys?“
„Hier ist eine Abbildung.“ Sie zeigte es ihm. Er beugte sich zu ihr hinüber und betrachtete das Bild.
„Es ist schlecht! wie alles in diesem Buche — Und doch, spricht es nicht Bände? Kein Historiograph könnte diesen Zuhälter und Minister, der gleichzeitig der Buhle des Königs und der Königin war, besser schildern.“
„Sie wissen, daß Loga das bestreitet; auch andere behaupten, daß es ihm nicht gelungen sei, das Majestätische und Hoheitsvolle in seine Gestalt zu legen.“
„Nicht gelungen? Wer kann behaupten, daß er es wollte? Nein, Verehrteste! Er war so wenig ein Narr, wie er ein Höfling war. — Er glaubte weder an ein Jenseits noch an Gott. Wo sollte da wohl der Sinn für ein Gottesgnadentum herkommen? Denken Sie nur an das Blatt, auf dem ein Toter aus dem Grabe steigt und der Welt, die in der Erwartung auf die Erlösung nach dem Tode geduldig und in Ergebung, wie das liebe Vieh, dahinlebt, verkündet, was er gefunden hat: ‚Nada‘! Nichts! Denken Sie an die Zeit, zu der das geschah! Welcher Mut dazu gehörte!“
Hilde war aufmerksam geworden.
„Sie haben recht! Bei uns — ich bin eine Deutsche,“ warf sie dazwischen — ist der Glaube an das Gottesgnadentum fester begründet, als der Glaube an Gott; so sinnlos das an sich erscheint. Und die kriechende Unterwürfigkeit vor dem Thron ist eine freudwilligere als die religiöse Ergebung vor dem Altar. Ein Hofmaler wie Goya wäre jedenfalls in Preußen nicht möglich.“
„Ja, glauben Sie mir, er hat sich eben als Künstler nicht prostituiert! Er hat keine Hoheit und keine Würde hineingelegt, wo er sie nicht fand. Er hat die Mitglieder der königlichen Familie genau so miserabel und menschlich klein gemalt, wie er sie sah und wie sie waren. Man weiß, mit welchem schamlosen Eifer sich die Frauen der vornehmsten Edelleute ihm an den Hals geworfen haben. Er hat sie genommen, weil sie ihm gefielen!“ Er wurde immer lebhafter, und das Temperament des Südfranzosen kam voll zum Durchbruch. „Goya ist der größte und sieghafteste Revolutionär aller Zeiten! Mit mehr Geist und größerer Unverschämtheit als durch ihn ist die Würde und Hoheit der Majestät zu keiner Zeit beleidigt worden.“
Hilde überlegte: 1828 starb Goya. Also kann er ihn nicht mehr gekannt haben. So ist es also ausschließlich die Verehrung seiner Kunst — und seines Charakters, die diesen Franzosen derart in Hitze bringt. Und nicht einmal für einen Landsmann! Prachtvoll! dachte sie. Und ohne Rücksicht auf den Eindruck, den es auf sie machte: ihr Interesse nahm zu, und mehr um ihm zu gefallen, fragte sie:
„Kennen Sie ein besseres Buch über Goya, zu dem Sie mir raten könnten?“
Sie sah mit Vergnügen, wie er ihre Frage freudig angriff und leidenschaftlich dies oder jenes Buch empfahl. Lefort und Muther blieben schließlich für die engere Wahl.
„Oh, ich verehre Ihren Muther!“
„Er ist tot.“
„Leider! Man hat ihn tot geärgert! Aber so machen sie es ja in Preußen mit allen bedeutenden Menschen, die das nötige Rückgrat nach oben haben. Ich kannte ihn gut. Die Elberfelder Intrige hat seinen Gegnern noch vor der Entscheidung mit seinem Tode den Triumph gebracht. Mehr als einmal habe ich diesen Mann, der ruhig und ernst und vornehm war, unter den gehässigen Angriffen einer neidischen, mächtigen und einflußreichen Clique leiden sehen.“
„Sie haben recht; Muther besaß die Fähigkeit, jeden noch so spröden Stoff anregend zu gestalten; sein Stil war klar und verständlich. Und so kam’s, daß jeder Gebildete ihn verstand, daß der eine und andere seinen Geschmack bildete und anfing, sich für Kunst zu interessieren, die ihm sonst fern lag. Und so wurde Muther populär. Das aber ging wider den heiligen Geist der Ästheten. Denn damit war der Beweis seiner Minderwertigkeit erbracht. Genau so erging es unserm Otto Julius Bierbaum, der für das Schöne mehr Gefühl und mehr Geschmack in künstlerischen Dingen besaß, als die ganze Sippschaft der Café- und Hyperoästheten, die ihn als Blagueur und Déboucheur verschrien.“
„Ich kenne diese Art deutscher Ästheten in der Literatur.“ Er nannte Namen, drei; aber diese drei waren die rechten. „Wer etwas schreibt, was außer ihnen und allenfalls noch dem Verfasser, irgendeinem Dritten verständlich ist, der ist minderwertig und verächtlich.“
„Gewiß, ganz meine Meinung.“
„Ich wollte es mir noch gefallen lassen, wenn jemand etwas zu sagen hätte, was nicht jeder Gebildete bereits weiß oder doch wenigstens verstandesgemäß ohne Mühe fassen kann. Aber davon ist keine Rede. Auch sie wiederholen nur immer schon das von Tausenden vorher Gesagte und dünken sich genial, wenn sie dafür eine neue, möglichst eigene Form finden. Und die, meinen sie, stempelt sie dann zur Persönlichkeit, wozu nötigenfalls auch schon die eigene Tracht der Kleidung oder der eigene Schnitt des Bartes genügt. Der Teig aber ist immer derselbe; nur die Aufmachung und die artistischen Zutaten wechseln.“
„So meinen Sie, es gäbe etwas verstandesgemäß nicht Faßbares?“
„Alles, was außerhalb der Logik liegt. Wonach auch Schopenhauer in seiner Metaphysik der Liebe zu nichts Tatsächlichem gelangen konnte. Weil man der Liebe eben mit dem Verstande nicht beikommen kann. In unsern Tagen aber, wo das beschränkte Gehirn Triumphe sondergleichen feiert und alles, was jenseits des trockenen, eng begrenzten Verstandes liegt, als Blödsinn, wenn nicht gar als Psychopathie verschreit, fehlt die Sammlung, um den Wegen der Seele nachzugehen.“
„Und wann tat man das?“
„Wann tat man das nicht, sollten Sie fragen. Wertung des Menschen setzt es freilich voraus; in einer Zeit aber, wie der unsern, die diese Wertung nicht mehr kennt und statt des: wie ist er, nur fragt: was ist er und wieviel versteuert er, kann davon freilich keine Rede mehr sein.“
„So meinen Sie also, daß die Seele im Gegensatze zum Gehirn steht?“
„Ganz und gar. Das Gehirn ist der Verstand und der Verstand ist die Logik. Die Seele aber ist das Unberechenbare, durch jede Erethisie Wandelbare, ohne sich um die Logik zu kümmern. Sagen Sie mir, was das Gehirn von den außerhalb der Erfahrung liegenden, von den unendlichen Dingen im Laufe der Jahrhunderte begriffen hat? Was es jemals begreifen wird?“
„Und die Seele?“
„Sie fragen? Denken Sie nur an die Tausende von Propheten. Ich will Ihnen eins herausgreifen: denken Sie an eine Katharina von Emmerich. Sie wissen, daß sie die Schmerzen und Leiden Christi kannte und den Ort und die Stelle beschrieb, an der er litt. Nur jemand, der selbst am Kreuze war, wird so in seiner ganzen Wesenheit das körperliche Martyrium und die Ängste schildern können, wie sie. Und wie der wissenschaftliche Bericht eines Archäologen mutet uns ihre Beschreibung von dem Orte seiner Leiden an. Auch wenn man nicht wüßte, daß sie völlig ungebildet war, könnte man den Verstand hier nicht als Deutung gelten lassen.“
Hilde machte ein nachdenkliches Gesicht. Ihre Augen waren weit geöffnet. Sie verstand ihn zwar nicht ganz. Aber ähnliches hatte auch sie erlebt. Früher. Wenn sie, ohne zu denken, des Nachts in den Märchen und Träumen weiterlebte. Wie die Bilder sie dann fortrissen, wie sie den Halt verlor und keinen Willen mehr hatte.
„Es muß schwer sein“, sagte sie und hing noch immer am Vergangenen, „derartiges zu schildern.“
„Äußerst! Wie wenige können das. Der vollkommenste ist wohl der Pole Przybyszewski. Der hat in De Profundis das Äußerste und Letzte aus den Tiefen einer Seele offenbart. Huysmans noch,“ — er überlegte, — „Krains, Maeterlinck — das heißt in früheren Jahren — Karàsek, — vor allem aber Vigelland .... Rops ..., das, scheint mir, sind sie aber auch alle.“
„Das alles ist mir eine neue Welt,“ sagte Hilde, „und wie alles, was man nicht kennt, es beängstigt mich.“
Er sah sie an. Dann fuhr sie fort:
„Wenn ich es überlege — müßte nicht eigentlich alles, was die Liebe angeht, Angelegenheit der Seele sein?“
„Gewiß! Müßte! Ist es aber leider nicht! Und soll es bei Ihnen in Deutschland noch weit weniger sein als bei uns. Wenigstens bezeichnet eben dieser Przybyszewski die Liebe heute als eine ökonomische und sanitäre Frage und meint, daß sie für die bürgerliche Kunst nichts anderes als den mehr oder weniger seligen Weg in das finanziell und gesundheitlich geregelte Ehebett bedeutet.“
„Das trifft bei den meisten Ehen wohl zu. — Aber schließlich kann man es den Menschen auch nicht verdenken, wenn sie es sich so bequem als möglich auf Erden einrichten, — zumal, wenn sie Tag für Tag an sich und ihrer Umgebung beobachten, daß ihre guten Handlungen doch keine Anerkennung finden.“
„Und daß die bösen ihnen keine Nachteile bringen“, fügte er hinzu.
„Wie kann man aber dann noch in jedem Übel, das einem widerfährt, eine von Gott gesandte Strafe erblicken?“
„Das hat man nicht nötig. Die weise Kirche hat alle Eventualitäten vorgesehen. Um hierüber hinwegzutäuschen, entstand das Buch Hiob; — aus diesem Grunde ausschließlich, — welches weiszumachen sucht, daß jedes Unheil nichts anderes als ein Läuterungsmittel sei.“
„Mit diesen Läuterungsversuchen verfährt der liebe Gott dann aber recht willkürlich. Die einen, und gewöhnlich diejenigen, welche es am wenigsten nötig haben, werden so lange geläutert, bis sie unter der Last dieser Versuche zusammenbrechen und ihren Glauben verlieren.“
Mit Wohlbehagen hörte er diese Frau sprechen. Sie ist eine von denen, die ihn verloren haben, entschied er, und begann ein immer tieferes Interesse an ihr zu nehmen.
„Es gibt aber auch eine Dummheit, gegen die selbst der Teufel vergeblich kämpft.“
„Wie meinen Sie das?“ fragte Hilde.
„Nun, ich meine alle diejenigen, die ‚den Lügner, der das Heil versprochen und nur die Qual bereitet‘, unentwegt weiter lieben.“
Hilde sah ihn entsetzt an. So hatte sie noch niemanden sprechen hören. Es lag mehr Schreck als Entrüstung in ihrer Stimme, als sie sagte:
„Wie können Sie wagen, so etwas auszusprechen; wo sie doch nicht wissen ...“
„Ich habe nur wörtlich einen Satz aus dem Ritus der albigensischen Kirche zitiert, meine Gnädige! Es lag mir fern, Ihre Gefühle ...“
Sie unterbrach ihn.
„Nicht, daß Sie mich gekränkt hätten.“ Sie lächelte; wie ein Verzicht auf jede Teilnahme und jedes Erleben sahen ihre Augen aus tiefen Schatten zu ihm hinüber. „Ich —“ und sie schüttelte den Kopf, — „für meine Person habe längst Verzicht geleistet. Aber an etwas werden die Menschen wohl schon glauben müssen.“
„Zweifellos. Doch sicher nicht an den, der sie lehrte, daß sie zu Schmerzen geboren seien.“
„Etwa zu Freuden?“
„Weshalb nicht? Lesen Sie Spencer. Die Frage ist nur: wer herrscht? Das Gute oder das Böse?“
Sie sah ihn groß an.
„Nun, bitte.“
„Vorherrschen tut freilich das Böse. Das steht ganz außer Zweifel.“
„Das Böse ist das Positive. Denn in allem, was irdisch ist, sieht die Kirche das Böse. Das Gute ist nur das, was außerhalb alles Irdischen liegt. So ist das Leben also das Böse; das Gute aber die Negation des Lebens; — also ...“, er hielt inne und sah sie an, ob sie gefolgt war.
„Also?“ fragte sie lebhaft.
„Nun, die Antwort ist sehr einfach: keine Religion ohne Dualismus. Von den ältesten Naturvölkern bis auf den heutigen Tag ist es also nicht das Gute; dann wird es wohl oder übel das Böse sein! Ist es nicht Gott, dann ist es der Teufel.“
Hilde fuhr leicht zusammen. Sie sah in seinen Augen, die hell blitzten, und an der Röte, die auf seinem Gesicht, das vorher so blaß gewesen, lag, daß er erregt war.
„Wer glaubt, fürchtet den Teufel nicht.“
„Jeder gläubige Katholik fürchtet ihn. Und mit Recht. Im ewigen Kampfe mit der Kirche hat er mehr als einmal triumphiert. In Wahrheit herrscht er auch heute unbestritten. Das tausendjährige Reich Christi ist längst zu Ende und besteht nur noch dem Schein nach.“
„Wer könnte das beweisen?“
„Jeder, der nicht in falscher Scheu die Augen schließt. Die Geschichte lehrt es! — Schlagen Sie in irgendeinem Katechismus nach; wohnen Sie einer Kommunion bei; noch bevor der Priester nach dem Glaubensbekenntnis fragt, müssen die Kommunikanten feierlich dem Teufel, seinen Werken und seiner Hoffart entsagen. — Warum das, wenn man ihn nicht fürchtet? Und man fürchtet ihn eben, weil man seine Macht kennt.“
„Und wo äußert sich diese Macht? Wo jemals hat sie sich geäußert?“
„Zu jeder Zeit und an allen Orten! Die göttliche Gnade aber hat immer nur in dem Gefasel der Diener der Kirche bestanden. Keiner ist ihr bis zum heutigen Tage teilhaftig geworden. Erlauben Sie, das will etwas heißen in zweitausend Jahren. Der Teufel aber begnügt sich nicht damit, der Welt von einer Handvoll Mißvergnügter, die sich ihm verschrieben, zwischen Orgelklang und Weihrauch von der Kanzel herab sein Dasein verkünden zu lassen. Er handelt selbst. Er hat immer gehandelt.“
„Aber Christus hat ihn überwunden.“
„Sagen die Kirchenlehrer und legen die Heilige Schrift aus, wie es ihnen paßt. Sie vergewaltigen munter die Wahrheit, wo sie ihnen hindernd in den Weg tritt. Denn die Gnostiker deduzieren, und so war’s: der Teufel herrschte. Da erschien Jesus. Und pfuschte dem Teufel ins Handwerk. Daraufhin beschloß der Teufel ihn zu töten. Er führte seinen Entschluß aus. Jesus starb. Jeder vernünftige Mensch sollte nun meinen, daß der Teufel der Sieger, Jesus der Besiegte sei. Aber wo denkt ihr hin! Im Gegenteil! schreiben die Gnostiker. Gerade im Tode Jesu verwirklicht sich ja der göttliche Gedanke, und der große Origenes, der sich an Rechtsverdrehung wahre Wunderwerke leistet, würdigt, um seine Verdrehung anschaulich zu machen, Gott zu einem perfiden Kaufmann herab, für den die Gesetze von Treu und Glauben niemals existiert haben. Auch nach ihm herrscht der Teufel über die Menschen. Jesus kauft mit seiner Seele die Menschen vom Teufel los. Gott willigt in den Handel. Er läßt ihn zu. Betrügt den Teufel aber, indem er ihm die Seele Jesus wieder entzieht! Entgegen der getroffenen Vereinbarung! Und bis ins Mittelalter erhielt sich diese Auffassung. Die bedeutendsten Kirchenlehrer können nicht umhin, dem Teufel ein Recht auf Christi Seele zuzugestehen. Augustinus, Leo der Große, Gregor der Große; Gregor von Nyssa nennt denn auch die Handlung Gottes beim richtigen Namen, nennt sie einen Betrug. Und da sich ein so offenbarer Schwindel in der Gestalt Gottes schlecht ausnahm, darum war erst die Menschwerdung Christi notwendig. — Ein netter Gott das, mit dem ich keine Geschäfte machen möchte. — Aber der Teufel hat gelernt. Einmal ließ er sich betrügen. In der Folge sah er sich vor.“
„Damit wären doch dann die Menschen, mag es nun auch ein Betrug gewesen sein, den der Zweck heiligt, frei und die Macht des Teufels wäre gebrochen.“
„Ah! sie war es aber nicht. Daraus allein erhellt schon die Verdrehung. Und tatsächlich ist denn auch der Teufel auf der ganzen Linie der unbestrittene Sieger geblieben. Erst mit dem Christentum wächst seine Macht ins Unermeßliche. Die traurige Rolle, die er bei den Hebräern spielen mußte, die einzigen, die ihm vielleicht gewachsen waren, hatte mit Beginn des Christentums ein für allemal ein Ende. Unumstößlich fest steht der Satz des großen Sartorius:
„Wer aber den Satan verneint, kann auch Jesum nicht wahrhaft bekennen.“
Hilde wurde unruhig. Die Leidenschaft, mit der dieser ihr völlig fremde Mensch von Dingen sprach, denen sie seit Wochen selbstquälerisch nachhing, erschreckte sie. Wie kam er nur dazu, ihr von dem zu reden, was sie so unaufhaltsam bewegte und in Aufregung hielt, sie in den Nächten beschäftigte und sie nirgends zur Ruhe kommen ließ? Nachdem sie Wochen hindurch die albernen Plattheiten der Berliner Riviera-Trottel mit anhören mußte, die sich verpflichtet fühlten, hier noch gespreizter als in der Heimat ihre Unnatur zur Schau zu tragen, stieß sie auf diesen Menschen, der wie ein Prophet den Reichtum seines Wissens und seines Herzens auf der Zunge trug und für den das Leben nichts anderes war, als für seinen Glauben kämpfen. Mit Scheu und doch mit einer Andacht, die mehr als Wißbegierde war, folgte sie ihm, der, — also gab es das! — an den Teufel glaubte.
„Und die Kirche?“ Nur um etwas zu sagen und ihre Verwirrung einigermaßen zu verbergen, stellte sie diese Frage.
„Sehen Sie, darin gerade liegt die Ironie des Schicksals, dem die Kirche verfiel. Sie, die in der Überwindung des Teufels, die sich für sie im Tode Jesu vollzog, den Tag ihrer Geburt feierte, mußte sich jetzt wie eine Verzweifelte an die Existenz des Teufels klammern, mußte seine Messe bestätigen und seine Macht so laut wie möglich verkünden. Denn nur die Furcht vor den Strafen der Hölle, die der Inhalt jeder Predigt im Mittelalter war, bewahrte die Kirche vor ihrem Zusammenbruch. Der Teufel hatte sie in ihr Herz getroffen. Die meisten Geistlichen — vier Päpste — waren ihm verfallen. Lesen Sie Gregor von Tours, und Sie werden finden, wie die Bischöfe, die Hirten der Gläubigen, sich gegenseitig in aller Öffentlichkeit Ehebrüche, Hurerei, Meineide vorwarfen; wie man vergeblich sich mühte, sie so weit zu bringen, daß sie wenigstens beim Hochamt nicht in sinnloser Trunkenheit zusammenbrachen. Die Bischöfe Palladius und Bertranus warfen sich an des Königs Tafel die widerwärtigsten Verbrechen vor. Hören Sie Glaba, lesen Sie Przybyszewski, der mit reiner Wollust alle diese Dinge zusammenträgt. Er berichtet, wie Satan sich in die Erde wühlte, wie sein Reich kam. „Es war um das Jahr 1000, da begann die Menschheit an Gott zu verzweifeln. Die Sonne ward gelb wie Saffian und erlosch vor den Augen des Heeres Ottos des Großen. Der Papst Sylvester V. berichtet, daß der Teufel ihn aufgesucht und großes Unheil verkündet habe. Die Welt kehrte sich um. Mitten im Sommer fiel tiefer Schnee, und schwere Gewitter entluden sich im Winter. Die ganze Welt verfiel in ein tiefes Delirium; das Fleisch der Menschen fiel, wie vom Feuer zerfressen, wie Fetzen von den Knochen; große Hungersnot kam, und wie die wilden Tiere fielen die Menschen übereinander her. Mit Ekel wandten sie sich schließlich ab vom Fleisch der Tiere. Fleisch vom gleichen Fleisch mußte es sein, das sie aßen. Kinder wurden geschlachtet und man bot ihr Fleisch feil. Und niemand war da, der es wehrte. Wo blieb Gott? Man rief zu ihm[1].
[1] cfr. Przb.: „Die Synagoge des Satan“.
Sterbende Hände schrien zu ihm empor; Augen, die sich im Wahnsinn drehten, suchten ihn, und fluchten, da sie ihn nicht fanden. Trübe und schwer krochen die letzten Gesänge aus faulenden Leibern zu ihm empor. Aber er zeigte sich nicht. Kein Zeichen gab er.
Hat Christus sein Blut für das Heil der Menschen darum vergossen? He? Daß sie einander auffressen mußten, daß die Erde wie glühendes Eisen unter ihren Füßen brannte; daß die Pest kam und das Fleisch faulte an ihren Knochen, he? fragt Przybyszewski.
Und er hat recht. Der Bischof Eonius von Wannes, der, während er die Messe las, zu Boden stürzte, wie ein wildes Tier schrie und um sich schlug, die Berichte des Bischofs Ratherius genügen, um dem Reiche Christi den Bankrott zu erklären. Der Papst Johann XII. trank auf die Gesundheit des Teufels und Clemens V. zog ihn Gott vor, da er ihn zuverlässiger fand.“ —
In diesem Augenblick öffnete der Schaffner die Korridortür und rief:
„Die nächste Station ist Marseille!“
Das machte der Unterhaltung ein Ende, was Hilde nur genehm war. Denn die Dinge verwirrten sie, und sie hatte kaum mehr die Kraft, ihnen zu folgen.
„Schade!“ sagte er. „Ich hätte Ihnen so gern noch viel Liebes über den schmalbrüstigen Jüngling von Nazareth gesagt.“
Hilde wußte nicht, was sie daraus machen sollte. Er fühlte es.
„Nun ja. Er hat — im Gegensatz zum Teufel — sich die zweitausend Jahre über so reserviert verhalten, sich so wenig nach vorn gedrängt. Wenn die guten Menschen nicht so übereifrig für seine Berühmtheit sorgten: er wäre längst begraben und vergessen. Sobald irgendwo eine kleine Stelle von seinem heiligen Glanze verblaßt oder auf eine andere Art seine ursprüngliche Farbe verliert, gleich stürzen sie wie besessen über ihn her, decken die Stelle sorgsam zu und polieren sie auf. Der schmalbrüstige zarte Jüngling aber verzieht keine Miene, er hält still wie ein Pagode, man mag ihn noch so grob anpacken. Er scheint es denn auch durchaus nicht sonderbar zu finden, daß man bereits beginnt, seine Existenz anzuzweifeln. Was natürlich Blech ist. Simon de Tournay hat ihn, den Zartbesaiteten, den wir ja nicht mehr hassen, nur noch bemitleiden, besser verstanden: Oh, petit Jésus, petit Jésus, comme j’ai élevé ta loi! Si je voulais, je pourrais mieux la rabaisser. — Wirklich! Mathias Grünewald hat unrecht, ihn als Verbrecher hinzustellen. Er war es nicht; konnte es nicht sein. Ihm fehlte alles dazu. Er war blaß und blond, le petit Jésus!“
Der Zug hielt.
„Marseille!“ schrie man auf dem Bahnsteig.
„Sie fahren nach Paris, Gnädigste?“ fragte er sie.
„Falls ich Schlafwagen bekomme; andernfalls bleibe ich über Nacht in Marseille.“
„Ich bitte Sie, gnädige Frau, den Wunsch nicht aufdringlich zu finden, unsere Unterhaltung in Paris fortsetzen zu dürfen.“ Er nahm seine Karte aus einer schwarzen Saffiantasche und überreichte sie ihr.
„Ich werde mich freuen“, gab sie zur Antwort. „Ich wohne Hotel du Rhin, Plâce Vendôme.“ Dann nannte sie ihren Namen, mit dem er, da er Franzose war, keinen Begriff verband.
„Zwei Vorträge halten mich bis Mittwoch in Marseille. Ich werde mir erlauben, Ihnen Ende der Woche meine Aufwartung zu machen.“
Dann stiegen sie aus dem Wagen; der Herr verschwand und Hilde eilte zum „Salon de Lit“, wo man für fünfzig Francs soeben das letzte Bett vergeben hatte.
Sie blieb also in Marseille. Warf schnell einen Blick auf die lange Reihe der Hotel-omnibusse und vermied, mit ihrem Reisebegleiter, der eben dem Portier des Hotels Noailles seinen Gepäckschein übergab, zusammenzutreffen. Sie wählte rein mechanisch das Automobil des Hotel du Louvre et de la Paix, setzte sich mit ihrer Kammerzofe so, daß sie ungesehen blieb und entfaltete noch einmal die Visitenkarte, die sie nach dem ersten flüchtigen Blick ängstlich und bestürzt in ihrer Tasche verborgen hatte.
Es war also kein Irrtum gewesen! Sie hatte richtig gelesen! Da stand es ganz deutlich; und wieder begannen die Buchstaben vor ihren Augen hin und her zu tanzen: Charles Lavoisier, Abbé, Paris. Rue Croix des Petits Champs 18.
Ein Abbé, der den Teufel als Herrn der Welt verehrt! Wie war das nur möglich? An und für sich lag darin gewiß nichts Sonderbares; das begriff sie besser als irgendwer. Denn was anderes war ihr Erleben vom Tage ihres Denkens an gewesen als ein ununterbrochener Triumph des Bösen? Und ihre Einkehr zu Gott hatte daran nicht das mindeste geändert. Im Gegenteil! Ihr durfte man es schon nachsehen, wenn sie sich lossagte. Aber einem Abbé?!
Hildes erregte Nerven machten es ihr unmöglich, im Hotel zu bleiben. Trotz der langen Bahnfahrt und des trüben Wetters beschloss sie, auswärts zu essen. Sie machte Toilette und nahm die Zofe mit sich. Aber der Trubel der Stadt, in der das Leben noch stärker lärmte als in Paris, verwirrte sie. Und diese Verwirrung wuchs zur Qual. Sie litt unter Angstgefühlen und starker Beklemmung. Und die Luft, die schwer und staubig war, drückte so stark, daß sie kaum atmen konnte.
Sie stieg in einen Wagen, nachdem sie an einer Straßenecke auf einer Affiche nicht gerade auffällig gelesen hatte: Heute abend 9 Uhr im Palais de la Bouilla-Baisse Vortrag des Abbé Lavoisier für die Mitglieder des S. C.
Obgleich ihre Gedanken noch immer an dem Gespräche hingen, das sie während der Bahnfahrt geführt hatte, so dachte sie doch beim Anblick dieses Plakates (sonderbar genug) zunächst an die Satanistenschule, wie Southey die Kosmoliten Byron und Shelley genannt hatte. Sie ließ den Wagen nach dem Chemin de la Corniche fahren und fühlte, als sie aus der Stadt heraus und an das offene Meer kam, daß ihr leichter wurde.
