* A Distributed Proofreaders Canada eBook *
This eBook is made available at no cost and with very few restrictions. These restrictions apply only if (1) you make a change in the eBook (other than alteration for different display devices), or (2) you are making commercial use of the eBook. If either of these conditions applies, please contact a https://www.fadedpage.com administrator before proceeding. Thousands more FREE eBooks are available at https://www.fadedpage.com.
This work is in the Canadian public domain, but may be under copyright in some countries. If you live outside Canada, check your country's copyright laws. IF THE BOOK IS UNDER COPYRIGHT IN YOUR COUNTRY, DO NOT DOWNLOAD OR REDISTRIBUTE THIS FILE.
Title: Die Märchen
Date of first publication: 1935
Author: Thomas Theodor Heine (1867-1948)
Date first posted: Aug. 17, 2021
Date last updated: Aug. 17, 2021
Faded Page eBook #20210834
This eBook was produced by: Delphine Lettau, Howard Ross & the online Distributed Proofreaders Canada team at https://www.pgdpcanada.net
DIE MÄRCHEN
VON
TH. TH. HEINE
MCMXXXV
QUERIDO VERLAG N.V.
AMSTERDAM
Copyright 1935 by Querido Verlag N.V.
Printed in the Netherlands
Druck: N.V. Drukkerij V.H. G. J. van Amerongen & Co.
Amersfoort (Holland)
Herrn Siegfried Hagens Gemischtwarenhandlung stand vor dem Bankrott. Bis spät in die Nacht hatte Herr Hagen Inventur gemacht. Nun war er hinter seinen Geschäftsbüchern erschöpft und verzweifelt zusammengesunken. Er seufzte: „Kein Teufel kann mir mehr helfen.“ Da hörte er eine flüsternde Stimme hinter sich: „Vielleicht doch, Herr Hagen.“ Erschrocken sprang er auf und sah sich einem wohlbeleibten, elegant gekleideten Herrn gegenüber, von exotischem, dunkelhäutigem Typus. Auf die Frage, wie er hereingekommen sei, ging der nächtliche Besucher nicht ein, sondern er verneigte sich devot und, verbindlich lächelnd, sprach er: „Verzeihen Sie die Störung. Ich garantiere Ihnen nicht nur eine völlige Sanierung Ihres Geschäfts, sondern auch einen unerhörten Aufschwung. Auf welche Weise? Sehr einfach: ich liefere Ihnen sämtliche Waren in garantiert prima Qualität ganz umsonst.“ Da hätte Herr Hagen beinahe gelacht, aber dann wurde er doch bös und rief: „Machen Sie keine Witze, sondern machen Sie, dass Sie hinauskommen, möglichst schnell!“ „Einen Moment!“, bat der Besucher, höflich grinsend, „mein Angebot ist restlos seriös. Allerdings sehen wir uns auch genötigt, unsere Bedingungen zu stellen: Sie müssen sich verpflichten, jeden neuen Posten Ware billiger zu verkaufen als den vorhergehenden. Das können Sie ja leicht tun, da Sie die Ware nichts kostet. Sollten Sie jedoch diese Verpflichtung nicht einhalten, so tritt Paragraph 13 unseres Vertrages in Kraft. Ihre Seele, sowie die Ihrer sämtlichen Angestellten geht dann in unser unumschränktes Eigentum zu sofortiger Besitzergreifung über.“ „Sie sind der Teufel!“ schrie Hagen entsetzt. „Das ist allerdings mein Name. Bitte, lassen Sie sich aber nicht durch die verleumderischen Ausstreuungen der Konkurrenz davon abhalten, unser wirklich einzig dastehendes Angebot zu akzeptieren.“ Er entnahm seiner Aktentasche zwei auf Pergament gedruckte, gleichlautende Vertragsentwürfe, sowie eine Injektionsspritze und eine Füllfeder.
„Darf ich Ihren geschätzten Adern ein wenig Blut entnehmen? — So — danke verbindlichst — ich wusste ja, dass Sie ein gewiegter Geschäftsmann sind.“ Mit dem Blut, das er Herrn Hagens Arm entnommen hatte, füllte er die Feder und reichte sie ihm zur Unterzeichnung der Urkunde. Herr Hagen, wie im Traum, unterschrieb. „Und jetzt bitte, mir nur anzugeben, was wir Ihnen liefern sollen.“ Aber Hagen schüttelte den Kopf: „Ich brauche nichts, es war ja fast kein Umsatz mehr.“ „All right,“ sagte der Herr Teufel, „setzen Sie Ihre Preise so nie dagewesen herunter, dass die Ware reissend abgeht. Wir werden Ihre Lager stets automatisch wieder auffüllen. Bei erhöhtem Bedarf oder Neuaufnahmen bitte ich, diese Bestellzettel unserer Firma auszufüllen und sie uns zuzustellen, indem Sie dieselben in der Feuerung verbrennen.“ Ein leichter Schwefelgeruch verbreitete sich, und der Besucher war verschwunden.
Noch ganz benommen verschloss Herr Hagen den Vertrag im Kassenschrank. Dann brummte er: „So ein Schwindel! Aber jetzt ist schon alles gleich.“ In dieser Nacht schlief er seit langem wieder gut.
Am anderen Morgen wurden alle Preisauszeichnungen halbiert. Riesige Schaufensterplakate verkündeten: Infolge günstiger Abschlüsse bin ich in der Lage staunend anormal billig zu verkaufen.
Und es ging. Zuerst war der Kaffee bis auf die letzte Bohne geräumt, dann der Zucker, dann die Büstenhalter, die Schmierseife, die Sardinen — und so ging es weiter. Mit einigem Herzklopfen füllte Hagen die Bestellzettel aus und verheizte sie. Richtig, am nächsten Morgen war die neue Ware da, immer. Die Kunden fluteten herein, sie mussten in Schlangen anstehn. Alle anderen Läden blieben leer, erst in der Nachbarschaft, dann im ganzen Städtchen. Das Geld staute sich in den Kassen und musste in Badewannen zur Bank gebracht werden. Nach vierzehn Tagen war das ganze Lager vollständig umgesetzt und erneuert.
Getreu dem Vertrage wurde die neue Ware immer ein wenig billiger verkauft. Zuerst durchschnittlich um ein Prozent, dann um ein halbes, schliesslich nur um ein Promille. Blos schwer verkäufliche Gegenstände, wie Majolikavasen und Spucknäpfe, wurden mit zehn Prozent Ermässigung des halbierten Preises abgegeben.
Bald war der Laden zu klein geworden. Das grosse Hagensche Warenhaus wurde projektiert, gebaut und bar bezahlt.
Vergeblich hatten die anderen Geschäftsleute eine Klage wegen unlauteren Wettbewerbs angestrengt. Denn keinem Richter hätte es seine Frau verziehen, wenn sie auf ihre billigen Einkäufe hätte verzichten müssen. „Werden ja sehen, wie lange er es aushält,“ trösteten sich die unglücklichen Konkurrenten.
Hagen wurde der reichste Mann der Stadt, Vorsitzender der Handelskammer, Ehrenbürger, Besitzer eines Schlosses, mehrerer Luxusautos und eines Flugzeuges. Seine Frau, die immer etwas kränklich war, wurde andauernd von den teuersten Professoren der Medizin behandelt und operiert. Der Sohn hatte einen Golfklub ins Leben gerufen und eine Stiftung für minderbemittelte Bridgespieler. Eine Tochter bekam ein Kind von einem Angehörigen eines vormals regierenden Hauses, die andere war mit einem Hochstapler verlobt. So lebten Hagens üppig und in Freuden.
Im Warenhaus wurde billiger und billiger verkauft, der Umsatz stieg noch täglich. Achthundertsechzig Angestellte waren beschäftigt. Schon waren viele Preise fast auf Null gesunken, und es wurde in Betracht gezogen, ob man nicht bei einzelnen Waren den Käufern noch Geld herauszahlen könnte.
Da wurde Herrn Hagen ängstlich zu Mute. Wieder hatte er schlaflose Nächte und sah schlecht aus.
Endlich vertraute er sich einem Advokaten an und klärte ihn über die Grundlage seines Reichtums auf. Lange berieten sie hinter verschlossenen Türen. Dann wurde Hagen wieder heiter und blühte wieder auf.
Die ganze Stadt war in Aufregung: Zum ersten Mal seit Bestehen des Warenhauses wurden alle Preise erhöht, wenn auch nur um ein Geringes. Doch hiess es in den Ankündigungen, weitere Preissteigerungen würden bald folgen, man solle seinen Bedarf decken.
