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Title: Daphne Herbst
Date of first publication: 1927
Author: Annette Kolb (1870-1967)
Date first posted: Jan. 10, 2020
Date last updated: Jan. 10, 2020
Faded Page eBook #20200120
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ANNETTE KOLB
Die Romane
DAPHNE HERBST
S. FISCHER
Daphne Herbst
Copyright 1927 by S. Fischer Verlag, Berlin
Copyright renewed 1954 by Annette Kolb
Gesamtherstellung: Thomas F. Salzer KG, Wien
Printed in Austria 1969
DAPHNE HERBST
Für den Druck von »Daphne Herbst« wurde ein Exemplar der Erstausgabe benutzt, in das Annette Kolb, wohl in den dreißiger Jahren, einige Änderungen eingetragen hat.
Der Vorhang der Bilder und Begebenheiten, die sich hier entrollen werden, hebt sich eines Novembernachmittages um die fünfte Stunde im München der letzten Vorkriegsjahre. Baronin Zenaide Waldmann erwartet in ihrer engen Dreizimmerwohnung Besuch. »La baronne Zénaide de Waldmann, dame du palais, Äußere Schellingstraße 15. Rgb. III. Stock.« So steht es auf ihren Visitenkarten, und immer liegen sie wieder frisch bei jenen Mitgliedern der Hofgesellschaft auf, welche Einladungen geben werden oder soeben eine gaben. Heute empfängt sie selbst. Der Teekessel blitzt auf dem weißen Damast, Hausgebackenes ist zweckmäßig verteilt, farbige Tassen und Tellerchen bilden die Runde. Notburga Vogt und ihre Tochter Resi kommen bestimmt, gilt es doch den gestrigen Rout bei Marie Menes, der bildschönen österreichischen Gesandtin, von Grund auf zu erörtern. Aber draußen rast ein Unwetter; Influenza ist stark in der Zunahme begriffen. Wenn niemand käme! Da ertönt eine Klingel; gleich darauf Notburgas Stimme im Vorplatz, gottlob! Aufatmend, von einem Alp befreit, stürzt die Hausfrau durch ihren kleinen vollgepfropften Salon der Freundin entgegen.
Wohl mag es angehen, Zenaiden so ohne weiteres vorzuführen, nicht aber sie selbst das Wort ergreifen zu lassen, bevor wir den Leser auf das ganz eigentümliche Idiom der Familie Waldmann vorbereiten. Ja, nicht nur eine kleine Pause, einen großen Sprung gilt es hier, grade ein Jahrhundert zurück, wir haben es sozusagen mit der Zentenarfeier eines tiefen Hofknickses zu tun, den eine sehr hübsche Frau von Waldmann im Schloß Nymphenburg vor Napoleon I. vollzog. Ihr Ernst bei dieser Handlung war so groß, daß Fächer und Taschentuch der Dame entglitten. Aber Napoleon hatte sich gebückt und ihr die Gegenstände überreicht. Daraufhin hatte er sie huldvollst, wenn auch etwas gewohnheitsmäßig, gefragt, wieviel Kinder sie habe.
»Trois, Sire«, war die Antwort der Baronin gewesen.
Unglaublich, aber wahr: von diesem Tage an datiert die Waldmannsche Manie, sich im Familienkreise der französischen Sprache zu bedienen. Sie wurde zur Tradition, zum unbestimmten Vorrecht des Hauses. Schon Zenaidens Großvater zwar setzte den Fuß nicht mehr außer Landes. Empire war nicht mehr Trumpf, Napoleon war vergessen, seine Sprache behielt man bei. Nur bekam sie im Lauf der Dezennien einen sehr niederbayrischen Einschlag, vollgespickt mit deutschen Worten baute sie sich breit und breiter aus, erhielt sich dennoch, ja wurde in ihrer Eigenart sehr zwingend sogar, sehr hartnäckig, fast ein wenig erbost. Vermaß sich jemand, den Waldmanns ein korrektes Französisch entgegenzuhalten, so fiel er ab, und sie überhörten den Unterschied; bald genug ließ der »Fex«, als welcher er empfunden wurde, seinen Standpunkt fahren, stellte sich um und sprach Waldmannsch. Übrigens war es auch viel gemütlicher.
Zenaide hat jetzt das Wort.
»J’ai déjà cru que tu allais me planter!« rief sie. Das »là« blieb in der Luft. Nicht nur war es längst abhanden gekommen und hatte kein Waldmann sich danach umgetan, vielmehr führte die Etymologie des in Münchener Hofkreisen eingebürgerten Wortes »plantieren« auf die Sprachpraktiken der Casa Waldmann zurück.
»Ich habe dich nicht plantiert, meine Liebe, fast mit Lebensgefahr bin ich bis zu dir herausgeturnt«, sagte Notburga, welche heute kein Orkan abgehalten hätte, die mit ihren Nöten so wohlvertraute Freundin aufzusuchen. Zenaide wußte es wohl, doch sie hatte Formen.
»Pauvre«, sagte sie, »par ce Sauwetter, et moi, qui demeure déjà comme ça au diable vert. As-tu pris un Droschk? Viens, il fait bon chaud à coté.«
Es war nicht möglich, sich durch die Kommoden, Schränke, Konsolen, mit Tuch überzogenen Tischchen in Kleeblattform ohne Havarie hindurchzuschlängeln. Notburga tat ihr möglichstes, allein ein Katzenkopf flog dennoch zu Boden, eine Filigrangondel und eine Miniatur mit sich reißend, während ein Becher für sich allein umfiel.
»Laisse seulement«, sagte Zenaide, »cela Zensi emporte déjà«, und zog sie in das Speisezimmer.
Zensi, die alte Dienerin, pflegte am Dienstag (die übrige Zeit kam ohnedies niemand) die gestürzten Nippsachen in einem Sack aufzulesen und ihn dann auf das Sofa zu legen, denn sie wieder aufzustellen, auf den Millimeter genau wie zuvor, verstand nur die Baronin. Die Beschäftigung sagte ihr zu, war noch eine Ideenassoziation, hing noch mit der Geselligkeit zusammen, an welche sie sich klammerte. In der Tat war das kleine Speisezimmer mit dem schön gedeckten Tisch unter der Lampe der einzig zuversichtliche Fleck in Zenaidens Heim. Der Duft des Tees machte sich jetzt mit dem der Käsestangen vertraut, die an ihrem Empfangstag nie fehlten. Sie waren die Brücke, die Lockspeise, ohne die sie ganz zu vereinsamen zitterte. Niemandem verriet sie das Rezept, man bekam sie in dieser Güte nur bei Zenaiden. Der Weg zu ihr war unbequem und weit, ihre meist betagten Freundinnen fingen an, den finsteren Flur und die Treppen zu scheuen.
Sie füllte jetzt die Tasse ihres einzigen Gastes und legte, sowie ein Stängelchen verschwand, ein neues auf den Teller.
»Köstlich!« sagte Notburga und entschuldigte das Fernbleiben ihrer Tochter mit einer beginnenden Erkältung. In Wirklichkeit hatte sich Resi glatt geweigert, die Mutter zu begleiten, und war in aller Heimlichkeit mit ihrer Base zum Besuch einer Hellseherin verabredet, welche bis in alle Einzelheiten die Verlobung einer gemeinsamen Rivalin vorausgesagt hatte: ein Mann von hoher Merkwürdigkeit, der nicht sei wie alle anderen, würde sie zur vielbeneideten Braut erwählen. Nun aber besaß Dachs von Dachsenstein, so hieß er — und Dachs war der Familientaufname der ältesten Söhne der Dachsensteins —, Dachs von Dachsenstein also besaß ein Glasauge, und wie hätte sich daraufhin Frau Herzogenbuchsee, es war ihr »nom de guerre«, nicht eines gesteigerten Zulaufes erfreut? Und wie hätte Resi sie nicht befragt? — Schonheim, die beste Partie dieser beginnenden Saison, ernst und offenkundig um sie bemüht, hatte gestern abend nur Augen für Daphne Herbst gehabt, den neu aufgehenden Stern.
»Wenn es dieses Mal wieder nicht klappt, es wäre die Hölle«, sagte Notburga. »Josi muß nächsten Winter dran. Sie wird schon in diesem achtzehn. Danke Gott, Zenaide, daß du keine Töchter hast. Schonheim ist ja ein ausgemachter Snob«, äußerte sie von dem ersehnten Schwiegersohn; »das wissen wir alle.«
Aber grade diese Eigenschaft, welche Zenaide übrigens hochschätzte, dünkt sie tröstlich. Er würde seinen Georgiritter nicht preisgeben, und wer war denn diese Daphne Herbst? Marie Menes empfing wirklich schon Krethi und Plethi. Ein Verstoß sondergleichen, dies Wesen aus einem Fräulein zu machen, das in Wien nicht vorgestellt war.
»Vielleicht aus Willkür«, wandte Notburga ein. »Der Vater ist doch so was Gutes!«
»Ta, ta ta, das Mädel ist nicht hoffähig, voilà le pot aux roses. Sa mère est déjà comme ça auf der Brennsupp dahergeschwommen.«
Notburga hatte zuviel Sorgen, um französisch zu reden.
»Eine ätherische Erscheinung«, meinte sie nachdenklich.
»Jawohl, diese Sylphiden kennt man. Was steckt dahinter? Skrofeln.« Zenaide hielt noch an den ältesten medizinischen Ausdrücken fest. »Meines Wissens trägt man nirgends Ärmel an ausgeschnittenen Kleidern. Aber sie hat wahrscheinlich Narben. Daher ihre langen Tüllfetzen. Mir altem Schlachtroß macht man nichts weis. Warum seid ihr übrigens so früh gegangen? Schonheim hat zum Schluß kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Er suchte euch.«
Notburgens Herz schlug endlich höher. Sie tat im stillen ein Gelübde. Zenaide sollte zu Weihnachten ein Telephon erhalten. Man würde ihr dann auch leichter absagen können. Heute noch wollte sie es anmelden.
Die beiden hingen aufs engste zusammen: wie Pech und Schwefel, hieß es im Gegenlager. In Wahrheit mit vollendeter Treue. Zenaide, die weitaus ältere, von jeher unschön und unbemittelt, viele Jahre hindurch Hofdame, bis ihre Prinzessin starb und sie mit einer elenden Pension fortfuhr, in die »große Welt« zu gehen. Weiter wie bis Stuttgart war sie dabei nie gekommen, eine Wiener Hochzeitsfahrt scheiterte an dem Widerstreben der jungen Erzherzogin, deren Dienst sie versehen sollte. Es war also ausschließlich eine Münchner »grand monde«, in welcher Zenaide sich bewegte. Ihre breite Hermelinstola, ein paar Schmuckstücke und eine lila Brokatrobe bildeten ihren Abendornat. Fast immer wurde sie abgeholt oder doch nach Hause gefahren, war es doch der Bitterkeiten größte für sie, allein zu Hause zu bleiben. Man begriff dies wohl. Sie saß im Sommer Monate lang auf Schlössern herum, wenn sie nicht eine erkrankte oder beurlaubte Hofdame vertrat. Sie selber erkrankte nie. Krankheiten mieden ihre Schwelle. Gab es etwas Wesenloseres als ihre Räume? Sie strebte nur immer von ihnen fort. Selbst der Tod würde diese alte Eintagsfliege suchen und dort hinstrecken müssen, wo sie wirklich war: in Gesellschaft, mitten in einem nichtigen Gespräch. Genau so ahnungslos und fast so ungebildet wie ihre Zensi, — war sie im Gotha, in Fragen der Etikette so beschlagen, war ihr Ton so absprechend, so selbstsicher, war ihre Dummheit so geschickt verbaut, daß Dinge, von welchen sie nichts begriff, in ihrem Beisein nie zur Erörterung gelangten. Sie wurde dann gleich hämisch. Statt eines berühmten Gastes oder eines Konzertes im Odeon kam das infantile Geigenspiel der Fürstin Perleburg zur Sprache oder die Schnadahüpfeln des Barons Blau, der, wo nur ein Pianino stand, sofort gebeten wurde zu singen und sich sofort hinstellte und sang. »Quel talent!« rief dann die Baronin. Leer, kalt, egoistisch, hatte ihr Herz nur eine sensible Stelle: Notburga. Es war Zenaide, die seinerzeit ihre Ehe mit dem Grafen Sempronius Vogt vermittelte und betrieb, wofür ihr Notburga, obwohl sie dem Grafen nicht eine Spur von Neigung entgegenbrachte, die größte Dankbarkeit bewahrte. Der um vierundzwanzig Jahre ältere Vogt besaß zwei Schlösser und ein Stadthaus und gehörte der zweiten Hofrangklasse an, und nicht das Glück, die Liebe (solchen Schnickschnack gewährte man sich nebenbei), sondern der Rang, die Partie gab für Notburga bei der Wahl eines Gatten den Ausschlag. Sie hatte noch immer ihre sehr schönen Tage, reizende Zähne, einen bezaubernden Mund und ihr melodisches Lachen. Welcher Laune hatte die Natur gefrönt, als sie dies Wesen bildete, dessen Einstellung dem Leben gegenüber von einem Tiefstand war, der an Niedertracht grenzte, und das eine korrupte Seele mit einem edlen Charakter verband? Vorzüglich auf das Denken bezieht sich wohl die Faulheit der allermeisten Menschen. Notburga, diese stets rührige Frau in ihrem Heim, geschmackvoll, talentiert, von einem gewissen philosophischen tour d’esprit sogar, hatte sich, solange sie lebte, zu keiner Schlußfolgerung aufgerafft. Großmütig, aufopferungsfähig, war sie in ihrer Sinnesrichtung dennoch gewöhnlich, dennoch gemein. Der kleinste Leutnant mit einem feudalen Namen, ob sie ihn auch gering schätzte und die absprechendsten Urteile über ihn fällte, galt in ihren Augen mehr als ein bedeutender Geist. Zwischen einem Ausverkauf von Seidenpartiewaren und einem interessanten Gastspiel hätte sie sich stets für jenen entschieden. Für beides nur, wenn ihr Sempronius die Mittel dazu gewährte, und er war von einem skandalösen Geiz. Auch dies, auch daß er den Spitznamen Odiosus trug, wußte Notburga, bevor sie die Ehe mit ihm einging. Im Zwiegespräch mit Zenaiden nannte sie ihn selber nie anders. »Mein armer Odiosus«, sagte sie auch heute wieder mit einem tragischen Augenaufschlag, als sei der Himmel ihr Zeuge, »mein armer Odiosus ist zu seinen Pferden, Schweinen und Kühen gefahren. La maison respire!« Bei aller Plattheit der Gesinnung war dies gewissenlose, dies widerspruchsvolle Geschöpf im Grunde harmlos, und es war nicht langweilig. Denn wie das so ist: Leute, die über ihrer geistigen Marke leben, pflegen viel stärker anzuöden als die intelligenten Unintellektuellen. Notburgas Mutterwitz, ihre Drastik lieh ihren Äußerungen eine eigentümliche Farbe. Diese Anbeterin des goldenen Kalbes und der Alltäglichkeit war selber nicht alltäglich.
Wir hielten uns des längeren bei den beiden Damen auf, weil wir ihnen noch begegnen werden. Indessen hat es von neuem geläutet. Zwei Münchener Baroninnen, die sich zusammentaten, rascheln durch den Salon und werfen ein paar Sachen um. Aber sie waren gestern abend nicht bei Marie Menes, und sie interessieren uns nicht. Notburga stellt sich, als wäre sie schon längst im Aufbrechen. Es ist Zeit, daß auch wir uns zu den Ursachen ihrer Sorgen, zugleich den Helden dieses Buches begeben.
Gegenüber dem Hotel Regina, in einem Hause, welches die Ecke der Max-Joseph-Straße und des Maximiliansplatzes bildet, war die oberste Etage seit einigen Tagen bewohnt. Geräumig und weitläufig, wenn auch von geringer Höhe, für einen mehrmonatigen Aufenthalt wie geschaffen, hatte sie der junge Leutnant Herbst, ganz aus eigenem Ermessen, für die Seinen gemietet. Denn in dieser Familie wußte der eine immer genau, was dem anderen genehm sein würde. Die Aussicht war genußreich und interessant: über die Anlage und die Häuser hinweg zu dem langen bronzierten, infolge verschiedener niedergerissener Bauten zur Zeit freigelegten Dach der Frauenkirche und ihren zwei Türmen. Freilich standen die Bäume jetzt kahl, grobe Planken deckten den Wittelsbacher Brunnen, dessen schöne Bewegtheit sich dem Auge auf viele Monate entzog. Die Luft trug nicht mehr sein sanftes Rauschen, nicht die klingenden Blitze über das Geäst. Keine Stadt entzaubert sich so ganz wie München, wenn der Winter sie belagert.
In einer milden Mondnacht zwar hatte der Umzug noch stattgefunden. Am Ende eines Tages, der sich so schmerzlich laut verklärte, ja gleichsam in der Luft vertonte, als wolle er nicht scheiden, weil er der letzte war. Er blaute noch, als der Orientexpreß über die Großhesseloher Brücke stob und Daphne Herbst, die auf ihrem Fensterplatz dem Vater gegenübersaß, die Scheibe schnell herabließ. Unten floß tief ergrünt die Isar. Von den Alpen fast bedrohlich nahe umzackt, lag die Stadt am Rande eines Horizontes, der sie in Glut und Schwefel badete. Herrliches Gewölk jagte wild aufgeregt dahin, im Lichte den Sturm ausrufend. Ein Bild des Abschieds, nicht des Willkomms, zuckte vorüber, vom Walde alsbald überholt. Den Morgen darauf war alles verlöscht, im Regen ertrunken. Und nun?
Daphne Herbst hatte unverweilt den Kampf mit den trüben Reflexen der Witterung aufgenommen. Die barsche Novemberdämmerung brach sich an dem Schein des zitronengelben Damastes, der schon die Wände umspannte, den köstlich gerahmten Stichen, dem Licht der Lampen, die hinter ihren pergamentnen Scheinen brannten. Der alte Herbst, überschlank für seine Jahre, lag auf dem Diwan. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, um nach der vertrauten Zigarettendose, dem schwer inkrustierten Falzbein, der antiken Schale zu greifen. Teppiche waren gebreitet, banale Lehnstühle maskiert; die Kissen, die bunte Seide, das alte Silber am Teetische, drei kaum erschlossene rote Rosen und bräutliches Andiantum: ebenso viele Farben, die von Zuversicht und Wärme blühten oder sie vortäuschen sollten.
Constantin Herbst hielt den Kopf so tief gesenkt, daß man seine Züge nicht sah, nur das erbleichte Haar. Daphne, in einem Sessel vergraben, sah halb versonnen, halb umsichtig um sich her. Morgen sollte der Flügel kommen. Ihre eignen Koffer waren noch nicht ausgepackt.
»Ob wir uns hier wohl fühlen werden?« fragte ihr Vater.
Daphne wußte, was für verschlungene Gedankengänge, zum Zerspringen vielfältige Empfindungen besonders, diese paar Worte voraussetzten, ohne daß ihm in den Sinn gekommen wäre, sie zu äußern. Dazu fehlte das Organ. In diesem Punkte glich er einem Tier. Er war stumm wie ein Pferd. Daphnes Beklommenheit wuchs.
»Gehst du wirklich bei diesem Wetter noch aus?« fragte sie, denn er hatte sich erhoben.
»Natürlich«, sagte er, schritt rasch durch das Zimmer und betrat den Gang. Sie hörte ihn seinen Mantel verlangen und die Haustüre zufallen. Sie seufzte, jedoch sie folgte ihm nicht. Aber zum Fenster hinausgebeugt, konnte sie ihn im Scheine der Laternen ins Freie treten sehen, wo er alsbald gegen Wind und Regen anzukämpfen hatte. Über die Dächer hinweg — die jetzt nur mehr eine schwarze Masse waren — verfolgte sie im Geiste seinen Weg. Da kam zuerst der Lenbachplatz, die Pfandhausstraße, der Promenadenplatz, eine kleine Querstraße dann...