Sie fuhr nach dem Palais de la Bouilla-Baisse, — so nannten die Marseiller das Restaurant La Reserve, das an Schönheit der Lage und Güte der Küche in Paris, also in der Welt, nicht seinesgleichen hat, — sie speiste mit ihrer Zofe auf der Veranda, die scharf über dem Meere hängt. Die Erinnerung, oder besser die Sehnsucht nach ihrem Priester, die sie täglich quälte, und in die sie sich, anstatt dagegen anzukämpfen, fast leidenschaftlich wühlte, bis sie immer wieder in nervösem Schluchzen verzweifelt und oft auf Stunden empfindungslos zusammenbrach, suchte sie heute mit aller Kraft zu unterdrücken. Sie trank ein Glas Champagner nach dem andern und war schließlich, als sie die Treppe zum Vortragssaale emporstieg, seit Monaten zum ersten Male wieder in einer Stimmung, die leicht, beinahe munter war.
„Das machen wir jetzt jeden Abend“, sagte sie zu ihrer Zofe, die zwar zum Ersten gekündigt hatte, — und man konnte ihr das nicht verdenken, — auf diese Aussicht hin — und auch das war nur natürlich — den Entschluß faßte, die Gnädige am nächsten Morgen zu fragen, ob sie bleiben dürfe. Hilde besaß noch Haltung genug, um sich einen Platz zu sichern, von dem aus der Vortragende sie nicht sehen konnte.
Ihr fiel zunächst die außerordentliche Eleganz des Publikums auf; der sehr kleine Saal, der kaum zweihundert Menschen faßte, war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Damen sämtlich in großer Toilette, die Herren im Frack. Bevor sie in den Saal trat, nahm sie wahr, daß die Herren sich durch eine kleine Rosette, die im Frackinnern verborgen war, die Damen aber durch eine leichte Wendung der Hand legitimierten. Sie sah später, daß die Damen in der Innenfläche des Handschuhs eine kleine Rosette befestigt hatten. Es war ihr ein leichtes, den Saaldiener zu täuschen und in den Vortragsraum zu gelangen.
Die Beleuchtung schien ihr übertrieben. Die Augen, die man unwillkürlich zudrückte, taten weh und erschwerten eine genaue Betrachtung des Publikums. Die Bühne, die — und wohl nicht für diesen Abend — tief in den Saal hineingebaut und etwa fünf Meter breit war, lag unbeleuchtet. Einen Vorhang sah man nicht. Plötzlich erlosch auf ein Glockenzeichen, das an den Gottesdienst der katholischen Kirche mahnte, das Licht im ganzen Saale und zwei Diener trugen vier schwere silberne Leuchter, in denen meterhohe Kerzen brannten, und stellten sie auf einen langen Tisch, der in der Mitte der Bühne stand, und ebenso wie die Wände mit schwarzem Tuch belegt war. Im Hintergrunde wurde ein Bild sichtbar. Paul Gauguins Christus. Eine Kopie in der doppelten Größe des Originals.
Ein neues Klingelzeichen, und der Abbé erschien; im Frack, eine große rote Rosette im Knopfloch. Viele klatschten laut in die Hände; er trat hinter ein kleines Rednerpult, das in einiger Entfernung hinter dem Tische stand, machte eine leichte Verbeugung und begann:
Meine Damen und Herren!
Einiges vom Teufel. Die tausendjährige Amtszeit Christi ging längst zu Ende. Auf Grund welchen Rechtstitels regiert er noch? War die Zeit seiner Herrschaft an Erfolgen so reich, hat er all seine Versprechungen, auf die hin man ihn auf den Thron erhob, all die Erwartungen, die man an ihn knüpfte, so glänzend erfüllt, daß man ihn, ohne auch nur Rechenschaft für sein Tun und Unterlassen von ihm zu fordern, fast weitere tausend Jahre am Ruder ließ?
Wir alle kennen die Mittel, mit denen er seinen Vorgänger, Satan, verdrängt hat! Wissen alle, daß nach unseren heutigen Begriffen von Anstand und Sitte diese Mittel keine einwandsfreien waren. Daß der Teufel übertölpelt wurde und daher seine Niederlage niemals als zu Recht bestehend anerkannt hat.
Tatsächlich hat denn auch seine Nebenkandidatur die beiden Jahrtausende hindurch fortgedauert, vielmehr hat nicht selten und nicht zuletzt heute, in facto der Teufel, Christus aber nur dem Scheine nach regiert.
Es ist ihm also — und dies das wesentliche Ergebnis aus der Wirksamkeit Jesu — in fast zweitausend Jahren nicht gelungen, seinen knapp und mühsam und nicht einmal einwandfrei überwundenen Gegner von sich abzuschütteln, seine Macht zu brechen und die Menschheit von der Wahrheit, der Durchführbarkeit und der Zweckmäßigkeit seines Systems zu überzeugen. Die hatte seine Botschaft vernommen, hatte es an Glauben gewiß nicht fehlen lassen; was also könnte er als Erklärung dafür anführen, daß die Erfüllung ausblieb?
Wenn die Macht des durch Jesu Tod von seiner Herrschaft über die Menschen verdrängten Teufels erschüttert wäre, wenn wenigstens irgendwo sichtbar ein noch so winziges Zeichen eine allmähliche Abnahme seiner Macht verriete, oder nur in Aussicht stellte. Nichts von alledem! Wohin wir blicken, stoßen wir auf die Spuren seines siegreichen Vormarsches und nirgends zeigt sich uns eine Gewalt, die sich ihm entgegenstellte und seinem weiteren Vordringen Einhalt geböte.
Quid nunc? fragen wir uns! Verschließen wir uns allen diesen Erscheinungen? Stellen wir uns auch fernerhin blind oder ziehen wir endlich, nach zweitausend Jahren, endlich, die Bilanz?
Unsere Zeit ist doch in allen anderen Dingen so überaus praktisch. Denkt nur an sich und an ihren Vorteil. Und ließe sich gewiß auf keinem andern Gebiete eine ähnliche Geschäftsführung gefallen. Und gerade da, wo es sich sozusagen um unsern heiligsten Besitzstand, um unsere Seele (he! wer lacht da?) handelt, üben wir eine Nachsicht, die unverständlich ist, wenn sie etwas anderes als Furcht und Schwäche ist. Wobei es sich fragt, ob wir unsere Furcht und Schwäche, ob wir vor allem unsere Nachsicht nicht an einer falschen Stelle zum Ausdruck bringen. Auch aus religiösen Revolutionen lockt Gewinn. Und ich wiederhole: kein Thronwechsel ist’s, den ich predige! Um die öffentliche Bestätigung eines Machthabers, der längst fest im Sattel sitzt, handelt es sich. Um die rein formelle Amtsenthebung eines Schwächlings, der Positives nie geleistet hat, nie leisten konnte, da seine ganze Amtszeit nichts als eine verzweifelte, schließlich erfolglose Abwehr seines Gegners war.
Es wäre das Einfachste und Billigste, darzutun, daß die Amtszeit Christi vom ersten Tage an bis heute eine ununterbrochene Kette von Enttäuschungen, Niederlagen, Ungerechtigkeiten, Widerwärtigkeiten, Greueln, kurzum das Gegenteil von alledem gewesen ist, was sie versprochen hatte. Dies Fazit mögen diejenigen ziehen, die es zu ziehen noch nötig haben, um zur Erkenntnis dessen zu gelangen, was nottut.
Es wäre eine schlechte Empfehlung unseres Kandidaten, wenn wir uns, um seinen Ausspruch zu rechtfertigen, hinter die Schwächen und Unzulänglichkeiten seines Gegners verstecken müßten! Glücklicherweise können wir mit Positivem aufwarten!
Die Herrschaft des Teufels hat rein äußerlich das Vorrecht der Anziennität. Mag sein, daß aus dem Gefühl der Furcht heraus die Vorstellung vom Teufel entstand; genug, sie entstand. Dies Furchtbare nahm Gestalt an. So erklären’s die Ältesten und die Jüngsten unter den Lehrern der Kirche. Aber eine Furcht, die Jahrtausende über unvermindert fortbesteht, wird wohl im Erleben und Erfahren seinen Grund haben. Furcht hat man nur vor etwas, was mächtiger ist als man selbst. Und daß man das Mächtige verehrt, ist nur natürlich; nirgends und zu keiner Zeit ist es Christus gelungen, die Furcht vor dem Bösen, selbst bei denen, die bedingungslos an ihn und seine Lehre glaubten, als das Primäre in ihren Empfindungen zu verdrängen.
Oft genug — ich erinnere nur an das Mittelalter — hat sich die Kirche geradezu wie eine Wahnsinnige vor Furcht gebärdet. Und um ihrer damaligen Gemeingefährlichkeit, der Millionen Unschuldiger zum Opfer fielen, hätte man sie als eine unerlaubte religiöse Gemeinschaft von Staats wegen verbieten sollen. Sie war im Volk damals derart verhaßt, daß ihr — außer dem Teufel, dem sie so wunderbare Gelegenheit gab, sich festzusetzen — niemand eine Träne nachgeweint hätte. Nur eine Religion, die das Gute so absolut zu dem festen Besitzstand jedes Gläubigen erhebt, daß er das Böse nicht mehr zu fürchten braucht, wird gegen die Synagoge des Satans bestehen können. Solange aber der Glaube an sich keine Gewähr, das heißt, keinen absoluten Schutz gegen das Böse bietet, solange vielmehr jeder Gläubige zwischen Sünde, Beichte und Buße, also zwischen der Aussicht auf den Himmel oder die Hölle einherpendelt und demnach schon im Leben, von Begehung seiner Sünde an bis zu deren Erlaß, angstvoll wie im Fegefeuer schmort, so lange wird Satans Reich die Macht und Logik auf seiner Seite haben.
Wird eine solche Religion jemals geboren werden? Kann sie’s? Das indische Brahmanentum mit seiner Askese kommt ihr am nächsten. Lest den siebenten Akt der Sakuntala. Um den Preis freilich wird sich die Menschheit schwerlich bekehren. Sein Dualismus besteht in Seele und Leib, intellektuellem und materiellem Sein, Seelenleben und Sinnenleben. Gelingt es der Seele, sich so weit zu asketisieren, daß sie nur noch Brahma denkt, dann ist ihr Sieg vollendet, die Möglichkeit alles Bösen beseitigt. Und mit dem Schwinden der Möglichkeit, also der Gefahr, schwindet die Furcht.
Gefährlicher als diese asketischen Selbstquälereien an den Lotosufern des Ganges, hätte dem Teufel die alte Lehre der Hebräer werden können. Selbst zur Zeit, da der Hohepriester am Sühntage über die beiden vor das Heiligtum gestellten Ziegenböcke das Los wirft, mit dem Blute des Bockes, den das Los traf, die Bundeslade reinigt, auf die Schultern des anderen Bockes aber alle Sünden Israels lädt und den Bock dann zu Azazel in die Wüste schickt; — selbst damals vermochte der Teufel, mag man die Kontraverse über die Identität Azazels mit dem Teufel lösen wie man will, nichts Wesentliches gegen Jahve auszurichten.
Aber schon im Buche Hiob finden wir, — im Gegensatz zum Pentateuch —, den Teufel; hier lebt er als einer der vielen Gottessöhne, der ohne den Willen seines Herrn und Vaters nichts vollbringen kann.
Diese Abstammung sollte man etwas deutlicher im Auge behalten. Ist er später der verlorene Sohn, der vom Himmel fällt (man darf wohl annehmen, daß dieser Fall ein etwas unfreiwilliger war, der sich auf Erden etwa in einer Zwangsfahrt über den Kanal vollzogen hätte), so soll man doch, ehe man urteilt, an die Kinderstube denken. Jedenfalls beweist Satan schon hier ein auffallendes Verständnis für die geliebten Schafe Gottes auf Erden. Er brauchte nicht erst fünftausend Jahre alt zu werden, um hinter der Frömmigkeit der Menschen statt der Liebe zu Gott den Eigennutz zu suchen. Mochte er im Falle Hiob auch irren, nun wohl, er war seiner Zeit voraus. Heuchelei und Glauben wohnen nahe beieinander. Niemand wird ihm das bestreiten. Es gehört Mut dazu, sich zum Teufel zu bekennen; wer sich zu ihm bekennt, der heuchelt nicht. Auch bei Zacharja steht Satan noch völlig in den Diensten Gottes, doch ist hier und da schon etwas von der selbständigen Macht zu merken, die er als persischer Ahriman besaß. Auffällig ist, daß die Vorstellung von dem, was gut und böse ist, durch die Jahrhunderte hindurch im wesentlichen fast unverändert blieb, und eigentlich erst in unseren Tagen, — freilich, ohne daß man überall den Mut des Eingeständnisses findet, — eine andere geworden ist. Und auch zu den Zeiten, zu denen der Teufel der Kirche im Nacken saß und selbst ihre Diener schüttelte, so daß sie ihm willenlos folgten und in allem taten, was er wollte, änderte sich hierin nichts.
Um so mehr aber wollen wir die Zeit, zu der eine Festlegung der Begriffe noch fehlte, sobald von der Wirksamkeit und der Herrschaft des Teufels die Rede ist, unberücksichtigt lassen.
So einfach es also wäre, schon in der Avesta der Parsen des Teufels überwiegenden Einfluß nachzuweisen, so wollen wir dies Ruhmesblatt in seiner Geschichte aus dem erwähnten Grunde ungeschrieben lassen. Man hatte in der guten alten Zeit denn doch zu eigene Begriffe von dem, was Pflicht eines guten Menschen war. Denn was werden die Christen, die die Liebe predigen, dazu sagen, wenn es im 15. Fargard der Avesta bei Aufzählung der fünf Sünden, bei der dritten heißt: derjenige Mensch ist ein Sünder, der eine trächtige Hündin schlägt oder scheucht, oder sie, gleich, ob sie ihm oder einem andern gehört, ohne Nahrung läßt.
Auch wenn es im 32. Buch Yaçna heißt: ‚der tötet mich, wer das Leben des Bösen als das Größere deutet‘, so wird man schwerlich die Begriffe, die nun zwei Jahrtausende lang gegolten haben, samt und sonders mit diesen identifizieren können. Schon die religiöse und moralische Bedeutung der Sauberkeit und Mildtätigkeit ist in dem Ernst und in der Tiefe unseren christlichen Begriffen — leider! — völlig unverständlich.
Und der Teufel wird die Stellung des Drukhs-Naçus nicht für sich in Anspruch nehmen, da er nicht der Gott des Schmutzes im Gegensatz zum reinen Gotte ist, als der er, nicht nur im Vendidad eine seinem wahren Wesen durchaus nicht zusagende Rolle spielt. Jedenfalls aber hat die selbständige Stellung des Agra-mainjus, wenn dessen Verhalten gegenüber Zarathustra auch nicht immer dem Charakter des Teufels entspricht, den Dualismus in den Glauben der Hebräer getragen und damit den Grund zur Herrschaft desjenigen gelegt, den die Menschheit als Satan fürchtet — oder ehrt.
Nach der Würdigung, die er dann bei den Synoptikern, bei Paulus, in der Apokalypse, erfährt, wird man ungefähr seine Macht ermessen und erkennen, daß Satan zum mindesten der von der heiligen Kirche anerkannte Herrscher im Reiche der Finsternis ist, sofern er nicht gar als der Herr der Welt anerkannt wird[2].
[2] Matth. 12, 29; 1. Kor. 5, 5; 2. Kor. 4, 4; Eph. 2, 1; 1. Tim. 1, 20; Offenb. 12, 10; Luc. 22, 31; Luc. 8, 12; 1. Petr. 5, 8; Hebr. 2, 14; Röm. 5, 12.
Und damit wird denn auch der Kampf mit dem von der Kirche willkürlich eingesetzten Herrscher des Lichts unvermeidlich. Denn welcher Herrscher ließe sich ohne Widerstand durch schöne Worte, hypnotische Künste und manuelle Fertigkeiten, die im Vergleich zu den Werken des Teufels Taschenspielereien eines zweitklassigen Varietéekünstlers sind, aus seiner Position drängen? Ja! Wenn die Zahl der Menschen, die in Christi Namen und unter dem Zeichen des Kreuzes hingemordet wurde, den Erfolg entschiede, dann freilich bliebe Satan, selbst wenn man fälschlich die Giftmorde der sogenannten Hexenperiode auf sein Konto trägt, um Millionen im Rückstand. Das in Christi Namen vergossene Menschenblut reichte aus, um ganz Europa damit zu ersäufen. Und Christus war der Angreifer; lest: Matthäus 12, 19; Johannes 12, 31, Johannes 3, 8. Er also trägt die Verantwortung. Niemand sonst!
Die Metzeleien der wildesten Heidenstämme, der Hunnen, Türken und Mongolen, die Greuel der degeneriertesten Cäsaren sind harmloses Kinderspiel im Vergleich zu dem Blut schuldloser Männer, hilfloser Frauen und wehrloser Kinder, das im Namen des ‚Heilbringers‘ geflossen ist. Aber so turmhoch man auch Leiden auf Leiden häufte, die Blutherrschaft Christi wurde um keinen Deut befestigt.
‚Wo der Teufel als Fürst dieser Welt gefaßt wird, das Wesen dieser Welt auf vergängliche, eitle Lust gestellt ist, da gilt es einen Kampf mit dieser, und wer als Sieger daraus hervorgeht, hat auch den Teufel überwunden.‘ Prachtvoll! Also spricht Gustav Roskoff. Er brauchte nur einen einzigen flüchtigen Blick auf die Menschheit unserer Tage zu werfen, um zu erkennen, daß unsere Welt unwiderruflich und ausnahmslos ‚auf vergängliche, eitle Lust gestellt ist‘, und daß kein Mensch auch nur im Traume daran denkt, dagegen anzukämpfen. Die Menschen dieser Welt, die glaubten, sind viel zu oft betrogen worden, um fürder auf terminlose und nicht einklagbare Versprechungen hin den weltlichen Freuden zu entsagen.
Denken Sie an die ersten Jahrhunderte! An den Glauben des Chiliasmus! Es ist eine der größten Lügen zu behaupten, daß die Lehrer des Christentums den Chiliasmus bekämpft haben. Im Gegenteil, sie haben Seelenfang damit getrieben. Wo ist die von Gott neu geschaffene Stadt Jerusalem, auf die wir nun bald tausend Jahre warten? Weshalb stellt man diese Fragen nicht mit aller Deutlichkeit und verlangt Antwort? Hat — außer Ezechiel und Johannes — jemand gesehen, wie sie sich vom Himmel auf die Erde senkte? Wo anders sonst als auf dem Gebiete des Glaubens würde man solchen erwiesenen Schwindel dulden, ohne die Betrüger nachträglich noch zu richten. Würde heute jemand ähnliches behaupten — was meinen Sie? — Maison-santé wäre die Folge, und man würde den Fall seiner Bestimmtheit und Einfachheit wegen nicht einmal amüsant finden. Und wo fromme und gelehrte Herren eine Riesenstadt sich auf die Erde senken sahen, warum sollten da nicht minder begabte Lügner und Phantasten ein Grab sich öffnen und einen blonden Leichnam in den Himmel fahren sehen?
Suchen Sie bei Irenaeus, Methodius, Tertullian, Cyprian, Theophilus, bei Origenes, der den Chiliasmus übrigens bekämpfte, nach dem Hauptcharakterzuge des Teufels: der Egoismus ist es, der von Beginn all seine Handlungen bestimmte. Und wenn Sie etwa der Meinung sind, daß der Egoismus auch heute noch hier und da sich findet, daß also nicht während der zweitausendjährigen Herrschaft Christi, die alle Menschen selbstlos und zu Brüdern machte, der letzte Egoist längst in die Hölle fuhr, sondern hier und da sich noch findet, dann werden Sie füglich auch die Existenz des Teufels nicht bestreiten können.
Und so formuliere ich, gestützt auf die Kirchenlehrer: die Frage nach dem Teufel ist für diejenigen, die da glauben, die Frage nach dem Egoismus. Ist es dem Teufel gelungen, sich in den meisten Menschen festzusetzen, das heißt den Egoismus zur wesentlichsten Eigenschaft ihres Charakters zu machen, nun wohl, dann ist er der Sieger im Streite.
Zeigt es sich aber, daß dank der Herrschaft Jesu alle Menschen Brüder wurden, daß sie sämtlich die Freuden dieser Welt verachten lernten und unter Verzicht auf Reichtum, Stellung, Ruhm und Beifall dem lieben Nächsten nur das Beste gönnen, daß alle Feindschaft zwischen Menschen und Völkern eines Glaubens längst verschwundenen Zeiten angehört, dann kann Satan sich zur Ruhe setzen und an der Himmelspforte um Einlaß und Vergebung bitten. — Das ist für diese Materie aller Weisheit letzter Schluß.“
Er gab dann ausführlich einen historischen Überblick und zeigte die Rolle, die der Teufel in den ersten Jahrhunderten nach Christus gespielt hat. Er verweilte länger bei den Gnostikern, jenen Religionsphilosophen, die bei der Forschung ποθεν το κακόν (woher das Böse), als den Weltschöpfer den Demiurgen bezeichnen, den sie dem höchsten Gotte unterordneten. Irenaeus wurde erwähnt als der erste, der an die Stelle Demiurgs den Teufel setzte, wie er auch von Paulus und Johannes der Herrscher der Welt genannt wird. Die Kabbalah, die gewiß manches Unvernünftige enthalte, der man unter anderem zum Vorwurf mache, daß sie zum Teile mit schuld an der Machterweiterung des Teufels habe, verteidigte er mit Wärme.
Etwa das gleiche trug er hinsichtlich des Talmuds vor, der von kabbalistischem Geiste durchtränkt und dessen Dämonologie mit der Kabbalah beinahe identisch sei. Jedenfalls sei hier der hebräische Monismus bereits völlig dem Dualismus verfallen. Sodann zog er eine Parallele zwischen dem Manichäismus, dessen Begriffsmerkmal die Identifizierung der Materie mit dem Bösen sei, und dem Parsismus. Die Priscillianisten, die den Manichäern so nahe stehen, erwähnte er als die ersten Sektierer, welche die Kirche verfolgte und dadurch widerlegte, daß sie sämtliche Anhänger vom Leben zum Tode beförderte. Und fragt man sich — zumal wenn man die kirchliche Praxis im Auge behält, — was trennte die Manichäer von der Kirche, selbst hinsichtlich des Dogmas von der Sünde, so lautet die Antwort: die Bischöfe, die damals bereits begannen, an einem ausschweifenden Leben Gefallen zu finden, nahmen Anstoß an der strengen Lebensführung und der bewundernswerten Enthaltsamkeit der Manichäer und Priscillianisten. Der an ihnen begangene Massenmord, — warum wies noch niemand darauf hin? — kennzeichnet sich damit als ein durch die Motive niedrigster Art qualifizierter, und würde, vom Teufel begangen, als eins seiner Meisterstücke zu gelten haben. In der Geschichte des Teufels aber wird es etwa so zu fassen sein: die Manichäer und speziell die Priscillianer, die in ihrer Askese dem Teufel unbequem zu werden drohten, bekämpfte Satan, indem er sich hinter die Kirche stellte und sie dann auf die Manichäer und Priscillianer hetzte. Es war dies das erste große Blutbad, das in Christi Namen bereitet wurde. Und es war zugleich der erste große Triumph des Teufels über die Kirche, der gerissenste vielleicht bis auf den heutigen Tag. Die Kirche mordete und besorgte die Geschäfte des Teufels, indem sie seine überzeugtesten Widersacher, die ihn fast überwunden hatten, bekämpfte.
Und diesem Debüt entsprach alles, was folgte. Was die Kirche sich im Mittelalter, in dem die ganze Welt von der Furcht vor dem Teufel besessen war, an Verbrechen geleistet hat, war so haarsträubend, daß die treuergebensten Anhänger Satans unruhig wurden und anfingen zu fürchten, ihr „Herr des Bösen“ habe in dem scheinheiligen Jesu seinen Meister gefunden.
Die so sprachen, waren mit Blindheit geschlagen. Denn gerade darin, daß die Diener der Kirche, die als Stellvertreter Gottes auf Erden ausersehen waren, die Liebe Christi in der Welt zu predigen und zu verbreiten, zu Dieben, Mördern und Verrätern wurden, zeigt sich, wie weit Satan seine Netze damals schon geworfen hatte. Wie konnte er empfindlicher und überzeugender die ganze Ohnmacht Jesu beweisen als dadurch, daß er aus seinen frömmsten und sittsamsten Schafen wilde Tiere machte?
Nicht in der Zahl der hingemordeten acht Millionen Hexen und ihrem Anhang sehen wir moderne Satanisten die Macht des Teufels; denn selbst aus der kleinen Zahl der gemeiner Verbrechen Überführten lassen wir nur verschwindend wenige als Teufelsgläubige in unserm Sinn gelten. Weniger in denen, die da gepeinigt, gefoltert und verbrannt wurden, als in den Stützen der Kirche, die, bewußtlos in der Angst vor dem Teufel, sich kasteiten und in der Ohnmacht ihrer Abwehr Verbrechen auf Verbrechen häuften, erkennen wir unsern Herrn und Meister. Indem er die Barmherzigkeit in die Grausamkeit verkehrte, kehrte er das Wesen des Reiches Jesu in sein Gegenteil um. Wenn selbst ein fanatischer Diabologe wie Przybyszewski behauptet, das Mittelalter habe in seinem Kampfe gegen Hexen in der Notwehr gehandelt; wenn der rührige und wohl einzige deutsche Teufelsjäger Hanns Heinz Ewers der Kirche, obschon ihr lügenhafter Bestand ihm ekel genug ist, öffentlich Dank sagt für die Ausrottung der Zauberei durch die Hinschlachtung von acht Millionen Menschen, so vergessen beide, daß es niemand anders als die Kirche selbst war, die für die ungeheure Ausdehnung dieser epidemischen Erkrankung, die längst von den Psychiatern in ihren Ursachen erkannt ist, Schuld und Verantwortung trägt.
Zu allen Zeiten wurde Zauberei getrieben. Bald mehr, bald weniger. Daß ein paar alte Weiber dabei betroffen wurden, veranlaßte den berühmten Canon Episcopi, den man von einer Synode in Galatien aus dem vierten Jahrhundert ableitet. Darin wurde allen, die es noch nicht wußten — und es wußte damals noch niemand! — von der Kirche kund und zu wissen gegeben, daß der Teufel eine Magie und Zauberkunst erfunden habe, kraft deren einige lasterhafte Weiber behaupten, des Nachts mit der Diana auf allen möglichen Tieren durch schöne Gegenden zu reiten. Das seien Teufelskünste. Die Künste des Teufels aber seien Sünde.
Habt ihr’s gehört?
Natürlich hetzte man mit solchen Mitteln die Menschen scharenweise in das Lager des Teufels. Indem die Kirche die vordem nüchterne Menschheit, die von alledem nichts ahnte, beständig in einem Wunderglauben erhielt, mit Mysticismus groß päppelte, machte sie sie für jede übersinnliche Vorstellung ganz besonders empfänglich. Und bald verfielen sie widerstandslos jeder Suggestion. Diese Warnung Neugieriger reizte natürlich ungemein, und Tausende sehnten sich danach, den Rosenkranz und Beichtstuhl mit einem ähnlichen Ritte unter Dianas Führung zu vertauschen. Solche kirchlichen Erlasse trugen dazu bei, das Legendenhafte an den weitverbreiteten Erzählungen über den Teufel, wie die des heiligen Antonius und des heiligen Martinus, für wahr zu nehmen. Man beschäftigte sich bald mehr mit dem Teufel als mit Gott und den Heiligen, die so gar nicht unterhaltend waren, zu denen man immer nur betete, ohne daß sie sich erkenntlich zeigten. Der Teufel aber, der immer neue Keckheiten ersann, bot täglich neuen Gesprächsstoff und gefiel gerade darum, weil er vornehmlich die, vor denen man bisher in Ehrfurcht erstarb, zum Gegenstande seines Spottes machte.
Es ist daher nur natürlich, daß der Teufel, der mit Hilfe der Kirche den Menschen so nahe gerückt (ja, fast konnte man sagen sympathisch gemacht) wurde, nunmehr auch Menschengestalt annahm. Und als weitere Folge ergibt sich die Vorstellung, daß jedes mit dem Teufel geschlossene Bündnis auf den freien Willen des einzelnen zurückzuführen ist, daß jeder Hexerei demnach auch ein eigenwillig geschlossener Vertrag mit dem Teufel zugrunde liegt. Die Hexen selbst glauben es, nur soll man nicht vergessen: die Kirche trägt die Schuld, daß sie es glaubten. Das Diana-Beispiel mag eins von Hunderten sein. Als die Kirche sieht, was sie angerichtet hat, ist es zur Umkehr zu spät. Die Teufelsbewegung wächst ihr über den Kopf, und die Kirche häuft Fehler auf Fehler.