Am Nachmittag liess sich ein Besucher bei Herrn Hagen im Büro melden, wollte nicht warten und betrat es ohne anzuklopfen. Hagen, zuerst empört, lachte dann und sagte: „Ah, Sie sind es, Herr Teufel! Bitte, legen Sie ab.“ Der Besucher legte nicht nur seinen Mantel ab, sondern alles, Anzug, Hemd und Schuhe. Nun stand er da als der Teufel in seiner ganzen Furchtbarkeit. „Womit kann ich dienen?“ fragte Herr Hagen. „Bedaure,“ war die Antwort, „konstatieren zu müssen, dass Sie den Vertrag gebrochen haben.“ Dann brüllend: „Deine Seele gehört uns, wie die deiner Angestellten.“ Damit streckte er die riesigen Hände nach Hagen aus und wollte ihn packen. „Halt!“ rief der, „oder ich telephoniere dem Überfallkommando.“ „Wieso?“ fragte der Teufel. Da lachte Hagen: „Unsinn! Ich habe den Vertrag bis zuletzt restlos erfüllt. Vor vierzehn Tagen bin ich aus der Firma ausgeschieden. Sie gehört jetzt meiner Frau. Wir haben Gütertrennung. Sie können sie ja fragen, ob sie auch einen Vertrag mit Ihnen machen will.“
Da sah der Teufel, dass er geprellt war, nahm seine Kleider und verliess mit einem fürchterlichen Fluch unter starker Absonderung von Schwefeldämpfen das Warenhaus.
Herr und Frau Hagen aber zogen sich bald vom Geschäft zurück und leben weiter in ihrem Schloss als die reichsten Bürger der Stadt, wenn sie nicht inzwischen gestorben und in den Himmel gekommen sind.
Frau Fabrikdirektor Arbogast hatte ein vorzügliches Dienstmädchen. Sie wurde allgemein darum beneidet. Beim Kaffeekränzchen sagte Frau Bankier Herzog zu ihr: „Was? und diese Torte hat sie auch selbst gemacht! Wenn ich so eine Perle hätte wie Ihre Lusi, Frau Direktor, ich weiss nicht, was ich darum geben würde.“ „Ja, wir sind recht zufrieden mit ihr, sie tut jede Arbeit gern, ist geschickt und fleissig und so bescheiden! Treu wie Gold und ohne Liebschaften, obgleich sie eine Schönheit ist. Allerdings hat sie auch ihre Eigenheiten. Zum Beispiel mag sie durchaus keinen Fisch essen. Und dann hat sie sich ausbedungen, jeden Freitag nachmittag will sie ganz für sich haben. Nicht etwa um auszugehen, nein, da haben wir ihr erlauben müssen, unser Bad zu benützen, und sie bringt stundenlang darin zu. Dafür verzichtet sie ganz auf ihren Sonntagsausgang. Ich glaube, dass sie irgend einer Sekte angehört.“ „Wir haben mal eine gehabt, die war eine Wiedertäuferin,“ sagte Frau Bankier Herzog, „die war auch eine Perle. Wir hatten sie zehn Jahre, dann bekam sie den religiösen Wahnsinn. Seien Sie recht vorsichtig, Frau Direktor! Wie lange haben Sie denn Ihre Lusi schon?“ „Seit dem fünften Oktober 1929. Ich weiss das Datum noch so genau, weil es gerade der Tag war, an dem wir die Nachricht bekamen, dass unser armer Lothar mit dem Dampfer untergegangen war, Sie wissen ja, bei der Überfahrt nach Indien, schon im August.“ Frau Direktor Arbogast wischte sich einige Tränen ab und fuhr fort: „Sie hatte sich auf meine Annonce gemeldet. In meinem Schmerz vergass ich ganz, sie um ihre Zeugnisse zu fragen. Sie sagte bloss: ‚Ich heisse Melusine‘. ‚Melusine, das ist etwas unpassend für ein Dienstmädchen, wir wollen Sie Lusi nennen‘, hab ich gesagt. Meine Verzweiflung war so gross, dass ich mit allen Bedingungen einverstanden war, zumal sie blos 20 Mark Lohn beanspruchte. Nur Ruhe wollte ich haben, um mich auszuweinen.
Und Lusi war so nett zu mir, so besorgt. Sie versuchte, mich zu trösten. ‚Sehen Sie, gnädige Frau‘, meinte sie, ‚Ihr Sohn ist jetzt in einer glücklicheren Welt. Er hat gewollt, dass ich zu Ihnen komme und mich um Sie annehme. Lothar ist eine gute Seele‘. Vielleicht ist Lusi manchmal nicht ganz richtig. Mein Mann wollte sie deshalb zuerst gar nicht behalten. Sie hat sich auch eine grosse Photographie meines Lothar geben lassen und hat sie in ihrem Zimmer aufgehängt. Ja, sie hat ihre Eigenheiten. Und dann, haben Sie es bemerkt? Diese dicke Perlenkette, die sie immer trägt. Ich habe ihr gesagt, dass ich es ungehörig finde, dass ein Dienstbote so auffallenden falschen Schmuck trägt. Da hat sie mich auf den Knieen gebeten, sie tragen zu dürfen. Ich musste es Ihr erlauben.“
Der Arbogastsche Haushalt, von Lusi betreut, ging seinen wohlgeordneten Gang. Dann kam die grosse Wirtschaftskrise. Eines Tages sass der Direktor bleich und verstört beim Mittagessen und rührte keine Speise an. Als ihn die Gattin besorgt fragte, ob er krank sei, brach er völlig zusammen und berichtete schluchzend, dass sein ganzes Vermögen bei der Securitas-Bank verloren gegangen war und dass sie nur mehr auf sein Direktorgehalt angewiesen seien, das aber auch infolge des Geschäftsrückgangs um 50 Prozent gekürzt werden sollte. In der Aufregung hatten sie nicht beachtet, dass Lusi jedes Wort hören konnte. Sie merkten es erst, als sie zu ihnen trat und sprach: „Ich möchte der Herrschaft so gern helfen. Nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel, aber verkaufen Sie das hier!“ Sie nestelte ihre Perlenkette los und legte sie auf den Tisch. Da mussten Arbogasts trotz der traurigen Lage lachen, und ihr Lachen wurde fast krampfhaft und fand kein Ende. „Aber nein, es sind wirkliche Perlen!“ rief das Mädchen. Noch halb erstickt vom Lachen antwortete der Direktor: „Ja, wenn die echt wären, das wären mindestens 200000 Mark.“ „Sie sind echt! Bitte, verkaufen Sie sie.“ Man glaubte ihr nicht. Aber am Nachmittag gelang es ihr doch, die gnädige Frau zu überreden, dass sie mit der Perlenkette zu einem Juwelier ging. Der schätzte sie auf 350000 Mark und übernahm sie kommissionsweise zum Verkauf.
Als Frau Arbogast ihrem Mann den merkwürdigen Fall berichtete, wurde er sehr bedenklich. Sie berieten hin und her und kamen endlich zu dem Entschluss, die Sache unter Diskretion dem Polizeidirektor, mit dem sie befreundet waren, mitzuteilen. Der versprach, ihnen einen Kriminalbeamten in Zivil zur Nachforschung zu schicken.
Am nächsten Tag, es war ein Freitag, kam dieser, liess sich alles erzählen und notierte die Einzelheiten. Lusi hatte gerade ihren Badenachmittag. Er durchsuchte ihr Zimmer und fand in der Kommode ein Kästchen voll seltsamer Muscheln. Obenauf lag ein Ring, Gold mit einem grünen Halbedelstein, in den das Arbogastsche Familienwappen eingeschnitten war. „Lothars Ring!“ rief Frau Arbogast und war einer Ohnmacht nahe. „Hm, Hm,“ sagte der Kriminalbeamte, „wo ist das Mädchen?“ Er erfuhr, dass sie im Bade sei und voraussichtlich noch einige Stunden darin zubringen werde. Man begab sich dorthin. Er klopfte wiederholt an die Türe. Nur ein Plätschern war zu hören. Es wurde nicht geöffnet. Das Badezimmer hatte aber auch ein Milchglasfenster, ziemlich hoch oben, auf den Korridor hinaus.
Eine Leiter war schnell beschafft. Der Beamte stieg hinauf. Bald hatte er mit einem Glaserdiamanten eine Scheibe herausgeschnitten und steckte den Kopf durch die Öffnung. Arbogasts hörten ihn rufen: „Um Gotteswillen! Was ist denn das?“ Dann sprang er mit einem Satz von der Leiter herunter. Blass und zitternd stand er da. „Ich muss sofort den Polizeirat anrufen.“ „Was haben Sie gesehen?“ „Sehen Sie selbst!“ Frau Arbogast kletterte etwas beschwerlich die Leiter hinauf und blickte ins Badezimmer. Der Direktor konnte sie gerade noch auffangen, als sie in seine Arme fiel.