Daphne wandte sich wieder dem Raume zu, den sie so schön und behaglich gestaltet hatte. Es blieb noch viel zu ordnen. Sie wollte sich einen Augenblick der Ruhe auf dem Diwan gönnen, hob eine Zeitung auf, entfaltete sie.
Nicht lang, und sie entgleitet ihren Händen. In der Rast stellt sich das Gefühl der Erschöpfung ein.
Sie schläft.
Laßt sie uns betrachten.
Denn wie eine romanische Steinfigur vom Sockel gestürzt, in so geschlossener Pose liegt sie da. Es sind dieselben Umrisse. Die fast bange Zartheit der Gestalt, dasselbe Relief. Im Widerspruch steht nur diese heidnisch freie, wenn auch schmale Stirn, dies leichtsinnig goldene Haar, welches die Blässe des kleinen Gesichtes besonnt. Auch dies kleine Gesicht.
Wer ist das? Wo ist sie her? Bei was für Leuten befinden wir uns hier? — Es ist bald gesagt.
Im Jahre 1890 hatte sich Daphnes Vater, der damals noch Rang und Titel eines bayrischen Standesherrn führte, in den österreichischen Donaustaaten nach einer Braut umgesehen. In München konnte er nicht schlüssig werden, und da die Familie katholisch war, blieb nur Wien. Ein heftiger Flirt mit Notburga Vogt, der, statt ein »Schnickschnack« zu bleiben, zum regelrechten Skandal auszuarten drohte, schien jäh beendet, und die bösen Zungen erzählten sich, auf Notburgas mariage de raison sei bald genug eine rupture de raison erfolgt. Wie dem auch sei, Constantin, halb und halb entschlossen, in österreichische Dienste zu treten, verschwand. Statt eine Clam Gallas oder Kinsky heimzuführen, verliebte er sich indes über Hals und Kopf und auf Tod und Leben in Helga Lucius, Tochter eines bekannten Wiener Arztes, eines der ersten übrigens, welche Pferd und Wagen gegen das Auto eintauschten, zugleich auch eines seiner ersten Opfer, indem er bei einem Zusammenstoß verunglückte. Die junge Doppelwaise, denn Helga verlor ihre Mutter schon als Kind, wurde von ihrem Großvater, dem Musikprofessor Lucius, zur Geigerin ausgebildet und errang gleich bei ihrem ersten Auftreten den schönsten Erfolg. Daß Constantin diesem Konzert beiwohnte, geschah durch Zufall. Eine irregeleitete Ballmutter, in der Absicht, ihm die hübscheste ihrer Töchter als Nachbarin zu gesellen, überrumpelte ihn mit einer Einladung, der er sich ohne große Unhöflichkeit nicht entziehen konnte. Sie hatte auch die Rückfahrt sehr geschickt eingerichtet, und wer weiß, was noch erfolgt wäre. Allein die Intrige scheiterte an Helgas Erscheinung und dem Zauber ihres Spieles. Constantins Sinnen und Trachten war nur mehr auf eine Einführung im Hause des Professors Lucius gerichtet, und schon eine Woche darauf hielt er um die Enkelin mit einem Ungestüm an, der den alten Herrn nicht wenig verdroß. Abgesehen davon, daß ihn ihre musikalische Laufbahn viel glänzender dünkte als die zweifelhafte Ehre, einem bayrischen Standesherrn, womöglich zur linken Hand, angetraut zu werden, mißfiel ihm die Unbelesenheit und Fahrigkeit des feudalen Freiers. Allein auch Helga hatte sich in den schönen Constantin verliebt. Indes sie den Großvater zu begütigen suchte, indes sie beteuerte, sie würde weniger denn je von ihrer Geige lassen, gebärdete sich Constantins Familie, als sei diese Braut eine vorbestrafte Landstreicherin oder etwas Verrufenes vom Varieté.
Fürst Währingen Fünfeck, der Vater Constantins, ließ sich den großen Karton bringen, auf dem sein Stammbaum mit allen Zweigchikanen eingetragen war, und im Beisein von zwei Schwägerinnen und einer Base strich er daraus den Namen des einzigen, pflichtvergessenen Sohnes; eine Zeremonie, welche die Gespräche der Münchener »grand monde« einen Tag lang in Atem hielt. Nur Wenige lachten. War auch die Fürstin Währingen mère eine kalte und unbeliebte Dame, so gab es einem solchen Unglück gegenüber nur Mitgefühl. Zenaide behalf sich mit zwei Kommentaren: »cela casse les vitres« oder »cela fend le cœur«. Der Waldmannsche Sprachschatz befand sich damals schon stark in Abnahme. Unwillkürliche Befriedigung empfand nur Constantins Vetter und Freund, der mittellose Aribert Zell, der nunmehr die Dame seines Herzens heimführen konnte. Constantin, über die Gleichgültigkeit selber erstaunt, mit welcher er das Gezeter der Seinen anhörte, und über die Kälte, mit der er sich von ihnen lossagte, unterließ jeden Versuch, die beiden Lager einander näherzubringen, denn angesichts der großen Selbstsicherheit auf der einen Seite, dem monumentalen Dünkel auf der anderen, konnte er nur mißlingen.
Statt aller Gratulation wurde der Braut bedeutet, daß ihr auf Rang und Titel ihres Gatten kein Anrecht zustünde und sie nur in der Eigenschaft einer Baronin Tuntenzell neben ihm figurieren könnte. Helga erklärte, dieser Name lächere sie an; Constantin, keinen Augenblick gewillt, sich anders als das angebetete Mädchen zu nennen, besann sich auf das zutiefst im Spessart gelegene Wasserschlößchen Herbst, das im Besitze der Familie stand. Als Herr und Frau von Herbst begaben sich die beiden seelenvergnügt auf ihre Hochzeitsreise und später zu längerem Aufenthalt nach Paris. Helga besaß dort von ihrem Vater her gute Freunde. Der vielseitige und interessante Mann war der Freund und Hausarzt der Botschaft gewesen, und die Sympathie übertrug sich ganz und gar auf seine Tochter. Die Franzosen sind nun einmal die konservativsten Leute der Welt. Als Helga ein Jahr lang am Pariser Konservatorium studierte, wurde sie von den ehemaligen Patienten des cher docteur mit offenen Armen aufgenommen, sie war und blieb auch jetzt die petite mignonne, die pauvre chérie, wenn auch bedauert wurde, denn sie war vermögend, daß sie einen Deutschen geheiratet hatte: »mais non pas un prussien«, hieß es zu seiner Entlastung, »de ›Bareith‹ très bien pensant, un catholique pratiquant«, denn Constantin schlenderte am Sonntag in die Madeleine, seine Frau aus der 12-Uhr-Messe zu holen. Zudem bestach sein Äußeres sowie die romantische Geschichte seiner Ehe.
Er selbst indessen überlegte hin und her, ob er Helga einer entfernten Tante und zwei Kusinen dritten Grades aus dem Faubourg St. Germain zuführen sollte oder nicht. Unterließ er es, so würden sie die schlimmsten Folgerungen ziehen, das wußte er wohl. Kurz entschlossen also brach er eines Morgens zu einer kleinen Rundfahrt in der Provinz mit ihr auf: zuerst nach Montcarlin, dem Schloß der Tante Hortense, nicht weit von Orleans. Es blickte recht stolz und einladend zu Tal, im Stiegenhaus und dem Riesensalon standen noch Tragsessel mit reichen Vergoldungen zu Jardinieren umgewandelt, und Azaleen strahlten in allen Ecken. Herr von Montcarlin hatte es bis zum Botschaftsrat gebracht, worauf er einen unannehmbaren Gesandtenposten angeboten erhielt und pensioniert wurde. Seitdem verfolgte er die Republik, die er doch viele Jahre vertreten hatte, mit seinem Haß, taufte die Place de la Concorde in die Place Louis XV. zurück und nannte die Herren am Quai d’Orsay, welche sich seiner Berufung nach London widersetzt hatten — mit Recht, denn er war ein Esel —, »dieses Pack«. Dagegen kramte er für Helga einen schmeichelhaften Brief Karls X. an seinen Großvater wie etwas ganz Aktuelles hervor, ja, unfähig, in seiner gekränkten Eigenliebe sein eignes Land zu lieben, deutete er auf eine große Karte Frankreichs, die über seinem Schreibtisch hing, und mit einem Lineal die verlorenen Provinzen umzirkelnd: »ein schöner Brocken, den sie hergeben mußten«, sagte er.
Damals ahnte noch niemand in ganz Europa, mit welchem Tempo die Geschicke des scheinbar so stabilen Erdteiles einsetzen sollten, auch Montcarlin ahnte nicht, wie ganz und gar er ein Vorläufer so mancher war, die ein Vierteljahrhundert später, als das Rad sich wieder drehte und die Sieger als die Besiegten nach unten trieb, mit ebenderselben Eiseskälte wie er sich von dem nationalen Unglück desinteressieren und der Einsicht in die wahren Ursachen desselben verschließen würden, Herrschaften, wie durchpausiert auf Herrn von Montcarlin, welchen die Partei, die Standesprivilegien und die zu rettenden persönlichen Vorteile alles, das ganze Vaterland mit einem Male nichts bedeuten sollte.
Constantin hatte drei Tage für den Besuch bei der Tante anberaumt, und der erste verlief noch mit leidlichem Glanz. Allein, Hochmut und Geiz waren die zwei Laster, welchen das kinderlose, steinreiche Ehepaar gemeinsam frönte. Der Garten, die Glashäuser, im herrlichen Stande übernommen, wurden zwar beibehalten, weil sich durch die Umsicht des alten Gärtners mancher Gewinn aus dem Prunk ziehen ließ, die übrige Lebenshaltung dafür so eingeschränkt, als wäre man ruiniert. »Marquis et Marquise de Montcarlin« stand auf ihrer Visitenkarte, aber es waren kleine Leute, dieses stand fest, da biß die Maus keinen Faden ab, das ließ sich nicht bestreiten, und eine Portierloge wäre die richtige Umrahmung für sie gewesen. Frühmorgens, denn er war noch rüstig, begab sich der Marquis in seinen spärlichen, schlecht geforsteten Wald und schoß Kaninchen für die Mahlzeit. Die Marquise betete. Das Schloß war in Hufeisenform, und dort, wo die Flügel sich landeinwärts öffneten, hatte sie als Abschluß eine Kapelle gebaut. Von ihren Fenstern aus sah die gelangweilte Helga sie tagsüber wohl an die sieben Male im Sturm darauflossteuern. Nicht lange, und sie trat wieder hervor, die Kapuze übergezogen, groß und stattlich im langen braunen, nach Heiligenart zurechtgeschnittenen Havelock. Denn Hortense, deren Ruf an den verschiedenen Höfen, an welchen ihr Mann akkreditiert war, je einige Stöße und sogar Beulen davongetragen hatte, war heute sehr bigott. Daß sie ihren Altweibersommer mit dem Altmännersommer des Marquis zusammentat, stand sie zwar nicht an, Helga mit einem Mangel an Scheu zu bedeuten, welcher diese zu Tränen anwiderte. Aber in Wahrheit sprachen die runden leblosen Vogelaugen ihres regelmäßigen, welken Gesichtes nur noch von einer Leidenschaft: der Neugier. Sie sahen nichts, aber sie bemerkten alles, und Helga mißfiel ihr. War es nicht unstatthaft, daß sie ihre Geige übte? Man hörte es bis in die Kapelle. Helga hatte sich zu dieser Kapelle nicht geäußert, sie keine zweimal betreten, diese Kapelle war aber der Stolz der Tante Hortense. Ihrer Sparwut freilich hatte sie dabei nicht entsagen können. Das Inventar war aus ordinärstem Tannenholz, die Glasmalereien schrecklich.
»Constantin hat sich da eine unsympathische Person geholt«, sagte Hortense zu ihrem Manne. Hatte sie ihr nicht das ganze Schloß, in der großen, mansardierten Kammer sogar die Brokatkleider und Courschleppen von dereinst gezeigt, serienweise in Riesenkoffern eingemottet, die ihnen zu Mausoleen dienten? »Cela ferait de belles chasubles«, bemerkte Helga, die eine so zwecklose Aufstapelung nicht begriff. Die Marquise warf den Deckel zu, daß er schnappte. »Laß uns morgen mit dem Frühzug fahren«, bat Helga ihren Mann. »Ich vertrage kein Kaninchenfleisch.« So wurde vorgeschützt, daß sie sich nicht ermüden dürfe und man zeitig am Tage bei der ersten Kusine dritten Grades eintreffen wolle.
Kein Schloß diesmal; das märchenhafteste aller Landhäuser, inmitten einer Stille, einer verzückten Baumeinsamkeit, von Vogelgesang erfüllt, nicht von Gezwitscher, von Gesang. Der großblumige Kretonne, das Mobiliar, der Duft, der es durchzog, die Lichtreflexe, die ihr Spiel zwischen den weißen Fensterläden und dem Grün des nahen Laubes trieben, durch das die Sonne brach, alles schien auf dieselbe Beschaulichkeit gestimmt, und hier sicher war das Glück zu Haus.
Allein Base Félicie, die Eigentümerin des schönen Gutes, eine noch hübsche, noch leidlich junge Witwe, war gar nicht lustig. Allzu eintönig zog sich ihr Dasein hin, das sie durch eine zweite Vermählung gerne lebhafter und kurzweiliger gestaltet hätte. Doch ihre ringsum begüterte Verwandtschaft duldete es nicht. Die arme Félicie wurde nur mit Ehepaaren eingeladen, mit dem Chanoine, dem Archevêque de Tours, als größter Sensation, und es fehlte ihr die Initiative und der Mut, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. Schon bedrohte sie der schlimmste aller Specke; der des Kummers: ihre schöne siebzehnjährige Tochter, die strenge Adrienne, wollte ins Kloster treten, und wie hätte ein solcher Entschluß ihre Mutter nicht vollends eingeschüchtert. Was blieb ihr übrig, als auf dreißig Jahre oder mehr die ihr zugedachte Rolle einer Erbtante weiterzuspielen? An Adrienne mußte es liegen, daß hier wie in Montcarlin nichts wie Gebet- oder Erbauungsbücher die Regale in den Zimmern füllten. Helga schloß nur Félicie in ihr Herz. Ein Flügel, lang verstummt, stand in dem reizend ländlichen Salon. Helga holte ihr Instrument und zwang sie zu begleiten. Es war zuviel des Glücks für Félicie, die eine ganze Nacht durchweinte. Ach, wie sollte sie Helgas Drängen folgen, im Winter nach Paris zu ihr zu kommen? Vergnügungen, Konzerte, Theater, Bälle gar, war das etwas für eine Mutter, deren Tochter sich einkleiden ließ?
»Doch! Sie kommen! Sie müssen kommen!« rief ihr Helga noch zum Abschied zu, aber sie war froh, auch von diesem Ort zu scheiden, in dem nur die Bäume, die Vögel, die Schwäne des Teiches und die Blumen, vom Lichte umblaut, Gottes Wunder zu preisen schienen.
»Hast du keine heiteren Verwandten?« fragte sie Constantin in dem Wägelchen, das sie durch grüne Hohlwege der Station zuführte.
Constantin hatte die Kusine Philiberte für zuletzt aufgespart. Und nicht eine Kutsche wartete diesmal. Das Auto verstand sich dort von selbst. Da wurde getutet, schneidig jede Kurve genommen, da war man oben, ehe man sich’s versah, auf der vieltürmigen Burg, berühmt wie ihr Name, berühmt wie der Philibertes, wie Philiberte selbst im ganzen Land. Ja, das war ein Betrieb! Da hatten die Bahn, der Telegraph, die Brief- und Paketpost zu schaffen. Da war auch für das Leben der neueste Fahrplan Trumpf. Hinter der Welt selber jagte man her, auf Jachten, in Luxuszügen, per Auto. Irgend etwas entging einem dabei immer: und der Lido, das Engadin, Coventgarden oder Bayreuth, Caruso oder ein Rennen, eine Blumenausstellung, ein Kostümball oder das Requiem von Mozart, es war alles eins. Die Tage, die Jahre vergehen im Flug, wenn man nicht zu sich selber kommt; auch zum anderen nicht. Aber die junge Helga war fasziniert von so viel triumphierender Bejahung, von dem herrlichen Park, der sich bis zum Flusse hinzog und dessen Ufer meilenweit, wie es schien, für sich in Beschlag nahm, von der schönen Freudigkeit und Weite des Schlosses, der Buntheit und Pracht seiner Räume. Philiberte, ganz in Weiß, war die Treppe herabgeeilt und hatte sie in ihre Arme geschlossen. Helga schwärmte für Philiberte. Wo diese ging und stand, hob sie sich von der Türe, der Wand, dem Lichte ab, so stolz war ihr Relief. In Helgas Zimmer lagen unaufgeschnitten die neuesten Bücher. Sie legte eine Robe an, schwer mit silbernen Ähren bestickt. »Sollen wir gerade von hier schon morgen wieder fort?« rief sie zu Constantin hinüber.
Ein Fest war auch die Tafel. Philibertes Vorfahren, in Peruque, Kardinalshut oder Stuartkrause, sahen als stumme Zeugen von den Wänden herab; sie hatte ihren Bruder zu Helgas Tischherrn bestimmt. Er besaß ein machtvolles Schulterpaar, ganz Stoßkraft und Arroganz, wußte in allem Bescheid, sogar über Musik, über Musikkoryphäen wenigstens, auf Du und Du mit allen Berühmtheiten. Scheinbar sehr ernst faßte er sie ins Auge, wandte sich dann seiner anderen Nachbarin zu und ließ ihr alle Muße, Umschau nach Constantin zu halten. Seltsam: wo immer der sich befand, in einem III.-Klasse-Abteil oder einem Rahmen wie diesem, paßte er sich ganz von selber an. Nur nicht ihr. Die Entdeckung versetzte ihr einen Stoß. Die Tatsache, daß sie ihn zum ersten Male unter vielen Menschen, also gewissermaßen von der Entfernung aus betrachtete, rückte auch innere Distanzen zurecht. Zu einem richtigen Gespräch kam es fast nie zwischen ihnen. Gab da ein Wort das andere? war es eine wirkliche Vertraulichkeit? Nein. Gemeinsame Interessen? Gar keine. In diesem Schloß aber, in dem das regste Geistesleben herrschte und man die Künste liebte, gehörte er ohne jedes Umschalten natürlicher her als sie. Auch Miß Slocomb, die amerikanische Diva in erdbeerfarbenem Panne, mit der sich jetzt Philibertes Bruder so zwanglos unterhielt, fügte sich viel lückenloser hier ein. Sie starrte von Perlen und Diamanten. Es war Mode in diesem Jahr, sich heftig zu behängen. Ihre weißen Arme, ihre festen Hände waren immer in Bewegung, die Schärpe zu dirigieren, die immer von ihren Schultern glitt. Philiberte funkelte wie eine Sonne in ihrem goldenen Kleid. Helga trug zwar ein reizendes Diadem, aber als einzigen Schmuck. Philibertes Bruder hatte es schon mißbilligend bemerkt. Ohnedies der Frau abhold, ertrug er sie nur gepanzert sozusagen, wie die emaillierte Slocomb, deren blanke Augen kaum noch menschlich waren, oder stilisiert und undurchdringlich wie Philiberte, sein Geschöpf. Helgas fast jenseitige Lauterkeit schlug ihm wie ein Pesthauch entgegen.
»Werden Sie uns heute etwas spielen?« fragte er.
»Ich spiele gern«, erwiderte Helga.
Aber dies Spiel interessierte ihn nicht im mindesten oder nur insofern, als er suchen würde, es zu verhindern. Helga, innerlich sehr abgerückt, sah zu ihrem Mann hinüber und spann an dem Faden ihrer Wahrnehmungen weiter. Philibertes Bruder deutete ihr Schweigen als Schüchternheit: die kleine Bourgeoise war schüchtern. Ihren Blicken folgend: »Ce brave Constantin«, sagte er und erhob ein wenig sein Glas. Sein Ton, sein Lächeln gab ihr einen Stich, sie hörte die Abneigung für sie heraus, erwachte endlich und war nun ganz Ohr. Ich habe auch mein Patent, dachte sie. Aber ihr Himmel hatte sich umwölkt.