Wer kehrt sich jetzt noch daran, wenn Theodosius den Spuren Valentians folgt und die Erhebung über die Gesetze der Natur, die Erforschung von Unerlaubtem, die Erkundung von Verborgenem als Verbrechen erklärt?
Gewiß, man bekreuzigt sich, man speit aus, ja — ich erinnere nur an das griechische Euchologium — man speit sogar den Teufel an, läßt sich von dem Priester anhauchen, haucht oft auch, völlig entblößt, bei den Abschwörungen den Teufel aus, bespritzt sich mit Weihwasser — niemand aber hat wahrgenommen, daß alle diese sinnigen Methoden den Teufel irgendwie und irgendwann geniert haben. Wie lange hat er die Menschen als Incubus gefoppt, gerade zu den sittsamsten Frauen stieg er, während der Mann daneben schlief, ins Bett und befruchtete sie mit seinem kalten Samen. Die Kirche hat es anerkannt. Sollte da nicht mancher Geistlicher als Incubus mit durchgeschlüpft sein? Seine verbürgten Allotria, die er per stimulum carnis trieb, und die er mit Vorliebe Nonnen gegenüber in Anwendung brachte, zeigen, daß er den Humor und die Satire dem Flennen und Beten, die sein blonder Widersacher lehrte, vorzog.
Während man zur Zeit des Canon Episcopi noch nicht recht an die Hexenfahrten glaubte, erweiterte die Kirche die geistigen Funktionen ihrer Gläubigen doch mit so elementarer Kraft, daß schon im Jahre 1275 zu Toulouse Frauen dieser Spazierfahrten wegen und auf Grund „erwiesenen“ geschlechtlichen Umgangs mit dem Teufel lebendig verbrannt wurden!! Jesus, was sagst du dazu? Nun, er sagte, wie gewöhnlich, nichts, und er hat mit seinem gütigen Lächeln auch mit angesehen, wie acht Millionen „Hexen“ gerädert, mit siedendem Pech begossen, gevierteilt und unter Hinweis auf seine barmherzige Güte auf die widerwärtigste Art zu Tode gequält wurden. Und er hat auch dazu geschwiegen!
Durfte schweigen, denn was besagten diese in seinem Namen begangenen Greuel gegenüber den Segnungen, die echter Christenliebe entsprangen: gegenüber dem Erlaß Gregors des Großen, der sich seiner göttlichen Dummheit rühmte und den Heiligen das Studium der Grammatik untersagte, oder gegenüber dem heiligen Franz von Assisi, der ad majorem Dei gloriam Tag aus, Tag ein das Schreien der Esel, die um die Krippe des Heilands standen, nachäffte.
Im Jahre 1356 erschien das Direktorium Inquisitorium als Lehrbuch für Ketzerrichter, auf Grund dessen man imstande war, bei einer Handlung jedwede ketzerische Zutat genau „herauszuschmecken“. Und da im Mittelalter fast jeder Mensch von dieser Krankheit mehr oder weniger infiziert war, so brauchte man nicht mit besonders feinem Geschmack begabt zu sein, um tatsächlich in jeder Handlung ketzerische Symptome wahrzunehmen.
Mit mehr Talent und größerem Erfolge als die katholische Kirche die Herrschaft des Teufels befestigt hat, ist keines Reiches Macht, selbst von den siegreichsten und glückbegünstigsten Regenten, jemals befestigt worden. Und wer an des Teufels Reich nicht glauben wollte, wurde dazu gezwungen. Roskoff erzählt, daß Wilhelm von Edelin, Prior von St. Germain, der gegen die Wirklichkeit der Hexenfahrten gepredigt hatte, vor dem geistlichen Gerichte Abbitte tun und bekennen mußte, daß er im Auftrage des Teufels gepredigt habe, als er erklärte, die Hexerei sei ein Ding der Einbildung.
Und da es trotz alledem vielleicht noch jemand gab, der mit des Teufels Künsten nicht recht vertraut war, so erschien zu dessen Belehrung (und Bekehrung) im Jahre 1458 das Flagellum haereticorum. Die Bespeiung des Kreuzes, die Schändung der Hostie, die fleischliche Vermischung mit den bösen Geistern wird hier so verlockend geschildert, daß jeder, der eine empfindsame Phantasie besitzt, aus Neugier diese seltsame Messe besuchen wird.
Und Innocenz VIII. gebührt der Ruhm, die offizielle Thronrede des Teufels, die ihm kein Minister besser hätte herstellen können, verfaßt zu haben. Auf Grund seiner Bulle: Summis Desiderantes, der Mutter alles Hexenwesens, entstand der Hexenhammer; auf Grund des Hexenhammers wurden acht Millionen Menschen, darunter neun Zehntel schuldlos, von der katholischen Kirche hingemordet. Daß es neben Johann Weier vornehmlich ein Teufelsgläubiger, der Rechtsgelehrte Godelmann war, der als der ersten einer die den Hexen zugesprochenen Teufelskünste anzweifelte, zeigt, daß ich berechtigt war zu sagen: die Herrschaft des Teufels in der Hexenperiode zeigt sich in der Niedertracht der aus Angst vor dem Teufel besessenen Inquisitoren. Nicht in dem hysterischen Gefasel epileptischer Weiber, in denen die Kirche bald angstvolle Vorstellungen, bald reizvolle Neugier für die Werke des Teufels erregte, denen sie täglich schaurige Wunderdinge in so glühenden Farben vortäuschte, daß von Haus aus sensible und jeder Suggestion zugängliche Frauen, die in großer Menge damals an der Hysterie litten, diese Vorstellungen nicht mehr los wurden, sie in ihre Träume mit hinüberführten, und sich schließlich so ohne Unterlaß damit beschäftigten, bis sie, unterstützt von somnambulen Zuständen, selbst an das glaubten, was die Teufelsjäger ihnen aufoktroyierten.
Es gab bald nichts mehr, wohinter man in seiner Furcht nicht den Teufel vermutete. Wie Weier, so hatte, nach Roskoffs Bericht, auch ein bayerischer Jesuit, namens Tanner, mehr Vorsicht und sorgsamere Beweisführung bei den Hexenprozessen verlangt. Er starb. Und man weigerte sich, ihn christlich zu begraben, denn in seiner Behausung fand man in einem Glase einen haarigen Teufel. Und dieser Teufel entpuppte sich als ein Floh, den Tanner in einem Mikroskope aufbewahrte. Der Jesuit Spee, der erklärt hat, daß von den zweihundert Hexen, die er auf den Scheiterhaufen begleitete, nicht eine einzige ihrer Schuld überführt sei, steht nicht vereinzelt. Andere Theologen haben gleiches erklärt. „Werft die Kirchenobern, die Richter, uns alle auf dieselben Foltern, auf denen diese Unglücklichen litten, und ihr werdet von uns allen das verlangte Geständnis erhalten“, ruft der Jesuit. Man kennt aktenmäßig festgelegte Fälle, in denen Angeschuldigte ihrem Beichtvater ihre Unschuld nur unter der Bedingung gestanden, daß er dem Gerichte davon keine Meldung machte, da sie vorzogen, zu sterben, als nochmals die Qualen der Folter zu ertragen.
Sag, Jesu, Sohn des barmherzigen, allgütigen und gerechten Gottes, trugst du dein Haupt hoch, als diese Schuldlosen, — die deine Diener in deinem Namen einen tausendfach qualvolleren Tod sterben ließen, als du ihn starbst, — im Himmel vor dich traten?
Man mag im stillen Kämmerlein seines einfältigen Herzens mit dem Guten sympathisieren und das Schlechte verwünschen, — Privatsache des einzelnen; wer nicht in den Eselsspuren des heiligen Franz von Assisi wandelt, wird nach dem, was ich vortrug, bekennen, daß das Böse siegreich war und die Welt beherrschte vom ersten Tage ab, an dem Christus der Welt seinen Glauben bescherte (ob auch vorher, interessiert uns nicht). Daß die guten Taten so wenig Lohn und Anerkennung fanden als die schlechten Mißbilligung und Vergeltung. Daß alle Anzeichen für den Fortbestand der festgefügten, unangefochtenen Herrschaft des Bösen sprechen.
Längst weiß man, daß, wie die meisten Kreuzzüge, so auch die Blüte der Hexenprozesse, wo nicht gerade ein Mann seiner ihm unbequem gewordenen Frau, oder ein achtjähriges Kind sich seiner unbeliebten Magd (ein historischer Fall, dem zwanzig Menschen zum Opfer fielen!) entäußern wollte, auf Habsucht, Geldgier zurückzuführen ist. „Lasset die Kindlein zu mir kommen“, lispelte der blonde Jesus, und siehe da: auf dem Verzeichnis der Hexen-Leut, so zu Nürnberg mit dem Schwert gerichtet und hernach verbrannt wurden, finden wir: im 13. Brand ein kleines Mägdelein von neun oder zehn Jahren; im 15. Brand einen Schulknaben von zwölf Jahren; im 16. Brand einen Knaben von zehn Jahren; im 18. Brand einen Knaben von zwölf und noch einen Knaben von zwölf Jahren und ein Mägdelein von vierzehn Jahren; im 19. Brand einen Knaben von zehn und einen Knaben von zwölf Jahren; im 20. Brand zwei Knaben aus dem neuen Münster von zwölf Jahren; im 21. Brand zwei Knaben gleichen Alters; auch Blinde sind darunter!! Und da jeder Brand etwa vier bis sieben Opfer trug, so kann man getrost behaupten, daß unter den acht Millionen, die man aus Furcht vor dem Teufel ermordet hat, Millionen Kinder sich befanden, die ja bekanntlich des ganz besonderen Schutzes des Christengottes sich erfreuen.
Preußens Könige haben als erste diesem rein mechanischen und einträglichen Gewerbe der Massenschlächterei, bei denen der vorausgehende Prozeß von Beginn an nichts anderes als der Anfang der Hinrichtung war, ein Ende bereitet. Wenn Friedrich Wilhelm 1721 die Hexenprozesse verbot, so hatte ihm Friedrich I. schon den Weg dahin geebnet. Vorkommnisse des Hexenglaubens bis in unsere Tage sind bekannt.
Mit der uns Satanisten nur genehmen Entteufelung der Hexenprozesse, die unsere heutige Wissenschaft in das Gebiet der Pathologie weist, ist natürlich nichts gegen die Macht des Teufels, der nie einen Anspruch auf die ihm hier zugeteilte Rolle erhob, gesagt. Wo man ihn suchte und daher treffen wollte, war er jedenfalls nicht. Im Gegenteil! Auch hier war er wieder der Nasführer, der die Kirche auf ein falsches Geleis lockte, so daß sie sich den eigenen Schädel einrannte. Sie war die Genasführte und Besiegte. Satan triumphierte.
Dem widersprechen nicht die berühmten Werke des berühmten Balthasar Bekker, der alle Mühe aufwendet, um die Torheiten der Kirche klarzulegen, da er intelligent genug ist, um zu wissen, daß ein Kranker nur genesen kann, wenn er den Mut besitzt, seine Krankheit einzugestehen.
Von der Existenz des Teufels habe ich nicht zu sprechen. Auch wenn er sich nicht so intensiv bemerkbar machte, müßte, wer an Christum glaubt, auch an den Teufel glauben.
Es bedarf, um das nachzuweisen, keiner wissenschaftlichen Studien, so dankbar wir einem Sartorius, Eschenmayer, Jung und Martensen sein wollen. Recht hat der Superintendent Sander, der Gegner Schleiermachers, wenn er sagt: „Die Lehre von seiner Existenz und Wirksamkeit ist so nachdrücklich und deutlich in der Heiligen Schrift bezeugt, daß nur ein das Zeugnis mutwillig Verdrehender und Verkehrender es leugnen kann.“ Recht hat der wackere Philippi, wenn er sagt, daß die Kirche Christi von Anfang an und zu allen Zeiten die Anschauung von der Macht und Wirksamkeit des Satans gehabt hat, und wenn er ferner den Glauben an die Existenz des Teufels zur Bedingung des Glaubens an Gott und Christum macht.
Wer den Teufel wegdiskutiert, der diskutiert den christlichen Glauben weg. Mit Johannes und Paulus sagen wir, der Teufel ist der Herrscher der Welt, er ist, wie Martensen hervorhebt, nicht das Böse in dieser oder jener Beziehung, sondern das Böse an und für sich, der böse Geist als solcher, nicht bloß ein einzelnes böses Geschöpf, sondern das böse Prinzip selber in persona.
Der wirkliche Teufel, das persönliche Böse, wird er erst, wenn der Mensch ihn in das Bewußtsein hineingelassen hat. Es ist ein übermenschliches Prinzip, welchem durch den Menschen zur Existenz verholfen wird, eine versuchende und verführende, eine besessen machende und inspirierende Macht.
Was jeder fühlt und sieht, spricht schon im Jahre 1776 der Gießener Professor Köster aus. Der sagt: „... ich schlage die weltliche Geschichte nach und finde beinahe nichts als glückliche Schandtaten. Warum gibt es die göttliche Gerechtigkeit, die bei seiner Vorsehung vorausgesetzt wird, zu, daß der Unschuldige unterdrückt und gemartert wird, da im Gegenteil der Bösewicht emporsteigt? Warum werden so viele Millionen Menschen unglücklich gemacht, um den Ehrgeiz eines einzigen zu befriedigen? Warum sind die Güter dieser Erde so ungleich? Warum erstrecken sich Landplagen nur auf dieses oder jenes Volk? Wo ist hier Gerechtigkeit zu sehen? Wenden Sie dieses auf die Lehre vom Teufel an, ich gestehe Ihnen, ich weiß nicht, warum er in der Welt ist und Gott ihm so viel Gewalt gelassen hat.“
Es ist nicht unsere Sache, diesen Gründen nachzuspüren. Genug, es ist so. Wir haben uns einfach an das Tatsächliche zu halten. Eine Macht, die zweitausend Jahre lang unangefochten besteht, keinen Aufwand mit Worten und Verheißungen treibt und sich nicht wie eine Primaballerina schmücken und beräuchern läßt, verdient Bewunderung. Eine Macht, die durch zwei Jahrtausende sich selbst treu blieb und damit ihre Beständigkeit und Zuverlässigkeit erwies, der man keinen einzigen Widerspruch zwischen Geist und Tat vorwerfen kann — mag man ihre Tendenz billigen oder verwerfen — verdient Vertrauen. Nennen Sie mir eine Gottheit, welche in gleicher Weise ein Anrecht auf Bewunderung und Vertrauen hätte. Ich will nicht humoristisch werden, sonst würde ich — es läge ja so nahe — fragen: etwa Jesu? Ich tue es nicht. De mortuis nil nisi bene. Denn von seiner Herrlichkeit blieb ja nichts weiter übrig als eine Träne, die, wie es heißt, der Bischof von Lüttich dem Abt von St. Lauren schenkte, ein Barthaar, das der Graf Arnold von Andress in einem Gefäße am Hals trug, einige Strähnen Haars aus seiner Knabenzeit und eine seiner Windeln, die man in Byzanz trocken legte und zur Heilung der wallfahrenden Gläubigen ausstellte. Davor knie, wer will. Wir beugen uns vor einem anderen. Nicht vor dem Leugner Gottes, dem Atheisten. Nein! Vor dem Teufel als dem Anti-Christen.
Zum Schluß noch einige tatsächliche Feststellungen. Man wirft uns die Grausamkeiten vor, die wir bei unserm Gottesdienste, den sogenannten schwarzen Messen, begehen. Nun, es ist eine allbekannte Tatsache, deren Ursachen der Direktor des psychophysischen Laboratoriums in Kopenhagen nachgegangen ist: daß die Dogmen der Religionen von Geschlecht zu Geschlecht durch Suggestion fortgepflanzt werden. Und wenn man die gottesdienstlichen und religiösen Gebräuche unserer Religionen, die in keinem Verhältnis zu den modernen Anschauungen ihrer Gläubigen mehr stehen, miteinander vergleicht, und ihren Gehalt an Grausamkeit, Widersinn, Geschmacklosigkeit und Komik gegeneinander abwägt, so wird das Konto der einen eben mehr nach der komischen, das einer andern mehr nach der grausamen Seite hin belastet werden. Die Opfer von hunderttausend schwarzen Messen, die auf etwa dreihundertfünfzig Jahre sich verteilen, stehen in keinem Verhältnis zu den Christen (!), die den Kreuzzügen zum Opfer fielen, auf die man — nicht nur ihrer gewinnsüchtigen Motive wegen, die längst erkannt sind, — die Phrase vom Zweck, der die Mittel heiligt, nicht gut mehr anwenden kann. Die Welt hätte auch ohne die Kreuzzüge weiterbestanden, und vielleicht besser, wenngleich sie um die Sensation der Hexenprozesse und um manche andere Zerstreuung gekommen wäre.
Aber ich versichere Sie, Fälle, in denen ein italienischer Kardinal seine rothaarige Konkubine, die eben Mutter geworden war, bis über den Nabel in die Erde grub, ihr zwei giftige Schlangen an die Brüste setzte und den ausfließenden sowie den in den Tierleibern gefundenen Saft zu Giftmischereien verwandte, derartige Fälle gibt es bei uns Satanisten nicht[3]. Freilich: an dem zweitausendjährigen Leichnam Jesu zu knabbern, gewährt uns keine Befriedigung; wir nehmen das Abendmahl in anderer Gestalt.
[3] cfr. Przybyszewski: „Der Kult der Satanskirche“.
Eine Schwäche freilich hat unsere Kirche — oder eine Stärke, wie Sie es nehmen wollen. Sie ist nicht voraussetzungslos. Und fällt ihre Voraussetzung fort, so steht es schlimm um sie. Ich scheue mich nicht, sie Ihnen zu nennen: Amor si vincitur diabolus vincitur. Und damit komme ich auf das Weib. Das Weib in der Synagoge des Satans ist ein Kapitel für sich. Es hier vor Ihnen zu behandeln, verbietet die Polizei. Mit Recht sagt Marbodius, unter den zahllosen Schlingen, die der schlaue Satan auf die Welt niederwirft, ist keine so schlimm und gefährlich wie das Weib. Jenes Weib nicht nur, von dem Sprenger erzählt, daß ein Mann, dem sein Weib ertrunken war, sie stromaufwärts suchte, „weil das Weib im Leben immer widersprach und aller Vernunft so entgegenhandelte, daß sie natürlich auch im Tode stromaufwärts schwimmen mußte“, sondern das Weib — besessen vom Satan — das Weib eines Rops, das heute, wo das liberale Bürgertum die Seele abgeschafft hat und alle ihre Offenbarungen als Blödsinn, Humbug oder Pathologie erklärt, nicht mehr verstanden und daher nur um so gefährlicher wird. Rops hat, wie keiner vor ihm, keiner nach ihm, die Seele dieses Weibes erkannt. Vor ihm die Diabologen Bodinus — Sinistari — Del Rio. Nach ihm und mit ihm: Baudelaire, Huysmans, Vigelland, Ola Hansson, Peerzesmycki, Karàsek, Krains. Vor allem aber Stanislaus Przybyszewski, der das Buch der Seele und damit das Buch der Bücher, sein De Profundis, geschrieben hat.
Dies mein Vortrag über den Teufel, aus dem mir die Zensur alles Satanische herausgestrichen hat.“
Man klatschte; er machte eine Verbeugung und verschwand. Eine elegante Dame trat vor und lud die „Membres de Messe basse en cachette“ in den Nebensaal, wo das Liebeskonzil von Oskar Panizza zur Aufführung kam.
„Madame sind befriedigt von dem Vortrag?“ fragte eine ältere Dame zu Hilde gewandt.
„Gewiß; denn was er sagte, ist wahr, und ich bewundere den Mut, mit dem er ausgesprochen hat, was Tausende mit ihm empfinden. Aber er hätte uns dann auch sagen müssen, wie wir uns zu verhalten haben. Was er da vorgetragen hat, ist Geschichte, aber keine Religion.“
„Sehen Sie, das finde ich auch. Diesen Menschen fehlt das letzte: der Mut zur Tat. Diese modernen Satanisten sind keine Hasser, und ihr ganzes Streben beruht darin, dem Teufel ihre Ergebenheit und Unterwürfigkeit zu zeigen. Mit dem Verhöhnen des Christentums allein aber ist es nicht getan. Sie vergessen sämtlich, daß Satan ein Gott der Tat ist. Er verlangt von seinen Ergebenen statt sanfter Gebete positives Handeln. Für diese zahme Herde, denen noch die letzten Reste des Christentums in den Gliedern stecken, wird Satan nicht mehr als ein mitleidiges Lächeln übrig haben.“
„Was also sollte man tun, um ihm zu gefallen?“
„Alles, was Christus verbot. Vor allem gegen das Verbot der Nächstenliebe verstoßen; nur an sich und seinen Vorteil denken und dabei wahllos in den Mitteln sein.“
„Über Leichen gehen?“
„Bedingungslos! Jede schlechte Tat erfreut Satan, und ihm Freude zu bereiten, muß uns allen als erstes Gebot gelten. Das Böse tun um des Bösen willen; das ist der Schlüssel, der Satans Herz öffnet.“
„Und was hätte man davon?“ fragte Hilde.
„Oh, Sie kennen die Sünde nicht! Wer die Sünde kennt, kennt auch ihre Freuden, die tausendmal größer und nachhaltiger sind als die Freuden, die aus guten Handlungen entspringen.“
„Sie mögen recht haben. Die Schadenfreude soll ja die reinste Freude sein.“ Sie lachte.
„Schon. Aber sie geht erst in die Tiefe, wenn sie die Folge einer eigenen Handlung ist.“
Hilde sah, daß fast alle in den Nebensaal gingen, in dem man Theater spielte.
„Sie gehen nicht hinein?“ fragte die Dame.
„Ich gehöre nicht zu der Gemeinde“, sagte Hilde fast schüchtern. „Ich kam nur durch einen Zufall ...“
Das reizte die Neugier der Dame maßlos. Noch nie war es ihr vorgekommen, daß jemand, der nicht Mitglied war, ohne Einführung an den Vortragsabenden erschien. Daß sie kein Spitzel war, stand außer Zweifel. Die große Erregung, die Hilde während des Vortrags durchzittert hatte, war ihr nicht entgangen. Schicksale von Menschen, die sich hierher verirrten, mußten sie interessieren, mehr: sie hatte die Pflicht, das schöne junge Weib, das wohl nicht durch einen bloßen Zufall die große Heerstraße der gedankenlosen Philister verlassen hatte und nun auf diesen verborgenen Pfad geraten war, an die Hand zu nehmen; sie festzuhalten, wenn sie umkehren wollte und sie ihrem Gotte zuzuführen.
„Sie würden mich glücklich machen, wenn Sie das Souper mit mir nehmen würden, Madame. Sie befinden sich hier in einem Klub der besten Gesellschaft, wie ich mit gutem Gewissen behaupten darf, und es ist bei uns Sitte, daß unsere Gäste nicht mit leerem Magen in die Stadt zurückkehren.“
Hilde wehrte nicht eben mit besonderem Nachdruck ab. Sie reizte es ungeheuer, tiefer in diese Welt zu blicken, der ihr Erleben sie so nahe brachte. Und ohne Schüchternheit und Befangenheit (die nur natürlich gewesen wäre in einer Situation wie dieser, die mit allem, was sie sonst gewohnt war, brach) nahm sie an. Die Zofe, die noch immer vor der leeren Champagnerflasche saß, ermunterte sie durch Mokka und Gebäck. Dem Chauffeur ließ sie Essen bringen. Dann folgte sie der Einladung der Dame, die eben mit einem alten Herrn an sie herantrat, der sich als ihr Gatte, der Comte Baillot, vorstellte. Der reichte ihr den Arm und geleitete sie an eine kleine Tafel, die reich mit Blumen geschmückt am Ende eines kleinen Saales aufgestellt war.
Vier Plätze am Tische waren noch nicht besetzt, und Hilde kam der Gedanke: wenn nun dieser Abbé einer von ihnen ist? Sie stellte fest, daß diese Möglichkeit sie nicht mehr beunruhigte. Die ganze Atmosphäre, die Art, in der man ihr begegnete, hatten sie in die Vorstellung versetzt, daß nach dem, was sie erlebt hatte, Furchtbares nicht mehr zu erleben war; jedenfalls nichts, wovor sie sich zu fürchten brauchte. So empfand sie denn die Ereignisse dieses Abends wie eine reizvolle Sensation. Und den Reiz erhöhte das Außergewöhnliche des Vorgangs. Daß eine unbewußte Assoziation der Gedanken von Beginn an mitgewirkt hatte, daß ohne die letzten Wochen, in denen sich ihr Denken unausgesetzt in dieser bestimmten Richtung bewegte, ohne das schon das Gespräch in der Eisenbahn nicht gut möglich war, übersah sie.
Aber sie war hier doch nicht in gleichem Maße innerlich beteiligt wie bei ihren früheren Kämpfen. Sie hoffte für sich selbst nichts mehr. So war ihr Suchen nicht Selbstzweck wie ehedem, und sie stand den Dingen mit größerer Objektivität gegenüber.
Ihre Vorstellung von der Gemeinde des Teufels war freilich eine andere gewesen. An schmutzige Verbrechertypen hatte sie gedacht und fand nun einen Kreis von distinguierten Menschen, von denen ausnahmslos jeder den Eindruck des Ästheten machte. In keinem Berliner Salon war sie je einer in Aussehen und Manieren so durchweg vollendeten Gesellschaft begegnet.
„Bewundern Sie nicht den Mut, Comte, mit dem ich hier eingedrungen bin?“ fragte Hilde.
„Wir werden bemüht sein alles zu tun, um solchen Mut zu belohnen“, erwiderte er.
„Sie sind sehr liebenswürdig“, gab sie zur Antwort.
„Diese monatlichen Vorträge sind eigens für unsere Gäste, die von den Mitgliedern eingeführt werden; natürlich nicht, ohne daß man sie vorher über die Tendenzen unserer Gemeinde aufgeklärt hat. Man erschwert uns unter der Republik unsere Wirksamkeit; denn alles, was der unaufgeklärte und biedere Republikaner nicht versteht, erklärt er für unvernünftig und verbietet es.
Das Land der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dekretiert: es existiert nicht, und damit basta. Die Seele ist von Staats wegen abgeschafft und“ — er grinste voll Ironie — „wer wagt es zu bezweifeln? Die Vernunft hat auch diese Lücke ausgefüllt.“
In diesem Augenblick erschien der Abbé in Begleitung eines Herrn und zweier außerordentlich eleganter Damen. Er erkannte Hilde sofort und ging auf sie zu.
„Das nenne ich eine Überraschung, meine Gnädige! Sie kannten Madame?“ wandte er sich zu der Comtesse.
Jeder erzählte, wie man sich kennen gelernt hatte. Der Abbé stellte die Baronin de Meyronnet, die Vicomtesse de Cholet, Monsieur Przybyszewski vor. Bald unterhielt man sich ganz ausgezeichnet.
Hilde war erstaunt über die Höhe, auf der sich das Gespräch von Anfang an bewegte. Man sprach mit der höflichen Rücksicht, die man nur in Frankreich findet, über deutsche Verhältnisse, lobte das Wenige, was zu loben war und mehr. Erst spät kam man auf die Dinge zu sprechen, deretwegen man eigentlich beisammen saß.
„Madame meint,“ wandte sich die Comtesse mit einem Hinweis auf Hilde zu dem Abbé, „und mir scheint, sie hat nicht ganz unrecht, daß Ihr Vortrag heute mehr Historie als Religion gewesen sei.“
„Den Vorwurf lasse ich gelten. Gewiß, aus dem was war, nicht wie die andern, aus dem was kommen soll und doch nie kommt, leiten wir unsern Glauben her.“
„Ich meinte damit, daß ich bei aller Anerkennung des Tatsächlichen doch nicht recht etwas damit anfangen kann.“
„Sehen Sie“, sagte die Comtesse, und sah ihn vorwurfsvoll an.