Schon hörte man Hupensignale von der Strasse. Das Überfallkommando kam. Schutzleute erschienen in der Wohnung. Die Badezimmertür wurde aufgesprengt. In der Wanne lag Lusi, selig lächelnd. Erst als man näher hinzu trat, sah man, was war. Von den Hüften abwärts war ihr Körper ein Fischschwanz, der munter im Wasser plätscherte. Ihre Kleider lagen auf einem Stuhl. Neben den Schuhen standen zwei einzelne Frauenbeine, ganz leer, wie ausgeblasene Eierschalen. „Ein unerhörter Fall!“ rief der Polizeirat. „Was soll das? Wo haben Sie die Perlen gestohlen, wo den Ring?“ „Den Ring hat mir Lothar Arbogast gegeben, als ich mich auf dem Grunde des Ozeans mit ihm vermählte. Perlen hat jedes bessere Meerweibchen soviel es will. Wenn wir auf der Erde weilen, tragen wir sie immer bei uns, sonst verlässt uns das Glück. Und ich habe sie Lothars Eltern geschenkt.“ Gross und traurig schauten ihre Augen, als die Schutzmänner sie aus dem Wasser hoben und trotz dem zappelnden Fischschwanz in Tücher einhüllten. Sie trugen sie die Treppe hinab. Auf der Strasse angekommen, liess sie langgedehnte melodische Klagelaute ertönen, entwand sich den Händen der Polizei und schwang sich über das Geländer des nahen Flusses. Man sah sie noch wie einen sehr grossen weissen Fisch unter der Oberfläche des Wassers dahinschiessen. Dann war sie verschwunden und nie hat man wieder etwas von ihr gehört.
Durch den Erlös der Perlenkette gelangten Direktor Arbogasts neuerdings zu Wohlstand. In Lusis Zimmer bemerkten sie, dass Lothars Bild von der Wand gefallen war, und sein Ring war nicht mehr aufzufinden.
Herr Regierungsrat Gerhart Fleissner, Direktor des statistischen Landesamts, war gestorben und im Himmel angekommen. Der Aufnahme-Engel prüfte seine Papiere und führte ihn zur Garderobe, wo die irdischen Hüllen abgelegt werden. Dann fragte ihn der Engel, ob er besondere Wünsche habe. „Allerdings,“ sagte der Herr Regierungsrat, „ich möchte den Herrn Direktor dieser Anstalt sprechen.“ Der Engel schlug entsetzt die Flügel über dem Kopf zusammen und klärte den Ankömmling auf: „Dieses ist keine Anstalt, sondern der Himmel und da gibt es keinen Direktor. Hier herrscht die alleinige Allmacht Gottes. Wenn Sie eine Audienz bei ihm wünschen, müssen Sie den Instanzenzug einhalten. Ich werde Sie bei Herrn Erzengel Gabriel melden. Ich kann Ihnen aber jetzt schon sagen, es wird ebenso lang dauern bis Sie vorgelassen werden, wie wenn früher jemand Sie selbst im statistischen Amt sprechen wollte.“
Der Regierungsrat setzte sich auf eine Wolke und wartete fünf Monate. Von einem mitleidigen Engel hatte er eine Harfe bekommen, damit er sich die Zeit mit Musik und Gesang vertreiben möge. Aber er konnte nur einige vaterländische Lieder singen und von seiner Studentenzeit her die Wirtin an der Lahn. Da musste er gleich wieder aufhören. Im sechsten Monat endlich wurde er gefragt, in welcher Angelegenheit er seine Allmacht zu sprechen wünsche. „Neu-Organisation!“ gab er als Zweck des Besuches an, und bald stand er vor dem Thron Gottes.
Der blickte ihn gütig und ernst an und sprach: „Herr Regierungsrat Fleissner, nicht wahr? Bitte, womit kann ich dienen?“ „Darf ich mir erlauben, Eurer Allmacht ergebenst einen kleinen Vorschlag zur planmässigen Neu-Organisation der Welt zu unterbreiten?“ „Gewiss dürfen Sie das. Allerdings habe ich mich schon gleich nach der Schöpfung überzeugt, dass alles gut war. Aber immerhin, man lernt nie aus.“ — „Also hier habe ich meine statistischen Tabellen,“ und der Regierungsrat entnahm sie seiner Aktentasche. „Das Durchschnittsalter des Menschen beträgt 50 Jahre. Von dieser Zeit verbringt er, wenn man alle Stunden zu Tagen zusammenzählt im Ganzen: mit Schlafen 5300 Tage, Arbeit 4560, Sport- und Militärübungen 1640, Theater und Kino 1400, Krankheit 780, Essen 760, Liebe 750, Wirtshaus 740, Religion leider nur 420, Reisen 400, Lernen 390, Lesen 380 Tage und 320 Tage sitzt er auf dem Klosett. Das ist nun alles sehr schlecht organisiert, denn dieses Pensum wird über die ganze Zeit des Lebensbetriebs in vielen einzelnen, oft ganz willkürlich eingeteilten Zeitabschnitten verzettelt, anstatt, wie es die moderne sachgemässe Rationalisierung verlangen würde, jede dieser Beschäftigungen hintereinander weg überall und auf einmal zu erledigen, so dass der Mensch sich im späteren Leben nicht mehr damit zu befassen brauchte und der ganz unwirtschaftliche ständige Wechsel der Beschäftigungsarten fortfiele. Es bedarf nur einer Verordnung Eurer Allmacht, um mit einem Schlage die Welt in diesem Sinne zu modernisieren und eine vernünftige Planwirtschaft in die Wege zu leiten.“ Der Allmächtige überlegte eine Weile, sah sich die statistischen Aufzeichnungen an, erst kopfschüttelnd, dann zustimmend und sprach schliesslich: „Genehmigt! Aber wenn es sich nicht bewährt, kann ich Sie hier nicht mehr brauchen. Dann kommen Sie in die Hölle. Einstweilen setzen Sie Ihre statistischen Arbeiten hier fort, der Himmel ist auch nicht richtig durchorganisiert.“ „Darf ich meine Planwirtschaft paragraphieren?“ fragte der Regierungsrat. Donnernd antwortete der Herrgott: „Sie vergessen wohl, dass ich allmächtig bin? Sobald ich etwas will, geschieht es automatisch.“ Zum Zeichen des Umschwungs schickte er einige kleine Katastrophen auf die Welt hinab. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Stürme und Fluten tobten da unten, während Kometen und Meteore wie verrückt am Himmel herumrasten. Dann wurde es wieder ruhig und die Neuordnung begann. Fleissner durfte hinabschauen und freute sich, wie die Menschen da nach seinem Plan lebten.
Zuerst merkte man nicht viel Unterschied. Nur ein ungeheurer Lerneifer hatte die Menschheit ergriffen. Alle lernten und studierten ununterbrochen Tag und Nacht, ohne eine Sekunde lang aufzuhören und ohne zu ermüden, 390 Tage lang. Dann wussten sie wohl alles. Das Pensum für das ganze Leben war erledigt. Plötzlich hörten sie mit lernen auf und fingen an zu arbeiten. Ohne Aufhören, ohne die geringste Pause wurde gegraben und gehämmert, liefen die Maschinen, gingen die Eisenbahnen, fast 12½ Jahre hindurch, von morgens bis abends, von abends bis morgens. Eine dichte Schweisswolke lagerte über der Erde. Ganz plötzlich, wie auf ein Generalstreik-Kommando hörte die Arbeit überall auf. „Das ist herrlich,“ sprachen die Menschen, „nun brauchen wir unser ganzes Leben hindurch nie mehr zu arbeiten.“ Auch der Herrgott bemerkte erfreut, wie glücklich sie jetzt waren und klopfte dem Regierungsrat Fleissner wohlwollend auf die Schulter. Die Neu-Organisation bewährte sich vorzüglich. Nun aber erwachte in den Menschen mächtig die Liebe. Es begann eine wundervolle Zeit auf der Erde, wie ein ewiger Wonnemonat. 750 Tage taten die Menschen nichts als lieben, von früh bis spät, von spät bis früh und wurden dessen nicht müde. Aber dann war es mit einem Schlage aus. Nie wieder Liebe!
Die Menschheit versank in einen Dornröschen-Schlaf. Jeder konnte sich gerade noch zu Bett begeben. Nun schlief alles. Nie war die Welt so friedlich gewesen. Wie ein Lobgesang auf Herrn Direktor Fleissner drang das allgemeine Schnarchen zum Himmel. Vierzehn Jahre und einige Monate währte der Schlaf. Dann erwachten alle Menschen gleichzeitig.
Dankbaren Herzens beteten sie, beteten und widmeten sich ausschliesslich religiösen Übungen. Das dauerte, ohne einen Augenblick innezuhalten, 420 Tage und Nächte hintereinander. Dann war auch diese Aufgabe für immer getan und man widmete sich ebenso intensiv körperlichen Übungen, allen Arten Sport und der Militärausbildung. Man ermüdete nicht, ununterbrochen, 1640 Stunden lang war die ganze Welt ein Stadion. Dann hatten die Leute Hunger bekommen. Die Zeit der Körperübungen war plötzlich zu Ende, endgiltig. Sie fingen an zu essen. Sie assen und assen, 760 Tage, also mehr als 2 Jahre hindurch, in einem fort und es schmeckte ihnen sehr gut. Dann waren sie für die ganze Zeit ihres Daseins mit dem Essen fertig, nie wieder sollte eine Speise ihre Lippen berühren. Nach der materiellen Zeit kam eine geistige. Die ganze Menschheit begann zu lesen und las unaufhörlich 380 Tage lang. Dann hat niemals wieder jemand ein Buch oder eine Zeitung angeschaut. Vielleicht hatte die Lektüre Sehnsucht die Welt zu sehen erweckt, wahrscheinlich aber war es einfach durch den planmässigen Verlauf des kosmischen Geschehens bedingt, dass nun eine Zeit der Reisen folgte.