Philiberte indessen hatte noch nicht Zeit gehabt, ihre Sympathie überprüfen zu lassen, und verlangte im Lauf des Abends stürmisch nach Helgas Geige, und Helga, die viel lieber spielte als redete, ließ sich nicht bitten. Mr. Cresham, der Begleiter der Slocomb, jeder Zoll ein »inverti« und auf Schritt und Tritt von ihr mitgeführt, weil er sie nicht kompromittierte, setzte sich an den Flügel. Die anfängliche Geziertheit seines Spiels wurde bald überboten, ja sie verlor sich, so überzeugend, so innig und so sicher geboten ihre Kantilenen. Philibertes Bruder, der den Musiksaal verlassen hatte, kam gerade wieder, als die »adorable, merveilleux, enchanteur und encores« zum Lob der jungen Wienerin ertönten. Er machte dem Enthusiasmus ein Ende, indem er die Slocomb zum Flügel führte, zum Zeichen, denn er erlaubte sich alles, daß Nr. 1 des Programmes nunmehr erledigt und eine andere Sensation an der Reihe sei. Miß Slocomb, ihrer selbst an jenem Abend nicht eben sicher, hielt Helga zurück, räusperte sich und legte, um sich einzusingen, Noten für Klavier, Geige und Sopran aufs Pult. Es war eine Komposition von Reynaldo Hahn, und man brauchte gar nicht hinzuhören, so ganz von alleine ging sie ins Ohr, aber die »admirable, exquis und parfait« und ein noch gesteigerter Applaus machte sich am Schlusse laut. »You are divine!« rief Philibertes Bruder und trat hinzu. Er sprach mit einem Male englisch, um Helga nicht im Zweifel zu belassen, daß er nur ihre Partnerin meine. Zwiefach verletzt, für sich selbst wie für den schönen Durante, den nun der Schmachtfetzen begrub, legte sie ihre Geigenstimme wieder zu den anderen, und in um so liebenswürdigerem Tone, als sie ihrem Ärger durch ihre Worte genügend Luft machte, bemerkte sie lächelnd: »C’est de la musique pour des gens, qui ont bien diné!« Das vieltürmige Schloß hätte ebensogut über ihr einstürzen können, so verschüttet war es für sie durch eine solche Äußerung. Denn Hahn war Intimus des Hauses, Gönner und Schützling zugleich. Dem Bruder Philibertes, dem keiner der schneidenden Gegenhiebe beifiel, die er sonst immer bereit hielt, blieb nichts anderes übrig, als den Kommentar zu überhören. Auch Miß Slocomb, seinem Beispiel folgend, starrte Helga nur an. Denn ihr Kurs war schon gesunken. Sie hatte zwar wie ein Engel gespielt und wie eine Blume dabei ausgesehen, aber Musik hin, Musik her, hier gab Philibertes Bruder, der Arbiter elegantiarum, den Ausschlag.
Es ist etwas Eigenes um die Versnobtheit. Man sollte denken, Kellner, Portiers, Hoteliers, Gesellschaftsdamen, Hofdamen, Oberhofmeister, kurz Leute in abhängiger Stellung, neigten ihr vornehmlich zu. Aber der Snobismus ist eine Subalternität für sich. Es frönen ihm viele, die es nicht nötig haben, ja ein zeitgenössischer König sogar. In der Zeit, von der wir hier erzählen, war er schon stark ins Kraut geschossen, brüsten aber tat sich keiner noch mit ihm. Wenn auch mit Nachsicht schon, zieh man den Nächsten dieser Schwäche, für seine eigne Person gestand man ihn nicht ein. Noch hatte ihn die Welle nicht hochgetragen, Mode war er noch nicht. Geduld. Er wird auch wieder abwirtschaften. Die Intelligenz selber hat ihn auf den Thron gehoben. Was gilt’s? Sie wird sich seiner wieder schämen.
Die stolze Philiberte gab noch selben Abends in schüchterner Weise dem Bruder ihr Bedauern kund, daß Helga, deren Talent das der Slocomb so weit übertraf, nicht länger gespielt habe. »Du wirst mir doch nicht sagen«, fuhr er auf, »daß wir in Paris um gute Geiger verlegen sind.« Mit dieser typischen Antwort war der Fall erledigt.
Tags darauf, es war Montag, fuhren die meisten Gäste nach Paris zurück. Unter dem Vorwand, daß man heute ganz unformell zu Tische gehen wolle, kam Helga »miserabel zu sitzen«, wie Zenaide Waldmann es bezeichnet hätte. Constantin wurde von der Dienerschaft Monseigneur genannt, wie auch dazumal bei seinen früheren Besuchen, und unentwegt sprach man gemeinsame Freunde und Bekannte durch, welche Helga nicht einmal dem Namen nach kannte. Mit den allerherzlichsten Händedrücken und Phrasen vermied es Philiberte, sie beim Abschied ma cousine zu nennen; dafür verlautete die innigste Besorgnis, sie möge im Auto nicht frieren. Dann traten das Portal, seine Wappen, die Türme vor den Scheidenden zurück. Graziös wie ein Schlößchen und dennoch mächtig ragte die Burg. Helga warf einen letzten Blick über Fluß und Wald zu ihr hinüber. Oh, dieser verschmitzte und dabei wohlberatene Constantin, der sich gleich bei der Ankunft dem Drängen Philibertes, länger zu verweilen, so hartnäckig entzog. Warum aber hatte er sie in dies Wespennest geführt? Helga legte die Fahrt nach Paris in fast vollständigem Schweigen zurück. Sie hing ihrem Groll, Constantin seinen Gedanken, oder besser gesagt, seinen Hintergedanken nach. Zuunterst in seinem Koffer lag der ihm anonym zugesandte Schlüsselroman: »Die Tochter des Feldschers«, mit welcher Helga gemeint war. Als Verfasserin bekannte sich Hermine Brielmaier, die recht in Vergessenheit geratene einstige Gouvernante I. K. H. der Prinzessin Adelaide. Vielleicht würde man daraufhin sich ihrer entsinnen, sie nochmal zuziehen? Und wirklich kamen an die fünfzig Exemplare in Stadt und Land in Umlauf. Dann freilich schlugen die Wellen über Hermine Brielmaier und ihrem Buch auf immer zusammen.
Constantin fühlte sich wieder einmal der Trennung von seiner früheren Umgebung und ihrer Stickluft froh. In Wahrheit hatte auch er sich im stillen schon des öfteren gefragt, ob er mit Helga die richtige Wahl getroffen habe. Heute war er als Ergebnis der kleinen Rundreise seiner Sache sicher. Sie war alles, nur kein Abklatsch, keine Larve, keine Niete, sie war selbständig und sie selbst. Ob und wie sehr sie zueinander paßten, schien angesichts dieser Tatsache durchaus nicht wichtig. Sondern... sondern?... Was war das Wichtige? Aber Constantin pflegte sich alle unbequemen Antworten selber schuldig zu bleiben. Er machte dann einfach halt. Seine Gedankengänge waren vielmehr Stimmungsbilder, die sich augenblicklich in eine heitere oder düstere Laune umsetzten. Der Tag war schön, Pappeln wehten vorbei. Chartres rückte heran mit seiner Kathedrale; Constantin deutete bald auf diese, bald auf jene Aussicht. »Übertünchte Gräber«, sagte er plötzlich. »Wie, was meinst du?« fragte Helga.
»Der amerikanische Zeisig von gestern abend unter seiner rosaroten Steppdecke und ein paar andere noch. — Aber wir sind in Paris«, rief er und sprang auf. Die Gare St. Lazare wogte von Kommenden und Ziehenden wie ein Feld im Winde. Froher Dinge zog er Helgas Arm durch den seinen. »Süden, Osten, Westen«, sagte er, »daheim ist’s am besten!«
Da indes Helga einem Hausstand widerstrebte, beschränkte sich dieses Daheim auf einige Zimmer, deren Zahl sich in der Folge verdoppelte, in einem Hotel der Place Vendôme. Dort gründeten die beiden eine originelle Familie. Sie behielten ihre entgegengesetzten, aber keineswegs sich ergänzenden Eigenschaften bei, und es war und blieb eine spaßige Ehe. Constantin war kein gebildeter Mann. Die Umgebung, in welcher er aufwuchs, stellte sich nur dem Auge als erlesen dar. Wohin man blickte, hingen reizende Lüster von der Decke, reinstes bayrisches Rokoko grüßte von allen Wänden. Denn im vorigen Säkulum hatte es einen sehr kultivierten Währingen gegeben. Ihm dankte man auch die schönen Aubussons, die gußeisernen Stiegen, Rampen und Gitter. Die Kapelle auf Fünfeck war berühmt. Nur zur Anlage einer Bibliothek brachte er es nicht mehr. Er zog sich am Ende seines Lebens auf das Wasserschlößchen Herbst zurück, das aus einer viel früheren Epoche stammte, hegte dort seine paar Inkunabeln, die genügten ihm. So kam es, daß Währingens weder auf dem Lande noch in ihrem Stadthaus einen nennenswerten Bücherschrank ihr eigen nannten. Bei Gelegenheit einer Hochzeit sollten einmal die Klassiker gestiftet werden, aber die Brautleute besannen sich dann anders und einigten sich auf einen englischen Teetisch mit Seitenfächern zum auf- und niederklappen. Teuer, aber ein Traum. Im übrigen hatte man ja die Leihbibliothek; sie bot die entsprechende Kost. Und da nichts beharrt, da immer alles steigt oder sinkt und vorwärts oder rückwärts strebt, hemmte nichts die geistige Verbauerung der Familie, wenn auch noch so fesch kutschiert und geritten wurde und stets die letzten Schnittmuster sowie die »Queen« und »The Lady’s Pictorial« für die Damen einliefen. Man entbehrte nichts.
Wie war Constantin zu seiner kontemplativen, seiner musischen Ader gekommen? Nicht nur die Leidenschaft, auch ein uneingestandener Selbsterhaltungstrieb hatte ihn hinweg von den Wiener Komtessen und ihrem so abgeleierten Gesichtskreis in die Arme Helgas getrieben. Bei ihr war eine so andere Art von Feinheit zu Hause. Sie trug den Kopf hoch, und daß sie keine Dilettantin war, fesselte ihn seltsamerweise am meisten. Ihre Beteuerung, sie würde weniger denn je von ihrer Geige lassen, stellte sich nicht als trügerisch heraus, und sie ihrerseits glaubte eines intellektuellen Gatten sehr wohl entraten, ohne ihn sich behaupten zu können. »Er ist unterhaltender, er ist witziger als ich«, dachte sie dann wohl; »er ist charmanter.« In Wahrheit glich sein Inneres einer photographischen Platte. Die Rolle lief ad infinitum, entwickelt wurde sie nie. Er traf nicht selten den Nagel auf den Kopf, aber mehr als Randbemerkungen stellte er nicht. Zur ersehnten Aussprache gelangte Helga zeitlebens nicht mit ihm. Ja, in barer Ermanglung einer solchen Möglichkeit gab es zwischen ihnen viel Streit. Nur erwies er sich, wollte einer von beiden ihn ernst nehmen, jedesmal als ein Sturm im Glas Wasser; eine Vexation; nichts darüber hinaus. Constantin entwickelte sich zu einem leidenschaftlichen Touristen und behielt seine Junggesellenallüren bei, seine Handtasche mußte immer bereit sein. Den Angehörigen, mit Ausnahme Vetter Ariberts, seinem Erben bei Lebzeiten, blieb er zwar entfremdet, aber an das schöne Inventar auf Tuntenzell, Herbst und Fünfeck dachte er viel. Für schöne Gegenstände schärfte sich rückblickend sein Auge, er fuhr fort, sie zu suchen, da er die eigenen vermißte. Eben dies bewirkte, daß in der Folge ein Sammler aus ihm wurde, ein Kenner, der in Fachkreisen viel beachtet und befragt wurde. Seine einzige, aber intensive Lektüre waren Kataloge und Tagesblätter. Immer blieben die Interessen der beiden getrennt. Wie er nie ein belletristisches Buch, so nahm Helga nie eine Zeitung zur Hand. Constantin verfolgte alle politischen Ereignisse mit heftiger Anteilnahme, dennoch war er der größere Träumer, Helga, die um nichts ihren der Kammermusik geweihten Abend geopfert hätte, war nebenbei gesellig, eine Modesalonnärrin, wie Constantin sie nannte, gab Einladungen, von welchen er sich im letzten Augenblicke zu drücken liebte, hielt einen Jour, bei dem er sich zwar niemals zeigte, dessen Datum er aber des öfteren vergaß. Kam er aus Versehen heim, so öffnete er leise die Tür und lauschte verstohlen den Gesprächen, ja er streckte wohl den Kopf herein, um zu sehen, wer da war. Einmal wurde er dabei ertappt, und den Besuchern jenes Tages blieb Helgas helles Gelächter unvergeßlich. Wie klar und einfach bei aller Schattiertheit die Wesenslinien dieser schwärmerischen jungen Frau im Grunde waren, blieb grade ihren Pariser Freunden nicht lange ein Geheimnis. Auch den Billettchen, die sie an ihre Verehrer zu meistern liebte, gingen diese nicht lange auf den Leim. Schneller noch, als sie wünschte, wurde sie von ihnen durchschaut. So beruhte in einer Parität des Wertes und in der Würde der Lebenshaltung die einzige, wenn auch entscheidende Gemeinsamkeit des ungereimten Paares. Allein, wer sich an den Kopf griff und sich fragte, wie es denn möglich war, daß es sich gefunden hatte, hörte auf, sich zu wundern, wenn er die Kinder erblickte. Fabelwesen gleich, flatterten sie in ihren lichten Kleidern daher. Daphne kam zuerst, die Musik saß ihr im Blute, jedoch das Wunder war Constanze. Erst hatte Helga Kalender, Bücher, zuletzt den Gotha durchstöbert, kein Name war ihr romantisch noch hoch gegriffen genug. Constantin lachte sie aus, und sie erkannte bald, wie wenig es ihrer einzigartigen Tochter hinzutat, daß sie Daphne hieß. Eine zweite wurde kurzerhand nach ihrem Vater Constanze genannt und ein Sohn Franzl, ohne viel Federlesens. Sie waren im Alter einander so nahe, große Spottvögel von unbändiger Lachlust. Tierische Eigenschaften wie Eifersucht oder Gier kamen bei ihnen nicht auf. Als die kinderlose Philiberte sie eines Tages im Bois einherziehen sah — auch ihr Bruder war jetzt entwaffnet —, erklärte sie hingerissen, die Patin des vierten Geschwisters sein zu wollen.
»Wir sind uns genug«, wehrte Constanze ab, denn immer führte Constanze das Wort.
»Wir sind uns genug«, hatten darauf hin die beiden anderen gerufen.
Dennoch stand Philiberte einige Jahre später bei einer dritten Tochter Gevatter. Als sie sprechen lernte, hatte sie Mühe mit dem Namen Philiberte und nannte sich Flick. So blieb es bei Flick. Sie war zu klein, um den Anschluß bei den Größeren zu finden, diese hingen immer enger zusammen. Daphne widerfuhr das Mißgeschick, daß sie die Treppe hinunterstürzte. Zwar schlug sie nur das Schienbein auf, dennoch gestaltete sich ihre Heilung sehr schwierig. Dunkle, knopfähnliche Wunden bildeten sich an Stelle von Narben, und ein zweijähriges Krankenlager stellte sich als unerklärliche Folge eines scheinbar so geringen Unfalls heraus. Da sie nicht mehr musizieren konnte, lernte sie zeichnen. Sie klagte nie, wünschte sich aber ein breites, niederes, muschelförmiges Bett, eine Ampel am Kopfende und eine meergrüne Seidendecke. Dieses Muschelbett, nach einem Entwurf der Wiener Werkstätten gezimmert, wurde der Mittelpunkt der Familie. Nichts schied in Daphnes Gegenwart die Eltern; sie selbst war die Ergänzung der ungleich gearteten Gatten. Constantin saß stundenlang an ihrem Lager und rauchte eine Zigarette nach der anderen, Helga kam und ging. Alles Leben verzog sich aus den anderen Räumen nach diesem Zimmer. Jedoch das Wunder war Constanze mit den funkelnden Pupillen, großen Herzkirschen gleich. Um sie zog sich der Kreis, auf daß sie der Familie ihre Vorstellungen gebe. Eine Mütze, ein Damenhut, ein Schlips genügten, um jene Bekannte, diesen Musiker, Diplomaten oder Lieferanten, den Portier des Hotels nachzuahmen. Wer das trillernde Gelächter der Kinder vernahm, brauchte den Anlaß nicht zu wissen, sie nicht zu sehen, um mitzulachen. Unzärtlich und undemonstrativ, kam doch nichts ihrer Eintracht gleich. Unnachahmlich die Bewegung, mit der Constanze zudringlichen Besuchern, welche die Kinder zu küssen unternahmen, abwinkte. Auch die Eltern hatten sich zu fügen. Constantin war in Constanze vollkommen vernarrt. Jeden Ulk trieb sie mit ihm. Sie versteckte und sperrte seine Reisetasche ab, wenn sie zu oft in Gebrauch kam, und sie merkte, daß es ihre Mutter verdroß. Suchte er sie, verlangte ärgerlich nach ihr, wollte keiner Auskunft geben, war es Constanze, einen seiner Hüte seitwärts aufgestülpt, die, blitzenden Auges, den Arm in ihre süße, flügelleichte Seite gestemmt, ihm herausfordernd entgegentrat. Constantin, der nicht lachen wollte, sank in einen Stuhl. Wer hätte ihr widerstanden?
»Constanze ihrem Constantin«, hieß die Widmung, die sie mit einem großen Pinsel Daphnes auf einen Karton entwarf, den sie ihm für seine Stiche schenkte. Auch Weihnachten ging nach ihrem Kopfe vor. Nicht um die Kinder, um die Eltern drehte es sich. Die Kinder schmückten den Baum. Die Eltern waren es, die warten mußten, bis sie gerufen wurden, um mit phantastisch schönen Dingen, wie Kinder sie sonst nicht geben, beschert zu werden. Der Begriff Geld war für sie gleichbedeutend mit Geschenkegeben; sie fanden das interessanter, als sie zu empfangen. Selten, daß sie etwas wünschten, wie Daphne, als sie dem langen Krankenlager entgegensah, ihr niedriges Muschelbett und ihren Farbenkasten. An Stelle des Respektes für ihre Eltern hatten die Kinder die Distanz gesetzt. Es war genau dasselbe in reizenderer Form. Mit jedem Jahr schloß sich dieser Kinder wegen die Familie enger zusammen, genügte sich mehr und mehr, empfand Außenstehende, Freunde wie Bekannte, als überflüssig, wenn nicht lästig. Nur von Flick hieß es immer, sie sei noch zu klein. Ihr Dasein zog seine eigenen Kreise. Daphne hatte sich von ihrem rosa und grünen Najadenbett, das längs des Fensters aufgestellt war, unzählige Male an ihrem Modell, der Place Vendôme und ihrer Säule, versucht, geduldig, intensiv, mit steigender Freude. Nicht allzu gerne duldete man Besuche, die lange bei ihr verweilten. Öfter als nicht kündete Constanze das Eintreffen des Arztes, damit sie gingen und man Daphne wieder für sich hatte. Sie erholte sich. Wie eine blasse Rose, ein wenig steil, nicht durch Willkür, durch ihre Kostbarkeit abseits gestellt. So kam ein Jahr, das in seiner Kurzweil ein wenig unerhascht vorüberflog. Lind wie Schnee war es vergangen. Constantin war lange nicht fort gewesen. Im Winter war er stets seßhafter. Er hatte kein Verhältnis zur Natur im Winter. Dann war ihm der Ausblick auf den Dôme des Invalides, das Spiel der Wolken über dessen Kuppel »Landschaft genug«. Erst das Grün, die flutenden Schatten des Frühlings lockten ihn unwiderstehlich ins Weite. Sie war noch fern, die schöne Jahreszeit, dafür blühte der Frühling in Gestalt der Kinder im Haus. Ihr Regiment hatte sich noch gefestigt. Es setzte die Gegensätze der Eltern außer Kraft. Man achtete der Monate nicht. Der harte Januar hatte sich als ein Wintermärchen abgespielt, einer Nachtmusik gleich war dies instrumentierte Familienleben.