„Nun, ich leugne nicht, daß für Sonnenwanderer unsere Kirche nicht zugeschnitten ist. Auch für den nicht, der sein Glück da sucht, wo es der Durchschnittseuropäer findet, der es für ausgeschlossen hält, daß es etwas gibt, was außerhalb seines Verstandes liegt und daher allem, was er nicht begreift, einfach die Existenz abspricht und auf alle Gläubigen wie auf geistige Trottel herabblickt.“
„Genau, wie ich soeben sagte“, unterbrach ihn Comte Baillot. „Für diese weitverbreitete Type der Geistesaristokraten, denen die Klänge Léhars vor Wonne den Bauch in Falten ziehen und sie auf Tage hinaus ihre Schmerzen vergessen lassen, taugt die Kirche freilich nicht, für die Chopin seine Sonaten schrieb. Wer aber angeekelt ist vom Leben, der findet bei uns das, was ihn die Widerwärtigkeit, die es ihm brachte, vergessen läßt.“
„Oder,“ fiel Comtesse Baillot ein, „wer — wie unser Lehrmeister Przybyszewski sagt — erkannt hat, daß das Ergebnis aller philosophischen Spekulationen des Gehirns ein Ignoramus und Ignorabimus, mithin eine gänzliche Bankrotterklärung seiner verzweifelten Bestrebungen ist, und dem es nun allmählich dämmert, daß unmöglich die Gesetze des Denkens für den minderwertigsten Bildungsplebejer“ — und zu Przybyszewski gewandt fügte sie hinzu: „Sie nennen als Beispiel glaube ich Max Nordau[4] — dieselben sein können, wie für den scharfsinnigsten Gehirnaristokraten.“
[4] cfr. Przb.: Pro domo.
„Sehr richtig“, warf Przybyszewski ein, und wies auf Nietzsche hin, den scharfsinnigsten Gehirnaristokraten, und auf sein Buch „Also sprach Zarathustra“, „... der dann entdeckt, daß es die Seele gibt, die Seele, die sich nicht wie das Gehirn durch die Vernunft und Logik erklären, deuten und in ihren Äußerungen genau bestimmen läßt ..., nun, der dürfte, wenn er mit Hilfe unserer Kirche au delà unserer Gesellschaftsordnung träte, und sich, wie viele von uns, dahin gewöhnte, immer nur die Seele zu leben und den Verstand nur so weit heranzuziehen als das nötig ist, um im einzelnen Falle nicht in Konflikt mit unsern Gesetzen zu geraten, ... nun, ich glaube, daß unsere Gemeinde dieser Gattung von Menschen Genuß im Übermaß verschafft ...“
Und sehr ausführlich entwickelte er die Gegensätze der Satanisten zu den vielen andern, als ketzerisch bekannten und verfolgten religiösen Sekten.
Alles sah auf Hilde, ob sie gefolgt war. Es war so eigentlich die Quintessenz des Bekenntnisses aller, was Comte Baillot da mit der Klarheit, die in Worten überhaupt möglich war, ausgesprochen hatte.
„Ich glaube wohl, daß ich Sie verstehe, Comte; die Seele ist das Unmittelbare, der Verstand das Mittelbare. Wenn also heute jemand zur Welt käme ohne Voreltern, sozusagen primär — er müßte zu diesem Zwecke also schon vom Himmel fallen — dem nicht ein durch Jahrtausende entwickelter Verstand überkommen wäre; jener Verstand, der die Seele niederdrückt und der sie reguliert, jener Verstand, der den jedesmal geltenden Auffassungen und Gesetzen mit bewundernswerter Leichtigkeit sich anpaßt, obschon er im Laufe der Zeit mehr als einmal hat umlernen müssen, und der regelmäßig so gut umgelernt hat, daß, was verstandesgemäß war, auch für vernünftig galt; ich meine, jemand, der frei wäre und unabhängig davon, der so au delà des Verstandes handelte, daß er in allem nur den Schwingungen der Seele folgte, etwa wie Maeterlinck in seinen früheren Werken ‚L’intruse‘, ‚Princesse Malleine‘, ‚Pelléas und Mélisande‘ fertigbrachte, — jemand, der nicht bei jeder Regung, ehe er ihr folgt, erst ein Kolloquium mit seinem Verstande pflegt und dann statt einer impulsiven Gefühlsäußerung einen mit dem Gehirn geschlossenen Kompromiß zutage fördert —, solch ein Mensch, meine ich, wäre zu wünschen; aber ob diesen Wünschen jemals die Erfüllung folgt, wage ich zu bezweifeln.“
Die Comtesse nahm ihre Hand. „Sie bleiben also in Paris, schöne Frau?“
„Ja, ich denke. Paris oder doch in der Nähe.“
„Sie werden mich besuchen?“
„Mit Vergnügen, Comtesse.“
„Ich werde mich Ihres Kummers annehmen. Glauben Sie’s mir, besser als der Herr Abbé, der so viel Vernunft beibringt, daß er sogar die Hexenprozesse aus ihrer Mystik heraushebt und sie in das Gebiet des Verstandes weist.“
„Ich habe Ihnen Feuchterslebens Lektüre der ärztlichen Seelenheilkunde empfohlen, Comtesse; aber Sie haben es zurückgewiesen“, erwiderte der Abbé. „Sie wären sonst den Begriffen der epidemischen Psychopathie, die auch imitatorische Epidemie genannt wird, tiefer nachgegangen.“
„Er hat recht,“ fiel die Vicomtesse ein; „denken Sie nur an die psychische Tanzepidemie aus dem Jahre 1212, die uns Hecker geschildert hat: Tausende junger Leute, meist in den Pubertätsjahren, rotteten sich zu den sogenannten ‚Kindfahrten‘ zusammen, zogen fort, zum Beispiel 1237, bis sie erschöpft zu Boden fielen, wobei viele starben und die meisten bis zum Tode mit Zittern behaftet blieben. Diese Krankheit ‚kam die Knaben und Mädchen plötzlich an‘ und war nebst andern Erscheinungen mit krankhafter Antipathie gegen die rote Farbe, gegen weinende Personen und in ausgebildeten Fällen mit Auftreibung des Unterleibs verbunden. Heulen, Schreien, Springen, übermäßiger Hang zum Tanzen stellte sich paroxysmenweise ein. Als im Jahre 1374 die Apostelkirche zu Lüttich eingeweiht wurde, kamen ganze Scharen aus Oberdeutschland, vom Rheine und von der Maas nach Aachen, dann nach Utrecht und endlich nach Lüttich herangezogen; Männer, Frauen, halbnackt, Kränze auf den Häuptern, sich an den Händen fassend, Tänze aufführend, wobei sie hoch aufsprangen, in ihren Liedern Namen von Dämonen nannten, darauf gewöhnlich in Krämpfe verfielen. Diese Haufen schwollen vom September bis Oktober zu Tausenden an, denn es kamen aus Deutschland immer mehr Tänzer herbei. Da sie für von Dämonen Besessene galten, wurden sie mit Exorcismus behandelt, zum Teil durch die Stola geheilt, wie der Berichterstatter vermerkt.
Oder denken Sie an den Fall des Methodisten vor der Kapelle der Stadt Redruth; die Zuckungen, in die ein Unglücklicher unter entsetzlichen Qualen aus Schmerz über die Unreinheit seiner Seele verfiel, ließ Tausende, die es mit ansahen, in den gleichen Zustand verfallen, in dem sie sich ohne Schlaf und Nahrung bis zu drei Tagen herumsielten.“
„Damit pflichten Sie mir eher bei, als daß Sie etwas gegen mich beweisen. Gerade in Ihrem Falle, Vicomtesse, haben die Geistlichen, zu denen die Leute flüchteten, mit aller Bestimmtheit den Einfluß des Teufels angenommen.“
„Gewiß,“ sagte Przybyszewski, „und die so schon Besessenen noch verrückter gemacht. Aber schon die Epidemie in Morzine aus dem Jahre 1861, über die Professor Peterson berichtet, sieht ganz anders aus. ‚Es fing mit hysterischen Anfällen eines einzelnen jungen Mädchens an. Diese traten auf entweder, wenn sie allein, oder auch, wenn sie mit Altersgenossinnen zusammen war. Der Anblick dieser Krampfanfälle war für die empfänglichen Individuen so ergreifend, daß einzelne derselben angesteckt wurden. Nun fing man an, davon zu reden, daß nicht alles mit rechten Dingen zugehe, daß Hexerei und Besessenheit mit im Spiele seien. Dann nahmen die Priester die Sache in die Hand und begannen mit den von der katholischen Kirche vorgeschriebenen feierlichen Exorcismen. Aber dadurch wurde das Übel nur ärger; immer mehr wurden von der Krankheit ergriffen und man wurde erst Herr über sie, als die Kranken entfernt, die Priester versetzt und die Gegenden mit Gendarmen belegt wurden, welche die Bevölkerung in Ruhe halten sollten.‘ Das sind historische Begebenheiten und wissenschaftliche Urteile, gegen die anzukämpfen offene Türen einrennen hieße. Nein, ich stehe ganz auf dem Standpunkte des Abbés. Das einzige, was noch unklar war, das Hexenmal, auch das hat jetzt seine Erklärung gefunden.“
„Und die Empfindungslosigkeit der Hexen?“ fragte die Comtesse.
„Auch diese ist als Anästhesie erklärt; sie kann vollständig, sie kann partiell sein. Und selbst der stärkste Reiz vermag keine Empfindung auszulösen. Am häufigsten findet sie sich als Analgesie, wo jedes Schmerzempfinden fehlt, während man schmerzlose Berührung noch empfindet.“
„Und wie erklären Sie das Fliegen der Hexen?“
„Auch damit kann ich aufwarten“, erwiderte Przybyszewski. „Lesen Sie Kiesewetter. Er hat alle Hexensalben an sich selbst versucht, und er hat wahrgenommen, daß die Einreibung der Herzgrube mit einer Lösung von Hyoscyanin das Gefühl lebhaften Fliegens in einer Spirale, als wenn man von einem Wirbelsturm herumgerissen würde, hervorruft[5]. Man braucht sich nur mit den Erscheinungen der Hyperohysterie zu beschäftigen, um für jede, aber auch jede Erscheinung aus den Hexenprozessen eine völlig erschöpfende Erklärung zu finden. Und darum müssen wir uns von diesen Dingen, wenn wir noch den Anspruch erheben wollen, für ernst genommen zu werden, losreißen. Die Tatsache bleibt nun einmal bestehen, daß die Zeiten vorüber sind, in denen sich (wie durchweg im Mittelalter) die seelischen Offenbarungen auf dem Gebiete des religiösen Lebens vollziehen. Das Christentum ist innerlich überwunden; daß eine bewundernswerte Organisation die Kirche noch auf lange Jahre hinaus vor ihrem Zusammenbruch bewahrt, ändert daran nichts. Sie können unbeschadet ihres Fortbestandes auf Grund der Forschung unwiderlegbar nachweisen, daß ihre sämtlichen Voraussetzungen fortfallen: einige werden befehlen, die Mehrheit wird sich nur um so enger zusammenschließen. Solange sie nicht etwas Neues schaffen, was die Lücke füllend an seine Stelle tritt, bleibt alles beim alten.“
[5] cfr. Przybyszewski: „Kult der Satanskirche“.
„Warum suchen wir denn nicht den Satanismus an seine Stelle zu setzen?“ fragte die Vicomtesse.
„Weil der heutige Satanismus keine Religion der Massen, sondern immer nur die weniger Bevorzugter sein kann. Nicht an der Zahl seiner Anhänger, sondern seiner Opfer ist seine Macht zu messen. Seine Anhänger, das heißt, wir alle hier, sind seine Priester. An der Anerkennung nach außen und einer großen Gefolgschaft liegt uns nichts. Wir wollen die Menschen weder beglücken noch sie erlösen.“
Und die Vicomtesse sagte:
„Es gibt für uns keine Erlösung, nur ein Vergessen. Es gibt für uns, die wir vom Leben angeekelt sind, kein anderes Vergessen, als in den Delirien unserer Messe. Reformieren Sie, soviel Sie wollen. Spalten Sie die Palladisten, die den Katholizismus einfach umdrehen, in tausend neue Sekten: das Religiöse ist nicht erst seit heute von dem Geschlechtlichen auf den zweiten Platz gedrängt. Unser Mystizismus strebt längst nicht mehr danach, das dem Verstande Unzugängliche durch innere Anschauung zu ergreifen. Wir suchen kein Neuland und setzen keine Belohnung mehr auf den, der die größten Schandtaten begeht. Wir alle sind zu gute Satanisten, um an etwas anderes als an uns selbst zu denken. Und unser Ekel vor dem Leben ist so groß, daß wir zufrieden sind, wenn wir ihn nur auf Stunden vergessen; daß wir glücklich sind, wenn wir ihn gar auf Augenblicke zum Genusse wandeln können.“
„Sie dürfen nicht vergessen, Vicomtesse,“ fiel Przybyszewski[6] ein, „daß der Satanismus eine Religion so gut wie jede andere ist. Aber er ist die Religion à rebours, die Religion des Hasses, der Rache und der Unzucht. Welche Delirien wären in den Abgründen des Geschlechts nicht möglich? Ich bewundere immer von neuem die durch nichts beirrbare Beharrlichkeit und den liebevollen Eifer, mit dem das atheistische und liberale Bürgertum, trotz positiver Unterlagen die Ausdehnung unserer Messe leugnet.“
[6] cfr. Synagoge des Satan, 1897.
„Wir wollen sie getrost bei dieser Täuschung lassen“, meinte Comte Baillot.
„Ich habe nichts dagegen; von mir aus können sie bis an das Weltende unter ihrem Wanderredner Boelsche in Darwinismus machen; um so ungestörter werden wir sein. Die Rosenkreuzer sind jedenfalls ungefährlichere Esoteriker als die liberalen Bürger. Sie wissen, daß die Rosenkreuzer mit einem ungeheuren Aufwand von Mühe der Sekte Karmel nachgespürt und ihre religiösen Institutionen bis in die geheimsten Einzelheiten aufgedeckt haben.“
„Und man hat sie publiziert?“
„Gewiß. Stanislas de Guaita hat in seinem Buche ‚Le Serpent de genèse‘ eine ausführliche Beschreibung gegeben. Interessant genug, um sie Ihnen kurz zu erzählen. Ich habe sie in meiner ‚Synagoge des Satans‘ ausführlich behandelt. Die Sekte ist gegründet auf der Vorstellung, daß die Wesen sich von der niedrigsten Stufe bis zur höchsten Vollkommenheit entwickeln und jeder für seine Person, aber auch für die Gesamtheit der Gläubigen an dieser Vervollkommnungsarbeit mitzuwirken hat. Und das hat durch den Akt der religiösen Liebe zu geschehen. Denn nur auf diese Weise können wir das durch eine sündige Liebe verlorene Paradies zurückerlangen. Und diesen Akt der himmlischen Liebe vollziehen sie untereinander. Alle Männer besitzen alle Frauen und umgekehrt. Dieser Vorgang, der sich bei strahlender Beleuchtung vollzieht, gilt als der bedeutungsvollste religiöse Akt. Auch Beispiele werden uns gegeben; hier eins der zahmsten: ‚En mars 1883 le Carmel était dans toute son action‘ — es handelt sich um eine schwarze Messe, wobei es zu schändlichen Eifersuchtsszenen kam. Eine Dame ‚ne trouvait pas une compensation suffisante à la perte de son mari, qui était violemment épris de Mlle C. G. ...‘ Sie drohte, das Geheimnis der Sekte zu verraten. Nun folgte das Unglaubliche, das durch reuige Augenzeugen deponiert wurde. Die Dame hat ihren Mann zurückbekommen, während das Fräulein dut demander pardon à genoux à Madame, tandis que cette dame, couchée avec son mari, accomplissait une union céleste.“
„Daraus können Sie entnehmen,“ erklärte die Comtesse mit großem Eifer, „wohin wir gelangen, wenn wir den Glauben an den persönlichen Teufel aufgeben.“
„Jedenfalls wird er, wenn er existiert, an der Falschheit und erheuchelten Frömmigkeit und tausend anderen Schlechtigkeiten und Ungerechtigkeiten, welche heute die Welt regieren, seine Freude haben“, meinte die Baronin de Meyronnet. „Ich gönne sie ihm von ganzem Herzen. Aber im Grunde, was kümmert es mich, ob sich der Teufel amüsiert oder nicht. Ich will mein Vergnügen haben. Das Leben wird sonst zur Qual.“
„Ihr Wohl, Baronesse!“ rief die Vicomtesse. „Sie haben ganz recht; unsere Frömmigkeit ist der Egoismus.“
„Und doch,“ erklärte fast dozierend der Abbé, „wenn der Satz: wer an Christus glaubt, muß an den Teufel glauben, auch nicht ohne weiteres so zu fassen ist, daß, wer an den Teufel glaubt, nun umgekehrt auch an Christus glauben muß, so ...“
„Der Teufel war Jahrtausende da, bevor Maria den kleinen Jesus gebar“, unterbrach die Comtesse.
„... eben, ich will den Satz in dieser Umkehrung auch gar nicht gelten lassen. Jedenfalls ist uns Satanisten Jahrhunderte lang Satan der Anti-Christ gewesen. Und damit mit dem letzten Christen nicht auch Satans Herrlichkeit ein Ende hat, darum eben müssen wir reformieren. Und zwar in der Weise, daß der Satanismus fürderhin nicht mehr ausschließlich in der Negation beruht.“
„Richtig! Erheben wir das Böse wieder zum Positiven wie ehedem!“
„Wir werden reformieren müssen, und zwar auf Grundlage der Palladisten, für die Luzifer der Gott des Lichts und des Guten, Jahve Adonai aber der Gott alles Bösen ist.“
„Mir scheint das durchaus nicht erstrebenswert, Abbé!“ erwiderte Przybyszewski in erregtem Tone. „Wenn wir nicht an Satan, als dem gefallenen Engel, dem Fürsten der Finsternis festhalten, unter dessen Schutz man mit Hilfe der schwarzen Magie ungestraft alle Verbrechen begehen kann, dann haben wir kein Recht mehr, uns Satanisten zu nennen. Es fehlt nur noch, daß Sie die Satyriasis und Nymphomanie für pathologisch erklären, und wir können auf die Wiese gehen und die Schafe Gottes weiden ...“
„Hat die schwarze Messe, seit die Hexenprozesse ihr Ende erreichten, wesentliche Erfolge zu verzeichnen?“ fragte die Baronin.
„Tausende!“ fiel die Comtesse ein. „Denken Sie doch nur an Marie Madeleine von Brinvilliers, Louis von Varens, Cadelan, Bachimont. Aber freilich, wenn man bedenkt, daß die Voisin allein nach eigenem Geständnis mehr als zweitausendfünfhundert durch ihre Einwirkung zu früh geborener Kinder verbrannt oder vergraben hat, und wägt man dann das vermeintliche Glück, das dieser Kinder auf Erden harrt, ab gegen die Schmerzen, die das Leben ihnen gebracht hätte, die ihnen so erspart blieben, so wird man sich im Ernste fragen müssen, ob darin eine gute oder böse Tat zu sehen ist.“
„Ich bitte Sie, die Voisin war doch keine Satanistin. Sie war fromm.“ — Heiterkeit erregten diese Worte, welche der Graf mit großer Überzeugung vortrug. — „Ich versichere Sie,“ — fuhr er mit Nachdruck fort — „sie war es! und ihre größte Sorge war, daß die Kinder noch vor ihrem Tode von einem Priester die Nottaufe empfingen. Solche Priester hatte sie natürlich an der Hand.“
„Das mag stimmen“, sagte die Comtesse. „Aber es genügt das historische Beispiel der ungekrönten Königin von Frankreich, der Maitresse Ludwigs XIV., Frau von Montespan. Es läßt nach den gleichmäßigen Aussagen einer großen Zahl einwandsfreier Zeugen, nach den Berichten namhafter Geschichtsschreiber und den Erklärungen unbestochener Richter keine Deutung mehr zu: die Montespan hat mit Hilfe der schwarzen Magie sich das Herz des Königs wieder erschlossen, welches offensichtlich schon zu der Witwe Scarron, der späteren Frau von Maintenon, neigte. Nun, für diese Dame, die keine Satanistin war, war die Messe nichts als ein Ersatz für die Apotheke, welche die Medikamente, die sie brauchte, nicht liefern durfte. Es ist nicht jedermanns Sache, das Blut eines neugeborenen Kindes in einen Kelch zu gießen, es mit der Hostie zu weihen und ...“
Der Graf hinderte mit einem leisen Hinweis auf Hilde, die starr, mit aufgerissenen Augen, dasaß, die Comtesse am Weitersprechen.
„Sie war unästhetisch, diese schönste aller Frauen,“ sagte er, „die dem Könige, mit dem sie doch jahrelang ohne Übelkeit verkehrte, bei einer Begegnung, von der sie wußte, daß es die letzte war, zurief: Sie mögen recht haben, Majestät, wenn Sie mir diese und jene Unvollkommenheit vorwerfen; eins habe ich vor Ihnen voraus: ich stinke nicht so ekelhaft wie Sie! — Eben diese Frau gab sich bei der Messe, um sich diesem übelriechenden König länger zu erhalten, dem halberblindeten, rot aufgedunsenen widerwärtigen alten Priester Guybourg hin.“
Das Gespräch wandte sich auf Anregung des Grafen, dem diese Unterhaltung in Hildes Gegenwart durchaus nicht erwünscht war, wieder anderen Dingen zu. Man sprach von alter Kirchenkunst, und die Vikomtesse, die Baronin und der Abbé, sowie Przybyszewski entwickelten Kenntnisse, die in ihren Details verblüfften; sie zeigten dabei aber ein Verständnis, welches auf so tiefer Empfindung ruhte, daß Hilde völlig aus allen schweren Gedanken gerissen wurde und sich lebhaft an der Gestaltung Veronas, das aus der plastischen Schilderung dieser kunstbeseelten Menschen wie ein vollendetes Gemälde emporwuchs, beteiligte.
Ihr kam der Wunsch, in diesem Kreise leben zu dürfen. Als sie am nächsten Tage nach Paris fuhr, erhellte sich ihre Stimmung in der Hoffnung, mit diesen Menschen bald wieder zusammen zu treffen.
Paris! Hilde kannte es. Sie konnte die Namen der Juweliere in der Rue de la Paix vom Plâce Vendôme bis hinauf zum Plâce de l’Opéra und auf der anderen Seite wieder zurück, ohne anzustoßen, hersagen; kannte die Preise für englische Kostüme und Abendtoiletten bei Redfern, Paquin, Drécoll und wußte, daß man bei Paillard, Durand und Larue besser speist als bei Riche oder im Americain; denn sie war dreimal mit ihrer Mutter hier gewesen.
Zur Erfüllung ihres Wunsches, die Mona Lisa und Rembrandts Les Pélerins d’Emmaus zu sehen, blieb keine Zeit. Der damalige Besuch im Louvre dauerte kaum eine halbe Stunde, und die verstand man vor dem Kohinoor und der Diamantkrone Napoleons.
So verbrachte Hilde die ersten drei Tage mit Ausnahme der Mahlzeiten, die sie im Hotel nahm, in den Galerien. Sie vermied es, Bekannten zu begegnen, freute sich aber doch, als sie eines Morgens Fritz Krohn vor Memlings La vierge aux donateurs stehen sah. Zehn Minuten hielt sie sich im Hintergrunde. Dann, als er, in der Hand die Gazette des Beaux Arts, seinem Begleiter noch immer vorhielt: avec quelle finesse les intentions unanimes des vingt et un membres de la famille, avec quel art délicate ces attitudes invariables, ces physiognomies uniformement pensive, ont elles été rendues et modifiées par le peintre en raison du sexe, de l’âge, du charactère moral ..., trat sie an ihn heran und sagte:
„Also noch immer nicht geheilt von Ihrer alten Leidenschaft?“
Dem kleinen Krohn fiel das Blatt aus der Hand.
„Hilde!“ schrie er laut, nicht, weil er nicht wußte, ob er sie mit Fräulein oder mit Frau anzureden habe, — das überlegte er keinen Augenblick, sondern rein aus aufrichtiger Freude, daß er sie nach so langer Zeit so unerwartet wiedersah.
Hilde kannte längst die Rolle, die Fritz Krohn in ihrer Affäre gespielt hatte; ihr eigener Kummer war daran schuld, wenn sie diese Tat niemals gewürdigt hatte. Aus der ununterbrochenen Reihe der Widerwärtigkeiten, die sie nun seit des Vaters Tode verfolgten, mußte sich sein Verhalten, das als das einzige anständiger Gesinnung entsprach, besonders vorteilhaft abheben. Und so stand Hilde jetzt mit einem Gefühle, das sie bisher nicht kannte, vor ihm; sie stand in seiner Schuld, hatte nicht einmal im stillen ihm gedankt. Sie schämte sich.
Aber seine Freude war so groß, daß sie wenig Zeit fand, weiter darüber nachzudenken. Er verabschiedete seinen Freund, blieb noch eine Stunde mit ihr in der Galerie, führte sie zu ihren geliebten Spaniern: Goya, Ribera, Velasquez, Zurbaran; zeigte ihr die Mona Lisa und van Eycks „La vierge au donateur“ und ging dann mit ihr fort. Bei Henry frühstückten sie. Als Hilde gegen vier Uhr in ihr Hotel zurückkehrte, wartete die Comtesse bereits seit einer halben Stunde und kam eben die Treppe herunter, als Hilde in den Fahrstuhl steigen wollte. Die Begrüßung war auf beiden Seiten sehr herzlich. Auf Vorschlag der Comtesse ging man zu dem benachbarten Rumpelmeyer.
Die Comtesse war eine der wenigen Frauen, die man mit Recht une femme du monde in des Wortes bester Bedeutung nennen durfte. Mit welchem Geschick wußte sie die vielen Bekannten, denen sie hier begegneten, von ihrem Tische fernzuhalten, ohne den Takt zu verletzen. Sie verstand es, mit Menschen umzugehen, und erschloß sich schnell Hildes Herz, das alles Leid, — Verwundenes, wie die Schmerzen, die sie noch immer litt, — dieser Frau preisgab. Sie merkte nicht, mit welchem Behagen die Comtesse ihr zuhörte, welchen Genuß es ihr bereitete, als sie mit einer Stimme, die schwer mit Tränen rang, von ihrer Liebe zu dem Priester sprach. Dem Schein nach suchte die Comtesse Hilde zu trösten; in Wahrheit aber wühlte sie in ihren Schmerzen und vertiefte sie, indem sie das Schicksal des Priesters bejammernswerter als das Hildes fand.
Die Vorstellung von den Qualen, die er litt, peinigte sie längst; was die Comtesse sagte und glaubwürdig hervorbrachte, schürte ihren Haß gegen die Kirche.
„Gewiß, er wird verzweifelt sein, aber wer weiß, ob er daran zugrunde geht. Möglich ist es immerhin, daß sich auch bei ihm die Wandlung vollzieht, und er einer der unsern wird ... vielleicht ist er es schon.“
„Wie kann man das erfahren?“ fragte Hilde lebhaft.
„Dazu müßten Sie selbst erst den Entschluß fassen.“
Hilde erwiderte hastig: „Wenn ich auf diese Weise erfahre, — es gibt nichts, was ich dafür nicht täte. — Im übrigen: soweit ich Ihrem Gespräch neulich in Marseille folgen konnte, und vor allem nach dem, was der Abbé in seinem Vortrage entwickelt hat, scheine ich meinem ganzen Erleben nach, wenn überhaupt noch irgendwohin, dann noch am ehesten in Ihre Welt hineinzupassen.“
„Ich habe Vertrauen zu Ihnen, meine Freundin. Wir halten nach drei Monaten morgen zum ersten Male wieder eine Messe ab. Ich werde Sie mitnehmen, obschon eigentlich niemand, der nicht nach Ablegung eines feierlichen Gelübdes aufgenommen ist, zu dem Besuche unserer Messen zugelassen wird. Nun, ich übernehme die Verantwortung; aber Sie müssen sich ehrenwörtlich verpflichten, über alles, was Sie erleben werden, zu schweigen. Selbst wenn man Ihr Schweigen irgendwo etwa zu Ihren Ungunsten auslegen sollte. Sie wissen, die Kirche haßt uns so, wie wir sie verachten. Es kann also immerhin zu Komplikationen kommen.“
„Sie haben mein Wort, Comtesse.“ Sie reichte ihr die Hand über den Tisch. Dann zahlten sie und gingen zu Fuß in das Palais Drouot, wo man noch immer am ehesten in ganz Europa die Möglichkeit hat — nicht bei vorher bekannt gegebenen Auktionen, sondern gelegentlich der uninteressanten Versteigerung verpfändet gewesener Möbel, — für gute Preise unbekannte alte Bilder, Stiche und seltene Bücher zu kaufen.