Jeder reiste und tat nichts als reisen. Kein Mensch war zuhause. Alle schwirrten unablässig über den Erdball dahin, in Eisenbahnen, Schiffen, Automobilen, Flugzeugen, zu Fuss. Nie ruhten sie einen Moment aus. 420 Tage und Nächte dauerte das, dann war das Reisen für alle Zeiten vorbei. Wieder in der Heimat, erwachte bei Ihnen ein unbezwingliches Interesse für Theater und Kino. Den ganzen Tag und die ganze Nacht gab es Dauervorstellungen. Niemand befasste sich auch nur für einen Augenblick mit irgend etwas anderem. Fast vier Jahre währte diese genussreiche Zeit bevor sie versank. Darauf folgte die Epoche des Wirtshausbesuches. Die Menschheit verbrachte dort 2 Jahre hintereinander, ohne je heimzugehen.
Die Periode wurde von einer weniger angenehmen abgelöst. 320 Tage und Nächte sass die ganze Menschheit auf dem Klosett und stand niemals auf. Man war froh, als diese Zeit schliesslich für immer vorbei war. Aber sie hatte sehr bedenkliche hygienische Folgen. Alle Menschen, ohne Ausnahme, waren jetzt krank. 780 Tage hatten sie ohne Unterlass zu leiden.
Damit war dann ihre Lebensaufgabe beendet. Alle starben.
Regierungsrat Fleissner liess sich beim Herrgott melden und sprach, sich tief verneigend: „Melde Euer Allmacht gehorsamst, Planwirtschaft der Welt restlos durchgeführt.“ Der Allmächtige tat einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und dann fragte er: „Und wie geht es nun weiter?“ „Wieder von vorn natürlich,“ meinte Fleissner. „All right. Aber, Herr Regierungsrat, Sie Hornochse, da hätten Sie die Liebesjahre bis zum Schluss aufsparen oder eine Zeit für das Kinderkriegen einsetzen müssen. Jetzt ist die Menschheit ausgestorben und ich kann meine ganze Schöpfung nochmal machen.“ Regierungsrat Fleissner wollte noch etwas erwidern, aber schon war er durch einen mächtigen Fusstritt Gottes in die Hölle hinabgesaust.
Dort liess er sich sofort bei Lucifer melden, um ihm Vorschläge zur Organisation der Hölle zu unterbreiten. Nie hatte Lucifer so gelacht. „Aber, guter Regierungsrat, wissen Sie denn nicht? Organisation, das ist ja die Hölle.“
Die Firma Pietsch und Lehmann in Leipzig war eine der grössten Schmierölfabriken der Welt. Sie gehörte Herrn Kommerzienrat Pietsch, der sich von kleinen Anfängen durch Fleiss und Rücksichtslosigkeit emporgearbeitet hatte. Es war ein musterhafter Betrieb, mit den modernsten Maschinen und vorzüglich organisiert. Ein erheblicher Teil des Reingewinnes wurde verwendet, um den Arbeitern nette, kleine Siedlungshäuser zu bauen, unweit der Fabrik, in Reihen, eins wie das andere. Dadurch blieben sie zufrieden und arbeitsfähig.
Der Kommerzienrat selbst besass ein prächtiges Haus im vornehmsten Villenviertel, mit einem herrlichen Garten, voll der schönsten und seltensten Gewächse. Er hatte nie Zeit gehabt zu heiraten und war allmählich zu alt geworden, um daran zu denken. Nach des Tages Geschäften sass er manchmal auf der Veranda des Hauses, spielte Karten mit seinen Freunden und trank einen guten Tropfen.
An einem schönen Sonntag Vormittag hatte er den Bericht seines Gärtners entgegengenommen, dann die Morgenzeitung gelesen und war mit einer Havanna im Munde sanft entschlummert. Er träumte zuerst vom Schmieröl-Trust, dann von blühenden Pflanzen. Im Traum erblickte er eine wundervolle Blume, wie er sie noch nie gesehen hatte, von einem ganz eigentümlichen hellen Blau und einer sonderbaren Tulpenform. Er erwachte, weil er laut vor sich hingesagt hatte: „Die muss ich mir anschaffen.“ Er holte sich die Kataloge der Pflanzenhandlungen hervor, aber er konnte diese Blume nicht darin finden. Dann liess er durch einen Diener den Gärtner herbeirufen, beschrieb ihm die Blume genau, ja versuchte sogar, sie ihm aufzuzeichnen. Der kannte sie nicht und wusste nicht zu sagen, wie sie heisst. Den ganzen Tag ging dem Kommerzienrat die blaue Blume nicht aus dem Sinn. In der Nacht schlief er schlecht. Immerfort musste er an die blaue Blume denken.
Am Montag früh fuhr er nicht, wie sonst immer, in die Fabrik, sondern zu einer Handelsgärtnerei. Er liess sich dort alle blauen Blumen zeigen, so und so müsste sie aussehen. Nein, so etwas führte man nicht, kannte es garnicht. Man riet ihm, im botanischen Garten nachzufragen. Auch dort konnte man ihm keine Auskunft geben. Betrübt und enttäuscht fuhr er endlich ins Geschäft. Dort wartete schon der Ölmagnat van Ofterdingen aus Holland auf ihn, um einen Vertrag abzuschliessen. Merkwürdig, wie zerstreut Pietsch war! Die Verhandlungen wären sonst viel günstiger verlaufen, und mitten darin fragte er, ob es wohl in Holland diese blaue Blume gebe.
Nach einer fast schlaflosen Nacht fuhr er mit van Ofterdingen im Auto nach Holland. Während der ganzen Fahrt blieb er in dumpfes Sinnen versunken. Offenbar war er mit dem Verlauf der Verhandlung nicht zufrieden, und van Ofterdingen hielt es für einen besonders feinen Trick, dass Pietsch kein Wort über Ölangelegenheiten sprach. Wenn es einmal gelang, ihn zum Reden zu bringen, sprach er nur von der blauen Blume. Ja, Pietsch war schlau. Aber, sonderbar, in Holland angekommen, hatte er es so eilig den Vertrag zu unterzeichnen, dass er zu allem bereit war.
Was hatte er nur vor, dass er alle Gärtnereien besuchte?
Zwei Wochen hielt er sich in Holland auf und kam zu der Erkenntnis, dass auch dort die blaue Blume nicht zu finden sei: „Vielleicht auf Java“, vertröstete man ihn.
Kommerzienrat Pietsch schrieb an seinen Prokuristen um eine grössere Geldsumme und bestimmte, was im Geschäft zu geschehen habe. Dann kaufte er sich Tropenkleidung und fuhr mit dem nächsten Dampfer nach Batavia. Es war furchtbar heiss dort, und manchmal dachte er wehmütig an die schönen Abende vor seinem Haus bei Karten und eisgekühltem Moselwein. Aber mit der Tatkraft, die ihn immer ausgezeichnet hatte, ging er seinem Ziele nach.
Da ihm niemand mit Bestimmtheit sagen konnte, wo die blaue Blume zu finden sei, mietete er sich Eingeborene, die ihn in die Urwälder führten. Es war eine wohlausgestattete Expedition.
Einmal glaubte er, die blaue Blume durch das dichte Laub der Tropenpflanzen schimmern zu sehen. Er trieb die Boys an, vorwärts zu eilen. Da ertönte Krachen im Gezweig der Büsche und ein riesiger Tiger stürzte hervor. Er schleppte einen der Träger fort. Der schrie fürchterlich und man feuerte Schüsse ab. Pietsch liess sich durch den Schrecken nicht aufhalten. Als er näher kam, fand er zwar eine prachtvolle Orchidee, aber die blaue Blume war es nicht. Monatelang durchstreifte er das Innere Javas unter unendlichen Mühen, bis er sich überzeugte, dass die blaue Blume dort nicht zu finden sei. Er litt an einer schweren Malaria und lag lange Zeit im Hospital. Als er wieder genesen war, fragte ihn der Arzt, was das für eine Blume sei, von der er in seinen Fieberphantasien immer gesprochen habe. Pietsch gab ihm Auskunft, und der Arzt erzählte ihm, dass gerade so eine Blume auf den Hängen des Himalayagebirges wachse.
Wieder bestellte sich der Kommerzienrat Geld von zuhause und gab dem Geschäft briefliche Direktiven. Dann fuhr er nach Indien und rüstete eine Himalaya-Expedition aus. Sie dauerte fast ein Jahr lang, führte durch wilde, unerforschte Berge bis zu steilen Schneegipfeln, in Schrecknisse und Gefahren. Aber von der blauen Blume erblickte man keine Spur.
Fünfundzwanzig Kilo hatte der Kommerzienrat an Gewicht verloren, seine Gesichtszüge waren faltig und vergrämt geworden. Zudem hatte er durch den Tritt eines wütenden Elefanten für immer einen verkrüppelten, hinkenden Fuss bekommen. Ein Fakir weissagte ihm, er werde in einem tibetanischen Klostergarten die blaue Blume antreffen, und dorthin machte er sich auf den Weg.