Nur eins war außer acht gelassen worden. Aber fürwahr: wer hätte in der schlagfertigen, geistsprühenden Constanze den geringen Widerstand vermutet? Februar neigte sich dem Ende. Es nahten die Iden des März. Flick brachte eine Kinderkrankheit heim. Sie wurde isoliert. Zu spät. Mit vierzehn Jahren war die vergötterte Constanze dahin. Sie blühte noch am Morgen, erblaßte um die Mittagsstunde, kämpfte hart in den späten Abend hinein. Es fehlte so wenig. Vielleicht wenn sie den Morgen noch gesehen hätte... Allein es interessierte sich der Teufel für dieses Haus. Durch welche Ritzen war der Bejaher der Zerstörung, der Verneiner von Zusammenklängen eingedrungen? Triumphierend zog er durch die Räume, schlug Türen unhörbar zu.
Auf weißem Atlas gebettet wurde die stille Constanze in den Sarg gelegt. Er verschwand unter Blumen. Sie umschlangen ihn ganz. Nicht minder ein Sarg. Nichts mehr über sie. Helga sprach den Namen des verlorenen Kindes nicht mehr aus. Dort, wo sich ihr Bild, einem Brandmal gleich, den Herzen einpreßte, wurde sie nicht mehr genannt. Aber Helgas Kopfhaltung war eine andere geworden. Stirn und Schläfen waren anders umweht. Es war eine Luft der Schmerzen, in die sie ragten. Daphnes Augen entging dies nicht. »Constanze ist tot!« war der Ruf, der eines Nachts aus dem Zimmer des Vaters drang. Helga stürzte zu ihm. Doch er schlief. Aber oft und oft wurde fortan dies Echo seines Bewußtseins im Schlafe laut.
Der Winter, der Constanze mitgenommen, war den Strom hinabgeflossen. Der Frühling rauschte ins Land, er umschmeichelte die Stelle, ekstatisch lockte er Blumen aus dem frischen Erdhügel, der sich über das spottlustige Mädchen mit dem silbernen Gelächter schichtete. Es waren sechs Wochen, sechs bleierne Wochen für die Familie Herbst vorübergegangen, als Helga eines Nachts, wie von einem inneren Sturmwind getrieben, an Daphnes Lager hintrat, die, auch sie von einem Traume aufgeschreckt, eine Sekunde zuvor ihre Ampel entfacht hatte. Mild, begütigend ergoß sich ihr Licht. Aber Daphne sah Entsetzen in den Augen ihrer Mutter.
»Was hast du?« fragte sie atemlos.
»Wir kümmern uns zu wenig um Flick.«
»Um Flick?« flüsterte Daphne. »Cilly (es war die Kinderfrau, sie hatte die Geschwister der Reihe nach aufgezogen) lebt nur noch für sie. Verlassen wir Paris«, setzte sie atemlos hinzu. »Diese Zimmer sind verhext. Wir müssen Franzls wegen ohnedies bald ziehen. Warum nicht gleich?«
»Nein. Noch nicht. Was tut’s?« erwiderte Helga. Sie schwiegen. Daphne schauderte zurück vor dem Gedanken, der immer wieder in ihr aufstieg; aber war es nicht natürlich, daß man Flick, die noch so klein war, nicht in demselben Maße betrauert hätte? Franz hatte es heftiger, schonungsloser formuliert. Es war ihre Krankheit gewesen. Sie hatte sie ins Haus gebracht. Sein Jammer um Constanze entschuldigte ihn. Daphne sah Furcht in den Augen ihrer Mutter. Zu Füßen des Bettes, zurückgelehnt, fröstelte sie. Daphne hüllte sie in die meergrüne Decke ein.
»Schon ein Vogel, hörst du?« sagte sie. »Gottlob, diese Nacht ist vorüber.«
Sonderbar, wie schnell sich in der Nähe dieser Tochter Helgas Grauen legte. Von diesem Tage ab datierte ihr heroischer Entschluß, sich gegen ihre Trauer zu stemmen. Sie nahm ihre Geige wieder auf, widmete sich den Ihren, zog besonders Flick heran.
Mit Constantin war eine Veränderung vorgegangen, die man am wenigsten bei ihm erwartet hätte. Die Ferne lockte ihn nicht mehr. War es, weil ihm die Heimkehr so zerrüttet war? Oder reute ihn jetzt jeder Tag, den er auswärts verbracht hatte? Die Reisetasche, die Constanze so lustig verbarg, weckte zu trostlose Erinnerungen; sie trat nicht mehr in Gebrauch.
Es war die Zeit, in welcher die Trennung von Kirche und Staat schwere Konflikte im Innern Frankreichs erregte und die Vertreibung der lehrenden Ordensbrüder und Schwestern von peinlichsten Auftritten und Gewaltmaßregeln begleitet war. Helga fand diese Szenen abscheulich, wenn Constantin sie ihr berichtete, aber die politische Seite des Kampfes interessierte sie nicht. Sie stammte aus keiner klerikalen Familie. Als Kind hatte sie einmal einige Sommermonate in einem Erziehungskloster verbracht und es schlecht dabei getroffen. Unter den jüngsten Zöglingen befand sich die recht unschöne Tochter einer Witwe, deren kleiner Zuckerbäckerladen in demselben Städtchen stand, dem auch das Kloster angehörte. Zwei der Nonnen machten sich kein Gewissen daraus, dem Kinde alles andere wie eine Vorzugsbehandlung zu erweisen, hierin dem traurigen Beispiel ihrer Oberin folgend, welche, wenn sie das Wort an die Kleine richtete, etwas von Linzertörtchen einzuflechten liebte, dies in einem Tone, der sehr ausdrücklich besagte, daß ihre Herkunft zu gering sei für ein so feines Institut. Unvergeßlich, wie dann die Ohren des bläßlichen Kindergesichtes erglühten. Den Ausschlag für Helgas Idiosynkrasie gegen Klosterfrauen aber bildete eine Ansprache jener selben Oberin vor der versammelten Schar der Zöglinge, bevor diese in die Ferien gingen. Sie lobte darin die einen, tadelte die anderen, und auch da spielte jedesmal die Provenienz ihr Wörtchen mit; die mangelhafte Leistung der Konditorstochter verurteilte sie besonders barsch und schloß mit den unerhörten Worten: »Dabei hat deine Mutter die Pension noch nicht bezahlt.« Vermutlich wurde diese Roheit von dem Opfer derselben unschwer verwunden, sofern, wie wir hoffen, es bei Anbeginn des neuen Schuljahres nicht wiederkehrte und die Mutter, auf eine also vorgebrachte Mahnung hin, sich, was die unbezahlte Pension anging, als quitt erachtete. Für Helga aber wurden diese Eindrücke bestimmend, sie ließ nur Bettelorden gelten, Geldinteressen vertrugen sich nach ihrem Dafürhalten schlecht mit klösterlichen Orden; Geiz und Habgier wucherten an diesen weltabgewandten Stätten allem Anschein nach auch. Wir wollen hier nicht untersuchen, wie weit Helgas Meinung voreingenommen war, sie dankte sie nun einmal ihren persönlichen Erfahrungen. Auch sonst hätte die Trennung von Kirche und Staat sie niemals aufgeregt; in Constantin sprachen Atavismen mit, die bei ihr nicht in Frage kamen. Aber auch bei ihm wäre es ohne Tante Hortense zu keiner wirksamen Teilnahme gekommen. Sie sitzt auf Schloß Montcarlin, die Koffer voll eingemotteter Courschleppen. Sollte der Leser sie schon vergessen haben? Zu Unrecht. Denn sie befindet sich gerade in ihrem Element. Ja man darf wohl sagen, sie schwelgt. Jede Post bringt die Nachricht von einer neuen Freveltat, und es kommen Gäste, immer Gäste. Das Leben hier oben mit dem hageren Wäldchen war entsetzlich öde, die vielen flüchtigen Klosterfrauen aber, die schwergeprüfte Geistlichkeit war billig zu bewirten. Und die Opposition wuchs. Hei, sie wuchs! Der Marquis witterte Morgenluft, Restauration. Es schwebte ihm ein Einzug in goldenen Karossen vor, bei dem er selbst an erster Stelle figurierte. Am tollsten trieb es die Marquise. Kaum daß sie ihre Kapuze noch zurückschlug. Es tat ihr so wohl, die Heilige zu mimen. Immer zur Kapelle hin oder zurück, die Kerzen anzündend, sie verlöschend, die Knie beugend, wieder in die Höh’, immer geschäftig, Offizien veranstaltend, um ein »Tantum ergo« anzubringen, von dem sie die Stimmen herausgeschrieben hatte, die Begleitung selber spielte und die Sopranstimme selber sang. Das quietschende Harmonium, die musikalische Darbietung war ganz auf die Kapelle und die Glasmalereien gestimmt. Die armen Schwestern in ihrer seelischen Bedrückung kamen nicht zur Ruh’. Sie empfanden ihre Gönnerin, die in ihr Gebet einzuschließen sie sich verpflichtet fühlten, als recht lärmend, wenn sie sich auch nicht gestehen wollten, wie sehr die leblosen Spatzenaugen, der kleine welke und geschwätzige Mund der Marquise sie ermüdete. Selbst der junge und kluge Abbé Laurion, ob er auch ihre ganze Frömmigkeit als pure Spielerei erkannte, konnte es nicht wagen, ihr die Wahrheit entgegenzuhalten. Immerhin war ihr Schloß in diesen Tagen ein Asyl für viele, wenn auch alle es enttäuscht verließen. Sprach die Marquise so laut und unentwegt, um auch die bescheidensten Anliegen im Keime zu ersticken? — Ihr Geld blieb unantastbar wie ihre eingepfefferten Brokate. Kaninchenfleisch à discrétion, aber keinen Centime. Dafür gab sie jedem Schützling, der nach Paris fuhr, ein warmes Schreiben mit für Constantin, denn mit Empfehlungen kargte sie nicht. Constantin, von Natur hilfsbereit, brachte Mittel für die Weiterreise auf, nach Belgien, Bayern, Österreich. Manch rührend hilflose Gestalt stellte sich ihm dabei vor, der rasch gekaufte Laienhut saß ihr gar plötzlich zu Gesicht, baumelte seitwärts oder nach vorn. Aber das ewige Treppauf, Treppab, der einförmige Tonfall, der klösterliche Singsang der heimatlosen Frauen irritierten Helga. Es waren ihrer so viele. Am meisten verdrossen sie jedoch die fast täglichen Besuche des Abbé Laurion, und nicht ohne Eifersucht nahm sie den wachsenden Einfluß wahr, den er auf Constantin gewann. Fürs erste dadurch, daß er Hortense so klar durchschaute und indem er es zu vermeiden wußte, mit der Tür, in diesem Fall mit dem Fanatismus, ins Haus zu fallen. Sehr schön, ohne enge Gesichtspunkte und dadurch nur um so verfänglicher, im übrigen ein frommer, ja asketischer Priester, frönte er, als einzigem Entgelt für sein entsagungsreiches Leben, einer geradezu ungeheuerlichen Neugier, und Constantins Ehe erregte sie aufs höchste. Was da nicht stimmte, war viel leichter zu erkennen, als was da stimmte, wie das so geht. Helga, für alle Untertöne ungemein empfindlich, blieb ganz unnahbar. »Er ist ein enragierter Seelenretter«, sagte sie zu Daphne. Nicht daß sie religiösen Problemen aus dem Wege ging, aber alle Wörtlichkeiten trieben sie die Wände hoch, und sie mißtraute den wohldosierten geistlichen Zusprüchen dieses neuen Freundes. Vor ihm zeigte sich Constantin zu ihrer Bestürzung, wie keiner ihn noch gesehen hatte: »devot«. Bisher beruhte sein Katholizismus vornehmlich in einer stets regen Abneigung für Martin Luther und einer wohlwollenden Neutralität gegenüber den Juden. »Aber das genügte doch«, meinte Helga.
Daphne begleitete eines Morgens zwei Wiener Kusinen ins Panthéon. Da sie sich aber der Gruppe anschlossen, welche die Gräber besuchte, und sie selbst die Treppen noch möglichst meiden sollte, ging sie mittlerweile ins Freie und überschritt den Platz. Links schließt sich ihm gleich ein zweiter an, dem die Kirche von St. Etienne das Gepräge gibt. Streng und doch voll Anmut, eine richtige Lockung schien ihr dies zusammengetragene Stück Architektur. Durch die offenen Pforten brausten Orgeltöne. Viele Wagen harrten ihrer Insassen, den Kutschern hingen schwarze Florstreifen von den Hüten. Daphne war vor ihrer Krankheit an einem trüben Wintertage flüchtig einmal hier gewesen. Sie trat ein; auch im Inneren kam alles einem ersten Eindruck gleich. Sie sah die Fenster. Ihr dunkler Rubin fing das Feuer der Sonne, die eine schräge Strahlenbrücke mitten durch das Schiff gezaubert hatte. Kreuz und quer schlangen sich die köstlichen Galerien als steinerne durchbrochene Gewinde zwischen den Säulen und um sie herum, Girlanden, die nie verblühten. Der müde, weißhaarige Priester, welcher zelebrierte, der einsame Rhythmus seiner tausendmal vollzogenen Bewegungen, sein Hin und Wider am Altar, die tausend- und aber tausendmal gesprochenen Worte, die hier in ihren Sinn eintraten wie in ein Reich, das Ritornell der »Saecula Saeculorum«, das hier nicht Geleier wurde, sondern Melodei, die hellen Stimmen der Ministranten, das Tönen ihrer Silberschellen, das Schwanken der Weihrauchfässer, die Wolken, die sie als durchlichtete Schleier überallhin entsandten, und, o Glück, eine schöne und geschulte Frauenstimme, die jetzt ihr Solo anhub, alles nahm an der Verzückung teil. Eine selige Herberge, sie war’s. Das Wort »Kunstwerk der Zukunft« stand damals noch viel in Gebrauch, es stieg, sie wußte nicht warum, in Daphne auf. Doch welch ein Schreck, als sie, von dem goldenen Staube umsponnen, der mitten durch die Kirche zog, in einer der vordersten Bänke ihren Vater erkannte. Den schönen Kopf ein wenig zurückgelehnt, das Auge zu den herrlichen Fenstern aufgerichtet, schien er in Träumereien verloren. Es war dasselbe Gesicht, nur stiller, das sie eines Sommerabends im kleinen Jagdwagen an ihm gesehen hatte, als sie eine weiße Straße des steiermärkischen Gebirges zwischen Wäldern einem See zufuhren, der ihnen von weitem entgegenfunkelte. Neue Orgelklänge hatten eingesetzt, er blickte zum Chor hinauf, Daphne wollte sich schnell verbergen, da grüßte er zu ihr herüber, ein wenig überrascht, im übrigen »gottlob ganz wie in einem Konzertsaal«, dachte sie. Nein, ihn hier zu ertappen, sie war die Tochter ihrer Mutter und nannte es ertappen —, verletzte sie nicht. Dies war ein schöner und würdiger Ort, und Constantins neueste Phase war Liebhaberei vielleicht, aber nicht Spielerei, wie bei der entsetzlichen Hortense. Das Amt war zu Ende. Da Constantin seinerseits sie auch gesehen hatte, wartete Daphne vor dem Portal.
»Man muß St. Etienne du Mont vormittags und bei schönem Wetter wie heute sehen«, sagte er, und sichtlich erfreut, sie bei sich zu haben, zog er sie mit ins Café du Panthéon, bestellte Kaffee und vertiefte sich in die Zeitungen. Dann gingen sie zu Fuß das Quartier hinab. In der Rue Bonaparte blieb er plötzlich stehen. »Merk’ dir eines, Daphne«, und er schlug mit seinem Spazierstock auf das Pflaster, »aber sag’ es deiner Mutter nicht.«
»Was?« fragte sie beunruhigt.
»Es wird noch einen Krieg geben«, sagte er, »und warum?« fuhr er fort, »weil wir zu dumm sind. Niemand merkt es noch, wie dumm wir sind, weil wir so tüchtig sind. Lieber weniger tüchtig und nicht so dumm.«
Das Verdienst der heroischen Helga war es indessen, daß eine Art von Heiterkeit sich der Familie Herbst einbürgerte, kunstvoll zwar und der früheren sehr ungleich, die zu siegreich den Neid der Götter reizte. Jetzt glich sie einem Baum, der, am Abhang stehend, seinen Frühling feiert. Als letzter hinaufgerückt, bevor der dunkle Wald ansteigt, prangt er allein für sich in seinem Blütenkleid; so war hier eine auf dem dunkeln Grund der Trauer aufgerichtete Heiterkeit.
Von Flick durfte es nicht länger heißen, sie sei zu klein. Sie hatte das interessante Augenfleisch Constanzens, wenn auch nicht ihren Blick, die schönen Achseln Daphnes, wenn auch den kürzeren Hals. »Locken, aber kein Kopf«, pflegte ihr Vater sie zu necken, denn unter der blonden Fülle mußte man ihn förmlich suchen. Flick war ein Sammelsurium aller Ähnlichkeiten der Familie. Auch der Sinn für Komik, ein großes Nachahmungstalent drang bei ihr durch, nur minder lustig. Aber Helga machte immer ihre Vorzüge geltend, stets bemüht, sie denen der Geschwister gleichzustellen, und ließ sich, als fände sie eine Ablenkung darin, mehr und mehr von ihr tyrannisieren.
»Toll, wie die Mutter sie verhätschelt« — sagte Franzl. Er hielt sich ganz an Daphne. Sie war die Ruhe, die er in sich nicht finden konnte.
Heute sitzt sie wieder in ihr Modell, die Place Vendôme, vertieft, denn Franzl soll ihre besten Aquarelle haben als Andenken an zu Hause. Schon in den nächsten Tagen fährt er auf ein halbes Jahr zu Onkel Aribert, um in München seine Prüfungen zu überstehen. Er hat die drolligsten Einfälle, aber das Studium ist ihm verhaßt, und in ihm lebt das herbstische Grauen vor einer Bibliothek. Dabei steht er im Begriffe, eine neue Stiefelwichse zu erfinden, und baut Luftschlösser mit erträumten Patenten. Daphne überläßt ihm lachend ihre Schuhe zu Versuchsobjekten.
Ja, mit dem Pariser Heim wird es nun bald ein Ende haben, denn man will nicht getrennt von Franzl leben und nach Bayern ziehen. Auch deshalb malt sie immer wieder die Aussicht vor ihren Fenstern.
Die Mutter erscheint zum Ausgehen bereits im dunkelblauen Jackenkleid und weißplissierter Weste. Sie ist jetzt dreiundvierzig Jahre alt. Die Umrisse sind jung geblieben. Der Teint ist zart, nur die Haare sind eisgrau.
Noch ist es früh am Nachmittag, der große Verkehr hat noch nicht eingesetzt. Nur vor dem Portal des Hotels, schief gegenüber, spielt sich viel Abfahrt und viel Ankunft ab.
An der Beleuchtung liegt es, daß man heute alles so deutlich gewahrt. Ein weißlicher Himmel überhängt Paris. Die Säule, die Fassaden ringsherum sind ein einziges, unendlich stolzes, ein wenig nebliges und doch zeitloses, jahreszeitloses, herbstzeitloses Grau. Wer es herausbrächte, denkt Daphne. Sie bietet Helga an, sie zu begleiten.
»Nein, nütze dies wunderbare Licht«, sagt ihre Mutter. Mit ihr in eine Ausstellung zu gehen, war immer ein Vergnügen. Constantin verstand nichts von Gemälden. In allem waren sie verschieden.