Hilde erwartete ungeduldig den Abend. Sie war sich selbst nicht klar, ob die Neugier in ihr stärker war als die Teilnahme. Sie wünschte zu erfahren, was diese Leute, deren Bildung sie bewunderte, deren Luxus essentieller Bestandteil ihres Menschen war, wohl über das Gleichmaß des Tages erheben und derart reizen konnte, daß sie es anbeteten und es zu ihrer Religion erhoben. Denn es waren Zweckmenschen. Einer wie der andere. Das wußte sie.
Gewiß; diese Gedanken standen bei ihr im Vordergrunde. Aber daneben drängte doch die Erkenntnis von der Macht des Bösen und der Ohnmacht Christi nach einer klaren Vorstellung von dem Glauben an den Teufel. Nicht mit jener Innerlichkeit, mit der sie sich einst nach dem dreieinigen Gott gesehnt hatte. Ihn hatte das Herz in der Hoffnung auf ein neues Leben gesucht. Daran dachte sie jetzt nicht mehr. Sie fühlte längst, daß ihre Seele ein Trümmerhaufen war, aus dem ein neues Leben sich nicht formen ließ. Alles war ineinander gestürzt und lag nun zusammenhanglos und zerstreut am Boden und stand einem Aufbau im Wege. So deutlich ihr die Macht des Bösen war: noch war die Reaktion ihrer Seele zu stark, um einem verstandesgemäßen Willen das Letzte, und wenn es nur die Sehnsucht nach einem Traume war, der ihr die Erfüllung ihrer Liebe täuschte, zu opfern.
Das Automobil der Comtesse hielt auf den Glockenschlag acht Uhr vor dem Hotel Du Rhin. Sehr hastig eilte Hilde, die nach Vorschrift ihrer Freundin ganz in Schwarz gekleidet und tief verschleiert war, die Treppe hinab und stieg zu ihr in den Wagen. Als Hilde Platz genommen hatte und das Automobil sich in Bewegung setzte, schlug die Comtesse ihren Schleier, der dichter noch als der Hildes war, zurück, und Hilde sah, daß sie bleich wie Wachs war. Ihre Augen hatten einen unnatürlichen Glanz und schienen um das Doppelte vergrößert. Der Mund bewegte sich fortgesetzt in nervösen Zuckungen und starke Konvulsionen durchzitterten, wie nach einem großen Schreck, ihren ganzen Körper. Alles an dieser Frau war in Bewegung. Sie begrüßte Hilde leidenschaftlich, riß sie an sich, küßte sie auf beide Wangen, nahm dann ihre Hand, die sie nicht mehr losließ.
„Nun, meine Liebe, haben Sie das Fläschchen, das ich Ihnen gab, ...“
Hilde griff in die Tasche und zeigte ihr ein leeres Flakon, das ihr die Comtesse mit der Weisung gegeben hatte, den Inhalt ein Stunde bevor sie kam, um sie zu holen, in einem Zuge herunterzugießen, auch dann, wenn sie im ersten Augenblicke etwa Übelkeit verspürte. Es enthielt eine Mischung von Fledermausblut, Fünffingerkraut, Schirling, Mohn, Wolfsmilch und anderem und entwickelte, als Hilde den Porzellanstöpsel löste, einen so starken Geruch nach verwesten Leichen, daß sie das Flakon schleunigst wieder schloß, auf die Toilette eilte und dort den ganzen Inhalt in den Ablauf goß.
Als Hilde der Comtesse jetzt das leere Fläschchen reichte und ihr vortäuschte, daß sie das Gift (denn etwas anderes konnte es nicht sein) genommen habe, bereitete ihr das Gefühl, mit dieser Lüge dem Teufel eine Freude zu machen, fast Vergnügen. Die Comtesse zog aus ihrem Pompadour zwei gleiche Flakons hervor.
„Ich nehme das vierte jetzt“, sagte sie. „Bereits um acht Uhr früh habe ich das erste genommen, um eins das zweite, um sechs das dritte. Auch Sie müssen jetzt, Liebste“ — und damit reichte sie ihr ein Flakon — „das zweite nehmen. Es schmeckt schlecht die ersten Male, ich weiß es; man gewöhnt sich daran.“
Hilde fuhr zusammen. „Wozu ist das?“ fragte sie.
„Sie haben mir versprochen, mich nach nichts zu fragen. Glauben Sie mir, es gehört dazu. Es muß sein. — Machen Sie die Augen zu und halten Sie den Atem an, so ...“ Hilde überwand sich und goß das Medikament, das scharf im Halse brannte, herunter. Die Komtesse schob ihr ein Bonbon nach, das den üblen Geschmack verscheuchte.
Bald spürte Hilde einen leichten Schwindel und ein Prickeln in den Fingerspitzen. Auch auf ihre Augen legte sich ein leichter Druck. Sonst fühlte sie keine Veränderung, während die Comtesse immer aufgeregter und ihr Atem immer tiefer und schneller wurde.
Das Automobil hielt am Eingang in die belebte und enge Rue Croix des petits Champs.
„Kommen Sie!“ sagte die Comtesse und nahm Hilde an den Arm. Sie stiegen aus und gingen eilig die Straße hinauf, bogen in eine Seitengasse und kamen an die Seine, von wo aus sie ein Automobil in die Rue du Sommerard führte. Bis hierhin folgte Hilde trotz der Gardinen, die vor den Fenstern hingen, und durch die nur schwer die Namen der Straßen zu erkennen waren. Sie merkte längst, daß diese wirre Fahrt lediglich den Zweck hatte, sie irre zu führen. Man traute ihr nicht, trotz des Ehrenwortes, das sie der Comtesse gegeben hatte. Nach weiteren zehn Minuten fuhren sie über einen Platz, der nach dem Standbild, das Hilde flüchtig sah, zu urteilen, der Place Clichy sein mußte. Dann war dies die Avenue St. Ouen und jetzt in einer scharfen Kurve rechts hinein — Rue Leibnitz las Hilde an einem brunnenähnlichen Bauwerk, auf das von den Leuchtkörpern des Bahnhofs her ein matter Lichtschein fiel. Abermals wandte das Automobil rechts um und raste über einen kurzen Damm, unter dem schwer und lärmend die Lokomotive eines Eisenbahnzuges stampfte. Dann ging es in eine Gasse, die kaum die Breite des Automobils faßte. Die Bremse wurde mit einem gewaltigen Rucke angezogen und der Wagen hielt.
„Sehen Sie zur Erde!“ gebot die Komtesse, als Hilde ausstieg; dann nahm sie sie unter den Arm und ging mit ihr einen schmalen „Impasse“ entlang — so las es Hilde, als sie den Fuß aus dem Wagen setzte; als sie weiter lesen wollte, traf sie der Ruf der Comtesse, — Monique, oder so ähnlich mochte es heißen.
Vor einem zweistöckigen Hause sagte sie leise:
„Hier ist’s“, und blieb stehen; zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche, der eher auf eine Kommode als auf eine Haustür deutete, und drehte ihn zweimal im Schloß herum. Dann drückte sie gegen die Tür, die leicht aufging, schob Hilde in den Hausflur, folgte schnell nach und schloß behutsam hinter sich zu. Dann atmete sie erleichtert auf. Hilde fühlte, daß schon die Gefahren dieser Fahrt, deren Ziel niemand kannte, außer dem Wagenführer, der ins Vertrauen gezogen und hoch bezahlt und hoch begabt und ein Filou war, kennen durfte, einen ganz ungeheuren Reiz auf die Comtesse ausübte.
In dem finstern Hausflur erscholl jetzt die helle Stimme eines Knaben. Hilde verstand nicht, was er sagte. Aber auf die Antwort der Comtesse, die laut „Naçus“ rief, erleuchteten unzählige elektrische Birnen den Flur, der hoch und gewölbt war, und an dessen rechter Seitenwand fünf schwere Marmorsäulen standen, auf denen in künstlerischer Vollendung lebensgroß die Statuen der Mylitta, Astarte, Kybele, Maja und der Semiramis prangten.
„Werfen Sie schnell einen Blick auf das da!“ rief die Komtesse. „Sie sind Millionen wert, und wenn Sie wüßten, wer sie gemacht hat, so ...“
„Vigelland“, brachte Hilde heraus.
„Nicht ganz, — aber kommen Sie, wir müssen weiter.“
Jetzt erst sah Hilde den Knaben, der ein weißes Röckchen trug und etwa zwölf Jahre alt war. Auf ein Klingelzeichen hin schoben mehrere Knaben in gleicher Tracht an der linken Wand des Flures eine schwere zweiteilige Holztür auseinander.
„Ein andermal sehen Sie sich das an, Liebste; sie ist aus dem elften Jahrhundert, ein Geschenk des Barons ...“, sie besann sich und verschwieg den Namen.
Sie stiegen eine breite Marmortreppe hinauf, an deren beiden Seiten abermals etwa ein Dutzend Knaben („ministri“, erläuterte die Comtesse) standen und unaufhörlich Weihrauchfässer schwenkten. Der Duft betäubte Hilde und erhitzte sie. Es waren etwa hundert Stufen, die sie zu ersteigen hatten. Hilde erschien es eine Ewigkeit. Sobald sie bei einem Weihrauchfaß vorüberschritt, blieb sie stehen und holte tief Atem. Aber ihr Kopf wurde nur um so schwerer.
Nun ging es einen schmalen Korridor entlang; aller paar Schritte eine Tür, so niedrig, daß man sich bücken mußte, um hindurch zu kommen. Vor einer Seitentür blieb die Comtesse stehen, zog hinter ihrem Kragen eine schmale goldene Kette hervor, an der in Form des Phallus ein Schlüssel hing, mit dem sie öffnete. Sie bückten sich und traten ein. Ein Viertel des nicht großen Raumes nahm ein in den Fußboden eingelegtes Bassin ein. Darüber und daneben waren Douchen aller Art; ein Streckbrett, ein Tisch zum Massieren, ein breites Ruhebett, davor Riesennäpfe, wie man sie auf den Schiffen für Kranke findet. An der Wand über dem Ruhebett ein Stich, der Jesus am Kreuze von Mathias Grünewald und darunter auf Pergament der begleitende Text von Huysmans: Zermalmte Arme an ausgerenkten Schultern. Das Fleisch an den Muskeln ausgehöhlt, als hätten die dicken Stricke gerissen. Es knirscht wie gebrochene Knochen, und hoch, ganz hoch mit schreienden Fingern, große gespenstige Hände, die fluchen wollen und Segen stammeln. Schweiß trieft von der Brust, von dem todblauen, sich ballenden Fleisch, aus dem zitternden Rücken. Blutige Striemen ziehen darüber hin, kleine Splitter bedecken es, nadelfeine Stiche wie die Bisse von Insekten. Das sind die Spitzen der Geißeln, die sich an seinem Leibe brachen.
Die Verwesung hebt an. Aus dem Loche in der Seite sickert dicker Eiter über die Hüfte. Aus der Brust beginnt Wasser zu fließen. Grünliche, rötliche, milchige Säfte rieseln über den Leib und tränken die schmutzigen Leinenfetzen über den Beinen. Die Beine buchten sich aus. Man hat ihm die Kniescheiben fast zusammengezwängt. Die Schienbeine sind gewaltsam wieder nach außen gebogen bis zu den Füßen, die ein Nagel zusammengenagelt. Furchtbar sind diese Füße. Da blüht schon die Fäulnis in Strömen grünen Blutes und macht sie länger und länger. Das schwammige Fleisch ist bis an den Kopf des Nagels gequollen und die Zehen — anders als die sanften Finger — krümmen sich wütend. Möchten mit ihren blauen Nägeln den roten Boden der Erde aufreißen.
über diesem gärenden Leibe hängt schlaff das riesige Haupt mit der wüsten Dornenkrone. In dem halbgeöffneten Auge noch ein Blick voll Schreck und Schmerz. Das Gesicht ist verschwollen, entstellt. Jeder Zug darin weint. Nur der Mund ist durch die Stöße des Kiefers zu einem Lächeln verkrümmt.
„Das Haus hat einhundertfünfzig solcher kleinen Zimmer; eins genau wie das andere; und jedes Stück am gleichen Platze. Auch der Stich hängt überall.“
Sie sagte das zu Hilde, während sie ihr Schuhzeug wechselte und ihre Frisur in Ordnung brachte. Aber Hilde stand ganz im Banne des Bildes. Das war ja ungeheuerlich!! Was in diesem Bilde stand, war gotteslästerlicher als tausend schwarze Messen, dachte sie, und mögen sie noch so ruchlos sein. Wie muß es in diesem Menschen, der das Bild malte, ausgesehen haben. Und überzeugender als ihr je die Heiligkeit der Madonna erschienen war, sprach ihr aus diesem Bilde der Ankläger Christi, der selbst ein Opfer des christlichen Verführers geworden sein mußte und dann, da er sich betrogen sah, den Verbrecher festnagelte in all seiner Fäulnis; der ihn zum zweiten Male kreuzigte, daß jeder, der ihn da sah, statt in Mitleid auf die Knie zu sinken, die Fäuste erhob und sich voll Abscheu von ihm wandte.
Die Comtesse sah Hildes Verwirrung.
„Recht so, meine Liebe; hängen Sie sich mit ganzer Seele an dies Bild. Es wird Ihnen die richtige Stimmung für die Messe geben ... Wollen Sie nicht Ihr Korsett ablegen; es wird heiß unten, und es wird Sie beschweren.“
„Danke, ich vertrage Wärme ausgezeichnet.“ Jetzt erst sah Hilde, daß die Comtesse unter ihrem schwarzen Mantel ein loses, weites Gewand aus japanischer Seide trug, in das in bunter Folge die obszönsten Bilder gewebt waren.
Draußen auf dem Flur ertönte langgezogen ein Blasinstrument, das gequält, dann freudig, wie das jüdische Schofar klang. Die Comtesse fuhr zusammen.
„Schnell, schnell!“ rief sie und ihre Stimme zitterte vor Erregung, „es beginnt!“
Sie nahm Hilde bei der Hand und führte sie aus dem Zimmer auf den Flur, auf dem sich jetzt hastig viele Menschen drängten. Alle eilten nach derselben Richtung. Man stieg eine breite Wendeltreppe hinab, ohne durch den dichten Nebel des Weihrauchs, den die Knaben unaufhörlich streuten, wobei sie unverständliche Gesänge führten, die Stufen zu erkennen. Man tastete und schob sich gegenseitig vorwärts. Alle diese Menschen waren bereits mehr oder weniger betäubt. Je tiefer man herabstieg, um so lauter und heller ertönte das Instrument.
Durch eine tiefe schmale Tür, an deren Eingang in Meßgewändern zwei Männer standen, die scharlachfarbene Mützen mit Ochsenhörnern auf dem Kopfe trugen, trat man in eine unterirdische geräumige Kapelle. Diese Männer kannten jeden, der eintrat. Die Comtesse sprach einige Worte mit ihnen, die auf Hilde gingen; dann ließ man auch sie in die Kapelle.
Alles stürzte nach vorn, um sich einen guten Platz zu sichern. Nur in den vorderen drei Reihen standen kleine zusammenklappbare Stühle. Hilde, auf die erst jetzt die Ungewißheit über das, was sich begeben werde, drückte, bat die Comtesse, auf einer der letzten Reihen zu bleiben. Als sie ihr ins Gesicht sah, erschrak sie. Sie war noch blässer geworden als sie vordem war und zitterte noch heftiger. Der Glanz ihrer Augen, die starr nach dem Altar hinblickten, beängstigte sie, um so mehr, als sie wahrnahm, daß fast alle in gleicher oder ähnlicher Erregung waren. Wie gut, dachte sie, daß ich das Zeug nicht eingenommen habe. Aber die Comtesse kümmerte sich jetzt nicht mehr um Hilde. Sie dachte nur noch an sich.
„Gut! Bleiben Sie!“ rief sie ihr zu und stürzte nach vorn. „Aber beugen Sie sich tief über die Gefäße.“ Dann verschwand Sie und Hilde kroch in eine der letzten, nur durch schmale Läufer markierten Reihen, wo sie allein blieb.
Nur allmählich gewöhnte sie sich an die dumpfe, schwere Luft in diesem zur Kapelle gewandelten Gewölbe. Dann erst betrachtete sie den Raum. Hinter dem Altar zog sich über die ganze Breite der Wand, bis hoch hinauf zur Decke Vigellands Skulptur „Die Hölle“.
In der Mitte thronte in einer Muschelschale Satan; die Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Kopf fest auf die beiden schwieligen Fäuste gestemmt, stierte er vor sich hin. Die sehnigen Beine baumelten nachlässig herab, und unter ihm wütete ein Meer von Flammen, aus dem magere, sündige Hände in rasenden Schmerzen zu ihm emporschrien, deren Körper in den Gluten hingen. Ein Napoleon; aber Energie und Grausamkeit ins Tausendfache gesteigert. Unter ihm wühlte sich ein wirres Knäuel von Weibern und Männern, die von einem Wahnsinn zum andern rasten. Frauen und Männer hingen ineinander; Männer hockten auf Männern; und was sich nicht in höchster Ekstase wand, das lag mit verzerrten Zügen erschöpft am Boden; schnürte sich voller Ekel mit der eigenen Faust die Kehle oder hängte sich am nächsten Kreuzpfahl auf.
Und später, als die Leidenschaft dieser Menschen von der Musik und dem Weihrauch, den Worten des Priesters aufgewühlt, zur Besessenheit anwuchs, da verschwand der tote Eindruck des Steins und die Skulptur begann zu leben. Überall die gleichen Szenen. Vorn auf den Teppichen vor dem Altare, wie unten im Saale auf dem kalten Boden, wälzten sich die Menschen, rissen sich gegenseitig die Kleider vom Leibe, berauschten sich, bissen sich in höchster Wollust, wie die Tiere ineinander, schrien und tobten in die Musik Chopins und den Gesang der Knaben; stürzten erschöpft nieder; richteten sich über dem nächsten Weihrauchbecken wieder auf und begannen von neuem. Und Satan in seiner Muschel stierte in nackter Geilheit auf seine Gemeinde und seine Augen fraßen sich fest an der Brunst dieser Besessenen.
Etwa drei Meter vor dieser Höllenwand stand der Altar. Er war außerordentlich niedrig, und als Altartisch diente eine schwere Decke aus den zusammengenähten Fellen junger Katzen. An Stelle der fünf auf die Wunden Jesu deutenden Kreuze, ragten aus dem Altarstein fünf phallusartige Merkurstäbe, deren jeder eine brennende Kerze trug. Dieselbe Form zeigten sämtliche Kandelaber, die an den Wänden standen, und von denen aus der Raum seine nicht gerade helle Beleuchtung erhielt. Dieselbe Form schließlich zeigte auch der Sockel der Monstranz. Die Monstranz selbst, die im Tabernakel sichtbar stand, hatte die Gestalt des Kopfes eines Ziegenbocks, der ebenso, wie seine Hörner, von Gold war, während die Augen hell schimmerten wie glitzernde Smaragde ... Der Tabernakel, ein drehbares Häuschen, stand auf einem kleinen Tische, dicht neben dem Altar, und beherbergte außer der Monstranz den goldenen Messekelch, das ewige Licht, das in dem Hinterteile eines den Rücken kehrenden Bronzeteufels brannte. An der andern Seite des Altars stand auf einem Sockel der elfenbeinerne Christus am Kreuz, dem Jesus am Ölberg von Gossart nachgebildet, der ihn als geisteskranken Missetäter malte.
An den Wänden hingen Gemälde von Madeleine Bavent, von Kunrath, Lulle, Joniaux, Paracelsus und anderen.
Während Hilde noch die Bilder betrachtete, ertönte plötzlich grell ein Klingelzeichen, das einmal, gleich darauf ein zweites Mal sich wiederholte. Alles richtete sich auf und rechts und links vor dem Altare, zu dem empor mehrere Stufen führten, hinkte ein Dutzend Chorknaben mit großen Weihrauchfässern heran und stellten sich um den Altar herum. Eine Orgel spielte und ein hellstimmiger Chor sang:
Te Satanum laudamus,
Te dominum confitemur,
und in einem langen Zuge erschienen etwa zwanzig ältere Knaben in langem schwarzen Chorrock mit Stola und Chormantel, und als letzter, in scharlachrotem Gewande, das biretum auf dem Kopfe, der Priester.
Hilde war starr: dieser Priester — war kein anderer als der Abbé. Bei seinem Anblick stürzte alles zur Erde und in den Klang der Orgel und des Gesanges mischte sich der heisere Schrei der Gemeinde:
„Har! Har!“
Der Priester, von den Knaben umgeben, kehrte dem Saal den Rücken, trat einige Schritte an das Kreuz heran, sprach mit lauter Stimme Verwünschungen gegen Christus und spie dann dreimal vor dem Kreuze auf die Erde.
In diesem Augenblick schwoll die Musik zur vollen Höhe an, der Gesang zitterte durch den Raum, die Menschen stürzten in die Höhe, ballten die Fäuste und sandten dem gekreuzigten Jesus höhnende Rufe. Hilde fühlte eben, daß auch sie mitgerissen wurde, daß sich der Schrei „Betrüger!“ auf ihre Lippen drängte, als plötzlich Musik und Gesang verstummte und für einen Augenblick vollkommene Stille eintrat.
Ein Glockenzeichen erklang und der Priester und die Knaben wandten sich zu der Gemeinde.
„Tretet vor, die ihr bis heute unseres Herren Satans Macht verleugnet habt, nun aber erwacht und gewillt seid, euch zu bekehren und euch zu unserm Herrn Satan, als dem einen und einzigen Herrscher dieser Welt zu bekennen. Tretet vor!“ rief der Priester.
Und ein junger Mann trat vor; blaß, schlank und gebeugt, und warf sich vor dem Priester zur Erde.
„Erzähle uns, worin hat sich dir unser Herr offenbart?“
„Im Weibe!“ gab der zur Antwort.
„Har, har!“ schrie die Gemeinde. „Wie immer! Immer im Weibe!“
„Sie war jung. Sie fing mich. Zuerst mit Klagen. Dann heuchelte sie Liebe, und ich glaubte ihr. Sie drohte sich zu töten, wenn ich nicht alles täte, was sie wünsche. Ich liebte sie. Ich opferte meinen Beruf! Meine Freunde! Opferte meine Familie! Tat alles, was sie von mir verlangte! Dann ließ sie mich stehen. Ging fort und klagte mich an. Verhöhnte mich und meine Liebe! Verleugnete mich! Beschuldigte mich gemeiner Verbrechen. Ersann Übel auf Übel, um mich zu vernichten. Und es gelang ihr: denn ich wurde sie nicht los! Mein Verstand ist machtlos, denn meine Seele schreit nach ihr.“
„Har! har!“ rief wieder die Gemeinde.
„Wahrlich, du hast es verdient, einer der unsern zu werden. Wie heißt du?“
„Marcel Gautier aus Rouen.“
„Und wer führte dich ein?“
„Die Marquise von Leugnes.“
Eine sehr junge Frau trat vor; der Typ jener vornehmen Schönheit, an der das südliche Frankreich reich ist. Der Abbé musterte sie lange, und Hilde fand die Art, wie er sie betrachtete, obszön.
Dann wandte er sich wieder ihm zu und fragte:
„Entsagst du Gott?“
„Ich entsage Gott“, gab er zur Antwort.
„Er entsagt!“ wiederholte der Chor und die Gemeinde.
„Entsagst du Jesum Christum?“
„Ich entsage Jesum Christum“, antwortete er.
„Er entsagt!“ wiederholte der Chor und die Gemeinde.
„Entsagst du dem Heiligen Geist, der Jungfrau, den Heiligen und dem heiligen Kreuze?“
„Ich entsage dem Heiligen Geist, der Jungfrau, den Heiligen und dem heiligen Kreuze“, gab er zur Antwort.
„Er entsagt!“ wiederholte der Chor und die Gemeinde.
„Entkleide dich!“ rief jetzt der Priester.
Einige Chorknaben schleppten ein mächtiges Taufbecken herbei, in das er hineinstieg.
Ein Knabe reichte dem Priester eine Kralle, mit der er dem Täufling auf der Stirn, der Brust und dem Hintern die Taufe abkratzte, wobei er ihn fragte:
„Gelobst du, nie mehr das Sakrament der Kirche zu empfangen?“
„Ich gelobe.“
„Er gelobt!“ wiederholte die Gemeinde.
„Gelobst du, das Geheimnis der schwarzen Messe zu bewahren und alle deine Kräfte dem Satan zu weihen?“
„Ich gelobe.“
„Er gelobt!“ wiederholte die Gemeinde.
„Und damit in dir alle Erinnerung an den katholischen Glauben schwinde, so küsse den!“
Und auf einen Wink führten die beiden ältesten Knaben einen „Mann von wunderbarer Blässe mit ganz schwarzen Augen, abgezehrt und abgemagert, daß alles Fleisch geschwunden und nur noch die Haut um die Knochen hing“[7], herein. Diesen küßte der Novize und fühlte, daß er kalt wie Eis war.
[7] Vgl. Bulle Gregors IX.
Hilde sah, wie er zusammenschauerte. Ein Klingelzeichen; und während das hungernde Opfer von den beiden Knaben wieder hinaus und seiner Kammer zugeführt wurde und der Neophyt aus dem Becken stieg, stimmten Orgel, Chor und Gemeinde ein Lied an.
Dem Lied folgte die Predigt. Darin wetterte der Abbé gegen alle, die in Keuschheit lebten; verhöhnte die Nächstenliebe, die Demut und Ergebenheit. Spornte zum Schlechten an. Nannte es Pflicht eines jeden Satanisten, gegen die zehn Gebote Mosis zu verstoßen! Predigte Ehebruch und Hurerei und tobte gegen den Gott der Christenheit: „Gelobt sei der Gott der Unzucht! der Blutschande! der Diebe und Mörder!“ endete er seine Predigt.
Nun erst begann der eigentliche Gottesdienst. Die Knaben trugen silberne Gefäße und stellten sie auf das Tischchen neben den Altar. Es roch sogleich nach Ölen, Schierling, Zichorie und allen möglichen Kräutern. Fieberhaft arbeitete der Priester und mischte die Ingredienzien durcheinander. Sämtliche Knaben schwenkten jetzt die Weihrauchfässer vor dem Altare, der bald in eine undurchsichtige Wolke gehüllt war. Dann trugen sie die Räucherbecken in den Saal, und wie die Besessenen stürzten diese Menschen über sie her, warfen sich zur Erde und atmeten unter heftigen Seufzern und lautem Stöhnen den betäubenden Duft ein.
Chopins Fis-moll-Polonäse erklang; die Rauchwolken hüllten den ganzen Saal in eine hellgraue Wolke, während der Altar allmählich wieder sichtbar wurde. Nur langsam noch stiegen dünne Wölkchen an ihm empor und verhüllten ihn leicht, wie zarte Schleier oder feine Gaze. Hilde sah nun deutlich, daß über den ganzen Altartisch ausgebreitet der nackte Körper einer Frau lag, in dem sie bald die schöne Marquise von Leugnes erkannte. Die Beine hingen auf der einen Seite zwischen Altar und Tabernakel herab, auf der andern Seite hing der bleiche Kopf, von dem die Haare weich und düster auf die Erde flossen. Schlaff und kraftlos hingen die Arme, ohne den Boden zu berühren. Der Priester breitete das weiße Leibtüchlein über sie, stellte den Kelch darauf und begann die Messe. So oft der Priester sich beugte, beugten sich sämtliche Knaben, so oft der Priester den lebenden Altar küßte, hoben sämtliche Knaben die Röcke in die Höhe und in die stimulierende Musik und in den Gesang des Chors mischte sich das rasende Har, Har der Menschen, deren blasse und verzerrte Züge hie und da hinter den Rauchwolken sichtbar wurden.
Hilde war, um besser zu sehen, nach vorn getreten.
„Satanus vobiscum!“ schrie jetzt der Priester in die Gemeinde und deckte den Kelch ab. „Orate fratres!“ brüllte er.
Ein rasender Lärm brach los.