Von Zeit zu Zeit liess er sich Geld aus der Heimat kommen. Sonst hörte man dort wenig von ihm. An seine Fabrikleitung schrieb er immer seltener. Er dachte fast nie mehr an Schmieröl. Wenn er nur erst die blaue Blume gefunden hatte, dann würde er sofort zurückkehren, um alles nachzuholen. Aber auch auf den Hochebenen Tibets fand er nicht, was er suchte. Die Mönche erklärten ihm, nirgends in ganz Asien gebe es diese Blume. Sie sei bestimmt in Brasilien in einigen Exemplaren vorhanden. Es war eine weite Reise von Tibet nach Valparaiso. Pietsch unternahm sie ohne Zögern.
In den Wäldern des Gran Chaco wäre er fast den Kopfjägern zum Opfer gefallen. Unendliche Strapazen musste er ertragen. Chile und Mexiko durchstreifte er dann noch, immer in der Hoffnung, am nächsten Tage werde er die blaue Blume entdecken.
Amerika war eine Enttäuschung. Er dachte daran, nun Afrika zu durchsuchen. Vielleicht am Kongo — —?
Kommerzienrat Pietsch war nun schon ein müder Greis, aber noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben. Wieder wollte er sich Geld aus Leipzig schicken lassen. Da traf ihn die Nachricht, dass er keines mehr haben könne. Durch seine dauernde Abwesenheit sei die Firma Pietsch und Lehmann insolvent geworden, van Ofterdingen habe sie übernommen, Pietsch besitze kein Guthaben mehr. Mit seinem letzten Geld fuhr er als Zwischendeckpassagier nach Hamburg. Er besass nicht einen Pfennig, als er von Bord ging, und so beschloss er, zu Fuss nach Leipzig zu wandern, denn frühere Hamburger Geschäftsfreunde, die er aufsuchte, glaubten ihm nicht, dass er der Kommerzienrat Pietsch sei, wiesen ihn ab und drohten mit der Polizei.
Es fiel ihm schwer, mit seinem lahmen Bein zu marschieren. Schwer war es ihm auch, als er zum ersten Male Menschen um eine milde Gabe ansprechen musste. So bettelte er sich durch und unterschied sich bald in nichts mehr von irgendeinem Landstreicher, der unter Brücken übernachtete und keinen ganzen Fetzen am Leibe hatte. Aber heimlich hielt er immer noch Umschau, ob er die blaue Blume nicht irgendwo sehen würde.
Es war Frühsommer, als er endlich in der Heimat anlangte. Er humpelte hinaus zu der Fabrik, die einmal ihm gehört hatte, und wollte dort eine Unterstützung erbitten. Gerade war Feierabend, und Arbeiter und Angestellte verliessen in dichten Scharen das Gebäude, meist junge Leute, er erinnerte sich an keins der Gesichter. Nur ein älterer Mann war dabei, den er sogleich erkannte. Der war ein tüchtiger Vorarbeiter gewesen, und der Kommerzienrat hatte oft mit ihm in Angelegenheiten des Betriebes oder der Arbeiter-Wohlfahrt verhandelt. Er konnte sich nicht enthalten ihn anzureden. „Guten Abend, Eichhorn, wie gehts Ihnen?“ Eichhorn schaute ihn fragend und etwas verächtlich an. „Ich bin Kommerzienrat Pietsch.“ Eichhorn traf es wie ein Blitzschlag, war das wirklich Pietsch? Tränen traten ihm in die Augen, er konnte nur sagen: „Sie, Herr Kommerzienrat? So geht es Ihnen jetzt? Bitte, kommen Sie mit mir.“ Sie gingen zusammen nach den Arbeiterhäusern. In abgerissenen Worten berichtete Pietsch von seinem Leben. „Wollen Sie bei mir bleiben, immer?“, fragte Eichhorn. „Die Wohnung ist uns zu gross geworden, seitdem unsere Kinder erwachsen und ausgeflogen sind.“ Durch das wohlgepflegte Gärtchen gingen sie auf das saubere Siedlungshaus zu. Da, auf einem der kleinen Beete erblickte Pietsch etwas, das sein Herz fast zum Zerspringen brachte. „Die blaue Blume!“, rief er, „hier, hier ist sie, die blaue Blume! Endlich!“
Er kniete vor ihr nieder und küsste sie inbrünstig.
Herr Oberlehrer Dr. Stöttritz aus Leipzig hielt sich in den grossen Ferien in Florenz auf. Er studierte die Kunstschätze und Altertümer Italiens, über die er einige Abhandlungen zu veröffentlichen gedachte. Als er eines Morgens am Marktplatz herumging, hörte er das jämmerliche Schreien eines Esels und gewahrte einen Bauern, der mit erbarmungslosen Stockhieben das alte, unter seiner Last erschöpft zusammengesunkene Tier weitertreiben wollte. Dr. Stöttritz versuchte, dem Bauern das Unmenschliche seines Beginnens darzustellen, stiess aber nur auf höhnische Ablehnung, während der Esel immer stärkere Schläge zu erdulden hatte und bereits aus vielen Wunden blutete. Das arme Geschöpf blickte den Oberlehrer so hilfesuchend an, dass ein grosser Entschluss in diesem reifte. „Halt!“ rief er, „keinen Schlag weiter! Was kostet der Esel?“ Sofort liess der Peiniger von seinem Opfer ab. Es wurde über den Preis verhandelt, und bald war Herr Dr. Stöttritz Besitzer eines Esels.
Das war nun nicht so leicht für ihn. Was sollte er mit seinem Schützling beginnen? Er mochte ihn nicht anderen Peinigern überlassen. Zudem sagten ihm die dankbaren Augen des Tieres, dass es erwarte, bei ihm bleiben zu dürfen. So nahm er es mit in sein Albergo, liess ihm ein Unterkommen in einem Stall geben und Futter reichen.
Am Abend suchte er den Esel dort auf und sagte: „Na, wie geht’s Alterchen?“ Zu seinem masslosen Erstaunen antwortete der: „Ich danke, es geht schon besser. Sie sind ein edler Mensch. Ich werde mich dankbar erweisen. Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten. Wenn Sie Geld brauchen, so rufen Sie: »Eslein streck dich«, und ziehen mich dreimal am Schwanz.“ „Geld kann man immer brauchen, besonders auf der Reise,“ meinte der Oberlehrer und tat, wie der Esel angegeben. Der Esel rief: „Yah“, und hob den Schwanz, und unter diesem fielen Hundertlire-Scheine herab, bis Herr Dr. Stöttritz sagte: „Genug für heute. Wir müssen auch für morgen ein Pensum übrig lassen.“ Er hob die Scheine auf und zählte sie. Es waren fünfzig Stück. Zwei davon behielt er bei sich. Die übrigen brachte er anderntags auf die Bank und setzte seine antiquarischen Studien fort.
Von Florenz aus reiste er nach Rom und noch nach vielen anderen Städten Italiens, immer in Begleitung seines Esels. Wenn ihm das Studium Zeit dazu liess, machte er auch Spaziergänge in seiner Gesellschaft. Erst nachdem ihn der Esel dringend dazu aufgefordert hatte, bediente er sich seiner auch als Reittier. Dr. Stöttritz wurde in ganz Italien eine bekannte komische Figur und galt als unermesslich reich. Illustrierte Zeitungen brachten das Bild des „Professore Asino.“ Besonders in Neapel wurde er mit Halloh begrüsst. Man bot ihm dort die merkwürdigsten Tauschgeschäfte an. Ein verdächtig aussehender Mann wollte ihm den alten Esel gegen eine junge Ziege eintauschen, einer sogar gegen einen kleinen Knaben. Der Oberlehrer wunderte sich und fürchtete schon, sein Geheimnis sei verraten, besonders als er bemerkte, dass man immer wieder versuchte, ihn bei den abendlichen Zusammenkünften mit dem Esel zu belauschen. „Eslein streck’ dich“ funktionierte andauernd tadellos.
Aber eines Tages, als Dr. Stöttritz wieder einen Posten Hundertlire-Noten auf der Bank deponieren wollte, bat man ihn in das Direktionszimmer zu kommen und befragte ihn, woher er die Scheine habe. Er wurde sehr verlegen und wollte sein Geheimnis nicht verraten. Man sagte ihm auf den Kopf zu, dass das Geld gefälscht sei. Ein Detektiv brachte ihn zur Polizei. Zwei Monate sass er in dem schmutzigen Gefängnis, dann war die Gerichtsverhandlung. Da blieb ihm nichts übrig als den Zusammenhang aufzuklären. Er erbot sich, das Eslein-streck-dich seine Kunst vorführen zu lassen. Aber man lachte ihn aus. Ausserdem war der Esel längst gestohlen worden. Sachverständige stellten einwandfrei fest, dass sämtliche Scheine falsch waren.
Herr Oberlehrer Dr. Stöttritz wurde zu langjähriger Zuchthausstrafe verurteilt.
Und wenn er nicht gestorben ist, sitzt er heute noch.