Plötzlich zeigte sich der eben noch fast leere Platz schwarz von Leuten, Autos und Karossen. So wird es bleiben bis zum Abend; und so besehen, in einer Perspektive, die noch lange keine Vogelperspektive ist, kommt das Getriebe beängstigend gedrängt zum Ausdruck, als ein verwirrendes Chassé-croisé zwischen Vorsehung und blindem Zufall und als sei ein Anteilschein dieser vielen einzelnen an ein Massenschicksal nicht zu leugnen. Helga steht am Fenster und blickt hinab. »Es ist nicht die natürliche Bestimmung der Menschen, zu leiden. Es ist so vielfach ihr Los, aber ich glaube nicht, daß es ihre Bestimmung ist.« Sie sagt es nachdenklich, wie vor sich hin. Aber diese einfachen, mit so bedachter Ruhe ausgesprochenen Worte fallen wie Steine in einen Teich, ziehen Ringe, die sich ausbreiten, Reflexe verändern, Töne anschlagen in dem weißlichen Himmel, in den Daphne vertieft ist. Sie vergißt sie nie.
»Es wird spät«, ruft Helga, »adieu, zum Tee bin ich zurück«, und ist in ihrer schnellen Art schon zur Tür draußen. Daphne sieht sie in einen offenen Einspänner steigen, der hurtig auf die Boulevards losfährt. Man unterscheidet ihn nicht lange. Zwei Stunden später hat sie ihren Malerkittel abgelegt, sitzt im Salon, ein Buch auf den Knien, und überwacht die Teemaschine. Es stehen nur zwei Tassen bereit. Franzl hat seinen Lehrer bis um sechs, Constantin, der sich nie um diese Stunde zeigt, hat Besuch: den Abbé Laurion. Und wo steckt Flick? Sie ist mit Cilly in eine große Hundeausstellung gegangen, ermächtigt, ein Hündchen zu erstehen. Es ist der letzte Tag. Dann wollen sie zu Colombin zum Tee. Daphne ist allein. Sie ist — es wurde schon von ihr gesagt — ein höchst romantisches Wesen, in welchem kein Raum ist für Pandorens Trug, in dem Vernunft der Unruhe gebietet. Nie vorher, es wurde schon von ihr gesagt, hatte sich so viel Weisheit mit so viel Grazie umkleidet und die Taue eines so unschuldigen Lebens gelockert. Hier war alle Schwäche ausgeschieden, war alles Schönheitssinn und Stil. Zuletzt sind Linien, die uns fesseln, solche, an die wir uns nicht gewöhnen, und stete Neugier erregte diese schmale ernste Stirne mit den hochgezogenen Brauen, die leichtsinnige Anmut des kleinen Ovals, das unbeschreibliche Relief der fast bangen Umrisse und dabei die männliche Zurückhaltung in den durchdringenden Augen. Mit der schon damals herrschenden Mode hat sie es gut getroffen, denn sie ist nur ein Hauch. Auf ihren Zügen ist heute das halbe Lächeln, das sie nicht selten tragen. Ein weißes Kleid mit vergilbten Valenciennespitzen, ein Geschenk ihrer Mutter, liegt auf dem Najadenbett bereit. Es wird sie auf dem Ball heute abend wie eine Wolke hintragen.
Sie hat den Hang, sich kostbar anzuziehen. Sie flirtet auch: alles mit Maß. Mit dem halben Lächeln, das wir schon kennen.
Helga verspätet sich gern ein wenig. Doch nun wird sie gleich eintreten; etwas müde und abgehetzt. Da klingelt es schon. Es ist Helga. Aber keine Helga, die sich des Tees erlaben wird, keine Helga auf eignen Füßen, sondern von zwei Männern getragen, bewußtlos, als eine Sterbende.
Und welch ein Anlaß! — Schon hatte sie heil den Hausflur betreten, als sie sich auf die allerlei Päckchen besann, die im Wagen geblieben waren. Er stand noch in Sicht. Eben machte er kehrt. Sie lief ein paar Schritte zu ihm hin, versah sich der anderen Richtung dabei nicht, von der ein Auto aus der Rue St. Honoré einhergerast kam, nicht über sie hin, aber sie dennoch erfaßte, mit aller Wucht gegen ihren Kopf hinstieß und sie auf das Pflaster schlug. Ein Page, der sie schon ins Hotel zurückkommen und wieder forteilen sah, trat, von schlimmer Ahnung erfüllt, in den Kreis von Menschen, der alsbald die Verunglückte umstand. Schnell war sie den Blicken der Menge entzogen und ins Haus gebracht. Dies der Vorgang.
Nun ist eine Stunde verflossen. Der Arzt hat schonend seine Meinung kundgegeben. Wo Leben ist, sei Hoffnung. Eine so schwere innere Verletzung allerdings... doch würde sie das Bewußtsein voraussichtlich noch einmal erlangen. Daphne erkennt die Lage auf dem Fleck. Sie zieht die Vorhänge zu. Trotzdem dringt die Abendsonne bis zu dem Lager vor, auf welchem Helga in ihren Kleidern — denn man hat nicht gewagt sie anzurühren — gleich einer großen zerbrochenen Puppe liegt.
»Sie lebt!« rief Constantin.
Denn sie hat die Augen langsam aufgeschlagen. Sie ist erwacht. Sie ist im Bilde. Sie sieht sich selbst wie eine Fackel dem Wagen folgen, spürt das höllische Gewicht noch einmal sie zermalmen. Sie erkennt den Mann und ihre Kinder. Sie läßt voll unsäglicher Liebe ihre Blicke von Constantin zu Daphne gehen, von ihr zu Franzl und wieder zu Constantin zurück; dann noch einmal zu Daphne, bei ihr verweilend, als ob ein Anliegen sie mühe. »Sie sucht Flick, ihren Liebling«, glaubt Daphne und beugt sich herab.
»Nimm die Geige«, flüstert die Mutter. War dies ihre letzte Sorge? nicht Flick? War hier ein Band zerrissen, daß sie ihrer nicht gedachte? Aber schon fielen ihre Augendeckel wieder zu. Eine Brandung erfaßte nunmehr ihr Dasein, trieb es heran, richtete auch seine Ufer von neuem auf und ließ es verlaufen. Alle seine Phasen und Ereignisse begannen so brennend grell einander abzulösen, daß ihr armes Gesicht sie alle vortäuschte, sie, zwanzigjährig, als junge Frau, im Glanz der Lüster gleichsam, dann trübe, älter, geprüften Herzens spiegelte. Und dann? Was weiter? — Die Zeit reißt ab. Scheinbar bewußtlos, nur zu bewußt vielleicht, verliert ihr Fuß den Boden. — Constantin und Franz stehen von gnädigen Tränen erblindet, gewahren nichts. Daphne allein ist Zeuge. Da vernimmt sie von draußen ein Geräusch, unterdrückte Stimmen, das Schließen einer Türe. Flick! — Sie will sie vorbereiten und flieht ihr entgegen. Aber es ist nicht Flick. Die arme Flick sitzt ahnungslos mit Cilly bei Colombin, sie schenkt ihr Schokolade ein, seelenfroh hält sie das erworbene Hündchen unter dem Arm, hat schon den Namen dafür ersonnen und läßt sich Zeit. Daphne aber kehrt zurück, kommt wieder durch das Zimmer ihres Vaters und gewahrt — jetzt erst — im Zwielicht eine unbewegliche Gestalt. Es ist der schöne, ganz und gar vergessene Abbé Laurion. — Nein, denkt sie, ihre Mutter soll in Ruhe gelassen werden. In »Ruhe?« denkt sie schaudernd.
Laurion hat die Miene eines Menschen, der hart mit sich selbst im Kampfe liegt. Dennoch rührt er sich nicht, sagt kein Wort. Daphne hält ihm seine Zurückhaltung zugute.
»Wollen Sie Abschied von ihr nehmen?« fragt sie ihn; »sie wird Sie nicht erkennen.« Schweigend geht er da mit ihr.
Aber Helgas Augen stehen zum letzten Male offen; sie sieht ihn und starrt ihn an. Was begab sich da in Laurion, daß er mit allen Traditionen seines Standes brach? Wie einer, der in der Hitze des Gefechtes den Befehlen trotzt, auf eigene Faust die Führung an sich reißt, durch einen Akt der Insubordination das Rechte trifft, so vollzieht er keine Gebärde, läßt von äußern Zeichen ab, murmelt kein Gebet. Er schont auf seine Weise der schon so weit Entzogenen: er stört sie nicht. Die kosmische Luft, von Blitzen geladen, die in dieses Sterbezimmer schlug, umtost auch ihn. Mag der Glaube Berge versetzen, Anker darf er keine werfen, Wissen um letzte Dinge, ihr doppeltes Gesicht, ihrer Negationen Schoß offenbart er nicht. Von tausend Zungen lebt hier die Luft. Kein Ohr hat sie gehört, Helgas Lippen sind verstummt. Verabschiedet, hinausgeschleudert aus dem Erdenleben, schon von dem Tageslicht entlassen, schon geschieden von der Sonne, die noch zu ihr scheint. Bitterlich geweiht, liegt die erfahrene Helga. Mit sanften Fingern trocknet Laurion den Todesschweiß von ihrer Stirn. Seines Amtes gleichsam sich entkleidend, tritt er neu in seine Würden ein, den Begriff des Priesters, den die seelische Unrast des Menschen schuf, ganz und gar erfüllend. Blicke der Tröstung, der Beteuerung in diese untergehenden Augen tauchend, bringt er — als Lohn seiner Verzichte — ein Lächeln auf herrlichster Leidenschaft. Es ist das Lächeln eines himmlischen Verführers. Er hält, er trägt sie, sie stirbt in seinen Armen.
Wir ließen Daphne auf dem Diwan der Münchener Wohnung. Völliges Dunkel herrscht nun schon lange, bis auf den Widerschein der Zierlaternen gerade gegenüber in den obersten Erkern des Hotels. Der Regen schlägt an die Fenster. Constantin ist noch nicht zurück. Harriet, früher Helgas Jungfer, die bei Daphne geblieben ist, hält jedes Geräusch draußen ab, aber nun klingelt es drei, vier Male schnell und ungeduldig, die Schläferin erwacht, richtet sich gerade auf, knipst an der Lampe und seufzt. Franz stürzt herein. Wir sehen ihn als geschmeidigen Leutnant wieder, seine blauen Augen sind ein wenig abenteuerlich, wie die eines Seefahrers, schärfer auf die Ferne als die Nähe gerichtet. Onkel Aribert steht im Begriffe, ihn zum Erben der Güter einzusetzen, die einst sein Vater einbüßte. Es sind Schritte im Gang, die Sache läuft, wie man sagt, und ist kein Geheimnis.
»Komm mit mir in die Oper, Daphne, sei nicht fad. Harriet«, ruft er, »staffieren Sie meine Schwester heraus!« Er schließt wieder die Tür. »Man wird dich für meine Braut halten.« Er lacht.
Daphne hätte lieber weiter geschlafen. Doch fällt es ihr immer sehr schwer, Franz etwas abzusagen. Sie war nicht blind für seine Fehler, aber seine Späße und Einfälle belustigten sie, und sie hatte sie so lange entbehrt. Man gab Hoffmanns Erzählungen, seine Lieblingsoper. Mit der jungen Ivogün als Olympia, Geis als Spalanzani und Paul Bender als Dapertutto hatte die Aufführung nicht ihresgleichen in der Welt und war sogar eine Reise wert. Pünktlich nahmen Daphne und Franz ihre Balkonsitze ein, und ihr Auftreten bildete für die Logen des I. und II. Ranges eine Sensation. Franz war schon eine recht bekannte Figur. Aber wen hatte er denn da mitgebracht? Wer zog da so leichten Ganges mit ihm einher? Der Vorhang mit der herrlichen Komposition Guido Renis war noch gesenkt, die Lichter noch nicht abgeblendet, man hatte also Muße, die beiden zu betrachten. »Wer ist denn das?« fragte Frau von Lerch, ehrlich entsetzt. Sie nahm mit ihren Töchtern die vier Vorderplätze ein, welche die der Geschwister gerade überhingen. »Mit Gottes Hilfe«, hatte sie abends zuvor wörtlich zu ihrem Manne gesagt, »mit Gottes Hilfe hat Lori Mattrei sich in den unmöglichen Russen verliebt, so daß jetzt Adeles Chancen sehr gestiegen sind.«
Die arme Adele war ihre Erstgeborene, sehr jung noch immer, aber schon von ihren noch jüngeren Schwestern gedrängt. »Wer ist denn das?« fragte auch Major von Dürr, der auf dem Rücksitz saß, mit unverhohlener Freude, denn mit dieser Erscheinung dort unten konnte Adele, so hübsch sie war, sich nicht messen; wenn sie aber niemand besseren fand, dann durfte er, Major Dürr, um sie werben. Zwar wußte er genau, daß die ganze Familie auf ihn stichelte, ja Adele nannte ihn, wenn sie besonders ungnädig war, den Major Dick. Aber was sollte sie anfangen, wenn sich keiner bot? Dann brauchte er wohl keinen Korb zu befürchten, und dann nahm er seinen Abschied und setzte sich auf seinem Gut in Niederbayern mit ihr zur Ruh’. Arme Adele, kein Wunder, daß auch sie erschrocken fragte: »Wer ist denn das?«
»Eher eine Signora«, sagte einer der Herrn in der Adjutantenloge, »das Etui, in dem sie steckt, scheint mir zu kostbar für eine Signorina.« Major Dürr, kräftig lorgnierend, bemerkte: »Die reine wundertätige Madonna.« Das Wort ging alsbald mit ungeheurem Erfolge in den Rängen um. »Il a déjà de l’esprit comme ses pieds«, rief Zenaide Waldmann. Niemand behelligte ihr Französisch. Der junge Montreuil von der Gesandtschaft hatte einmal geglaubt, mit seinem Deutsch diesem Napoleonisch beispringen zu dürfen. Sie verzieh es ihm nie. Wenn auch! Warum sie so gefürchtet war, wußte kein Mensch. Aber alles zeigte sich bestrebt, sie bei bester Laune zu halten. Daphne, geruhsam zurückgelehnt, blickte zu Lerchs hinauf und sagte: »Ich glaube, die lachen mich aus.« Sie trug die Perlen ihrer Mutter und Smaragdringe in blitzender Fassung. Das blonde Haar stand ein wenig steil von der Stirn ab, fast wie eine goldene Flamme. Die hochgezogenen Augenbrauen gaben dem schmalen weißen Gesicht leicht etwas Unbewegliches, wenn es nicht grade ein halbes Lächeln trug.
Von Notburgas Loge strahlte die Kunde aus, daß mit Gottes Hilfe die wundertätige Madonna »nur« die Schwester sei, und die Vorstellung konnte beginnen.
Aber auch in der Pause gingen manche nicht ins Foyer, um Daphne anzustarren. »Wenn alles mit Opernguckern hantiert, dann genieren wir uns auch nicht«, sagte sie. »Wer ist denn das reizende Geschöpf dort drüben?« und sie fixierte eine Eckloge dicht an der Bühne. »Das ist Lori Mattrei«, sagte Franz.
»Und der schwarze Jüngling? Ist das ihr Mann?«
»Nein, er gilt als ihr Verlobter.«
»Nicht im Ernst?«
»Du fragtest doch gerade, ob er ihr Mann sei? Also kann er auch ihr Verlobter sein.«
Sie stießen nach der Vorstellung scheinbar sehr zufällig auf der Haupttreppe mit ihr zusammen, und Franz machte die Mädchen miteinander bekannt. Aber vorher schon, und ohne daß es eines Wortes bedurft hätte, wußte Daphne, daß er sein Herz an Lori Mattrei verloren hatte. Statt nach Hause, fuhr er seine Schwester noch in die Regina Bar.
»Ein gutes Glas Bordeaux ist, was du heute noch brauchst«, sagte er.
Daphne fragte sich keinen Augenblick, ob es gebräuchlich sei, dort in großer Toilette zu erscheinen. Die Kinder pflegten etwas für richtig zu halten, sobald sie selber es taten. Dieser Hochmut haftete ihnen noch von Constanze her an. Mit ihrer gewohnten Sicherheit ging sie jetzt die Treppen zu dem gemütlichen Lokale hinab und nahm in einer der Nischen Platz. Franz bestellte.
Sie befanden sich beide in nachdenklicher Stimmung. »So werde ich denn also Landwirt«, sagte Franz, »königlich bayrischer Landwirt mit Ökonomie. Landwirtschaft ist meine Laufbahn. Dafür muß ich eines der Mädchen heimführen, die du heute abend gesehen hast. Drunter tut’s Onkel Aribert nicht.«
Daphne dachte an Lori Mattrei: »Nichts zwingt dich«, sagte sie.
»Aber er steht nun einmal dafür. Und die Schlösser gefallen mir. Nur die abgeknüpften Horizonte hierzulande gefallen mir nicht. Sie sind wie die Leut’. Na — gottlob, ihr seid endlich da«, und er erhob sein Glas. »Sobald genug Schnee ist, müssen wir nach Mittenwald. Du läufst dann Ski. Ich habe eine Hütte dort.«
»Um Weihnachten müssen wir Flick holen«, meinte Daphne.
»O nein!« rief er, »noch nicht. Diesen Winter bleiben wir noch unter uns. Sie wird erst siebzehn. Bis nächstes Jahr ist mein Leben geregelt, dann wird sie viel leichter zu verheiraten sein. Möglichst schnell einen Mann. So sehe ich den Fall.«
Daphne schwieg.
»Ich würde ja nichts sagen, wenn sie nicht gerne in ihrem Kloster wäre. Erst im September habe ich sie besucht. Wir sind den Schafberg hinauf- und wieder hinuntergegangen. Was mich anlangt, stehe ich ja bei ihr in Gnaden.«
»Du sagst das so?«
»Ja, über dich, meine Liebe, erhob sie Klagen. Beim Aufstieg waren es wieder ganz andere als beim Abstieg.«
»Warum denn?« rief Daphne bestürzt.
»Immer derselbe Groll: daß sie damals nicht zu Hause war.«
»Aber wie kann sie mir die Schuld geben?«
»Und daß ihr die letzten Worte nicht gegolten haben. Du hättest sie anlügen sollen!«
»An jenem Tage dachte ich nicht daran.«
»Dann tags darauf —«
»Da war es nicht mehr nachzuholen.«
»Mittlerweile lernte sie Violine spielen«, sagte Franz und blickte die Schwester mit seinen blauen Seefahreraugen, die schärfer auf die Ferne als die Nähe sahen, an.
Daphnes Blässe hatte sich vertieft, es war nur mehr der Schatten ihres Gesichtes: ein Schatten zwischen blitzenden Ohrringen. Aber Franz merkte es nicht.
»Und was sagst du zu Carry«, fuhr er fort, »der auch schon gekommen ist. Als ich dich heute abholte, sah ich ihn mit Koffern und Kisten im Regina landen. Wir nehmen ihn mit nach Mittenwald. Nach der Oper wollte er uns übrigens hier treffen, er wird wohl gleich erscheinen«, und er sah sich um.
Daphne war aufgestanden. »Für heute ist es genug«, sagte sie.
An der Treppe aber stießen sie mit Carry Loon zusammen. »Müde«, sagte er zu Daphne, noch ehe er sie begrüßte. »So müde.« Trotz der Dunkelheit sah er es gleich.
»Seit sieben Uhr früh stehe ich herum«, gab sie zurück, »aber die Wohnung ist imstande. Kommen Sie morgen mittag.« Sie überließ ihm die eine Hand. Mit der anderen zog sie den Pelzkragen hoch, alsbald von ihm scheidend. Franz versprach, gleich wiederzukommen. Sie hatten nur ein paar Schritte quer hinüberzugehen. Im Hause setzte der Lift sich eben in Bewegung, aber die Dame, die drinnen saß, ließ ihn geschwind stoppen, und er nahm die Geschwister noch auf. Der höfliche Fahrgast war eine noch junge Amerikanerin, die sanften Löckchen an den Schläfen, der große Ausschnitt stimmten wundervoll zu dem warm aufgesetzten Lächeln. Der Mantel war auf die Bank geglitten. Er war nicht ganz so elegant wie ihr Kleid.
»So hot in here«, sagte sie und stellte sich sodann mit einer Innigkeit, als hinge der Himmel voller Baßgeigen, als Hausgenossin vor. Sie hoffe, fügte sie hinzu, oh, sie hoffe sehr... Es war nicht schwer zu erraten, was sie erhoffte, aber der Lift hatte schon innegehalten, und sie mußte heraus, denn sie wohnte im ersten Stock.