„Sanguis eius super nos et super filios nostros!“
Hilde sah, wie man ein neugeborenes Kind in die Kapelle trug, es auf den Altar niederlegte — — was dann geschah, sah sie nicht mehr. Ihr schwanden die Sinne. Sie sah noch in der Hand des Priesters ein langes Messer blitzschnell leuchten; sah die Chorknaben in wildem Tanze durcheinander wirbeln; dann war’s ihr, als schoß ein Blutstrahl, der nicht enden wollte, vom Altar herab, mitten unter die Menschen, die sich am Boden wanden und sich mit herausgezerrten Zungen dem Strome entgegenwälzten.
Hilde erwachte in einem der kleinen Räume. Sie konnte den Kopf nicht bewegen; war zu schwach, die Arme zu heben. Selbst die Augen offen zu halten, machte ihr Mühe.
Was war gewesen? Sie sah vor sich eine niedrige Tür mit buntem Glase; darin eingelegt eine Landschaft; im Vordergrunde Leda mit dem Schwan. Sie erkannte Giulio Campagnola. Wo gehörte das hin? Jetzt sah sie, daß sie halb entkleidet und nur mit einem schweren, langen Seidentuche bedeckt war. Sie quälte sich, den Kopf zu wenden. An der andern Wand lag das Bassin. Darüber hing Gauguins „La Femme au Diable“. Sie fuhr zusammen. Jetzt wußte sie, wo sie war. Ein eisiges Kältegefühl schüttelte sie.
Das ist der Schluß, dachte sie. Ich bin verloren. Sie riß ihre letzte Kraft zusammen und richtete sich auf. Das Zimmer der Comtesse war es nicht. Aber dort: die Tür zum Nebenzimmer stand halb geöffnet. Sie hörte deutlich eine weibliche Stimme. Die sang gedämpft:
Les jambes en air, comme une femme lubrique,
Brûlant et suant ses poisons,
Ouvrait d’une manière nonchalante et cynique
Son ventre plein d’exhalaisons.
„Pfui!“ sagte Hilde halblaut. Sie wußte nicht, daß es von Baudelaire war.
Sogleich verstummte der Gesang und in der Tür erschien eine jugendliche Schwester du Sacré Coeur, die lächelnd an Hildes Chaiselongue trat.
„Erwacht, Madame?“
„Was wird nun?“ fragte Hilde ängstlich und nicht gerade freundlich. Die Schwester wies auf das Bassin.
„Ein lauwarmes Bad, Madame.“
„Danke! Der Teufel weiß, was dahinter steckt.“
„Madame! solche Reden in diesem Hause! Sind Sie unzufrieden mit ihm?“
„Mit wem?“ fragte Hilde.
„Nun mit ihm, unserm Herrn, dem Satan; mit wem wohl sonst?“
Hilde gab darauf keine Antwort.
„Ich will fort von hier.“
„Doch nicht so?“ meinte die Schwester und hielt ihr einen Spiegel vor das Gesicht.
„Pfui Teufel!“ schrie Hilde entsetzt.
Schnell hielt ihr die Schwester die Hand vor den Mund. „Um Himmelswillen! Schweigen Sie!“
„Ich sehe ja aus wie der Tod! ... Diese Farbe, ... die Augen ...“, sie holte tief Atem, „... mir ist sehr elend ... ich fürchte ...“ und sie schüttelte den Kopf.
„Was fürchten Sie, Madame?“
„Daß ich vergiftet bin.“
„Nicht doch,“ wehrte die Schwester ab; „tun Sie, was ich Ihnen sage.“
„Was soll ich tun?“
„Zunächst dort in das Bassin hinein. Das Wasser wird gerade recht sein.“ Dabei richtete sie Hilde auf. „Dann massiere ich Sie; Sie nehmen Tee, ein Gläschen Rum und wir fahren eine Stunde ins Bois. Sie werden sehen, wie alles vorübergeht.“
Hilde fühlte sich, als sie gebadet hatte und massiert war — beides geschah noch in fast willenlosem Zustande — bedeutend frischer. Den Tee lehnte sie ab. Eher verhungern, dachte sie, als hier noch einen Tropfen zu mir nehmen.
Die Schwester half ihr beim Anziehen und schon nach wenigen Minuten bestiegen beide das Automobil, das sie hierher gebracht hatte.
Hilde konnte nicht sprechen. Um so mehr sprach die Schwester. Das wenigste verstand sie. Daß die Comtesse sehr elend sei und vor Abend wohl kaum nach Hause kommen werde. Das sei aber auch eine Messe gewesen! Dagegen verschwänden selbst die schwarzen Nächte auf Porquerolles — von der Landschaft natürlich abgesehen —. Der Abbé sei aber auch der raffinierteste und gescheiteste Priester, der ihr je begegnet sei. Selbst in Irland, wo die Messen doch gewiß am vollkommensten wären, habe sie niemals ähnliches, wie in dieser Nacht, erlebt. —
„Madame haben doch schon eine Messe in Porquerolles mitgemacht?“
„Selbstverständlich!“ gab Hilde zur Antwort und war sehr froh, daß die Schwester nicht wußte, wer sie war und mit welchen Gefühlen sie diesen Dingen gegenüberstand.
Nach etwa zehn Minuten hielt das Automobil. Sie gingen ein paar Schritte. Hilde hielt sich fest am Arm der Schwester. Jeder Schritt verursachte ihr Schmerzen.
„Ins Bois“, sagte Hilde, als die Schwester sie an der nächsten Ecke in einen Wagen hob. Sie schloß die Augen und schlief ein. Sie waren bis zum Pavillon du Madrid gekommen, als sie erwachte.
„Ist Ihnen besser, Madame?“
„Ja, danke. Nur schwach bin ich noch. Ich möchte nach Hause, mich zu Bett legen.“
Die Schwester verabschiedete sich vor dem Hotel du Rhin.
Hilde ließ sich von ihrer Zofe, die schon in großer Angst um ihre Herrin war, zu Bette bringen. Sie nahm Tee und ein paar Sandwichs; dann ließ sie die Fensterläden schließen und verbat sich jeden Besuch.
„Das gilt für alle, hören Sie, besonders auch für die Comtesse!“
„Ich habe gehört, Madame“, erwiderte die Zofe und schloß die Tür.
Nachts verschlimmerte sich Hildes Zustand. Es trat von neuem Übelkeit ein und die Atemnot nahm zu. Ein herbeigeholter Arzt stellte mit ziemlicher Sicherheit die Veranlassung all dieser Erscheinungen fest.
„Wo hat man Ihnen nur solche Widerwärtigkeiten vorgesetzt, Madame? Ich frage aus ärztlichem Interesse, nicht aus Neugier.“
„Mir verbietet ein Ehrenwort, es Ihnen zu sagen. Aber ich selbst bin schuld daran; ich wollte es kennen lernen.“
Er verschrieb Pulver, verordnete tüchtige Massage, Einreibungen in der Herzgegend und meinte, wenn der Zustand bis morgen unverändert bliebe, so müsse man den Magen auspumpen. Er blieb die ganze Nacht hindurch an Hildes Bett.
„Wie gut,“ sagte sie zu ihm, „daß mir das nicht in Berlin passiert ist. Mein Hausarzt hätte mich bestimmt auf Masern oder Influenza behandelt.“
In aller Frühe des nächsten Tages erschien die Comtesse und verlangte leidenschaftlich, Hilde zu sehen. Der Zofe fehlte die nötige Gewandtheit, sie zurückzuhalten. So kam sie denn aus dem Salon ins Schlafzimmer und stürzte, ohne auf den Arzt, der in der Nähe des Fensters stand, zu achten, an Hildes Bett.
Als Hilde sie sah, geriet sie in große Erregung, fuhr in die Höhe und streckte die Arme nach dem Arzt hin aus, als suche sie Schutz bei ihm.
„Ich kann nicht! Doktor! ich kann nicht!“ Die Comtesse stutzte; der Arzt ging auf sie zu, verbeugte sich leicht und sagte:
„Sie sehen, Madame, ich darf es nicht dulden. Alles regt sie auf und verschlimmert ihren Zustand.“
„Wenn Sie mich zehn Minuten mit ihr allein ließen, so ...“
„Ich kann nicht!“ schrie Hilde jetzt ganz laut. Ihre Stimme klang wie der Schrei eines zu Tode gehetzten Wildes.
Die Comtesse erschrak. Obschon sie sah, daß Hilde krank war, verletzte sie doch die Art, in der man sie abwies.
„Hätten Sie alles befolgt, was ich Ihnen sagte,“ rief sie ihr zu, „so würden Sie mir heute auf Knien danken, statt mich zu verwünschen. Ich kenne das! Sie haben das erste verabsäumt. Sie wissen, was ich meine, — es war das wichtigste.“
„Von Ihnen stammen also ...“
Hilde unterbrach ihn.
„Nein, die Comtesse hat nichts damit zu tun. Aber ich kann sie jetzt nicht sehen; bitte, bitte, ich bin krank“, und sie krampfte nervös die Hände zusammen und sah so verzweifelt aus, daß die Comtesse sich leicht verbeugte und aus dem Zimmer ging. Draußen sagte sie der Zofe, der sie einen Louisdor in die Hand drückte:
„Sagen Sie Madame, sobald der Arzt fort ist, daß sie verabsäumt hat, das erste Fläschchen zu nehmen ... vergessen Sie’s nicht, — aber erst lassen Sie diesen scheußlichen Arzt fort sein.“ Dann ging sie.
Auch der Arzt verabschiedete sich, riet Hilde aufzustehen und ins Bois zu fahren. Gegen Abend würde er wieder kommen.
Von der Zofe erfuhr er Namen und Wohnung der Comtesse und bald auch die Marseiller Erlebnisse, soweit sie ihr bekannt waren. Diese Spur verfolgte er weiter und mit so großem Erfolge, daß er in wenigen Monaten genug Material zusammentrug, um den ersten Satanistenprozeß zu ermöglichen und damit der Welt diesseits und jenseits des Rheins zu zeigen, daß es außer der Republik, der Wahlrechtsfrage und dem Darwinismus für den Staatsbürger noch andere gleichwertige Sorgen gibt.
Die Zofe war nicht wenig erstaunt, als ihr Hilde — kaum daß der Arzt aus dem Hause war — den Auftrag gab, so schnell wie möglich sämtliche Koffer zu packen. Ganz unheimlich aber wurde ihr zumute, als ihr Hilde auf die Frage, wann und wohin sie reise, zur Antwort gab:
„Ich habe keine Ahnung — irgendwohin — nur fort von hier! Alles andere ist Nebensache.“
Sie wollte zunächst, ohne ihrer Herrin etwas zu sagen, den Arzt holen lassen. Allmählich aber überzeugte sie sich, daß Hilde bei klarem Verstande war, und begriff wohl auch, unter dem Eindruck der vielen Worte, die der Arzt gemacht hatte, daß irgendetwas Besonderes sich ereignet hatte.
Hilde quälte vom ersten Augenblicke an, da sie wieder Herrin ihrer Gedanken war, die Vorstellung, daß ihr Hannes Hauser, um dessen Leben sie sich, trotz der Gewißheit, daß er für sie verloren war, unaufhörlich sorgte, nun war wie jener, den sie noch immer mit entblößten Armen, das Messer in der Hand, mit einem wie im Delirium verzerrten Gesichte, vor sich sah. Daß er war wie dieser, und durch ihre Schuld.
An die Hoffnung — nicht, daß sie ihn wiedersah, nur daß er lebte, — hatte sie sich die Monate hindurch geklammert. Nun lag in dieser Aussicht für sie kein Trost mehr. Selbst die Gewißheit hätte sie nur um so mehr beunruhigt. Nun war es ihr, als wünsche sie, er sei tot, wäre aus Liebe für sie und aus Verzweiflung über seinen Irrtum im Glauben gestorben. — Tot! Lieber tot! dachte sie, als daß sein Glaube sich in Haß gewandelt und er nun im Dienste Dieses stand.
Warum hatte sie niemand, mit dem sie sprechen konnte? Sie wurde bitter, als sie sich bei diesem Gedanken fand. Denn diese Frage hatte sie sich gestellt, als sie anfing zu denken; als Kind, das kaum aus den Windeln war. Und dann hatte sie die Frage nie mehr verlassen.
Doch! In den Wochen, in denen sie zum Priester ging. Da wußte sie, wohin mit ihrem Kummer. Und durfte sicher sein, daß sie verstanden wurde. Aber es war mehr als Verständnis, was sie dort erfuhr. Mehr als bloße Teilnahme oder Rat. Es kam Ruhe über sie! Jedesmal! Das lag wohl zum Teil an ihrem Vertrauen. Aber ihr Herz wurde mit gütigen Worten auf Höheres gerichtet, was schwerer wog als eines Menschen Leid.
Hatte sie denn niemand? — Ihre Mutter! — Sie wußte nicht einmal, wo die war. Aber es war leicht, sie zu finden. Bestimmt war sie in Berlin. Im Telephonbuch stand sie gewiß, vorausgesetzt, daß sie in der Zeit nicht abermals geheiratet und ihren Namen verändert hatte. — Sie schlug sich an den Kopf. Fritz Krohn! Wie ich den nur vergessen konnte!
„Halten Sie alles für die Abfahrt bereit; ich bin bald zurück. — — Wenn jemand fragt: wir fahren nach Brüssel. Nur auf wenige Tage. Hören Sie? Für die Comtesse! Sagen Sie ihr, ich klingelte noch an. — Irgendwas. Ein kranker Verwandter — Sie wüßten nicht wer. — Es ginge mir gut, ausgezeichnet. Ich hätte auch — da —“ sie steckte ihr den Strauß, der auf dem Salontisch stand, in die Hand, — „ein paar Blumen für sie zurückgelassen. — Damit sie nicht etwa wartet, oder gar auf die Bahn kommt; — ich bin voraus, Sie fahren nach mit den Sachen. — — Irgendein Hotel nennen Sie. — Palace meinetwegen, —“ dabei zog sie sich hastig an. — „Da sind sechshundert Francs für die Rechnung. Mehr wird’s nicht machen, denke ich. — Sie zahlen, geben Trinkgeld und halten alles bereit. Au revoir!“
Dann stürzte sie aus dem Zimmer, in dem Helene, die kleine Zofe, ganz verblüfft, die sechshundert Francs in der einen, die Blumen in der andern Hand, zurückblieb.
Sie wollte nur aus dem Hotel hinaus; alles andere kam in zweiter Linie. Sie stürzte in ein Automobil, das vor dem Hotel stand, und fuhr nach der nahen Rue d’Hauteville.
Fritz Krohn war, wie fast jeden Nachmittag, im Cercle Volney. Sie suchte ihn dort, schrieb auf eine Karte: Haben Sie eine halbe Stunde Zeit für mich? Ich warte unten im Automobil. Der Diener, dem sie den Brief mit der Bitte gab, ihn schnell zu besorgen, konnte nach ihrer Berechnung kaum im Fahrstuhl sein, als Fritz Krohn schon an der Wagentür stand und sie mit den Worten begrüßte:
„Darf es wirklich nur eine halbe Stunde sein, Frau Hilde?“
„Ich halte Sie auf, — ich störe Sie, —“ gab sie zur Antwort.
„Täglich habe ich auf ein Lebenszeichen von Ihnen gewartet.“
„Warum kamen Sie nicht?“
„Konnte ich wissen, ob es Ihnen recht ist?“
„Aber so kommen Sie doch zunächst mal in den Wagen.“
„Und wohin?“ fragte er und sah nach der Uhr. „Es ist gleich halb sieben, wollen wir zur Pré Catelan? Wir gehen zu Fuß durchs Bois und kommen gerade zum Essen?“
„Unmöglich, wie ich aussehe. — Und dann, ich muß reisen.“
Sie wandte sich zum Chauffeur: „Also fahren Sie zunächst mal in der Richtung des Bois.“
Krohn stieg zu ihr in den Wagen.
„Reisen wollen Sie? Wohin? Und so plötzlich?“
„Ich weiß es nicht; weiß nur, daß ich fort muß. — Meinetwegen zu meiner Mutter.“
„Hilde!“ rief Krohn entsetzt, „das ist unmöglich! Das dürfen Sie nicht!“
„Was ist denn das nun wieder?“ fragte sie erstaunt und sah ihn an. Er war außer sich. „Ich habe seit Monaten nichts von ihr gehört. — Ja, was ist denn mit ihr?“
Krohn geriet in Verlegenheit. „So wissen Sie also nicht?“ fragte er gedämpft. „Freilich, das konnte ich nicht vermuten. Dann tut es mir leid, daß ich überhaupt ...“
„Sie dürfen es mir ruhig sagen“, erwiderte sie mit einer Stimme, in der ein Verzicht auf alles lag. „Sie werden mich mit nichts erschrecken, — nicht einmal überraschen.“
Sie sah, wie Krohn unter dem Gedanken litt, ihr weh zu tun. Sie legte ihre Hand auf seine und sagte:
„Glauben Sie mir, ich achte meine Mutter nicht. Ich liebe sie nicht einmal. Das mag schlecht sein, da sie nun einmal meine Mutter ist. Aber es ist so. Ich will auch gar nicht zu ihr. Glauben Sie mir, daß nicht einmal der Gedanke, sie niemals wiederzusehen, für mich etwas Schreckliches hat. Also ... Sie dürfen mir schon alles sagen. Es ist besser, ich erfahre es durch Sie als durch Dritte, denen es womöglich Freude macht, mir weh zu tun.“
„Nun denn, Frau Hilde. Ihre Mutter zählt nicht mehr zu den anständigen Frauen“, sagte er fast feierlich. Aber Hilde rührte das gar nicht.
„Hat sie das je getan?“ fragte sie gleichgültig und ruhig.
„Nun, gezählt hat sie zum mindesten dazu.“
„Dann mit Unrecht. Die Menschen, die jetzt über sie zu Gericht sitzen, wußten es längst, aber sie taugten selbst nicht mehr. Was liegt daran, wenn die sie nicht mehr achten. Sie wird, wie ich sie kenne, und das ist vielleicht das allein Sympathische an ihr, auch ohne die Achtung dieser Menschen weiterleben können. Mit mehr Ehrlichkeit vielleicht und weniger Heuchelei. —
Was Sie mir sagen, lieber Freund, weiß ich seit fünfzehn Jahren; ich habe genug darunter gelitten, glauben Sie’s mir. Daß sich nun auch die Welt veranlaßt sah, dazu Stellung zu nehmen; du lieber Gott, meinen Sie wirklich, daß das an meinen Empfindungen etwas ändern kann?“
„Sie werden aber nicht zu ihr gehen?“
„Nein!“ sagte sie sehr bestimmt. „Ich danke ... ich werde allein bleiben.“
„Wo also wollen Sie hin?“
Hilde, die noch unter der Wirkung des vorigen Tages stand und die wohl auch Krohns Eröffnung über die Mutter schwerer nahm als es den Anschein hatte, rang jetzt ganz verzweifelt die Hände und rief mit einer Stimme, aus der tausend Schmerzen schluchzten:
„Ich weiß es ja nicht! — Ich will Gewißheit, eher sterbe ich nicht!“
Krohn erkannte jetzt, daß Hildes Widerstandskraft gebrochen war. Seine Versuche, ihr Mut zuzusprechen, das Vergangene zu begraben, es ein letztes Mal zu versuchen, das Leben neu zu beginnen, wehrte sie ab.
„Ich vertrage nichts mehr — ich bin so weit, daß mir der Entschluß selbst dann unmöglich wäre, wenn ich bestimmt wüßte: es gelingt.“
Auf der Pré Catelan nahmen sie einen Tisch im Saal, wo sie den ganzen Abend über allein blieben. Auf der Terrasse saßen die Menschen dicht gedrängt. Kannten sich meist, sprachen von Tisch zu Tisch und überboten sich gegenseitig an Eleganz und Ausgelassenheit.
Das paßte wenig zu dem Gespräch, das Krohn und Hilde führten. Da Hilde, durch ihr Ehrenwort gebunden, sich nicht offen aussprach, so erriet Krohn nur mühsam, wohin sich Hilde in ihrer Verzweiflung verirrt hatte. Er hatte alle Mühe, einen mißverstandenen Gnostizismus in ihr zu bekämpfen; ihr zu beweisen, daß das Böse keine Macht außerhalb des Menschen sei, vielmehr in ihm selbst liege. Daß seine Überwindung lediglich von der Stärke des sittlichen Bewußtseins jedes einzelnen abhängt. Daß dies die einzige Wahrheit und seit Sokrates, der sie zuerst aussprach, nicht widerlegt sei.
Hilde war ihm dankbar für die Mühe, die er sich mit ihr gab.
„Sie haben recht,“ sagte sie, „und dennoch hat alles, was die da sagen, überhaupt alle Religionsphilosophie nicht den mindesten Wert. Übertragen Sie irgendeine dieser Theorien ins Leben; ich versichere Sie: es stimmt nie.“ Und dann gestand sie ihm den wahren Grund ihres Jammers. Sie erzählte ihm alles; leidenschaftlich und doch ohne Färbung.
„Und Sie lieben ihn noch immer? — Unverändert wie damals?“
Hilde sah ihn groß an. Dann fragte sie erstaunt:
„Ja, durch was hätte sich das wohl ändern sollen, da ich mich nicht geändert habe?“
„Dadurch, daß Sie die Unmöglichkeit erkannten.“
Hilde griff sich an den Kopf.
„Ja, Liebster, Bester, liebt man denn hier? Mit dem Kopfe? Mit dem Verstand? Heute den und morgen, wenn es der Zweck erfordert, einen andern, und je nach Stimmung und Bedürfnis bald leidenschaftlich und bald unter Vorbehalt? Hat sich denn Ihnen nicht einmal die Seele erschlossen? Daß Sie es fühlten, was es heißt, in einen andern Menschen einzugehen? Was suche ich denn, wenn ich mich nach ihm sehne, anders als mich? Hier, das bin ich nicht. Wo meine Seele ist, da bin auch ich ... und die ist bei ihm.“
Krohn begriff das alles. Besser als irgendwer. Denn wie sie ihren Priester, so suchte er sie. Suchte sie, obschon er seit jenem Jour bei Behrs auf keine Erfüllung mehr hoffte. Er war im Satanismus nicht zu Hause. Alles, was er davon wußte, hatte er aus Huysmans „Là-bas“, und den kannte wohl jeder. Er erinnerte sich der gotteslästerischen Predigt, die ein ruchloser Priester hielt, der Orgien von Epileptikern und Besessenen, und der sexuellen Greuel hysterischer Weiber. Das alles kannte Hilde, und er sagte es ihr auf den Kopf zu.
„Ja oder nein; Sie wissen nun jedenfalls, in welcher Angst ich schwebe. Auch er ...“
„Wer sagt Ihnen das, daß auch er?“ fragte Krohn erregt. „Oder haben Sie ihn gesehen? War er etwa dabei?“
„Nein! nein! Mein Wort darauf; er war nicht dabei. Aber ich vermute und habe Grund dazu. Und andere, die alles das besser kennen als ich, die glauben es auch.“
„Wer kann Ihnen derartiges sagen? Wer darf das?“
„Wenn man mir heute sagte, er sei tot — und wenn er an seiner Liebe zu mir gestorben wäre ... mir wäre leichter, als in dem Gedanken.“
„Und eine dritte Möglichkeit sollte es nicht geben?“ Er dachte nach. „Es gibt nur eins.“
Hilde sah ihn an: „Ja?“
„Sie müssen zu erfahren suchen, wo er sich aufhält.“
„Hilde schoß in die Höhe. „Himmel!“ rief sie. „Wenn das möglich wäre!“ Alles lebte in ihr auf und sie bekam Farbe. Ihn wiedersehen, das war eine unerwartete Aussicht, mit der sie noch nie gerechnet hatte. — Sekunden nur; dann stand das gräßliche Bild wieder vor ihr und sie schalt sich, daß sie, wenn auch nur für einen Augenblick, einer neuen Hoffnung nachgejagt war.
„Sie werden ihn nicht finden,“ sagte sie; „wie wollten Sie das auch anstellen? In Deutschland wird er nicht geblieben sein. Die Welt ist groß, und wenn meine Furcht wirklich grundlos wäre, so sitzt er eingemauert in irgendeinem Kloster; der Himmel weiß wo, vielleicht in Spanien, das glaube ich immer, wohl, weil ich mich seit Kindheit nach Spanien sehne.
Wollen Sie alle spanischen Klöster durchsuchen? Und dann: legt man nicht seinen Namen ab, wenn man ins Kloster geht?“
„Lassen Sie mir vier Wochen Zeit. Versprechen Sie mir nur, daß Sie inzwischen etwas für Ihre Nerven tun. Freilich, ich muß im voraus wissen: was wollen Sie tun für den Fall, an den ich zwar nicht glaube, daß Ihre Ahnung richtig war?“
„Ich weiß es“, sagte sie mit einer Entschlossenheit und Bestimmtheit, daß Krohn erkannte: hier war ein Entschluß längst gefaßt.
„Was?“ fragte er fest und ließ sie nicht aus den Augen.
Hilde, die jetzt völlig unter dem Bann dieser Vorstellung stand, zitterte vor Erregung.
„Nun denn,“ schrie sie, und sie zerrte die Finger krampfhaft in ihren Gelenken, „ich glaube, ich würde ihn erwürgen!“
Krohn sah, daß sie dieser Gedanke vollends zur Verzweiflung brachte; daß jede Gewißheit, da sie eine Lösung brachte dieser Unruhe, die sich in Vermutungen quälte und verzehrte, vorzuziehen sei.
Hilde willigte ein. Nun hatte sie ein Ziel. Das rüttelte sie auf und bewahrte sie vor dem Zusammenbruch. Die Wärme, mit der sich Krohn Hildes annahm, milderte das Gefühl der Leere, das um so schwerer auf sie drückte, je einsamer sie wurde. Und die Art, in der er sich um sie sorgte, ersparte ihr jede Verlegenheit.
Er vereinbarte telephonisch ein Rendez-vous mit einem ihm befreundeten Ärzte, mit dem sie nach neun Uhr bei Meurice zusammentrafen. Der hatte als Assistent an der Dupuyschen Anstalt gearbeitet und übernahm daher mit besonderem Eifer den Auftrag, Frau Hilde in einem Automobil hinauszugeleiten, um sie persönlich einzuführen. Krohn verständigte unterdessen die Zofe.
„Und statt im Cercle Volney darf ich meinen Tee von morgen ab im Garten Dupuy nehmen?“ fragte er Hilde, als er Abschied nahm.
„Es wird Ihnen etwas unbequem werden, und dann ... so gern ich Sie sehe ... aber ich dachte, Sie wollten ...“
„Ich will auch. Und zwar noch heute. Aber auf anderem Wege. Nicht indem ich von Ort zu Ort und von Adreßbuch zu Adreßbuch stürze. Glauben Sie mir, mein Interesse ist so groß wie das Ihre. Sie suchen Gewißheit: das ist bei Ihnen die Vorbedingung für alles weitere. Ich suche meinen Humor, der längst verloren ging, aber ich weiß, ich finde ihn wieder, sobald ich Sie zufrieden weiß.“
Sie sah ihn mit einem Blick, so ohne Hoffnung, an: „Sie sollten Ihr Glück nicht an mein Schicksal hängen!“ Dann sagte sie mit weicher Stimme: „Sie sind zu gut, — das ist Ihr großer Fehler, Sie müssen härter werden.“
Dann stieg sie mit dem Arzt in den Wagen, grüßte nochmal zum Fenster hinaus und verschwand.
Krohn traten die Tränen in die Augen: ich bin zu weich, sagt sie. Wenn sie wüßte, wie lieb ich sie habe, sie dächte anders. — Dann wurde er froher. Ich glaubte, ich würde sie niemals wiedersehen, und nun ist mir, als sei sie in meinen Schutz gegeben; als hätte ich die Verantwortung für alles, was weiter kommt. Er strahlte. Es ist gewiß das schönste was es gibt: einem Menschen, den man lieb hat, helfen zu können.
Hilde hatte ihm alles erzählt. Er kannte nun jeden, der in ihr Leben eingegriffen hatte. Was es für ihn zu tun gab, war klar.