Manchmal hatte der kleine Eugen versucht, an den Spielen seiner Mitschüler teilzunehmen. Er war aber so schwächlich und ungeschickt, dass ihn alle auslachten. So oft sie sich nun im Schulhof mit dem Fussball vergnügten, stand Eugen abseits, still und verträumt aber nicht traurig. Eine innere Glückseligkeit strahlte aus seinem blassen, schmalen Gesicht und aus den grossen Augen mit den dunklen Schatten darunter. Wenn er einmal zu den Kameraden hinblickte, zuckte ein Ausdruck von Stolz und Verachtung um seinen Mund. Eugen wusste, dass er mehr konnte als sie alle. Eugen konnte fliegen. Aber das brauchten die anderen nicht zu wissen. Es war sein Geheimnis.
Wie hatte er das nur gelernt? Ganz von selbst. Eugens Kusine Hilda, ein wunderschönes Mädchen, war zu seiner Mutter auf Besuch gekommen, und er hörte, wie sie erzählte: „Morgen fliege ich nach Berlin.“ Abends, als ihn die Mutter zu Bett brachte, sagte er weinerlich: „Hilda ist so schön, ich möchte mit ihr fliegen.“ „Jetzt musst du deinen Lebertran nehmen und dann ganz artig schlafen. Vielleicht nimmt sie dich dann einmal mit. Gute Nacht, Eugchen.“ Dann ging die Mutter hinaus. Bald machte Eugen die Augen zu und im Nu fühlte er, wie sein Körper ganz leicht wurde. Er stieg aus dem Bett, gab sich einen Schwung, stiess mit den Beinen vom Boden ab, bewegte die Arme wie Flügel und schon schwebte er durch das Zimmer. Es war gar nicht anstrengend und ein herrliches Gefühl. „Ach, wenn mich doch Hilda so sehen könnte!“ dachte er.
Am andern Morgen hatte Eugen wieder einmal Kopfschmerzen und brauchte nicht zur Schule zu gehen. Er sollte sich in der frischen Luft erholen und spazierte hinaus bis ans Ende des Stadtwäldchens, wo die grosse Eiche stand, in deren Schatten er immer so gern sass. Käfer summten, Schmetterlinge flogen und Vögel zwitscherten. „Jetzt versuche ich’s nochmal,“ dachte Eugen. Er schloss die Augen und machte Flugbewegungen. So leicht wie im Zimmer ging es nicht gleich. Er musste erst einige Male kräftig in die Höhe springen, endlich bekam er Luft unter die Arme. Mit langsamen Flügelschlägen erhob er sich und dann umschwebte er wie ein grosser Vogel den Wipfel des Baumes. Von Zeit zu Zeit liess er sich auf einen Ast nieder, um gleich wieder in den sonnigen Himmel hineinzufliegen. Wunderbares Wohlbehagen durchströmte ihn dabei.
Da sah er unten seine Mitschüler, die der Hitze wegen frei bekommen hatten und mit dem Lehrer einen Spaziergang machten. Er rief ihnen zu. Erstaunt blickten sie hinauf, aber sie erkannten Eugen nicht. Weitab von ihnen liess er sich auf eine Waldwiese niedersinken und ging nach Hause.
Niemandem erzählte er, dass er jetzt fliegen konnte. Aber abends, wenn er allein im Schlafzimmer war, übte er sich oft, damit er es nicht wieder verlernte. Manchmal ging er auch untertags heimlich in das Gärtchen hinunter und flog da umher.
Eines Tages, in der Schule, sollte er eine Rechnung vorn an die Tafel schreiben. Er machte alles falsch, und die anderen lachten. Auch der Lehrer. Da dachte Eugen: „So, jetzt zeige ich euch doch, dass ich mehr kann als ihr.“ Er schloss die Augen, und sofort erhob er sich, mit Armen und Beinen rudernd, in majestätischem Flug bis an die Decke des Klassenzimmers. Er hörte die bewundernden Stimmen der Schüler, und der Lehrer rief: „Aber Eugen, Eugen, was machst du denn!“ Eugen kreiste dann ganz niedrig und streifte beinahe ihre Köpfe. Aber schon packten sie ihn an Händen und Füssen, holten ihn aus der Luft herunter und setzten ihn auf eine Bank. Er schlug die Augen auf und sah, wie sie alle in stummer Bewunderung um ihn herumstanden. Der Lehrer liess ihm ein Glas Wasser reichen, ging dann hinaus und telephonierte an Eugens Mutter. Die holte ihn gleich.
Der Doktor kam ins Haus, machte ein bedenkliches Gesicht und sagte, der Junge müsse ganz ruhig liegen und kalte Umschläge bekommen, er habe starkes Fieber. Dann verschrieb er eine Medizin. Wie die Mutter am Bett sass, sprach Eugen zu ihr: „Sei mir nicht böse, Mama, weil ich dir nicht gesagt habe, dass ich jetzt fliegen kann. Du musst es auch lernen. Es ist so schön. Wenn Hilda wieder kommt, fliegen wir zusammen in den Stadtwald.“ Er lag mit heissen Backen und konnte nicht einschlafen. Das Fenster stand offen und die nur wenig abgekühlte Luft der Sommernacht strömte ins Zimmer, so dass sich die Gardinen leise bewegten. Die Mutter wollte die ganze Nacht bei ihm wachen. Aber gegen 2 Uhr nickte sie ein. Eugen bemerkte es bald, machte die Augen zu und begann wieder seine Flugübungen. Ein grosser Nachtfalter schwirrte herein. Eugen versuchte gerade, ihn zu erhaschen, als er draussen vor dem Fenster die schöne Hilda vorbeischweben sah. Sie flog mit eleganten Bewegungen und lächelte ihm freundlich zu. „Hilda, ich komme,“ rief Eugen, und schon flog er hinaus zu ihr. Es war wie ein süsser Rausch.
Durch den Ruf war die Mutter erwacht und, erschrocken aufschreiend, zum Fenster gesprungen. Sie konnte Eugen gerade noch an einem Fuss erfassen. — Aber das hätte sie nicht tun sollen. Eugen verlor das Gleichgewicht. „Lass mich doch fliegen, Mama!“ konnte er noch sagen, dann stürzte er in die Tiefe.
Alle Blicke wandten sich der vornehmen, schlanken Blondine zu, die den Hotelsaal in Pörtschach am Wörthersee betrat, wo die Jazz-Musik spielte und schon ein wenig getanzt wurde. Sie war nicht mehr in der ersten Jugend, aber sehr elegant und von eigentümlichem Charme. Sie speiste allein, nur in Gesellschaft ihres kleinen chinesischen Hündchens, dem sie manchmal einen Leckerbissen vorlegte. Der Liebling erleichterte die Anknüpfung eines Gesprächs. „Ein reizendes Tierchen!“, sagte der berühmte Rekord- und Herzenbrecher Baron Falotti, „was ist er für eine Rasse?“ Im Laufe der Konversation forderte er die Dame zum tanzen auf. Sie lehnte kühl ab, sie sei zu ermüdet von der Reise.
Aber nicht lange darauf sah man sie mit dem fetten, glatzköpfigen Bankier Gutstein einen Tango tanzen, er schwitzte so dabei, dass er sie bald an ihren Tisch zurückführen musste. Mit bezauberndem Lächeln lud sie ihn ein, bei ihr Platz zu nehmen und etwas Erfrischendes zu trinken.
An einem Tisch in der Nähe sass der berühmte Sexualforscher Professor Rehfeld mit einem Freunde. „So macht sie es immer,“ dozierte er. „Das ist die Gräfin Circe aus Ungarn, ich habe sie schon am Lido beobachtet. Ein hochinteressanter Fall von Crasso-Gerontophilie.“ „Bitte, was bedeutet dieses Wort?“ fragte der Freund. „Wir Sexual-psychologen bezeichnen damit eine besondere Form der Perversität, eine krankhafte Veranlagung. Die daran leidenden fühlen sich nur zu dicken, alten Personen des anderen Geschlechts hingezogen. Bei der Gräfin Circe ist die Crassophilie noch stärker ausgebildet als die Gerontophilie, denn sie flirtet auch mit jüngeren Herren, wenn sie besonders wohlbeleibt sind.“ — Ein heisser, verlangender Blick aus den Augen der Gräfin traf den alten Professor. „Sehen Sie,“ flüsterte er, „ich wiege ja auch meine 100 Kilo, sie möchte immer mit mir anbandeln. Vielleicht werde ich der Wissenschaft einmal das Opfer bringen und Studien an ihr machen, denn in der ganzen medizinischen Literatur sind bisher nur vier Fälle dieser Perversität authentisch belegt.“
Am nächsten Tag, am Badestrand, war Gräfin Circe bereits von einer ganzen Sammlung dicker und alter Herren umschwärmt. Sie sah unerhört schlank und schön im Badekostüm aus, umso merkwürdiger wirkte der Gegensatz zu den Fettwansten, mit denen sie sich in lustiger Unterhaltung herumtummelte, wobei sie, wie geniesserisch, diesen und jenen Bauch betastete oder dicke Falten des Rückens prüfend durch die Finger zog. Zum Schluss musste sich unter allgemeinem fröhlichen Gelächter jeder der Herren auf die automatische Wage stellen, und die Gräfin schrieb Namen und Gewicht in ihr Notizbüchlein.