»So glad«, sagte sie noch. Franz ging voran, ihr freie Bahn zu lassen. Sie dankte ihm mit einem Blick, scheu wie der eines Rehs, groß und ein wenig erstaunt wie der eines Kindes aufgeschlagen, noch unvertraut mit allem Falsch der Welt. Oben im Flur platzten die Geschwister aus.
»Schlimmstes U. S. A.«, flüsterte Daphne.
»Rue Clément Marot«, sagte Franzl, »aber aufgemacht wie Titania. Ich werde nicht ihr Esel sein.« Darauf fing er an, die Treppe hinunterzulaufen.
Die Nachbarin indes empfand die Begegnung als ein Ereignis, einen Glücksfall, einen Fang. Sie lauschte und spitzte auch ein wenig; erst als sie hörte, wie Franzl, statt den Lift zu nehmen, die Treppe herabstürzte, zog sie schnell den Schlüssel hervor, dann zauderte sie nochmal. Wenn sie vorgab, ihn nicht zu finden, wie Mimi in der Bohème? Das Eisen schmieden, solang es noch heiß war, und die Bekanntschaft auf dem Fleck ein wenig lebhafter gestalten? Mit einem »so provoking« noch dazustehen, wenn er vorbeikäme? Keine schlechte Idee... Aber dann verließ sie doch die Sicherheit, und sie schlüpfte schnell durch die Tür. Nur den Schlüssel konnte sie in der Eile nicht zurückziehen. Franz sah ihn stecken, es war das erste, das er unter großem Gelächter Carry in der Bar erzählte. Dieser, gesetzter und einige Jahre älter als Franz, fand eine solche Nachbarin nicht erfreulich.
Auch Daphnes langer Tag war noch nicht ganz zu Ende. Sie fiel fürs erste, wie sie war, in ihrem Staat, den Ohrringen und Perlen, auf das Najadenbett, zu erschöpft, um sich zu regen. Es war ein bißchen viel gewesen zu guter Letzt: die Entdeckung von Franzls unglücklicher Liebe, der Schreck über Flick und als Trumpf Carry Loon, ihr heimlich Verlobter. Flick sollte sie bei ihrem Vater ersetzen, bevor sie diesen verließ. Sattsam hatten sie es durchgesprochen. Franz aber hatte recht: es war besser, sie noch ein Jahr in Riedenburg zu lassen, und Carry mußte sich gedulden. Er war ihr unentbehrlich geworden, aber zwei Liebende sind nie gleich stürmisch. Er drängte, sie zögerte. Jener Abend, an dem das weiße Kleid mit den vergilbten Valenciennes auf dem Najadenbett für sie bereit lag, hatte sich vor zwei Monaten zum zweiten Male gejährt. Jener, auch für Carry so unvergeßliche Ball, auf dem sie nie erschien und er sie immer suchte. Eines Tages folgte er ihr nach Rom, architektonische Studien zum Vorwand nehmend.
Loons waren eine Hugenottenfamilie, die nach Genf, dann nach Südtirol, später nach Liechtenstein einwanderte. Carrys Vater hatte eine bildhübsche Waliserin geheiratet und war als Schweizer naturalisiert. Ein schönes Gut, das zwischen Ouchi und Vevey den See überhing, war Carrys Heimat. Aber seine Staatsangehörigkeit behagte ihm nicht recht. Einen Beruf zu haben, gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen in allen Kantonen, und Carry war lieber müßig. Er wählte die Laufbahn des Architekten, ihr ließ sich am leichtesten ausflitzen. Kunstreisen gehörten zum Glück mit dazu. Jetzt war ein Wintersemester daran, um die modernen Bauten in Deutschland zu studieren. »Eine andere Frau ist nicht denkbar für mich. Wollen Sie mich nehmen?« fragte er Daphne, als sie kurz vor ihrer Abreise nach Bayern stand. Alles, was er vorbrachte, klang sehr unverblümt, so wohl vorbereitet es war. Die beiden befanden sich allein, Constantin war zum Abschied bei einem Kardinal. Daphne hatte versprochen, ihn dort abzuholen. »Es wird ihn ja so verdrießen, daß ich einen Hugenotten nehme«, seufzte sie.
»Dann werde ich halt Kathole«, rief er ungehalten.
Bei Loons sagte man Papisten oder Katholen. Eine Urgroßmutter aus Hamburg hatte das so eingeführt. Daphne mußte jedesmal lachen, aber Carrys frivole Bereitwilligkeit ging ihr zu weit. Ihre religiösen Abenteuer, von welchen er nichts wußte, hatten Furchen in ihrem Inneren gezogen.
»Gewisse Fragen offenzulassen, ist auch ein Weg«, lenkte er ein.
»Wenn auch nicht gerade ein Weg«, lächelte sie. Vor Sonnenuntergang brachen sie auf, handelseinig; ihr Weg führte sie über die Villa Doria! Die Bäume ragten in den warmen Tag, flach, von hoch herab waren die Schatten, die Steine leuchteten, und Rom lag ganz und gar vergoldet zu ihren Füßen. Ruderschlägen gleich, stets im Takte, fielen ihre Schritte. Wie tief war sie mit der Form, der Dunkelheit und Größe seines Auges, der Biegsamkeit und Glätte seiner Gestalt, der nervigen, brünetten Hand innerlich beheimatet. Aber auch ihre geistige Intimität fand in jedem Tonfall ihr Genüge, ihren Ausdruck. Sie hatten dasselbe Tempo, und es schlug nie fehl. So verschieden von der armen Helga, die nie vertraut mit Constantin geworden war, deren Gemeinschaft mit ihm zwar hinausreichte über das Grab, aber sich zeitlebens nicht auswirken durfte. Ja, Daphne freute sich, daß Carry schon gekommen war. Nein, es war nicht zu früh, wie eine erste Nervosität sie hatte glauben machen. Aber warum erschienen ihr mit einem Male die Tage ihres Zusammenseins unter dem weiten und, wenn er in allen Tönen noch so leidenschaftlich flammte, dem milden Himmel Roms so viel gesicherter als hier? Vielleicht war es nur das barsche, ungewohnte Grau, die Nässe, der Schnee, den sie hier vorgefunden hatte. Sie schlug die Augen auf. Drei Koffer standen in ihrem Zimmer noch herum, vom Fenster fiel nur ein Stor; die Vorhänge waren noch nicht aufgehängt; vielleicht gab dies den kalten, unwirtlichen Schein, brachte sie deshalb Zuversicht nicht auf. So zage mit einemmal? Langsam löste sie die Kette, das Geschmeide, nahm die Ohrringe ab, erhob sich endlich, um sich auszukleiden. Die Heizung spielte nicht mehr. Ihr fror. Leise ging sie das elektrische Öfchen zu holen. Man hatte es noch nicht ausprobiert. Es stand draußen vor dem Salon. Sie hörte im Zimmer ihren Vater reden und hielt inne. Es war seine Stimme: »Constanze ist tot! Helga ist tot«, sagte er, und als wäre es eine Berichtigung: »Helga ist gestorben!« rief er laut. Daphne schleppte den kleinen Ofen durch den Gang.
Zwischen Königin- und Kaulbachstraße etwas hinausgerückt, überblickte das Palais des Barons Mattrei den Englischen Garten und eine Ecke des Großhesseloher Sees. Hochgestellt, aus grauem Stein und von einem Schüler Messels erbaut, brach es als erstes mit den Traditionen der Gebrüder Seidl, brachte zwar keine ausschweifenden Hallen unter Dach, zeigte vielleicht auch weniger Phantasie, dafür ein recht gelungenes Peristyl, von zwei steinernen Wappen überragt, und schön eingelassene Fenster. Gerade die Fenster aber, sowohl der Pseudo-Renaissance wie der gotisierenden Münchner Bauten, waren der schwächste Punkt gewesen. Fast ängstlich befliß sich das Mattreische Haus der neuen strengeren Linien. Die Freitreppe war nicht ohne Schwung. Man sah von unten ein paar weiße Doppeltüren; hinauf kam niemand. Dafür bestand das ganze Erdgeschoß aus Empfangsräumen.
Mattreis bemühten sich nicht, große Feste zu veranstalten. Sie waren Sonntags zu Hause. Dieser Sonntag hatte einen riesigen Zulauf. Gegen halb sechs Uhr war der Ansturm am größten. Der umfängliche Landauer des Apostolischen Nuntius stationierte neben dem elektrischen Kupee eines jungen Tunichtgutes. Stets hielten auch einige blaue Wagen mit den königlichen Livreen ihren Stand. Gar heftige und unterhaltende Dispute entspannen sich da in Wind und Wetter: wurde dann gerufen, sogleich entstand Stille, und Kutscher oder Chauffeur fuhren mit solenner Miene aus der Reihe hervor.
Der Straße zu lag das Haus im Dunkeln. Alles Licht zog sich nach innen. Nur wenn die Pforte ging, leuchteten drei marmorne Stufen und die Säulen der Vorhalle auf. Der Salon, der die ganze Front entlanglief, sah auf den See. Rechts und links, in Form eines Halbrondells, schlossen sich ihm die anderen Räume an. Doch wo immer Lori Mattrei sich gerade aufhielt, wo sie stand oder auch nur vorüberkam, verlegte sich der Mittelpunkt des Hauses. Sie war der Stern. Es empfahl sich so leicht kein Besucher, ohne wenigstens ihren Blick, ihr Lächeln mit auf den Weg zu nehmen; auch Matronen, Ehemänner und Monsignori. Was steckte hinter ihr? Alles und nichts! Und wenn alles Trug gewesen wäre, so doch kein Lug. Lori Mattrei hatte den Zauber des Mondes. Dunkel und zierlich, mit blassen melancholischen Zügen, nahe daran, nichtssagend und nur ein hübsches Lärvchen zu sein, wäre nicht die interessante und außerordentliche Glätte dieses Gesichts gewesen, die es nie einbüßen würde, die hinreißende Melodik des Auges, dessen Fülle sich nie erschöpfen, die Suavität des Mundes, dessen Lächeln sich nie abnützen würde. Warum? das wußte niemand. Aber die Verehrung, die Lori zuteil wurde, glich einem Kult. Des öfteren ließ sich ja einer irrlichtern und hielt um sie an, aber es gab bisher keinen, der sich ihretwegen vom chinesischen Turm oder in die Isar hinabstürzte, irreging oder auch nur unglücklich wurde, weil er auf sie verzichten mußte. Sondern sie hatte immer schon eine hübsche Freundin zur Hand, um den von ihr Verschmähten damit zu trösten.
Wie sie das fertigbrachte, war ihr Geheimnis. Auch die jungen Mädchen natürlich hielten alle zu ihr, und niemand verkannte sie, wenn auch niemand sie kannte, sie selbst am wenigsten. Wer hätte denn auch vermutet, daß ein Grundzug dieses traumhaften Geschöpfes ungewöhnlich große Nüchternheit war? Und wie manchmal innerlich kalte Menschen sich gerne mit warmherzigen umgeben, so hegte Lori Mattreis’ unzerstörbar gelassene Natur ein unstillbares Verlangen nach Sensation.
»Weit und breit nichts Neues!« war dieses naiven Mädchens Klage an eine Freundin, während eines ereignislosen Sommers. »Wenn doch wenigstens in der Welt draußen etwas los wäre. Aber auch dort passiert nichts!«
Dieser momentanen Ebbe in ihrem gesellschaftlich sehr bewegten Dasein verdankte Stanislaus Trszinsky als der erste ihrer Freier ein unüberlegtes Jawort. Auf dem letzten Sonntag im Monat Mai war er länger als alle anderen geblieben, um ihr »Eugen Onegin« vorzulesen. Stehend lehnte er dabei am offnen Fenster, jeder Zoll das Bild eines leidenschaftlichen und zugleich flotten Jünglings, zärtlich à la russe rollten seine r’s, und die scheidende Frühlingssonne lag auf seiner blassen Stirn. Zwar fuhren Mattreis schon am nächsten Tag bis spät in den Herbst nach Schloß Waizenach, aber Trszinsky sandte Bücher, er schrieb, er warb und eilte zuletzt glückstrahlend in eigner Person daher. Zu Loris Bestürzung, zum Entsetzen der Eltern. Die einzige Tochter bis nach Russisch-Polen? Nimmermehr! Vor einem Jahr, entschied der Vater, durfte von keiner Verlobung die Rede sein. Zeit genug, dachte er, um sie wieder aufzulösen. Lori war es recht. Sie fand Trszinsky recht schwarz, sie hatte ihn nicht so schwarz in Erinnerung. Es war nur eine Briefbrautschaft, sie war nur eine Briefbraut, das ganze nur Papier gewesen. Aber hatte er nicht ihr Wort? Es fehlte ihr nicht an schweren Verwicklungen, sie konnte nach Herzenslust zerrissen und unglücklich sein, und sie hatte sie jetzt, ihre Sensation. Es passierte genug. Denn kaum eine Woche später kam Aribert Zell, der Gutsnachbar der Mattreis, und stellte seinen Neffen vor. Der Tag war schwül. Man blieb auf der Terrasse. Nur Franz und Lori gingen durch den Garten. Ein Gewitter, das sich nicht entlud, hielt im Süden das Firmament umzogen. Plötzlich drehte sich der Wind, und allenthalben bewegte sich das Laub. Lori ging voran. Sie wollte ihm den erhöhten Platz noch zeigen, an dem der Main seine braunen Fluten vorübertrieb. Gelbe Sandsteinfelsen, jähes Buschwerk am anderen Ufer. Im Westen hielt die Sonne noch tapfer gegen die Wolken stand. In ihrem Widerschein gingen Franz und Lori. Für Franz jedoch war Lori der coup de foudre, diese oder keine, das Schicksal. Und er sagte es ihr unverweilt, angesichts des Flusses, der zu ihren Füßen leuchtete, so bar aller Konvention, so jäh war Franz... Lori war erbleicht: »Aber ich bin«... »Sagen Sie nichts!« unterbrach er sie und streckte seine Hand zur Abwehr aus. Sie sah nur diese Hand. Sie hielt ihre Blicke gesenkt, aber sie fühlte das Feuer seiner Augen. Er war schon die Stufen wieder hinabgeeilt, als vertrüge er angesichts dieser reifen, sommerlich erfüllten Landschaft, dieses sommerlich verheißungsvollen Himmels die Nähe Loris nicht. »Ich werde schweigen, bis ich reden darf«, rief er von unten, »aber ich gehöre Ihnen.« Sie gingen ohne ein Wort an den Rosenstauden, unter den flüsternden Birken zurück. Onkel Ariberts Jagdwagen stand schon geschirrt. Man nahm Abschied. Die Fahrt ging zwischen Kornfeldern.
»Lori ist die Frau, die ich dir zugedachte«, sagte Onkel Aribert.
Der Onkel hatte ebenso rasch gehandelt wie der Neffe und seine Karten deutlich den Eltern aufgedeckt. Und diese wiederum hatten mit keiner Silbe Trszinskys Besuch erwähnt. Lori konnte, durfte nur um die Ecke verheiratet werden. Nur der junge Herbst konnte für sie in Frage kommen. Wenigstens wäre sie dann Sommer und Winter, in der Stadt wie auf dem Lande stets erreichbar. Natürlich würde die Komplikation mit dem andern Freier Zeit erfordern. Um so besser. Man hatte es nicht eilig, Lori herzugeben. Kaum daß man sie zu Atem kommen ließ. Des Morgens, bevor die Baronin noch fertig angezogen war, brach sie schon bei ihrer Tochter ein, um das Tagesprogramm, die zu machenden oder erwarteten Besuche, tausend gleichgültige Dinge, zu durchsprechen, welche bei Tisch ausführlich noch einmal verhandelt wurden. Indes schickte auch schon der ungeduldige Vater herüber wegen eines wichtigen Briefes, den er ihr zu diktieren habe und der auch nur ein Vorwand war. Denn immerzu waren diese gänzlich vernarrten Eltern nach ihrer Tochter auf der Suche. Nur zwischen zwei und vier Uhr, während sie Siesta hielten, hatte die arme Lori ihre Ruhe. Dann floh sie neuerdings zu dem erhöhten Stand, zu dem sie mit Franz gegangen war. Sie sah den Fluß vorüberrauschen, sah seine Hand in leidenschaftlicher Abwehr ausgestreckt, und sein »sagen Sie nichts!« tönte wieder an ihr Ohr. Er war ihr so viel lieber als Trszinsky, und Lori schwelgte in Tränen, Seelenkonflikten und Alleinsein.
Dieses alles lag nun vier Monate zurück; das erste Bündnis war seit zwei Wochen endgültig gelöst, das zweite noch nicht geschlossen. Von dem ersten war natürlich manches durchgesickert, doch ein hochmütig hingeworfenes Dementi von seiten Mattreis hatte genügt. Nun wartete man sehnsüchtig auf Trszinskys Versetzung. Mittlerweile war er auf Urlaub.
Die Baronin betete zu St. Benno, ihrem Lieblingsheiligen und Schutzpatron Bayerns, daß der gräßliche Mensch nicht wiederkomme. Vorläufig bestand keinerlei Gefahr, geruhsam konnte man der Schar der Sonntagsgäste entgegensehen.
Zenaide Waldmann hatte sich wieder als erste eingefunden. Ihre Tasche — ein altmodisches Gewirk aus waschbarer Seide — streifte im Speisesaal herum. Einem Brauche gemäß, der ihr gegenüber feststand, hatte Lori schon zwei schöne Birnen, Kognakkirschen und Schokoladekrapfen heimlich hineingeschmuggelt. Dieser Sorge ledig, gedachte sie sich zu unterhalten. Franz und Daphne waren eben eingetreten. Sie winkte ihnen zu. Der Tee wurde bei Mattreis nur den Hoheiten serviert. Im übrigen stand die Tafel als Büfett gerichtet.
»Wir Sterbliche«, sagte der Legationsrat von Pergler zur neu angekommenen sächsischen Gesandtin — »wir Sterbliche«, sagte er, um einen Unterschied von den gewöhnlichen Sterblichen zu markieren, »bedienen uns hier selbst.« —
Und er hielt ihre Tasse mit einem abgeschmackten Lächeln, denn Pergler galt für geistreich in seiner Clique, aus der er sich wohl hütete, herauszutreten. Nur die Jugend fing an, seiner nicht mehr zu achten. Sie pflegte sich möglichst schnell im Boudoir zu versammeln, das Lori gehörte. Sanft legte diese jetzt ihre Hand auf Daphnes Arm und zog sie dorthin. Die Wände waren mit aprikosenfarbener Seide ausgeschlagen, das Licht stand allen sehr gut. Zwar fiel es nur von oben, der Lüster bestand aus einer Schale, aber sie war aus reinstem Alabaster. Resi Vogt, Thecla Schlag im Berg, Lucy Schlingen, das ewig kichernde Paulinchen Kummerfeld hatten sich schon eingefunden. Leutnant Günzburg und zwei Diplomatenlehrlinge folgten ihnen auf dem Fuß. Nun floh auch die jüngste Prinzessin, selig, ihrer Hofdame zu entrinnen, mit einem schüchternen Lächeln herein, um alsbald gewaltig zu erschrecken, weil ihr Daphne vorgestellt wurde.
»Wie geht es Ihrem Vater«, stieß sie hastig hervor und setzte sich weit weg. Diese Frage stellte sie in ihrer ersten Verlegenheit immer.
Daphne war den meisten Mädchen noch fremd und wurde zwar nach österreichischer Mode unverweilt von ihnen geduzt, aber mit recht gemischten Gefühlen betrachtet. Man war doch wirklich Komtessen genug.
»Wirst du in die Welt gehen«, wandte sich Thecla Schlag im Berg an sie. Das Karussell ihrer Wintervergnügen nannten sie sehr ernsthaft »Die Welt«, oder »Die große Welt«. Daphne erwiderte, daß ihr nur wenig Zeit für Gesellschaften übrigbliebe, da sie eine Malschule besuchte.