Er schrieb dem Bischof und schilderte ihm ausführlich, wie Hilde von jenem Tage an, da seine tödliche Waffe sie traf — die seine religiöse Pflicht gewiß gebot — hilflos und mit der schweren Wunde im Herzen, ohne eines fühlenden Menschen Zuspruch ziellos durch die Welt gejagt und endlich, der Verzweiflung nahe, dieser verruchten Sekte in die Hand gefallen sei. Er schilderte mit Worten, aus denen dem Bischof die Stimme des Priesters aus der Zeit der Firmung deutlich wieder ans Herz klang, die große Güte und die sittliche Tiefe Hildes, die nun in der Not ihres Herzens auch in dem Priester, der in ihr weiterlebte, den Feind der Kirche und den Diener Satans sah. Wenn — was ein gütiges Geschick verhüte — diese Furcht begründet sei, dann bitte er, ihn ohne Bescheid zu lassen. Irre sie aber, dann möge er noch ein letztes Mal der zu Tode Gehetzten sein christliches Herz erschließen und ihr die Möglichkeit schaffen, sich mit eigenen Augen von ihrem Irrtum zu befreien. „Ich halte es für meine Pflicht,“ schloß er, „Eure Eminenz darüber nicht im unklaren zu lassen, daß derjenige, der sich mit diesem Angstschrei um das Leben eines Dritten an Sie um Hilfe wendet, selbst nicht der Kirche Eurer Eminenz angehört, sondern Jude ist. In dem Bewußtsein aber, daß die Bedingungen einer sittlichen Pflicht für alle anständigen Menschen die gleichen sind, hofft er trotzdem, keine Fehlbitte zu tun.“
Das schrieb er. Und was geschah?
Hilde war in Begleitung des Arztes in die hinter St. Cloud liegende Anstalt gefahren. Kaum fünfzig Minuten waren sie unterwegs, als der Wagen rechts ab über die Seine bog und sich den Berg eines schloßartigen, mit Bäumen dicht besetzten Parkes heraufmühte.
Man nahm sie mit großer Freundlichkeit auf, gab ihr die bestgelegenen Räume im Hause, bekämpfte durch besondere Teilnahme und Sorgfalt, die doch nie aufdringlich wurde, ihr Gefühl der Einsamkeit und tat alles, um sie nicht empfinden zu lassen, daß sie unter kranken Menschen war.
„Denn sie ist nicht krank“, versicherte der greise Professor Dupuy, der Hilde täglich in ihrem Zimmer besuchte und oft Stunden des Abends, die er sonst über den Büchern saß, mit ihr verplauderte. „Wenn ich nicht sechsundsiebzig Jahre alt wäre, ich wüßte, was ich täte,“ sagte er zu Krohn, — „vorausgesetzt, daß sie wollte. Sie ist von der Mutter her gewiß ein wenig hysterisch. Aber wie leicht hätte das bei verständiger Einwirkung völlig verschwinden können. Statt dessen ist bei ihr von den ersten Jahren an alles ins Schlechte gekehrt und verdorben worden. Es ist meine These seit nunmehr fünfzig Jahren, daß hysterische Frauen von Staats wegen von der Erziehung ihrer Kinder ausgeschlossen werden müßten. Sie besitzen für die Erziehung von Kindern so wenig Talent wie dickleibige Alkoholiker für das Trapez. Ja, wenn der Staat es nur einsehen wollte: das wertvollste Menschenmaterial wird unter ihren Händen zu Epileptikern und Verbrechern. Das Herz bricht einem alten Psychiater wie mir, der ich doch gewiß manches Elend gesehen habe, ohne helfen zu können, wenn ich mir vorstelle, was aus dieser Hilde für eine glückliche, menschenbeglückende Frau und Mutter hätte werden können. Sie ist nicht krank, — aber sie ist fertig. Was man im besten Falle noch bei ihr erreichen kann, ist: Gleichmütigkeit, Resignation. Und das in dem Alter. Es ist entsetzlich!“ Und mit zornigen Augen und rotem Kopf rief er: „Diese Mutter! wenn ich sie unter die Finger bekäme! Es ist ein Verbrechen!“ Der greise Gelehrte bebte vor Erregung. Er streckte dem kleinen Krohn die zitternde Hand entgegen; der schmale, klapprige Körper wackelte unaufhörlich:
„Versprechen Sie mir, Sie sind Hildes Freund, Sie kennen die Mutier. Wenn Sie sie sehen: écrasez l’infâme.“
Hilde empfand zwar die Wohltat teilnehmender Menschen um sich, und sie wäre ohne das letzte Erlebnis wohl auch ruhiger geworden. So blieb die Wirkung aus; ging wenigstens nicht in die Tiefe, und hielt selten länger als bis zum Abend an. Sie schlief zwar besser; aber Träume quälten sie und immer wieder durchlebte sie die schwarze Messe mit allen ihren Greueln. Schon wenn die Zofe das Licht löschte, kämpfte sie gegen ihre Gedanken. Sie wehrte sich noch im Traume, wenn die Comtesse und andere kamen, um sie zu holen. Aber immer wieder wurde sie schwach und folgte. Sie litt furchtbar unter diesen Menschen; versuchte während der Messe mit Aufbietung aller Kraft hinauszukommen. Aber immer hielt sie eine Macht, die unabhängig von ihrem Willen war. Die erste Nacht verlief am schlimmsten. Sie erkannte in dem Priester, der die Messe zelebrierte, Hannes Hauser. Die einst weichen und milden Züge seines Gesichts hatten einen tierischen Ausdruck. Er lästerte und tobte vor dem Altar, auf dem ein nacktes Weib lag, in dem Hilde in rasender Verzückung ihre Miß erkannte.
Während Hilde sie betrachtete, vollzog der Priester das blutige Opfer. Und als er mit triefenden Händen in den Eingeweiden des neugeborenen Kindes wühlte, das noch zuckende Herz herausriß, um es gierig zu verschlingen, da — als die von der besudelten Hostie besessenen Menschen in heller Ekstase durcheinander wirbelten, stürzte sie sich in die Arme des Priesters und bohrte sich, indem sie die Spitzen ihrer weißen Finger wie die Haken feiner Nägel krümmte, in seinen Hals.
Leidenschaftlich umfing er sie. Und während er sie zerfleischte und, wahnsinnig vor Schmerz, sich zu befreien suchte, drangen ihre Hände immer tiefer, bis die Spitzen ihrer Finger aneinanderstießen und unlöslich in ihm hingen.
Da fühlte sie, wie seine Kräfte schwanden, seine Hände aus ihrem zerfleischten Körper glitten und die Arme schlaff zur Erde hingen. Er war tot. Sie hing noch immer in ihm. Faltete die Hände und betete für ihn. Bat Gott um Vergebung für seine Sünden und erwartete den Tod.
Eine große Ruhe kam über sie; sie fühlte, wie leise das Blut aus ihren Wunden floß, wie sie schwächer wurde und die Schmerzen schwanden. Dann legte sich eine große, weiße, kühle Hand auf ihre Stirn; weich klang die Stimme ihres Vaters: „mein armes Kind!“ und alles war vorüber.
Je mehr sie diese Träume quälten, um so bestimmter glaubte sie, daß das der Schluß sei; und wenn sich auch Krohn und der Professor Tag für Tag um sie mühten und ihr Mut zusprachen, wenn sie ihr auch immer wieder versicherten, daß sie zur Ruhe kommen werde, sobald sich die Nerven erst von all den Aufregungen beruhigt hätten; so oft sie ihr auch vor Augen führten, daß dieser Zustand der Erschöpfung und Verzweiflung nach all dem Vorangegangenen nur natürlich sei: sie wußte nach dem Einblick in das Reich des Bösen, daß auch ihre letzte Hoffnung, aus freiem Willen und in Frieden aus dieser Welt der Bitternisse zu scheiden, unerfüllt bleiben würde. Sie ahnte, daß sich ihr Geschick erst jetzt in seiner ganzen unbarmherzigen Härte erfüllen werde; denn, ohne daß sie nicht die Gewißheit über sein Schicksal hatte, ging sie nicht. Und wäre er wirklich zu dem geworden, was sie mit Entsetzen ahnte, dann ging sie nicht allein. So ließ sie ihn nicht zurück. Dann mußte er mit ihr.
An einem der nächsten Tage erhielt Krohn vom Bischof folgendes Telegramm:
In großer Bewegung und noch völlig unter dem tiefen Eindruck Ihres Berichtes biete ich Ihnen mit Dank für Gott erfülltem Herzen an der Befreiung dieser armen mir bekannten und teuren Seele mitwirken zu dürfen, die Hand. Sie stand noch nicht fest genug im Glauben, um die Schwere dieser Prüfung zu bestehen. Versäumen Sie nichts! Wenn Ihnen wie mir das Schicksal dieser Frau am Herzen liegt, so eilen Sie zu mir. Sie werden mich zu jeder Zeit, auch ohne vorherige Meldung, zu Ihrer Verfügung finden. Aber eilen Sie! Bedenken Sie, daß jedes Zögern die Qual verlängern, das Rettungswerk erschweren heißt. Ich erwäge inzwischen. Ihr gütiges und tapferes Herz, mein Herr, hat mich gerührt. Gott befohlen. Ihr bereitwilliger Bischof X.
Krohn hatte das nicht erwartet. Keine Ausflüchte! Nicht einmal ein Vorwurf. Bedingungslose Bereitschaft ohne kleinliches Forschen nach Motiven und der Art der Verfehlung. Da es galt, ein verirrtes Leben zu retten, welche Bedenken konnten da wohl groß genug sein, um neben dem allein lebendigen Gefühl der Menschenliebe auch nur für Augenblicke in Betracht zu kommen? Ganz nur Hilfsbereitschaft ergriff das gütige Herz dieses Bischofs mit der Leidenschaft eines Jünglings die Gelegenheit, ein Werk der Nächstenliebe zu erfüllen. Keine Ausflüchte, keine Ratschläge, keine Schreibereien. Kein Wenn, kein Aber. Handeln, Helfen, Befreien.
Krohn war selig. Aber er schämte sich. Denn wenn er ehrlich gegen sich war und sich die Frage vorlegte, was er, der überzeugte Jude, der sich billiger als für den Posten eines Staatsanwalts nicht hätte taufen lassen, als Bescheid vom Bischof erwartet hatte, so lautete die Antwort: Zunächst eine Anzahlung; dann Beichte, Buße, Abendmahl.
„Wir urteilen eben alle, ohne eine Ahnung zu haben“, sagte er sich. „Es ist so leicht, sich mit Spott und ein paar höhnischen Worten über etwas hinwegzusetzen, ohne in das Innere gedrungen zu sein. Macht euch die Mühe und seht hinein! Ich glaube nicht, daß sich viele wieder heraussehnen werden. Dann urteilt! — Aber nein. Wozu denn? Dazu eben besteht ja das liberale Bürgertum, das sich mit seinem erhabenen Fortschrittsgeist über alles hinwegsetzt, womit sein Durchschnittsverstand nichts anzufangen weiß, und wo die liebe Seele — ach, ja, ich vergaß, die hat das liberale Bürgertum ja abgeschafft und an ihre Stelle die Vernunft gesetzt. Ergo: die Seele, sie existiert nicht mehr.
Hätte dieser Bischof auf Krohns Zeilen statt mit der Seele etwa mit dem Verstand reagiert: über tausend Erwägungen und Bedenken wären Wochen vergangen. Dann hätte er zur Feder gegriffen und ein langes Kriterium verfaßt, es an den Papst gesandt zur Begutachtung, ob in diesem Falle ein Eingreifen der Kirche wohl noch möglich sei. Der hätte usw. Und in der Zwischenzeit wäre Hildes Geist vor Unruhe und Ungewißheit längst umnachtet.
Der Bischof war nicht liberal. Er war so unmodern und hatte eine Seele. Und so kam’s, daß er mit dem Herzen las! Und dies einfältige Herz, das sich leichtfertig über alle Erwägungen des Verstandes hinwegsetzte, fand, daß es nur eins: schleunigste Hilfe, gab.
Krohn lag in seinem Schlafwagen und gab sich alle Mühe, wach zu bleiben. Er war so froh und wollte mit vollem Bewußtsein dies Gefühl genießen.
Als Krohn und der Bischof am nächsten Tage voneinander Abschied nahmen, waren sie gute Freunde. Beide glaubten sich bereichert. Zwei wertvolle und bei aller Verschiedenheit der Weltauffassung gleichgestimmte Menschen fühlten den Einklang ihrer Herzen in der werktätigen Liebe für eine verzweifelte und verirrte Seele.
Krohn verschwieg Hilde seinen Besuch beim Bischof, und bemühte sich, in den Tagen, die nun folgten, ihren Ekel vor allem, was mit der Welt der Satanisten zusammenhing, zu vertiefen. Das Wort „Seele“ im Munde dieser übersättigten Menschen, denen die raffiniertesten Genüsse längst keine Abwechslung mehr boten, nannte er eine Schändung des Heiligsten. Er ließ zwar gelten, daß im Mittelalter wohl die Mystik und damit auch die Seele einen Hauptanteil an der Verbreitung und damit auch an der Vertiefung dieser Sekten hatte; daß der Satanismus unserer Tage aber lediglich eine Angelegenheit der Funktionen des Unterleibs und des perversen Geschlechtstriebs sei. Und er wehrte es nicht mehr, wenn sie nach immer neuen Mitteln sann, um sich die einzige ihr wertvolle Erinnerung, an der ihr Leben noch hing, ihre Liebe zu Hannes Hauser, rein zu halten.
„Morgen, verehrte Freundin,“ sagte er eines Nachmittags zu ihr, als sie, wie täglich, auf der Dupuyschen Veranda den Tee nahmen, „machen wir einen Tagesausflug.“
„Wohin? und was sagt der Professor, wenn ich mit den Bädern aussetze?“
„Ich habe bereits für Sie Dispens.“
„Wo wollen Sie hin?“
„Auf die Suche.“
Hilde erschrak. „Doch nicht etwa ...?“
„Doch — aber Sie müssen ganz ruhig bleiben. Sie wissen, ich kenne den Priester nicht, also brauche ich, wenn ich Vermutungen habe, um ihre Berechtigung feststellen zu können, Ihre Hilfe. Diesmal ist die Wahrscheinlichkeit freilich gering. Aber es ist nahe und eine schöne Tour, gute Wege, das Wetter ist beständig, also fassen wir es als einen Ausflug auf. In der nächsten Woche liegt der Fall schon ernster. Da kann es sein, daß ich auf sicherer Fährte bin. Jedenfalls als Vorprüfung für Sie bitte ich um Ihre Begleitung.“
„Und Sie meinen, es ist nichts? Wir werden ihn nicht sehen?“
„Morgen nicht. Aber Sie müssen sich daran gewöhnen, damit Sie vorbereitet sind, falls es sich eines Tages verwirklicht.“
„Und daran glauben Sie noch immer?“
„Ganz fest. Und zwar sehr bald. Natürlich darf er Sie nicht erkennen. Ich habe alles vorbereitet. In Paris werden Sie unter den Händen des Künstlers Lafour in einer halben Stunde um vierzig Jahre älter gemacht werden. Dann fahren wir nach dem Kloster Marquise, einem kleinen Städtchen an der Gare du Nord, nahe von Ambletteuse, wenn Sie das kennen. Oder Audresselles. Ich wiederhole Ihnen, es wird erfolglos sein. Aber nicht wahr, Sie kommen?“
„Ganz selbstverständlich, und wenn es nach Algier ginge.“
„Auch das kann möglich werden.“
„Ich werde nie sagen, daß es mir zu weit ist.“
Es war gegen vier Uhr nachmittags, als das Automobil vor einer hohen Gartenpforte hielt.
„Bleiben Sie noch einen Augenblick im Wagen“, sagte Krohn zu Hilde, stieg schnell aus und läutete. Ein alter Klosterdiener öffnete das Tor. Krohn nannte seinen Namen.
„Ach so,“ lächelte der, „ich weiß Bescheid.“
„Heut ist doch ...?“
„Ganz recht, mein Herr; wir feiern heut’ Geburtstag. Auch Seine Eminenz, der Bischof, hat es sich nicht nehmen lassen, persönlich zu kommen. Kaum fünf Minuten vor Ihnen ist er vorgefahren.“
„Ist der Priester von unserm Kommen unterrichtet?“
Der alte Diener legte die Hand an den Mund und schüttelte verneinend den Kopf.
„Seine Eminenz haben mir streng aufgetragen, die Herrschaften so auf die Saalgalerie zu führen, daß sie unbemerkt bleiben.“ Dann ging er an den Wagen, öffnete den Schlag. „Kommen Sie, Madame“, und er half ihr beim Aussteigen.
Einen Louisdor, den ihm Krohn anbot, wies er zurück.
„Nehmen Sie’s nicht übel, aber bitte legen Sie es später in die Armenbüchse Seiner Hochwürden. Wir haben bei unserm gütigen Herrn hier alles, was wir gebrauchen. Aber die Ärmsten, für die unser Priester sammelt, sind Waisenkinder, die nichts zu essen haben.“
„Wie gefällt Ihnen das?“ wandte sich Krohn zu Hilde, die neben ihm stand und ein um das andere Mal tief Atem holte. „Was tun Sie da?“ fragte er Hilde.
„Die Luft!“ rief Hilde. „Fühlen Sie denn nicht!“ Und wieder sog sie den Duft ein. „Welche Wohltat! Sehen Sie ...“ und sie wies auf eine Reihe dichter Bäume, die in zartem Rosa voller Blüte standen.
Hell läutete in diesem Augenblick in der kleinen Kapelle, die etwa fünfzig Schritte vor ihnen lag, die Glocke. Hilde fuhr zusammen.
„Himmel, was ist das?“ schrie sie, wurde blaß und zitterte.
„Hier werden junge Leute, Knaben noch, zu Priestern erzogen“, erwiderte Krohn. „Ihr Leiter und Lehrer feiert heute seinen Namenstag. Das wollen wir uns, ohne bemerkt zu werden, mit ansehen.“
Mit einem Herzen, das laut schlug, stieg Hilde zwischen dem Klosterdiener und Krohn die Treppe zur Galerie hinauf. Hier saßen Frauen und Männer dicht gedrängt beieinander.
„Es sind zum Teil die Eltern der Zöglinge,“ erläuterte der Klosterdiener; „fast durchweg aber sind es Bürgersleute aus Marquise. Ich bin jetzt über vierzig Jahre an der Anstalt, aber so ausnahmslos und so mit dem Herzen, wie unsern jetzigen Herrn, haben die Alten wie die Jungen noch keinen Priester zuvor geliebt.“
„Na, und Sie?“ fragte Krohn. „Sie lieben ihn nicht?“
Der Alte wurde fast feierlich. „Sehen Sie,“ sagte er und trat nahe an Krohn heran, „wenn ich Gott noch um ein paar Jahre bitte, so geschieht es nur seinetwegen. Erst wenn man in meinem Alter ist, weiß man soviel Güte, wie von ihm ausgeht, zu schätzen. Das Jahr, seitdem er hier ist, war wohl das schönste in meinem ganzen Leben. Na, und da möcht’ ich’s gern noch ein paar Jahre so weiter haben.“ Und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Wenn ich denke, daß er mit seiner Liebe bei meiner letzten Stunde um mich sein wird, da wird das Sterben zur Feier ...“ Die Tränen traten ihm in die Augen, als er Hilde und Krohn abseits von den andern zwei Plätze anwies, von denen aus sie bequem und ohne sich vorzubeugen, allen Vorgängen im Saale folgen konnten.
„Das muß ein seltener Priester sein“, sagte Krohn. „Nicht nur, daß er den Menschen die Todesfurcht nimmt, macht er ihnen das Sterben noch zu einem Fest.“
„Daß es so etwas überhaupt gibt“, sagte Hilde und träumte in der Andacht eines stillen Glücks in den Saal hinab. „Ich weiß nicht, was mir ist — aber geht es Ihnen denn nicht ebenso? — alles das wirkt auf mich so befreiend, ... als ob man hier plötzlich in einer ganz andern Welt und unter andern Menschen wäre!“
Krohn war glücklich über diese Worte.
„Man ist hier unter andern Menschen, Frau Hilde; in einer Welt mit andern Werten als da draußen ...“
Unten im Saale saßen siebzig bis achtzig Knaben im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren an sauber gedeckten Tischen. An der Schmalseite der hufeisenförmig gedeckten Tafel saßen die geistlichen Lehrer. Nur in der Mitte waren zwei Plätze frei geblieben; einer davon war reich mit Blumen geschmückt; in der Mitte wie auf den Seitentischen wuchs aus einem kleinen Hügel dunkelroter Rosen der elfenbeinerne Christ aus dem Kreuze. Die jungen Leute waren in Feiertagskleidung und Festesstimmung.
Jetzt spielte die Orgel, fast zu voll für den kleinen Saal; hell ertönte ihr Klang; Priester und Knaben standen auf und sangen laut und mit kräftiger Stimme:
Nun lobet Gott im hohen Thron,
Erhebt in frohem Jubelton
Den Herrn, ihr Erdbewohner alle,
Daß euer Lob zum Himmel schalle.
In doppelter Kraft schien Orgel und Gesang jetzt anzuschwellen, als die Tür sich öffnete und der Priester an der Hand des Bischofs in den Saal trat. Mit erhobenem Haupte schritt er vorwärts. Wie ein heller Strahl traf sein Blick der Reihe nach die Augen eines jeden Knaben. Man fühlte förmlich, wie die Stimmen wärmer wurden, wo er vorüberschritt. In der Mitte des Saales blieb er überwältigt stehen. Mit welchem gütigen Lächeln blickte der Bischof auf das Glück des jungen Priesters. Und mit seinen Schülern sang er in tiefer Bewegung, aber mit fester Stimme, aus der doch voll die Rührung klang:
Denn sein Erbarmen, seine Gnad
Sich über uns bestätigt hat.
Und wenn die Welt auch wird vergehn,
Des Herren Wahrheit wird bestehen.
Hilde war Krohn in die Arme gesunken. Ihr ganzer Körper war in zuckender Bewegung. In Strömen flossen die heißen Tränen. Sie weinte! Nach wie langer Zeit zum ersten Male! Ihre Brust spannte und dehnte sich. Ihr Atem ging schnell und ihr Herz schlug laut. Wie hätte sie jetzt aufschreien mögen mit einer Kraft, die alles im Saale übertönte. So glücklich war sie.
„Mein Priester!“ schluchzte sie, als der erste Aufruhr vorüber war.
„Er ist es!“ bestätigte Krohn. Sie hing mit ihren Augen, aus denen noch immer Tränen flössen, fest an ihrem Priester, wandte keinen Blick von ihm. Neben dem Bischof hatte er auf dem mit Blumen geschmückten Sessel Platz genommen und saß nun, ohne daß er sie sehen, geschweige denn in ihrer Veränderung erkennen konnte, ihr gegenüber.
Der Priester erhob sich. Alle standen mit ihm auf. Er faltete die Hände und sprach:
„Schwere Pflichten, o Herr, liegen mir ob! Gib, daß ich diese Kinder als dein Eigentum, als meine Brüder betrachte, für ihr zeitiges Wohl und noch mehr für ihr ewiges Heil Sorge trage, ihr sittliches Betragen überwache, sie von allem Bösen abhalte und mein Haus vor jedem Unfug schütze. Laß mich durch Wort und eigenes Beispiel sie zu allem Guten ermuntern. Bewahre mich vor Stolz, Ungeduld und Härte, und laß mich ihnen erweisen, was recht und billig ist, da ich weiß, daß auch ich einen Herrn im Himmel habe. Ihnen aber verleihe einen gelehrigen, kindlichtreuen Sinn, daß sie mir gerne folgen und gewissenhaft ihre Pflichten erfüllen. Ich und mein Haus wollen dir, dem Herrn, dienen, damit dein Segen auf uns ruhe durch Jesum, Amen.“
Der Bischof sprach ein kurzes Tischgebet. Dann wurden die Speisen aufgetragen. Fisch und Gemüse. Und vor jedem stand ein Becher, in den die Klosterdiener mit Wasser verdünnten Wein gossen; die Fröhlichkeit dieser jungen Menschen, denen die wahre Lebensfreude aus den Augen strahlte, übertrug sich auch auf die Eltern. Die blickten beglückt auf ihre Lieblinge in den Saal hinab. Und wenn hin und wieder ein dankbarer Blick hinauf zu den Eltern glitt und ein strahlendes Gesicht ihnen freudig zunickte, dann fühlte wohl mancher Vater einen leisen Händedruck: „wir haben doch recht getan, daß wir ihn hergaben“, sagte die Mutter, die sich einst nur schwer von ihrem Kinde getrennt hatte.
Jetzt stand der Bischof auf. Die Priester und alle Knaben mit ihm. Nur Hannes Hauser blieb sitzen.
„Mein Bruder und Freund!“ begann er seine Rede zum Lobe des Priesters und zur Feier des Tages. Er pries die unbedingte Hingabe und Selbstverleugnung des Priesters, sprach von der Allmacht seiner Güte, die in der Liebe aller, die ihm jemals nahe traten, ihren Lohn fände.
„Sollicitudine patrem, caritate fratrem, humilitate servum!“ schloß er. „Durch seine Fürsorge ist er unser Vater, durch seine Liebe unser Bruder, durch seine Demut unser Diener!“
Ein Jubel folgte diesen Worten, der schwer zu schildern ist. Alles stürzte zu ihm; man küßte seine Hände, sein Gewand; man erdrückte ihn fast. Aber keinen Stolz verspürte er; in Demut war sein Blick auch jetzt zu Gott gerichtet. Und je lauter man ihm huldigte, je mehr man ihn mit Liebe überschüttete, um so größer war seine Ergebung im Dienste des Herrn: „Sieh! sie bringen dir ihre Herzen durch mich!“ und er dankte ihm in stillem Gebete für all die Güte, der er ihn für wert befunden.
Später sprach einer der Zöglinge. Dem „Vater“ Hauser galten seine Worte; der sie sämtlich die eine Liebe gelehrt, die alle Tränen der Welt trocknet. „Folgen wir seinen Wegen, leben wir in seinem Geiste, werden wir seiner Güte teilhaftig, dann werden wir frohen Herzens auf die Freuden dieser Welt verzichten und schon auf Erden das Himmelreich haben. Mit Widerwillen und Haß kam ich in diese Anstalt. Gütig nahmen Sie mich bei der Hand und sagten: Mein Kind, gib mir dein Herz, ich will dir das meine geben. — Was nützte es, daß ich mich wehrte? Wie aller Herzen, so gewannen Sie auch das meine.“
In diesem Geiste verlief die Feier bis zu ihrem Ende.
„Gott will doch nicht, daß diese Erde immer nur ein Tränental sei“, sagte in heiterer Laune der Priester unter den Worten des Dankes, die er an den Bischof, die Lehrer und seine geliebten Knaben richtete.
Zum Schlusse erhob sich nochmals der Bischof; wandte sich an die Eltern auf der Galerie und forderte sie auf, ihm in die Kapelle zu folgen, wo er für die jungen Leute eine Messe lesen werde. Jetzt erst begrüßte er Krohn mit freundlicher Handbewegung und schien Hilde, die er in der Veränderung nicht kannte, zu suchen. Das beunruhigte ihn. Er ließ durch den alten Klosterdiener Krohn zu sich bitten. Der ließ Hilde nur ungern allein. Denn so glücklich er über die große Wandlung war, die in ihr vorging, so fürchtete er doch, daß sie diese gewaltigen und plötzlichen Evolutionen geistig und körperlich nicht ohne Schaden überstehen werde. Nie hatte er in dieser Weise die völlige Gemütsveränderung eines Menschen sich vollziehen sehen. Auch, daß alle Schwermut schwand und ihre Augen wieder heiter blickten, erschien ihm nicht sonderbar. Das hatte er erhofft — freilich ohne recht an die Erfüllung glauben. Was ihn beunruhigte war die Innerlichkeit und Abstraktion, mit der sie, ohne ein Wort zu sprechen oder auch nur auf ihn zu achten, allen Vorgängen gefolgt war. Ihm war, als hätten sich in den zwei Stunden die Lider ihrer Augen nicht ein einziges Mal gesenkt. Als geriete der ganze Körper mit einer Kraft, die stark nach innen wuchs und Nerven wie Glieder maßlos spannte, in Starrheit und Verzückung. In eine Statue schien sie ihm verwandelt, der kein asketischer Götze an Ausdruck und Schönheit gleichkam. Ja! an die Fakire mußte er denken. Und ihm fehlte der Mut, sie anzureden, so sehr fürchtete er, sie zu erschrecken.