Baron Falotti hatte das Spiel noch nicht verloren gegeben. Er wusste, wie blendend er auch im Schwimmanzug aussah und welchen Eindruck er stets auf Frauen machte, es würde ihm doch ein Leichtes sein, diese ekelhaften Falstaffs auszustechen. Kavaliermässig begann er eine Konversation. Die Gräfin schien gelangweilt, führte ihn zur Wage und stellte fest, dass er nur 69 Kilo wog. „Das notiere ich mir garnicht,“ sagte sie, „überhaupt ich habe keine Zeit, ich reise ab.“ Sie winkte den anderen Verehrern zu: „Auf Wiedersehen in Nagy Teremtem!“ und war verschwunden.
Am nächsten Tag dozierte Professor Rehfeld wieder: „Der Fall bleibt typisch. Die Gräfin ist abgereist und alle dicken Herren sind heute verschwunden.“ „Aber an Crassogerontophilie glaube ich nicht,“ warf der Freund ein, „sie weiss, dass dicke alte Herren das meiste Geld haben und dass da etwas zu holen ist. Das Gegenteil von Perversität!“ „Irrtum,“ erklärte der Professor, „ich habe mich über sie erkundigt, die Grafen von Circe sind uralter Adel, die Güter waren früher etwas heruntergewirtschaftet aber jetzt rentieren sie glänzend, seitdem die Gräfin sie persönlich leitet. Sie ist eine der reichsten Gutsbesitzerinnen Ungarns, fabelhafte Viehzucht, an ganz Europa liefert sie ihre berühmten schweren Mastschweine, hat sich ganz darauf spezialisiert. Ausserordentlich tüchtige Frau.“
Der interessante Fall kam dem Professor erst wieder in Erinnerung, als er die schöne Gräfin in Marienbad neuerdings beobachten konnte. Hier war sie ganz in ihrem Element. Sie strahlte vor Glück, nie hatte sie so viele Dicke beisammen gehabt wie hier. Alle waren in ihrem Bann, langjährige Ehen wurden rettungslos zerstört. Nur zweien ihrer Verehrer gab sie den Laufpass. Die waren nämlich so toll verliebt, dass sie abmagerten. Als die Gräfin bei der Wage am Brunnen die erschreckende Gewichtsabnahme der beiden festgestellt hatte, sagte sie ihnen, sie sollten sich keine Hoffnung mehr machen. Der eine kehrte reuig zu Frau und Kindern zurück, der andere, ein bekannter Grossindustrieller, hat sich erschossen. Und wieder war sie plötzlich abgereist und bald darauf ihr fettleibiges Gefolge.
Gräfin Circe tauchte dann noch in vielen Badeorten und Sportplätzen auf, überall in derselben Weise. Merkwürdig war es in Kitzbühel. Sie war eine gute Skiläuferin, aber sie machte fast keine Hochtouren, nahm sich nur auf dem Übungshügel sehr um einige alte, dicke Herren an und war immer besorgt, dass sie sich nicht zu sehr anstrengten. Besonders bemühte sie sich um die Bobsleigh-Mannschaft, die ja, wie immer, aus Schwergewichtlern bestand. Es gelang ihr sogar, einen unendlich fetten indischen Maharadschah, der gleichzeitig mit dem Prince of Wales dort eingetroffen war, so zu fesseln, dass er sie heiraten und zur indischen Fürstin machen wollte. „Aber erst besuchen Sie mich in Nagy Teremtem!“ sagte sie ihm. Kurz danach hatte sie Kitzbühel verlassen, die dicken Herren sah man auch nicht mehr am Ski-Übungshügel, das Bobsleighrennen musste abgesagt werden, weil die gesamte Mannschaft nicht mehr vorhanden war, und auch der Maharadschah war nach Ungarn abgereist.
Nie wieder hat man etwas von dem Maharadschah gehört, und das wäre der Gräfin beinahe zum Verhängnis geworden. In den englischen Zeitungen erschienen sensationelle Artikel: „Rätselhaftes Verschwinden eines Maharadschah.“ Scotland Yard, das Centralamt der Kriminalpolizei, bekam den Fall zur Bearbeitung. Detektiv Thinley wurde nach Schloss Nagy Teremtem geschickt, man hatte in Kitzbühel leicht ermitteln können, dass der Maharadschah sich dorthin begeben wollte. Der Detektiv drahtete: „Maharadschah nicht auffindbar. Besucher verschwinden im Schloss. Schickt umgehend Captain Bellygood.“ Captain Bellygood war der dickste Beamte, über den Scotland Yard verfügte, ein wahrer Koloss. Er reiste sofort nach Nagy Teremtem ab und traf dort mit Thinley zusammen. Der berichtete ihm: „Von der Dienerschaft war nichts herauszubekommen, ich konnte mich auch nur schwer mit den Leuten verständigen. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass seit Jahren sehr viele Gäste in das gräfliche Schloss zu Besuch kommen, meistens ältere, dicke Herren. Nie hat man einen davon wieder zu sehen bekommen. Das Schloss hätte keinen Platz, um solche Menschenmengen zu beherbergen. Wo kommen die Menschen hin? Der Maharadschah ist am achtzehnten Februar eingetroffen. Es ist mir nicht gelungen ihn aufzufinden. Ich wollte die Schlossherrin besuchen, sie liess mich sonderbarer Weise fragen, wieviel ich wiege. Da ich nur 146 Pfund wiege, wollte sie mich nicht sehen, sie empfange keine Herren unter 90 Kilo. Deshalb habe ich Sie herbestellt, Captain Bellygood. Lassen Sie sich anmelden und sehen Sie zu, was Sie herausbringen.“
Bellygood begab sich ins Schloss. Thinley wartete vor dem Tor. Bellygood ist nicht wieder herausgekommen. Scotland Yard blieb ratlos. Gräfin Circe war eine so prominente, angesehene Persönlichkeit, dass die lokalen Behörden nicht zum Einschreiten zu bewegen waren. Thinley liess sich nicht abschrecken. Gerade war wieder ein dicker Herr angekommen. Unter einem Vorwand machte der Detektiv seine Bekanntschaft, es war Professor Rehfeld, der sich endlich entschlossen hatte, den interessanten sexualpathologischen Fall gründlich zu studieren und der Einladung zu folgen. Er erwähnte das im Laufe des Gespräches, und Thinley fand es an der Zeit, den Professor über alles aufzuklären: „Halten Sie es für möglich, Herr Professor, dass Menschen im Schloss ermordet werden?“ „Man muss immerhin vorsichtig sein,“ antwortete der nach einigem Überlegen. Sie kamen überein, dass er Thinley als seinen Diener mit ins Schloss nehmen sollte. Thinley hatte eine dafür passende Verkleidung in seinem Koffer. Die Gräfin war hocherfreut, den Gast bei sich zu sehen, den Diener wollte sie aber heimschicken, man habe soviel Personal im Schloss, dass er ganz überflüssig sei. Der Professor gab nicht nach und setzte endlich seinen Willen durch. Er hatte mit dem Detektiv ausgemacht, dass, wenn Gefahr drohe, er ihn durch einen Ton wie das Quieken eines Schweines zu Hilfe rufen würde.
Der Professor und die Gräfin nahmen den Thee in der Halle des Schlosses beim Radioklang einer Zigeunerkapelle. „Sie haben es schön hier,“ bemerkte der Professor. „Ja, es ist zum Aushalten, mein lieber Professor, wollen Sie sich das Schloss ansehen? Ich habe auch schöne alte Bilder. In meinem Schlafzimmer hängt ein berühmter Coreggio.“ „Der interessiert mich sehr.“ „Möchten Sie ihn gleich anschauen?“ Es war etwas ungewöhnlich, dass das Schlafzimmer unmittelbar neben der Hall gelegen war. Sie führte ihn hinein in den eleganten, mit modernem Luxus ausgestatteten Raum. Als der Professor das schöne Gemälde eine Weile betrachtet hatte, hörte er ein Rascheln hinter sich. Er drehte sich um und sah, wie die Gräfin die Arme verlangend um seinen Hals schlang. Dabei berührte sie seinen Hinterkopf mit einem kleinen elektrischen Kontakt-Apparat. Der Professor hatte ein seltsames Gefühl, als ob er sich entkleiden, sich auf den Fussboden niederlassen und auf allen Vieren gehen müsste. Er konnte dem Drange nicht widerstehen. Eigentümlich benommen war es ihm dabei im Kopfe. Er fühlte, wie er, einem Tiere gleich, im Zimmer herumsprang. Ein mächtiger Toilettespiegel stand in einer Ecke des Zimmers. Der Professor lief auf ihn zu und erschrack, als ihm daraus ein fettes Schwein entgegen kam. Es dauerte eine Weile, bis er sich bewusst wurde, dass das sein eigenes Spiegelbild war. Die Gräfin hatte einen Gummistempel bereit, mit dem sie ihm Buchstaben und Nummern auf den Rücken druckte. Dann ging sie ans Telephon. Ein Gutsarbeiter kam mit einem Strick, um den Eber fortzuschaffen. Entsetzen packte den Professor, er wollte um Hilfe rufen, aber nichts als Grunzen und Quieken brachte er heraus. Und er quiekte, dass es weithin durch das Schloss gellte. Wie gut, dass er gerade dieses Zeichen mit Thinley verabredet hatte! Der hörte es, sogar in dem entfernten Zimmer, das man ihm angewiesen hatte.