Es entstand eine Pause. Obwohl an sich beruhigend, wirkte die Antwort unliebsam und entfremdete Daphne der kleinen Schar. Malen war »geschupft« und »demi-monde«. Unter demimonde verstanden die Mädchen eine nur halbe Zugehörigkeit zu ihrer monde. Paulinchen Kummerfeld gebrauchte das Wort besonders viel. Nur Resi Vogt war gewitzigter. Aber sie grollte Daphne noch wegen des Abends bei Menes, denn Schonheim hatte sich bis zum heutigen Tage noch nicht erklärt. Sie führte den Ton bei einer kleinen Gruppe an und beschloß, die Parole auszugeben, Daphne habe einen Stich.
»Wunderhübsch, aber einen Stich«, flüsterte sie dem Leutnant zu. »Ja gewiß«, pflichtete dieser bei.
Franz hatte seinen Stand an Paulinchens Seite genommen. Von dort konnte er Lori am ungestörtesten im Auge behalten. Sie saß auf dem kleinen Sofa neben Daphne, wo sie mit leichter, spielender Gebärde ihre Hand gefaßt hatte. Daphne lächelte. Sie sagte nichts.
Der zartbeleuchtete Raum war jetzt von lebhaften Stimmen durchschwirrt. Neckisch, spröde, scheu, kokett, unnahbar, wie’s gerade kam, verhielten sich die Mädchen. Allein sie übten nur. Zum Glück war der Winter noch in seinem Anbeginn. Aber ihre Blicke schweiften dennoch friedlos umher, ob denn kein möglicher Freier gegangen kam. Der Leutnant, die beiden Diplomatenlehrlinge, auch Franzl Herbst, das wußte jede, kamen für sie nicht in Betracht. Verlobt zu sein jedoch, sich zu verloben, darum ging’s, dies galt es. Was nicht darauf hinzielte, war verlorene Zeit. Keinen anderen Weg gab es für sie ins Freie. Der Putz, das Ballkleid, ein paar Sprachen, damit mußten sie starten. Ganz ungeschmückten Geistes mußten sie es schaffen: Schiffbrüchige, falls sie keinen Mann erjagten. So hatten ihre Mütter sie erzogen. Sie hatten Sorgen, statt der Kenntnisse, diese Kinder. Noch von erster Jugend umwoben, umwitterte sie schon das Bangen. Lang im voraus waren ihre Herzen von einer selben uneingestandenen Panik beschwert, die eine Art Leidensgenossinnen aus ihnen schuf, sie trennte und verband zugleich. Nur Prinzeß Walpurga ließ sich dumpf und fatalistisch treiben, denn sie konnte doch nichts dazu.
Was stellte nun Lori Mattrei so abseits? Auch sie war ziemlich ungebildet, ihre geistigen Interessen nicht der Rede wert. Aber Mattreis gehörten zu den wenigen Familien des Bayrischen Adels, welchen die geistige Distinktion noch nicht abhanden gekommen war. Der Vater eine ritterliche Natur, die Mutter Jahre hindurch als die schönste Frau am Münchner Hofe bekannt, aber nur bei großen Empfängen sichtbar und in ihrem Umgang auf die Familie beschränkt. So blieb diese außer Bereich des Klatsches und jener eigenartigen Vergröberung, die, seitdem sich Constantin mit Helga Lucius statt mit einer Wiener oder hiesigen Komteß vermählt hatte, immer stärker um sich griff, wie alles, was abwärts strebt. Zenaidens Grenadierfüße und ihre Gewöhnlichkeit stachen nur noch äußerlich ab. In Wirklichkeit war sie längst ein Exponent ihrer Kreise. Junge Bayernsöhne, die ihre Laufbahn über die Landesgrenzen hinausgeführt hatte, konnten es in der Stickluft speziell der Münchner »Großen Welt« nicht mehr aushalten und strebten schnell wieder ins Weite. Abendliche Häuser waren es in der Tat und für den Abbruch reif, welche da ihre Töchter aussandten, sich einen Mann zu ertanzen, und diese ahnten nicht, wie balde sie einer völlig veränderten Welt gegenüberstehen, Gefangenen gleich, zwar die Tore offen, sich aber im ersten Schrecken dennoch verloren glauben würden, um dann zwar nicht länger gehegt, sondern vielfach zur Arbeit gezwungen, als Stenotypistinnen, Gutssekretärinnen weit größere Möglichkeiten des Glückes und der Freiheit zu finden.
Was der Unbildung der Münchner »Gesellschaft« während der letzten Jahrzehnte so besonderen Vorschub leistete, war, daß ein intellektueller Tiefstand voll Behagen gewährt, geistige Strömungen dagegen mit breiter, behäbiger Ironie in Bausch und Bogen abgelehnt wurden und man sich auf diese Ablehnung sogar etwas zugute tat. Sie war wie Zenaidens Französisch herrlich bequem und entsprach einer nicht etwa an sich größeren Dummheit dieser Gesellschaft, wohl aber ihrer ungleich größeren Trägheit. Wie von Dornen und Gestrüpp war sie von ihrer Ahnungslosigkeit umwuchert. Man hatte seine eigne Belletristik, die Mütter lasen den Freiherrn von Ompteda, die Töchter die Freifrau von Brakel, die Väter interessierten sich allenfalls für die Errungenschaften der Technik, besonders, wo sie der Landwirtschaft förderlich waren, dazu noch die Lokalblätter: geistige Nahrung im Überfluß. Im übrigen läßt sich mit dem Dünkel lang haushalten. Jargon und Genäsel der Damen machte sie weithin erkennbar. Ein Dichter? was war das? Sehr was Komisches. Der Gelegenheitsdichter hatte es schon besser. Auf den Hof- und Prinzenbällen, auf welchen, der Tradition gemäß, Träger der Kunst und Wissenschaft geladen waren, starrte man sie mit unverhohlener Fremdheit an und nahm bald voreinander Reißaus. Dafür fand sich immer ein williger Studienrat vom Lande, mit dem man sich salvierte, den man gelten ließ wie einen Widerspruch und herumreichte. Im ganzen, wie ungeistig es war, ein tolles Ensemble, bei dem etwas sehr Merkwürdiges sich herausschälte: der etwas Klügere nämlich galt gemeinhin als der Dümmere, und der Dümmere machte sich über den etwas Klügeren als den Dümmeren lustig. »Er hat es auf der Lunge«, war dann eine beliebte Redensart, und man deutete dabei auf die Stirne. Ganz trostlos war es um Leute wie Legationsrat von Pergler bestellt. Es gab Ausnahmen, aber so war die Majorität, der Block. Ihm gegenüber ließ sich der Hochmut der Standesherren aus; diese hätten am liebsten die kleinen Barone wie Vasallen herumkommandiert und gaben ihnen überall zu verstehen, daß ihr Adel nichts weiter sei wie eine Lumperei; die Reichsgrafen und Reichsfreiherren, wie Mattreis, bildeten den Übergang. Auf ihre Kosten kamen übrigens alle: nannte der Hochadel den Kleinadel den Schnudel, so hielt sich der Kleinadel gegenüber dem Nichtadel schadlos, und der Dünkel machte die Runde wie eine Schüssel.
Es gab freilich einige Familien mit ausländischem Einschlag oder deren Oberhäupter Minister waren. Aber diese hielten sich an der Peripherie des Karussells und drehten nicht eigentlich mit. Vor allem die Ministertöchter wurden von Paulinchen Kummerfeld gerne zur demimonde gezählt, falls ihre Väter, was ja aus guten Gründen des öfteren vorkam, Müller oder Meier hießen. Da war auch eine verwitwete Rittergutsbesitzerin, Tochter eines bekannten Reichstagsabgeordneten, Mutter begabter Söhne und Schwester eines großen Künstlers. Sie spielte nicht die geringste Rolle. Ungewöhnlich klug, brillierte sie daheim.
»La pauvre«, sagte Zenaide von ihr.
Da waren vor allen Dingen die vier hochoriginellen Grafen Bland del Nero, mittleren Jahrgangs, alle unverheiratet bis auf einen, und ihre Schwester Antonie Bland del Nero, Dina genannt, Leute von fast überspitzter Verfeinerung, ein aussterbender Stamm, alle vorfrüh dem Herzschlag geweiht. Einer der Brüder stand im Reichsdienst als Diplomat; zu ihm fuhren dann die drei anderen mit Antonie auf Besuch, wo er weilte, in Tokio oder Washington, immer zusammen soviel als möglich, immer mit Weile, das Wort Eile kannten sie nicht; sie wären langsam aus einem brennenden Hause hervorgetreten. Jede Silbe einzeln skandierend, brachten sie die komischsten Äußerungen hervor, ohne je selber zu lachen, höchstens die Münder verziehend — Antonie war ein Unikum. Mit ihr, wie es schien, hatte sich die Natur ein Probestück ausgedacht, und diese pflegt in solchen Fällen nicht zu pfuschen, sie läßt sich Zeit, bis sie ihr Material zusammenhat. Dann erst geht sie zu Werk.
Antonie war nie hübsch gewesen. Manche wollten sich erinnern, daß, bevor die blaurote Gesichtsfarbe der Familie auch bei ihr festsaß, ihr Teint zart und ihr Haar, das jetzt in grauen Strähnen sich immer wieder losmachte, von einem schönen Blond gewesen sei. Sie war groß mit einer kurzen, gedrungenen Taille, vollbusig mit dicken Armen und wie zusammengerollten roten, runden, vernachlässigten Händen. Ihre langen Kleider fegten den Straßenstaub hinter ihr her, und staubig wie deren Saum waren ihre teuren, aber ungebürsteten Hüte. Sie saßen schief wie ihre Frisur. Das Gesicht war aufgeworfen, mit ungleichen und gleichsam holprigen Wangen, darauf eine hohe Puderschicht kreisrund aufgetragen unverteilt den Abdruck der Quaste zurückhielt. Alles dies wäre nicht der Erwähnung wert. Jede Stadt hat ihren Prozentsatz von Karikaturen. Interessant war nur, daß bei einem solchen Äußeren Antonie vielleicht die größte Dame des Kontinents, ja daß eine größere Dame wie Antonie nicht denkbar war. Interessant war es auch zu sehen, wie die gefeierte Fürstin Wenk, für welche das Wort rassig oder hoheitsvoll unaufhörlich in Gebrauch trat, deren Kopf wie eigens gedrechselt schien, um Diademe zu tragen, figürlich gesprochen, sogleich ein paar Courschleppen weit zurückversetzt wurde, theaterhaft, konventionell, versnobt wirkte, sobald die schüchterne und groteske Antonie in ihre Nähe kam. Diese nur verband mit einer wohltuenden Vollendung der Manieren einen ebenso außerordentlichen Geist und jene Kenntnis der Welt, jenen Einblick in ihr Räderwerk und das Spiel ihrer Kräfte, der nicht ohne Pessimismus geht. Aber nicht ihr seltener Wert, ihr Urteil, nur die Tatsache, daß sie mit ein paar Herzogfamilien in England und Italien verwandt war, imponierte ihren Standesgenossen und hielt deren Spott in Schach. Niemand hänselte Antonie, niemand duzte sie. Sogar unter den Geschwistern waltete das größte Dekorum bei aller Unzertrennlichkeit. Gesellschaftlich aber legten sie sich nicht den geringsten Zwang auf, zeigten sich hin und wieder, auf Diners bei Gesandtschaften oder wo es ihnen gerade beliebte. Antonie aber hielt einen Chef, ihre Tafel war fast höfisch aufgemacht. Es gab da Gurkensalätchen in einer Rahmzubereitung nach Rezepten, die man nur in Rom, Gerichte, die man nur in ein paar Pariser Häusern kannte, kleine ausgefallene Sachen, welche ihre Tafel immer festlich gestalteten und der Gleichgültigkeit enthoben. Alter roter Damast aus Genua war die Dominante in Antoniens Salon. Er ließ sie um nichts blässer erscheinen. Ihre wundervolle Bibliothek wurde ständig von neuesten Werken ergänzt; den leichten wie den ernstesten. Antoniens Spezialfach war die Geschichte, doch ihr Lebenselixier war die Musik. Hatte Antonie je geliebt? Sicher war sie ungeliebt geblieben. Überlegenheit und Ausgleich ihres Wesens konnten nicht Attribute ihrer Jugendjahre gewesen sein. So mochte der Mann, auf den sie ihr Augenmerk richtete, sie wohl übersehen haben, und sie war keine, die fürlieb nahm. Mit Ausnahme des Glückes jedoch gab es keine Freuden und Genüsse, die ihr verweigert blieben. In Ermangelung einer joie de vivre war eine sehr zureichende raison de vivre ihr sicherster Anteil Jahr um Jahr. Aber ein wortkarges, ja verächtliches Hinnehmen der Zufälle des Schicksals, zu schlecht, um sie zu erörtern, ein Ungesagtlassen aller Dinge des Gefühles war ein Kodex der Familie. In dem Winter, den Constantin nach langen Zeiten wieder in München verbrachte, hatte Antonie schon die ganze Welt bereist, von ihren vier Brüdern aber lebte nur noch einer: Julian Bland del Nero, Lian genannt. Er sprach am langsamsten und verzog den Mund am wenigsten, wenn andere über die Dinge lachten, die er sagte. So selten er sich zeigte, erschien er doch jährlich zum Georgiritterfest. In seiner hellblauen und silbernen Tracht trat er dann hochroten Gesichtes aus seinem Palais hervor, das der Residenz zu nahe lag, als daß bei schönem Wetter das Fahren sich gelohnt hätte. Sondern mit unbeweglicher Miene stelzte er in diesem Kostüm quer über die Straße, gefolgt, umringt, umwiehert von allen herbeieilenden Gassenbuben der Umgegend. Er war der Lieblingsbruder Antoniens. Sie stand gefaßt, ihn zu verlieren; sie war die jüngste. Vielleicht zog eine von Angst nicht freie Zuneigung sie zu Daphne hin, deren Vater ihr Spielgefährte gewesen war. Ihr gegenüber trat sie aus ihrer sonstigen Zurückhaltung heraus. Nur ihr zuliebe war sie heute bei Mattreis erschienen, die sie ganz und gar nicht interessierten. Und statt des möglichen Freiers, dessen Eintreten Thecla Schlag im Berg, Resi Vogt, Lucy Schlingen und Paulinchen Kummerfeld erhofften, war nur sie es, die jetzt unter die Türe trat, um nach Daphne zu sehen. Aber diese schien ganz in Loris Anblick vertieft. Franz hatte sich jetzt zu den beiden gesellt. Schnell zog sich die scheue Antonie da zurück und fuhr allein nach Hause.
Doch wir fragten schon: was stellte Lori so abseits, und blieben die Antwort schuldig.
Nicht mit den trunkenen Augen des jungen Herbst, sondern ganz unvoreingenommen wollen wir Lori Mattrei ins Auge fassen. Merkwürdig ist es gewiß, daß bei einem so ahnungslosen, so beziehungsarmen und, wenn auch gewiß nicht geistlosen, so doch ungeistigen Mädchen eine derartige Poesie, eine derartige Vollwertigkeit, eine so unbedingte Überlegenheit sich ergab. Welch unsichtbare Krone hob dieses Köpfchen, das nur dem oberflächlichsten Betrachter kitschig erscheinen konnte? Was umfloß dies Figürchen mit einer tieferen Anmut vielleicht als die verfeinerte und so viel bedeutendere Daphne? Mit dieser war ein Zweck erfüllt, sie selber gleichsam in schonungslose Helle gerückt, als gebe die Natur sie wieder preis. Dagegen schienen Loris Wege seltsam eingeschleiert, geheimnisvolle Kräfte stärker in ihr als in Daphne interessiert. Sie war Verheißung, sie war wichtiger. Eine kleine Stammutter war Lori, seltsam unsündhaft. Ihre Kinder waren nicht gedacht, das Wirrsal hienieden zu fördern. Der schuldlosen Helga war es nicht erspart geblieben, auch finsteren Gewalten Tribut zu zahlen. Doch davon später. Die junge Lori aber stand mit einem seltsamen Freibrief ausgestattet, ihm dankte sie den Zauber, der stark wie das Böse, stärker noch, gerade an die Männer appellierte. Niemand, auch nicht Daphne, kam ihr gleich in ihrer instinktiven Meisterschaft, die Menschen zu behandeln. Wie die beiden einander gegenübersaßen, ein Bein lang ausgestreckt, das andere etwas zurückgebogen, gemahnten sie an die zwei anderen so viel wuchtigeren Gestalten des Grabmals der Medici: Tag und Nacht schienen auch sie zu verkörpern, und Lori war die nächtliche.
Auch in Daphne — und hierin glichen sie einander — war Schwächlichkeit ausgeschieden, nur bedurfte Lori weder Energie noch Aufschwung. Alles war ihr mitgegeben, nichts erlitten. Sondern Mächte des Guten spielten sich in ihre Hand; so vital, wir sagten’s schon, vitaler als ein Satansweib war Lori.
Eine fast amouröse Zuneigung hatte sich zwischen den beiden Mädchen aufgetan.
»Wir spielen Komödie«, sagte Lori, »und zwar im Residenz-Theater. Zu wohltätigen Zwecken. Ich gebe die Hauptrolle, aber es ist noch eine ganz ansehnliche frei, und du mußt sie übernehmen.«
In Daphne stieg ein Verdacht auf, was Loris Begabung für die Bretter anging. Und in der Tat war ihre Talentlosigkeit so katastrophal, daß sogar ihre zarte Gestalt nur mehr aus Ecken bestand, während sie sich auf der Bühne bewegte. Der französische Gesandte hatte sich zu der frevlerischen Äußerung hinreißen lassen: »Elle joue comme une cruche!«
Zudem war sie von einem Lampenfieber überfallen worden, das auch auf ihre Zunge übergriff. Als sie nun gar ihre gänzlich ungeschulte Stimme zu einer Arie: »Das Häslein saß im Gras« erheben sollte, entsetzte sie sich und — »das Häslein fraß den Kas«, zirpte sie bebend, wenn auch todesmutig durch das Haus. Ganz egal! Stellte sich, als der Vorhang über ihre Künste fiel, Loris Unwiderstehlichkeit nicht alsbald wieder her? War sie tags darauf minder berückend? Man hatte ihr auch heuer die Titelrolle angetragen, und ohne Zaudern willigte sie ein. Jetzt hatte sie doch schon Routine. So meinte sie. Und vor allem machten ihr die Proben, das bißchen unvermeidliche Ausgelassenheit, die hinter den Kulissen einriß, großen Spaß. Daphne, die ausgezeichnet spielte, erklärte sich zur Übernahme der Partie einer terza amorosa bereit. Franz war eine Portiersrolle zugefallen, bei welcher er Französisch zu radebrechen hatte. Keinen Tag gedachten ja die drei jungen Leute getrennt voneinander zu bleiben. Lori, sonst so aufmerksam, vernachlässigte heute ihre Gäste. Sie hatte das Eintreten Schonheims gar nicht bemerkt, der, im stillen nicht wenig aufgebracht, daß die Geschwister Herbst gar nicht bemerkten, wie empfindlich er sie schnitt, sich ausschließlich Resi widmete. An jenem Abend bei Menes hatte er irrtümlich Daphne mit einem Titel angeredet, und diese, im Beisein ihres Bruders, ließ ihn voll Ergötzen steigen, neugierig, ob nach der unvermeidlichen Aufklärung Schonheims Huldigungen sich nicht niedriger spannen würden; war er doch sehr rasch erkennbar als einer, der eine Baronin für eine Gräfin und eine Gräfin für eine Prinzessin stehenließ. Das Lächeln der Geschwister war ihm nachträglich nicht entgangen. Aber so oder so hatte Resi Vogt nichts mehr zu fürchten. Schonheim war kein Faust, der Gefahr lief, Helena in jedem Weibe zu erblicken, vielmehr hätte er seinen Georgiritter für die schöne Helena in eigner Person nicht preisgegeben, sofern ihre Mutter nur eine geborene Lucius gewesen wäre.