Also kam der Bischof auf die Galerie.
„Sie müssen mit uns in die Kapelle, Frau Hilde“, sagte er, nahm ihre Hand und lächelte gütig.
Hilde brachte kein Wort heraus. Sie sah ihn an und schien sehr glücklich.
„Wollen Sie nicht?“ fragte er sie.
Sie antwortete nicht; aber sie bewegte den Kopf langsam und das bedeutete: nein. Als er sie fragte, ob sie ihm den Grund nicht nennen wolle, da wiederholte sie die Bewegung und sprach noch immer nicht.
„Sie werden doch jetzt nicht von uns gehen?“ fragte er sie.
„Doch“, erwiderte sie durch ein leichtes Nicken.
„Ohne daß der Priester Sie gesehen hat?“
Sie nickte wieder, diesmal bestimmter.
Da nahm er auch ihre andere Hand und sah ihr in die Augen.
„Sie, Hilde, haben mehr Anteil an dem Glück aller dieser Menschen, die Sie hier sehen, als irgendwer! Dies war die schwerste, aber letzte Prüfung in der Entwicklung dieses vortrefflichen Priesters. Aber er soll es Ihnen selber sagen; so folgen Sie mir doch.“
Sie sah ihn erschreckt an.
„Ihn sehen?“ zitterte sie mehr als sie sprach.
„Fürchten Sie nichts; weder für Sie noch für ihn. Ich weiß alles von Ihnen.“ — Sie fuhr zusammen. — „Nichts, was nicht wieder gut zu machen wäre, was Sie begangen haben“, beschwichtigte er. „Unwissend haben Sie sich verirrt; aber lassen wir das. Glauben Sie mir,“ und er sprach jetzt bestimmt, „es wird ihn beruhigen, wenn er Sie sieht, nicht seine Pflichten stören, wie Sie vielleicht glauben.“
„Nicht?“ fragte Hilde in höchstem Erstaunen.
„Ich versichere Sie, es wird seine Seele von der letzten Bedrängnis befreien.“
„Dann!“ sagte sie nur und mühte sich in die Höhe. Der Bischof und Krohn halfen ihr.
„Aber nicht so,“ sagte der Bischof; „das falsche Grau muß verschwinden.“ Und er führte Hilde in einen kleinen Raum, in dem sie sich schnell in Ordnung brachte.
Jetzt erst drückten sich der Bischof und Krohn die Hände.
„Sie sind mit meinem Vorschlage einverstanden?“
„Von ganzem Herzen, Eminenz; unser Ziel ist das gleiche.“
„Weil es die Güte eines Gottes ist, die uns leitet.“
Inzwischen war Hilde fertig geworden und sie gingen alle drei die Treppe hinunter. Dann durch den Garten in die Kapelle. Der Bischof wurde nicht müde, jedem Knaben — und sie drängten sich alle ohne Schüchternheit, aber in großer Ehrfurcht um ihn herum — die Hand zu reichen.
„Wie alt bist du?“ fragte er einen hübschen Knaben, der ihm während der Feier durch seine große Lustigkeit besonders aufgefallen war.
„Zwölf Jahre, Eminenz.“
„Und wen liebst du auf der ganzen Welt am meisten?“
Der Knabe sah ihn verdutzt an.
„Nun?“ wiederholte der Bischof.
„Den lieben Gott!“ erwiderte er und tat erstaunt, daß man ihn nach so selbstverständlichen Dingen fragte.
„Und dann?“
„Unsern Herrn Jesum.“
„Und dann?“
„Unsern Vater Hauser.“
„Und wann kommen deine Eltern?“ fragte der Bischof.
„Sie kommen gleich hinter dem Vater Hauser.“
„Und ich?“
Der Knabe sah ihn mit ehrlichen und treuen Augen an.
„Nun, wie steht es mit deiner Liebe zu mir?“ fragte der Bischof.
„Ich liebe alle Menschen.“
„Wetter!“ sagte der Bischof, „das sind Jungen; an denen hat Gott seine Freude.“
„Was machen wir jetzt mit Ihnen?“ fragte er, zu Krohn gewandt.
„Ich setze mich hier auf die Bank und warte.“
Der Bischof geleitete Hilde in das Haus, das an die Kapelle stieß. Sie hatte das Gefühl, als träume sie das alles, als schwebe sie, ohne die Erde zu berühren, unter einem leichten Schleier, der ihrem Geiste Bilder vorzauberte, die in Wirklichkeit nicht bestanden. Aber sie gab sich Mühe, es zu glauben.
Der Bischof öffnete eine Tür.
„Hier hinein, meine Liebe. Ich sage Ihnen nicht, wie Sie sich verhalten sollen. Wie Ihnen ums Herz ist, so geben Sie sich.“
Hilde stand und rührte sich nicht. Sie sah wie in der Erwartung eines Wunders auf die Tür, durch die er kommen sollte.
Der Bischof trat in die Kapelle.
„Drinnen harrt jemand auf dich“, sagte er zu Hauser und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Faß’ es als Sendung Gottes zu deinem Namenstage auf.“ Der sah ihn verwundert an, öffnete schnell die Tür, — und Hilde und Hauser standen sich gegenüber. Einen kurzen Augenblick; dann schritten sie aufeinander zu. Mit Augen, die ein großes Glück verrieten. Und als sie ihre Hände ineinander legten, drängte es sich auf ihre Lippen: „Gott sei bedankt!“ — Aber keiner sprach es aus.
„Sie haben Ihr Glück gefunden?“ fragte sie ihn.
„Ja!!“ antwortete er aus überzeugtem Herzen. Jetzt bin ich ganz glücklich, wo ich weiß, daß Sie leben.“
„Dann haben Sie also an mich gedacht?“
„Einen Tag wie den andern“, gab er zur Antwort.
Sie lächelte. Und er glaubte, daß sie glücklich sei. Denn er sah nicht, daß hinter diesem Lächeln ein Herz weinte, das Liebe litt.
„Ihnen, Hilde, danke ich alles. Und glauben Sie mir, wenn es zwei Menschen gibt, die für ein großes Glück dankbar sein müssen, dann sind wir es.“
„Ich habe nur an mich gedacht, damals. Dachte, wenn man sich so lieb hat, dann müsse sich auch alles erfüllen — gerade so, wie man es sich wünscht, — so einfältig war ich.“ — Sie sah zur Erde. — „Und bin es noch heute.“
Er verstand nicht, was sie sagte. So fern lag ihm alles, was nicht die Bahn seines jetzigen Lebens ging.
„Sie, Hilde, haben mich den Sinn des Herzens gelehrt. Und der allein lehrt uns auch die Kindesseele begreifen, für die der Verstand oft keine Erklärung mehr findet. Wer sie begreifen will, muß sie empfinden. Denn die Seele ist das Unlogischste im Menschen. Ich wußte es nicht; da kamen Sie und lehrten es mich. Nur wer die Herzen erschließt, kann die Seele bilden. Das haben Sie mir gezeigt, Hilde. Daß die Liebe über allen Dingen ist. Bei allem, was ich seither tue, steht mir Ihr Bild vor Augen wie das einer Heiligen. Wie das der Schutzgöttin dieser Anstalt! — Wenn der Geist der Liebe hier herrscht, dann ist es Ihr Geist.“ Er sah sie voll Dank an und wurde feierlich: „Und so soll es bleiben! Das verspreche ich Ihnen. In dem Herzen eines jeden, der dieses Haus verläßt, um Gott zu dienen, soll Ihre Liebe leben.“
Hilde wollte widersprechen. Aber er wehrte ab. Wußte er doch, was sie sagen wollte!
„Sie wissen sehr gut, Hilde, daß Gott nicht nach der Tat, sondern nach ihrem Geiste forscht. Daß er weiß, wenn Sie fehlten, daß es nicht im Bösen war. Gewiß! Sie haben viel dulden müssen. Aber Schmerzen, die wir für andere leiden, finden ihren Lohn. So hat Gott Sie auserwählt. — Und haben Sie noch so schwer gelitten“ — er sah sie an — „und leiden Sie noch so schwer, so wissen Sie nun: für was!“
Ihm war, als hatte ihr Blick etwas Verklärtes. Er mußte es glauben, denn für ihn war Hilde längst eine Heilige geworden. Und es quälte ihn nicht, daß er sie leiden sah.
„So soll es bleiben!“ sagte sie zu ihm und gab ihm die Hand. Und ihr war wirklich feierlich zumute. — Hier also war ihre Heimat, auch wenn sie weit draußen unter fremden Menschen war. Hier lebte sie fort; auch dann noch, wenn sie längst unter blühender Erde lag. Keiner sprach ein Wort mehr. Sie nickte ihm mit einem milden Lächeln zu, und er hob die Hände und sah, wie sie sanft und leise aus dem Zimmer glitt. Noch lange sah er ihr nach. Dann sank er auf die Knie.
Und Hilde ging mit einem Lächeln, das so zart wie das Rosarot des Himmels war.
Und als sie das Atrium betrat, schmiegte sie den schlanken Körper fest an die kalten Steine, streichelte mit ihren zarten Händen die kahlen Wände und küßte mit heißem Atem den rauhen Boden.
Langsam ertönten in der Kapelle die breiten Töne der Orgel. Hundert Knaben sangen, und ihre hellen Stimmen hallten in dem Vorraum wider, an dem dämmernd der Abend hing.
Hilde stand aufrecht und lauschte. Ihr war zumute, als brächte ihr der Gesang, der wie der Ruf eines neuen Lebens an ihr Herz drang, den Frieden. Sie faltete die Hände und betete für ihre Knaben. Dann nahm sie Abschied.
Und als sie durch den Park schritt, begleitete sie noch lange der Gesang, der wie ein Chor von Engeln durch die offenen Fenster der Kapelle in den Abend tönte.
Mehrere Tage dauerte dieser Freudenzustand, in dem Hilde ganz unter dem Eindruck der Marquiser Erlebnisse stand; in dem sie vergaß, was war und nicht mehr darüber nachdachte, was werden sollte. Die dunklen Träume blieben aus, und sie lebte des Nachts eine Heilige unter Heiligen. Am Tage ging sie verträumt umher. Sie machte den Eindruck — und ihr selbst war so — als wenn ein zarter Schleier über sie gebreitet läge, an dem alle Rauheit des Lebens abglitt. Milde, nachsichtig und gütig, wie sie selbst war, erschienen ihr nun auch die Menschen, an deren Härten sie sich so oft gestoßen hatte.
Aber Professor Dupuy hatte recht.
„Ich teile Ihren Optimismus nicht, lieber Herr Krohn — glauben Sie mir, ich täte es gern, aber ich kenne das. — Die Reaktion kommt. Sämtliche Bischöfe der Welt können hier nicht wieder gut machen, was eine Mutter verdorben hat. Es sei denn, daß sie ständig in diesem Mystizismus gehalten wird — etwa in einem Kloster — wenn Sie das Heilung nennen. Aber wir Ärzte sind diesen seelischen Dingen gegenüber machtlos. Die Zustände erkennen, ist da unserer Weisheit letzter Schluß.“
„Aber sie ist doch völlig bei Verstande“, wandte Krohn beängstigt und nicht eben freundlich ein. „Sie selbst haben es mir gesagt, als ich am ersten Tage bei Ihnen war.“
„Ich sage es auch heute. Sicher ist sie nicht das, was wir unter geisteskrank verstehen; aber sie ist durch ihre angeborene und dann durch die Einwirkung der Mutter aufs äußerste gesteigerte Hysterie der Suggestion in einer Weise zugänglich, die sie kaum mehr für ihre Handlungen verantwortlich macht. Das ist es.“
Krohn sträubte sich zu glauben, was Dupuy sagte. Bis Hilde eines Tages zu ihm äußerte:
„Wundern Sie sich nicht, daß ich noch immer lebe?“
„Was soll das heißen?“ fragte er entsetzt. „Jetzt, wo sich alles für Sie so günstig gestaltet hat.“
Hilde lächelte. „Finden Sie das?“ — Sie machte eine Pause. Dann rückte sie nahe an ihn heran. „Gewiß, ich glaube, daß alles so ist, wie Sie es sehen. Ich müßte zufrieden sein und dankbar. Aber ich bin es nicht. Dankbar vielleicht. Aber zufrieden?“
„Sie sollten sich mehr die Erleichterungen Ihres Glaubens verschaffen; an einem Ort, wo ein Ihnen sympathischer Priester in der Nähe und stets zu Ihrer Verfügung ist. Sie tragen zuviel mit sich herum, wovon Sie sich befreien könnten, wenn Sie beichten gingen.“
Hilde sah ihn groß an. Sie schüttelte den Kopf. „Auch Sie kennen mich nicht!“ und sie rang schwer.
„Sprechen Sie sich aus, Hilde. Wenn nicht mit Ihrem Priester, dann mit mir.“
„Wenn ich es könnte. Wenn ich mit diesem Glauben etwas anzufangen wüßte. Aber“ — schrie sie heraus — „ich kann es nicht! Ja, fühlen Sie’s denn nicht?! Es ist wie ein steigender Fluß in mir, der schwillt und schwillt, und nun, da er sich ergießen möchte, nicht weiß, wohin. Denn schneller als er steigt, türmt sich rings um ihn eine Mauer und dämmt ihn ein. Und schließt sich über ihm. Und so eingeengt und verdichtet wächst seine Kraft. Und er rast um so gewaltiger. Aber so sehr er sich auch bemüht, durchzubrechen, seine Mühe ist vergeblich und es gelingt ihm nicht. Denn“ — schrie sie — „die Mauer ist der Glaube, und der Strom, der in mir rast und tobt, ist die Liebe. Und ich ersticke!“
Wenn er sie zu beruhigen suchte, sagte sie:
„Ich wollte nur eins: ihm zuliebe leben. Das habe ich nun erreicht, ohne daß ich es wußte, ohne daß ich etwas dazu tat. Was soll ich noch? Was anderes bleibt mir noch übrig als zu sterben, ohne ihn gekränkt zu haben?“
Aber trotz dieser Selbstquälereien blieben die mystischen Vorstellungen bestehen. Ja, sie nahmen zu. Dazu kam, daß in den Träumen die Erinnerungen an die schwarze Messe wiederkehrten. Selten zwar, und dann ohne Kämpfe und Leidenschaft. Und was das wesentliche war: weder sie noch der Priester nahmen jetzt mehr an diesen Vorgängen teil, und die Bilder, die sie damals bis zum Abend mit sich herumtrug, die schwer auf sie drückten, schwanden aus ihrem Gedächtnisse, sobald sie erwachte, und sie kehrten auch den Tag über nicht wieder.
Sie quälte sich jetzt viel mit körperlichen Beschwerden. Das lenkte von anderem ab und beruhigte die Ärzte. Jedenfalls mehr, als es sie besorgte, bis sie eines Tages erkannten, daß sie Mutter wurde. Keiner wagte es ihr zu sagen. Krohn war dem Wahnsinn nahe. Er ließ sich tagelang nicht sehen. Und so sehr er sich mühte, er fand keine Erklärung und glaubte an ein Verschulden Hildes, zum mindesten an eine Unaufrichtigkeit. Dennoch ließ es ihm keine Ruhe, und er fuhr zum Bischof.
Der erkannte sofort den Zusammenhang. Krohn sah in seiner Bestürzung, daß er um Hilde besorgt wie ein Vater war, nur gütiger. Denn kein böses Wort kam über seine Lippen.
„Sie fragen mich, was man ihr sagen soll? Wollen Sie es ihr etwa zitternd und schonend wie ein Unglück beibringen? Sie soll ihr Kind in Liebe tragen, nicht in Haß.“ Und mit erhobener Stimme fuhr er fort: „Niemand soll ihr einen Vorwurf machen. Wer hätte wohl ein Recht dazu? Wer außer Ihm?“ — Und er sah in die Höhe. — „Dem allein wir Rechenschaft schulden.“
An einem der nächsten Tage fuhr er nach St. Cloud. Die Ärzte waren glücklich, daß er ihnen den schweren Gang ersparte. Krohn litt und erkrankte. Denn er überwand den Schmerz über dies Ereignis so wenig wie seine Liebe. Der Bischof aber betete während der ganzen Fahrt um Gottes Gnade für seine arme Hilde.
Drei Stunden lang blieb er bei ihr.
„Gehen Sie, lieber Professor, zu ihr,“ sagte er, als er ging; „seien Sie gütig zu ihr. Ich schicke Ihnen eine Schwester, die fromm, und auf die Verlaß ist. Sie wird verstehen, Ihre Patientin in der Ruhe zu halten, in der sie sich augenblicklich befindet.“
„Es ist mehr Ihre Patientin, Eminenz, als die meine. Ich habe schon gedacht, ob es nicht vielleicht das beste für sie wäre, sie ginge in ein Kloster.“ Denn er sagte sich: ein bedingungsloser Mystizismus ist für sie die einzige Erlösung.
Der Bischof erhob abwehrend die Hand: „Aber nicht jetzt, Herr Professor! Doch nicht in diesem Zustande! Später! Das eben habe ich mit ihr besprochen. Ich weiß, Sie sind mit allen Einzelheiten aus ihrem Leben vertraut. Nun, sie glaubt fest, daß dies Kind, dem sie zum Leben helfen wird, von Gott dazu bestimmt ist, die durch sie begonnene Sendung zu erfüllen: die Liebe, die sich für andere opfert, wieder in die Welt zu tragen und sie an die Stelle des Egoismus zu setzen. Nehmen Sie ihr diesen Glauben nicht. Er ist so tief in ihr, daß sie an ein Wunder glaubt. Niemals darf sie erfahren, wer der Vater dieses Kindes ist!“
„Erlauben, Eminenz“, wandte Dupuy erstaunt ein. „Verstand ich recht? Sie soll nicht wissen, wer der Vater ihres Kindes ist? Ja, wer anders als sie ...?“
„Sie weiß es nicht.“
„So hat sie mehrere ...?“
Dem Bischof kam die Frage nicht unerwartet. Er wehrte ab.
„Sie ist rein wie ein Engel! Sie weiß es nicht!“
„Ah! Ah — so —“ platzte Dupuy heraus. „Entsetzlich! Im bewußtlosen Zustande also!“
„Ebenso“, erwiderte der Bischof. „Ich habe nur eine Bitte: ein Telegramm für den Tag der Geburt. Dann bin ich hier und nehme Mutter und Kind mit mir.“
Sie trennten sich. Lange noch sah der alte Gelehrte dem Bischof nach: „Daher also diese aufopfernde Liebe“, sagte er sich. „Mir schien es gleich etwas sonderbar und ungewöhnlich. Dieser naive Herr Krohn aus Berlin hat mich verwirrt gemacht. Jetzt verstehe ich’s. Er oder der Priester! Einer ist es gewiß. — Eine Verbrecherbande!“ dachte er. „Aber gewandt sind diese Gauner. Man muß es ihnen lassen. Und erfinderisch. Sie sündigen und stehlen, und der Bestohlene glaubt sich hinterher noch bereichert. Und da die ganze Welt in letztem Grunde aus Schwindel und Selbstbetrug besteht, so scheint mir, daß diese Art Humbug noch die rationellste ist.“
Hilde war nach dem Besuch des Bischofs in festlicher Stimmung. Manche Furche hatte das Leben gezogen, und sie schien nicht jünger als ihre Jahre. Jetzt aber verschwand das alles hinter dem Schimmer eines stillen Glücks, das sie wie ein heiliges Geheimnis in ihrem Herzen trug. Wenn sie jetzt heiter blickte, war es wie das Lächeln eines Kindes, dem Traum und Leben noch eins bedeuten. Wer sie so sah, dämpfte unwillkürlich seine Stimme, und wer von den Kranken im Hause ungeduldig und mürrisch wurde, den beschämte sie durch ihre gleichmäßige Ruhe, mit der sie sich immer gütig und zufrieden mit allem beschied. Und sie hieß bald in aller Munde nur noch: „Unser liebes Kind.“
Aber hinter dieser stillen Ergebung in den Willen Gottes lag ein lautes Glück. Sie sah in dem Kinde, das sie, die strahlendste aller Mütter, unter dem Herzen trug, mehr als die Vollendung einer göttlichen Sendung. Ihr bedeutete es vor allem den Fortbestand ihrer Liebe. Dies Kind sollte vom ersten Tage seines Denkens an in seinem Geiste glauben lernen. Sollte mit mehr Recht als irgendeiner der hundert Knaben ihn „Vater“ Hauser nennen dürfen und ihn Stunde um Stunde an die Mutter mahnen, deren Liebe über dem Ganzen schwebte. Daß es ein Knabe wurde, das wußte sie.
Je näher die Stunde der Geburt kam, um so häufiger standen ihre Träume wieder unter dem häßlichen Eindruck der Pariser Tage. Aber mit einem Unterschiede. Hatte sie auch damals schon gegen die Suggestion der schwarzen Magie gekämpft, so war sie ihr doch immer wieder verfallen. Seit den Marquiser Tagen war das anders: sie erlebte die Messen noch, aber sie nahm nicht mehr an ihnen teil. War Zuschauerin ohne innere Bewegung. Denn jetzt war es wieder der Marseiller Abbé, vor dessen teuflischen Blicken sie sich entsetzte; ihr Priester Hauser aber stand neben ihr und schirmte mit seinem Herzen ihre Seele. Nun aber änderte sich auch das. Wenn jetzt der schwarze Abbé mit seinen sündigen Augen das Messer über sein Opfer schwang, dann traf sie jedesmal ein flehender Blick des Christus am Kreuze, der auf dem Altartisch stand. Sie riß das Kreuz empor: „Im Namen dessen, der für dich litt!“ rief sie dem Abbé zu, griff danach und trug das zitternde Kind, nach dessen Blut die Menge lechzte, ehe das Messer niederglitt, mit sich fort. Nacht für Nacht träumte sie jetzt von solchen Dingen; und jedesmal, wenn sie erwachte, schirmten ihre weißen Hände mit einem Lächeln, das stolz und glücklich war, die Stelle, an der ihr Leben sich erneuern sollte.
Krohn ließ es in Paris keine Ruhe. Er schrieb ihr, daß er dem Kinde seinen Namen geben und Hilde heiraten wollte. Sie brauchten deshalb nicht miteinander zu leben. Alles könnte bleiben, wie es ist.
Aber Hilde erwiderte: Der Weg zum Herzen Gottes führe nicht durch das Standesamtsregister, sondern sei die Liebe, und so hoffe sie, daß Gott dem Kinde, das ihm gehöre, auch ein gütiger Vater sein werde.
Es war an einem Spätnachmittag, da Hilde Mutter wurde. Die Geburt war sehr schwierig und erforderte ärztlichen Eingriff. Da Hilde auch am nächsten Tage noch unter großer Schwäche, der Folge starken Blutverlustes, litt, und weder aufstehen noch viel sprechen konnte, so hielt es Dupuy für nützlich, daß der Bischof seinen Besuch um einige Tage hinausschob. Sie hatte alle Schmerzen mit engelhafter Geduld ertragen, hatte sich gesträubt, als man sie chloroformieren wollte: „Ich werde das höchste Glück empfinden, und Sie könnten es über’s Herz bringen, mich dagegen unempfindlich zu machen?“
Und die Ärzte gaben nach. Sie lag ruhig und rührte sich nicht und niemand hatte sie zu halten brauchen, als der Chirurg das Leben der Mutter und des Kindes in seiner Hand hielt.
Dupuy und die Schwestern wichen wie vor einem Wunder zurück, als sie sie auch jetzt noch lächeln sahen.
„Lebt es?“ fragte Dupuy leise, und ehe der Chirurg noch Antwort gab, hauchte Hilde leicht:
„Es lebt.“
Und als sich Dupuy darauf über sie beugte, um ihr zu sagen, daß es ein Knabe sei, lächelte sie noch immer, nickte mit dem Kopfe und flüsterte nur:
„Ich weiß.“
Das Kind war lebensfähig, aber schwach. Da jede Erregung für Hilde mit Gefahr verbunden war, so litten die Ärzte in den ersten Tagen nicht, daß sie das Kind zu sehen bekam. Hilde träumte viel und ihre Züge verklärten sich, sobald sie die Stimme ihres Kindes hörte, das im Nebenzimmer untergebracht und einer Avignoner Amme anvertraut war.
Wenn es ein paar Stunden ruhig war oder schlief, dann geriet Hilde in Angst.
Die Schwester, die bei Hilde wachte, mußte alle fünf Minuten nach dem Kinde sehen. Und wenn sie in das Krankenzimmer zurückkam, bestürmte Hilde sie mit Fragen, die kein Ende nahmen.
Ihre Sehnsucht, das Kind zu sehen, war so leidenschaftlich und wuchs so ungestüm schon in den ersten Tagen, daß die Ärzte ihren Widerstand aufgaben, dessen Gefahr sie erkannten, Und ihr für den nächsten Tag, wenn sie die Nacht gut überstanden hätte, versprachen, ihrem Willen nachzugeben. „Das wäre am dritten Morgen. Also noch einmal vierundzwanzig Stunden“, dachte sie. „Wie soll ich das nur ertragen?“
Und sie ertrug es nicht. Sie verstand es, nicht ohne Mühe, des Nachts erst die Schwester mit einer dringenden Mission zu dem Chirurgen, dessen Villa am entgegengesetzten Ende des Anstaltsparkes lag, zu schicken. Der sandte sie dann die Amme, die sie ins Zimmer rief, und die, wie die meisten Ammen, ebenso gesund wie dumm war, nach, um sie zurückzuholen. Kaum war die draußen, als Hilde, ohne an sich zu denken, aus dem Bett stürzte, die Tür zum Nebenzimmer aufriß und ihr drei Tage altes Kind aus seinem Bettchen hob. Mit beiden Armen hielt sie es jetzt und sah ihm ins Gesicht. Sie stutzte. Ihre Augen blieben stehen. Starr und groß. Ihr Gesicht verzerrte sich. Sie riß den Mund weit auf; ein dumpfer gellender Ton schoß durch ihre Kehle. Ein paar Sekunden lang starrte sie es an. Dann schrie sie mit einer Stimme, die wie Wahnsinn klang: „Diese Augen!“ Sie schüttelte sich. Hielt es einen Augenblick zur Seite und wandte sich ab. Riß es dann wieder unter ihr Gesicht: „Der Blick!! Himmel!! Maria!“ Und mit einer Stimme, die raste, zitterte und weinte und zugleich leer klang, wie der langgezogene Schmerzensschrei eines Sterbenden, hauchte sie:
„Der Abbé!!“
Sie legte die Hände um den Hals des Kindes. Ein leiser Druck. Und es war tot.
Als sie gesund war, wurde sie verurteilt. Man versagte ihr jede Milde, da sie keine Reue zeigte und sich unter der Berufung auf ein gegebenes Wort, das man ihr nicht glaubte, weigerte, den Vater des Kindes zu nennen. Weder die Geschworenen noch der Staatsanwalt baten um Gnade. Ihre Ruhe nahmen sie für Verstocktheit. Und daß sie nicht bereute, war ihnen der Beweis für eine beispiellose Roheit und Verderbtheit. Also wurde sie hingerichtet.
„Ich bin sehr glücklich, nun, da ich sterben soll, ganz wie eine Heilige. Weiß ich doch, für wen ich lebte, so wie ich weiß, für wen ich sterben werde. Um meine Seele ist mir nicht bange, auch bereue ich nicht.“
Sie war völlig ruhig und bestieg ohne zu zittern und zu erbleichen lächelnd das Schafott. Erst als die Henker sie ergriffen, riß sie die Arme in die Höhe und schrie, daß alle zitterten:
„Laßt mich! Ich bin eine Heilige!“
Erst nach Wochen erfuhr es der Priester, und der verstand alles! Er las Messe um Messe für die Tote. Und seine Knaben beteten mit ihm:
„Gott sieht nicht auf die Tat, sondern auf ihren Geist“, wiederholte er ihnen, und mehr denn je empfand er, daß sie eine Heilige war. „Wie unser Herr Jesus für die ganze Menschheit litt und sich ihr opferte, so hat sie mit ihrem Leben eines Menschen Seele dem Teufel entrissen und zu Gott geführt. Ihr Name sei geheiligt! Amen!“
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[Das Ende von Wie Hilde Simon mit Gott und dem Teufel kämpfte von Artur Landsberger]