Den Browning in der Hand stand er plötzlich im Schlafgemach. „Aha!“ rief der Detektiv, „das habe ich mir gedacht.“ Die Gräfin, nicht im mindesten erschrocken, näherte sich ihm mit ihrem bezauberndsten Lächeln. „Ei, ei, mein Lieber!“ lispelte sie und streckte sehnsüchtig die Arme nach ihm aus, und den elektrischen Kontakt. Thinley war sich der Gefahr bewusst. „Keinen Schritt weiter! oder ich schiesse Sie nieder!“ rief er, indem er seine Erkennungsmarke vorwies und den Browning bereit hielt. „Und Sie,“ sagte er, zu dem Gutsarbeiter gewandt, „helfen mir jetzt hier Ordnung zu machen.“ Schon hatte er der Gräfin Circe die Handschellen angelegt und sie einstweilen in den Kleiderschrank gesperrt.
Der Gutsarbeiter musste Thinley zu den weitläufigen, modern gebauten Schweineställen führen. Sie waren leer. „Vorige Woche ist gerade wieder ein grosser Transport abgegangen, prachtvolle, schwere Tiere.“ „Und wo beziehen Sie die Schweine her?“, fragte der Detektiv. „Darum kümmere ich mich nicht, ich muss sie immer in den Gemächern der gnädigen Gräfin abholen. Wir züchten nicht selbst. Übrigens sind zwei davon noch hier, sehr grosse, fette Eber.“ Man fand sie in einem eigenen sauberen Stall untergebracht, mächtige Exemplare, ein schwarzes und ein helles, die beim Anblick Thinleys von Unruhe und Aufregung ergriffen wurden. „Are you the Radjah?“ fragte Thinley das dunkle. Seine quiekende Antwort klang wie: „I-am, I-am.“ „And you are Bellygood?“, wandte er sich an das blonde Tier. Es grunzte: „Yes, yes, yes.“ Thinley wusste genug.
Er begab sich ins Schloss zurück, holte Gräfin Circe aus dem Kleiderschrank und zwang sie, immer mit vorgehaltenem Revolver, diese drei ihrer Opfer mittels des elektrischen Kontaktapparates in Menschen zurückzuverwandeln und dafür zu sorgen, dass sie sich wieder ankleiden und von dem Schrecken erholen konnten. Der Maharadschah beschwor Mr. Thinley, nichts an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, das Schwein sei in Indien ein unheiliges Tier, und er würde unmöglich werden, wenn man von dem Fall erführe. Auch Professor Rehfeld zog es vor, dass die Welt nicht von seiner falschen Diagnose unterrichtet werde. Sein Ruf als Sexualpathologe stand auf dem Spiel. Die beiden reisten möglichst bald von dem Orte ihres furchtbaren Erlebnisses ab. Die Detektive blieben noch eine Weile dort, nahmen ein Protokoll auf und versuchten vergeblich, etwas über den Verbleib der anderen Schweine zu ermitteln; denn die Gräfin Circe hatte sofort ihre sämtlichen Geschäftsbücher vernichtet. Es gelang ihnen auch nicht, von den Behörden einen Haftbefehl gegen die Gräfin zu erwirken.
In Scotland Yard nahm man Thinleys und Bellygoods Bericht kopfschüttelnd entgegen und lehnte es ab, den Fall der Staatsanwaltschaft zur weiteren Verfolgung zu übergeben, zumal die Vernehmung des Maharadschah die Aussagen der Detektive nicht bestätigte.
Gräfin Circe blieb unbehelligt. Man hat sie in dieser Saison bereits wieder in einigen Badeorten gesehen.
Sibylla Leiseklein war ein ganz junges Mädchen, hübsch und blond und hatte so grosse, sehnsüchtige Augen. Aber sie konnte nicht tanzen. Sie hatte es nicht lernen können. Sie war nämlich sehr schüchtern und wurde so leicht schwindlig. Immer wieder hatten es die Herren mit ihr versucht, aber es ging nicht. Sie musste sich gleich wieder setzen. Da sass sie nun und schaute den Anderen zu. Sie war auch gar nicht unterhaltend. Wenn ein Herr mit ihr ein Gespräch anknüpfen wollte, antwortete sie nur Ja und Nein und lächelte sanft vor sich hin. Man dachte, das würde sich mit der Zeit schon geben. Aber nun sass sie schon viele Jahre so still und einsam bei den Tanzgesellschaften herum und niemand kümmerte sich mehr um sie. Trotzdem wurde sie immer wieder eingeladen, denn ihre Eltern waren angesehene, wohlhabende Leute. Sie waren sehr bekümmert, weil ihre Sibylle solche Minderwertigkeitskomplexe hatte. Sie schickten sie deshalb auch einmal zu einem Psychoanalytiker. Aber der fragte sie nach so schrecklichen Dingen, dass sie weinend nachhaus kam, und es noch schlimmer mit ihr wurde.
Allmählich wurde sie eine alte Jungfrau, bekam Falten im Gesicht und ihre Haare ergrauten stellenweise. Alle ihre Altersgenossinnen hatten längst Anschluss und Männer gefunden. Jüngere erschienen bei den Tanzabenden und sahen sie manchmal verwundert an: „Worauf die wohl noch wartet?“ Lange schon hatte kein Herr mehr versucht, sich mit ihr zu unterhalten oder gar mit ihr zu tanzen.
Jetzt war sie bereits ganz alt und verhutzelt. Nur ihre Augen strahlten noch immer gross und sehnsuchtsvoll. So sass sie auch im Fasching auf dem Künstlerball, still und resigniert, an einem Tisch lustiger, junger Menschen. Man lachte ein wenig über die Alte, denn sie hatte sich als Colombine kostümiert und sah komisch aus. Besonders, wenn sie so ernst und traurig dreinschaute.
Da trat ein sehr schlanker, hochgewachsener Herr in den Saal. Er trug ein altspanisches Kostüm, ganz schwarz, auch der Hut und die Federn darauf. Das Gesicht bedeckte eine schwarze Umhüllung, so dass man nichts davon sehen konnte. Alle Blicke wandten sich der auffallenden Erscheinung zu. Als die Jazzband wieder zu spielen begann, schritt er auf den Tisch zu, an dem Sibylla sass und forderte sie, sich tief verneigend, zum Tanz auf. „Ach, ich kann ja die modernen Tänze nicht,“ stotterte sie. Aber er hatte es wohl nicht gehört, und schon tanzten die beiden zwischen den anderen Paaren dahin. Jetzt ging es — so, als ob sie ihr Leben lang immer getanzt hätte. Alle jungen Mädchen schien der Spanier zu übersehen. Er tanzte nur mit Sibylla. Keinen Tanz versäumten sie. Mit Verwunderung sahen die Anwesenden, wie sich Sibylla dabei verjüngte. Sie sah jetzt wieder wie ein ganz junges Mädchen aus, eine entzückende kleine Colombine. Nun wollten auch Andere mit ihr tanzen, aber sie wies alle ab. Ganz hingegeben, selig und verzückt schwebte sie mit ihrem Kavalier durch den Saal. Es war ein herrliches Fest für Sibylla, nun war sie wieder jung und schön, und das Leben lag vor ihr wie ein Paradies. „Lass mich dein Gesicht sehen, Liebster,“ flüsterte sie. Aber er umfasste sie nur noch fester und tanzte mit ihr dem Ausgang zu. Ja, sie tanzten durch das Portal hinaus. Wer ihnen nachsah, konnte bemerken, dass der Spanier sich demaskiert hatte. — — Es war der Tod.
Man fand Sibylla Leiseklein neben der Garderobe liegend, entseelt, mit einem glücklichen Lächeln um die halbgeöffneten Lippen.
DER TEUFEL IM WARENHAUS | 7 |
LUSI | 15 |
DAS MÄRCHEN VON DER PLANWIRTSCHAFT | 22 |
DIE BLAUE BLUME | 31 |
PROFESSORE ASINO | 39 |
DER FLIEGENDE EUGEN | 44 |
CRASSO-GERONTOPHILIE | 49 |
DAS MÄDCHEN, DAS NICHT TANZEN KONNTE | 62 |
Von diesem Werk erschienen 50 numerierte Exemplare, vom Autor signiert, auf Pannekoekpapier gedruckt und in Halbleder gebunden.
Einige wenige orthografische Fehler wurden berichtigt. Fehlende Zeichensetzung wurde ergänzt.
A few typographical errors have been corrected. Missing punctuation has been added.
[The end of Die Märchen by Thomas Theodor Heine]