»Die Mutter war eine geborene Lucius.« — »Was für eine Lucius?« »Personne, ganz was Kleines. Keine geborene«, erzählten sich die Mütter in den angrenzenden Räumen, aus welchen manch neugierige Blicke nach dem aprikosenfarbenen Zimmer hinüberirrten. Zwar stand auch Franz die geborene Lucius zu, aber ihm wurde sie nicht gebucht. Er war eine zu gute Partie. Resi hatte unter einem Vorwand ihr Hütchen abgenommen, ihr Haar fing Funken, es strahlte mit ihr, denn Schonheim war die Rettung. Anders stand es ja mit ihr als mit Paulinchen Kummerfeld. Die besaß keine Schwestern, hatte gut lachen und keine Sorgen. Zwar ermangelte sie der Ahnen, wies aber einen Papa dafür auf, der sie alle aufwog. Als Herr Dengler nach Bayern zog, hatte er den Großgrundbesitz von Kummersfelden erworben: Wälder, Äcker und Gestüt. Den Namen Dengler ließ er fahren, und der von Kummerfeld wurde ihm ohne große Schwierigkeiten zuerkannt. Mit gutem Recht. Denn Ober- und Niederkummersfelden waren, dank seiner Fürsorge, zu Musterdörfern geworden, ja das ganze wellige Vorgebirgsland, das sie umgrenzte, blühte auf und lebte von ihm. So rückständig war die Münchener Hofgesellschaft mitnichten, daß sie nicht gewußt hätte, wo sie dem fortschrittlichen Geist Konzessionen machen und dessen Wind einfangen sollte und wo nicht. Dengler wurde, wenn auch nicht Freiherr, so doch Baron von Kummerfeld, sein Sohn Kammerjunker. Als ihm die Gattin starb, schätzte sich die uradelige, infolge ihrer Armut aber dem Schnudel angehörige Marietta Fronten nur zu glücklich, nach Verlauf des Trauerjahres Herrin auf Schloß Kummersfeld zu werden. Mit einem Erfolg sondergleichen nahm sie Paulinchens Erziehung in die Hand. Paulinchen ließ jeden einzelnen Strumpf, ihre Schuhsäcke sogar mit der wonnigen, siebenzackigen Krone besticken. Niemand hätte gewagt, in ihrer Gegenwart an den Namen Dengler auch nur zu rühren. Über jede Hoftrauer war sie beseligt, denn schwarze Kleider anlegen, wenn eine Prinzessin von Schaumburg-Lippe oder der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz verschied, das konnte nicht jede. Kurz, ein äffischeres Anhängsel des Münchener Hofes war nicht mehr denkbar.
Nur mit Paulinchens einzigem Bruder, dem jungen Gustl Kummerfeld, schlugen alle Versuche der Baronin, ihn zu versnobben, fehl. Sie nannte ihn Charley, aber er war nie da. Übrigens wurde ihm von seiten der Mütter, der Mädchen, der Damenwelt insgesamt, ob hoffähig oder nicht, die liebenswürdigste Nachsicht zuteil; sein großes Vermögen lieh ihm einen erotischen Zauber, und man fand ihn schön. Niemand würde ihn schön genannt haben ohne den Goldschein, in dem er ging. So aber hatten ein paar Rundtänze mit Lucy Schlingen genügt, um sie zu entflammen. Ehrlich liebeskrank war Lucy.
»Sie hat nicht nur nichts, sondern gar nichts!« hieß es von ihr.
Ach, Lucy war so arm, so kurz gehalten, daß sie nicht einmal eine Konsultation bei Frau Herzogenbuchsee zu erschwingen vermochte. Aber zum Glück hatte der »Spazierstock«, so nannte man das selbst noch recht junge Fräulein, welches auf Empfehlung der Klosterschwestern von Seligenthal als Begleiterin für die Spaziergänge der Münchener Komtessen herumgereicht wurde, zum Glück hatte ihr der Spazierstock eine billige Kartenschlägerin am Isartorplatz verraten, welche gegen sechs Eier und zwei Mark auf geradezu fabelhafte Weise auch ihr, ja fabelhafter noch als Frau Herzogenbuchsee, die Zukunft enthüllte. Mit schweren Skrupeln war Lucy letzten Samstag in Begleitung der mutmaßlichen Postulantin von Kloster Seligenthal, statt zur Beichte, behutsam die verlangten sechs frischen Eier tragend, in das Dachzimmer der Frau Waibert emporgestiegen. Es war mit farbenfrohen Bildern aus Zeitschriften austapeziert, und ein Riesenkater saß auf dem Tisch. Sechs Eier und zwei Mark, vielleicht auch drei, mehr beanspruchte Frau Waibert nicht, obligat waren nur die Eier. Sie zerschlug sie, hob das Klare von ihnen ab, welches sie in einem mit Wasser angefüllten Glase versenkte. War es nun, daß Frau Waiberts enge Stube, die auch eine untapezierte rauchige Ecke und einen Herd besaß, Lucy an eine Almhütte erinnerte, oder sonst eine Ideenassoziation, jedenfalls ließ sie, mit einem Blick auf die in einem Schüsselchen angesammelten Eidotter, die familiär gemeinte, aber unglückliche Äußerung fallen:
»Das gibt dann einen feinen Schmarren!«
Solche Anbiederungen brachten Frau Waibert aus der Stimmung. Ihr Mund verzog sich, ihr Kopf wurde dabei rund und erbost, so daß er selber dem eines haarigen und sprungbereiten Katers glich.
»Nichts da«, schnappte sie die junge Kundin an, »das frißt die Miez. Ich tät’ mit die Eier allen Kummer und alle Sorgen hineinessen von dem, wo sie mir bringt. Ich tät’ mich bedanken.«
Das Eiweiß stieg und senkte sich indessen im Glase, zog Fäden und breitete sich aus.
»Uranus steht im Zwist mit der Venus, da ist vorderhand nix zu wollen«, grollte Frau Waibert. »Warten’s an Augenblick, da kommt der Jupiter. Er ist ein Freund des Löwen. Die Fische aber widersetzen sich; die sind mit dem Saturn im Bund. Schwere Pein kommt nicht allein.«
Lucys Kehle schnürte sich immer enger zu. Jedoch Frau Waiberts Herz war nicht aus Stein. Sie ließ dem Himmel im Glase Zeit und Raum zu seiner Konstellierung.
»Mond steht zur Sonne, sie bringen Wonne«, gab sie kund. Lucy war aufgesprungen, öffnete fieberhaft ihr Täschchen und entnahm ihm drei Mark. In ihrer Angst, die Aspekte des Eiweißfirmeaments könnten sich wieder verdunkeln:
»Man wartet unten auf mich, ich kann nicht bleiben«, sagte sie.
Aber Frau Waibert verwies ihr stirnrunzelnd die unziemliche Eile.
»Des haben die Stern net gern. I bin no net fertig«, sagte sie. Lucy stand gebannt.
»Mond und Sonn’ gehn mitanand, tapfer hält das Glück jetzt stand. Silber und Gold sind beide dir hold.«
Um drei Mark und sechs Eier entließ sie keinen Kunden ohne ausgiebigen Trost, —
Vorerst galt es jedoch offenbar, die Schwere-Pein-kommt-nicht-allein-Phase zu überstehen, denn schon seit zehn Tagen ließ Gustl Kummerfeld sich nirgends blicken. Er veranstaltete mit den Zeichnern vom Simplizissimus Schlittenfahrten ins Gebirge und ließ Champagner auf natürlichem Eise kälten zu Ehren seiner neuesten Freundin Irma Salvini aus der Bonbonnière. Wenn auch mitnichten schön, war er ein höchst drolliger, origineller Junge. Während Lucy vergeblich sein Kommen erhoffte, gab er eben jene Gesellschaft, in der sie seiner harrte, unter dem Gejohle seiner Zuhörer zum besten. Er schilderte auch das Leben auf Schloß Kummerfeld, die achtzehn Badezimmer, und wie es auf den Gängen von allen Seiten »schamlos rauschte«, sowie die »Faxen« seiner Stiefmutter, auf die er erbittert war, denn er schämte sich seiner Schwester.
»Wo sind die schönen Zeiten hin, wo wir zu Hause den Fisch noch mit dem Messer aßen!« rief er.
»Zu guter Letzt wirst du doch eine von dort heiraten«, sagte Irma Salvini, die ja genau dasselbe mit ihm im Schilde führte, was die arme Lucy ersehnte. Aber Gustl wollte von Ehe und Langeweile nichts hören, nur von Späßen und von Saus und Braus. Das Leben war ein fortgesetzter Ulk für Gustl Kummerfeld und ein unerschöpfliches Thema die Münchener Hofgesellschaft, besonders deren sogenannter Schnudel.
Der Artung nach hätte der junge Herbst sehr wohl zu ihm gepaßt, wäre er nicht Loris Reizen verfallen gewesen. Er verschlingt sie mit seinen blauen Seefahrerblicken. Noch immer sitzt sie auf dem kleinen Sofa Daphne zugewandt, wir haben uns weit von ihr entfernt. Es ist spät geworden. Der große Salon, welcher die ganze Front des Hauses entlangläuft und dessen Fensterreihe man so beharrlich vom See aus leuchten sieht, ist schon fast leer. Die Familienporträts, die alten silbernen Appliquen sind nicht länger zurückgedrängt von den Besuchern, deren Reden, dem hin und her schwirrenden Geschwätz, sondern heben sich von neuem ab, der Wurf der seidenen Gardinen und selbst die langen Fenster, die mit ihrem entlehnten Licht dem Englischen Garten zustrahlen, leben auch nach innen wieder auf.
Die Baronin Mattrei ist abgespannt und verhehlt es nicht. Aber Notburga Vogt hat nicht den Mut, das aprikosenfarbene Boudoir zu betreten und Resi in ihrem Gespräch mit Schonheim zu unterbrechen. Längst wurde Prinzeß Walpurga von ihrer Hofdame fortgeschafft und Paulinchen von ihrer feinen Stiefmutter geholt. Beide nahmen Lucy Schlingen mit, um sie zu Hause abzusetzen. Die Diplomatenlehrlinge sowie der Leutnant haben sich empfohlen, die Stunde ist nicht mehr gesittet. Daphne möchte gehen.
»Dürfen wir die beiden stören«, flüsterte sie Lori zu.
»Nein«, entschied diese. »Ich muß euch mein Porträt zeigen«, fährt sie fort und führt die Geschwister in ein anderes Zimmer.
»Du bist müde«, sagte sie zu ihrer Mutter und zu Notburga, »laß uns doch Resi für den Abend, wegen ihres Kostüms wäre noch so viel zu bereden.« Resi sollte in dem Wohltätigkeitsfest einen spanischen Tanz aufführen, echte Schale gab es hier im Hause zur Genüge.
So verließ die fügsame Notburga mit Daphne und Franz das Mattreische Palais. Die Luft war köstlich, sie gingen zu Fuß. Ein feiner Schnee lag auf den Straßen. Aber Franz war wie vom Fieber geschüttelt. Er hörte nicht, was Notburga und Daphne zusammen sprachen; Lori, so wollte ihm dünken, machte sich nur wenig aus ihm und wendete sich ab, oder dies oder jenes hatte ihr Mißfallen erregt. Er zerbrach sich den Kopf nach einem Vorwand, um sie dann gleich anzurufen, und hatte ihn noch nicht gefunden. Da er nach Hause wollte, machten Daphne und Notburga den kleinen Umweg bis zu seiner Tür. Er wohnte um die Ecke am Karolinenplatz, der weiß überstreut und festlich schimmerte. Wie etwas Junges, Lebendiges, Freudiges glitzerte der Schnee von den Laternen, zierte die Dächer, umschmeichelte die Erde: Frühschnee war es noch, die Atmosphäre kristallen rein, zur Kälte noch nicht verhärtet. Notburga gedachte in Sorge und Hoffnung ihrer Tochter. Es war erstaunlich, wieviel innere Jugend bei so wenig Herzensglück sie sich bewahrt hatte. Sie ließ sich jetzt von Daphne zu einem späten Besuch bei Constantin überreden, den sie nach all den Jahren zum ersten Male wiedersehen sollte, aber — einmal muß es sein, sagte sie sich. Daphne wußte nichts von dieser Jugendliebe ihres Vaters.
Constantin hatte Stimmen vernommen. Er stand im Begriffe, die Bilder an den Wänden zurechtzurücken.
»Sie hängen alle schief«, sagte er und wandte sich um, bereit, sie zu fragen: »Nun, wie war’s?« Er besuchte selber nie einen Jour, ließ sich aber von Daphne begierig alle Einzelheiten erzählen.
»Notburga!« rief er, und wie um sich zu fassen: »Sie bleiben!«
Etwas in seinem Ton trieb Daphne von dannen. Die beiden kannten sich offenbar gut. Ohne abzuwarten, ob Notburga zu Tisch blieb oder nicht, traf sie einige Anordnungen und ging in ihr Zimmer.
Sie machte kein Licht, sondern sah zum Hotel Regina hinüber. Carrys Fenster, ein paar Meter in der Luftlinie entfernt, waren erleuchtet. So hatten ihre Briefe ihn also versöhnt und zurückgeführt. Denn voll Ingrimm war er nach Vevey gefahren, als Daphne ihm eröffnete, vor Ostern mit ihrem Vater nicht sprechen zu wollen. Und wie sehr hatte sie ihn vermißt! Freute sie sich ganz ebensosehr, ihn zurück zu wissen, als sie ihn vermißt hatte? Er ist wieder hier, dachte sie ruhig und hob das Hörrohr ab. Ihr Zweifel aber beruhte auf einer Täuschung; denn das Entscheidende ist die Schwere, mit welcher eine Trennung oder ein Verlust uns trifft.
»Carry«, klang ihre Stimme sanft zu ihm hinüber.
Er hatte dies Zimmer, dessen Scheiben geradewegs zu den ihren hinübersahen, auf ein Halbjahr gemietet, um nicht Gefahr zu laufen, auch nur für einen Tag es einzubüßen. Die Beiden hatten ihre kleinen Lichtsignale. Er sah das Kopfende von Daphnes Najadenbett, der Apparat stand dicht bei, und bei offenen Fenstern konnten sie einander sehen und zuwinken, während sie zusammen sprachen.
Notre fruit défendu, nannten sie es.
Major von Dürr hatte sehr fehlgegriffen, als er Daphne eine wundertätige Madonna nannte. Viel eher zog Lori Mattrei ein bißchen wie eine Himmelskönigin (wenn auch nicht entfernt des siebenten Himmels) unverrückbar ihre Bahn.
Daphnes Blut hingegen hatte einen recht heidnischen Schuß. Das Gebot der Sittenstrenge trat für ihr Gutdünken mit der Häßlichkeit in Kraft. Dies alles vorerst nur theoretisch. Vorerst war es nur ihr Sinn, der schweifte. Sie konnte Carry nicht entbehren. Der Gedanke aber, ganz und gar auf immer sich nur auf ihn einzustellen, jagte ihr Innerstes in Flucht; Gebundenheiten lösten Schrecken in ihr aus. Ihr Leben lief so frei. Was immer sie begann, stand für den Vater nicht zur Diskussion. Scheu ist wohl die edelste Form des Vertrauens wie der Intimität innerhalb der Familie. Zwischen Constantin und Daphne war sie auf die äußerste Spitze getrieben.
Carry hatte sich an das Fenster gesetzt.
»Ich sehe Sie«, sagte er.
»Sie werden sich erkälten!« rief sie und hängte an. Aber eine Verabredung für den nächsten Morgen in der Pinakothek war schon getroffen.
Der so viel heftigere und gepeinigte Franz indes konnte das Trostwort von Loris Lippen noch nicht vernehmen. Vergebens suchte er immer von neuem sie zu erreichen. Baron Mattrei hielt sein Telephon zu einem längeren Gespräch in Beschlag, das die nächste Reichsratssitzung anging und unter allerlei Decknamen auf andere Mitglieder Bezug nahm. Lori ahnte nichts von den Stürmen, die ihre momentane Zerstreutheit angerichtet; sie war hocherfreut, denn Schonheim hatte sich erklärt. Als Braut war Resi aus dem aprikosenfarbenen Boudoir hervorgetreten. »Entronnen!« stand auf ihrem Gesicht zu lesen; Berechnung auch bei Schonheim. Er konnte Besseres nicht finden, Hübscheres nicht kriegen, Standesgemäßeres war gar nicht da.
Den Eltern Mattrei paßte jede Verlobung, wenn sie nur Lori noch bei sich behielten.
»Ob er mit Resi glücklich wird?« fragten sie nur.
»Es paßt doch alles vortrefflich! Was kann er schon groß glücklich werden, hohl wie er ist«, hatte Lori trocken erwidert. »Vogts aber werden jubeln allesamt. Ich gönn’ es der Notburga.« Damit ließ sie das Thema fallen.
Und mittlerweile schmückt sich Daphne vor dem großen dreiteiligen Spiegel ihres Schlafzimmers. Sie legt auch die langen, blitzenden Ohrringe ihrer Mutter an. Eitel, wir sagten es schon, ist an ihr nur das Gold und die natürliche Gelocktheit ihres Haares. Wir sehen mit ihr in den Spiegel. An wen gemahnt sie uns? An eine wundertätige Madonna nur sehr von fern; einer Venus von Lukas Cranach sieht sie gleich! Sie zieht jetzt einen Gürtel um ihre engen und so blanken Seiten und tritt zurück, die mordorierten Schühchen wollen ihr nicht zum Kleide passen, und sie holt ein Paar golddurchwirkte hervor, und nun sind es die Strümpfe, die sich nicht mehr eignen... Treten wir näher. Betrachten wir diese Füße, deren Gang so leicht und flüchtig ist und die noch eben so zierlich in ihren Hüllen staken. Wir sehen straffe, energische, aber nachdenkliche und gleichsam beschattete Füße. Man fragt sich, ob sie ein anderes Gewicht zu tragen vermöchten als das so leicht bestellte von Daphnes Körper. Sie verraten mehr Kraftaufwand denn Kraft. Und es ist, als kennten wir Daphne besser, seitdem wir diesen beseelten, aber bangen Fuß belauschten.
Sie glaubt sich verspätet, doch weder Constantin noch Notburga achten ihrer, als sie sich zu ihnen gesellen will. Sie drehen ihr den Rücken und plaudern. Nie hat sie ihren schweigsamen Vater so plaudern gesehen. Daphne zieht sich unbemerkt zurück und sucht ihr Zimmer noch einmal auf. Sie legt sich auf das Najadenbett und wendet den Kopf zum Fenster. Aber auch bei Carry drüben ist es jetzt dunkel. Wir lassen sie allein mit ihren Gedanken.
Und mittlerweile fällt der Schnee in den Bergen schon seit dem frühen Morgen. Nicht in dünnen Lagen spielerisch ausgebreitet, wie vorläufig noch in der Stadt, sondern in immer dichteren Massen und als senke sich der Himmel, den er verdunkelte, mit ihm herab. Sanft schwellen die Hügel, es runden sich die Felsen, es füllt sich das Gebirge. Rings um die wetterfesten Mauern eines Unterkunftshauses hoch über Garmisch ist er schon bis hinauf zu den Scheiben gestiegen, deren Licht nur mühsam durch das Gestöber blinzelt. Drinnen aber ist es hell. Da schallt Gelächter. Da gelangt nur zur Sprache, was Stoff dem Gelächter bietet. Seit gestern abend ist hier der Betrieb einzig auf die lustige Gesellschaft gestellt, die mit Gustl Kummerfeld heraufzog. Ein paar junge Stümperinnen vom Kabarett sind auch dabei; eine hübsche Tänzerin darunter, die nichts kann, und es erhöht die Lustbarkeit der Herren vom »Simpel«, daß sie die Prüde spielt. Was Gustls Beziehungen zu seiner neuen Freundin aus der Bonbonnière angeht, so sind sie über alle Präliminarien längst hinaus — auch hier gibt es Kilometerfresser —, und nicht nur hat Irma Salvini ihn erhört, sondern ihm auch schon eine Bombenszene gemacht — eine Bonbonnièreszene nannte es einer in dem angrenzenden, nur durch eine dünne Holzwand abgetrennten Stübchen, in das sich alsbald die anderen drängten, um nichts von dem Spektakel zu verlieren. Die Dämchen geben sich heute sämtlich, wie sie sind, nachdem ihre Versuche, sich als Künstlerinnen aufzuspielen und über Kunst und l’art pour l’art zu reden, an der unbändigen Heiterkeit ihrer Kavaliere scheiterten. Gustl hat wieder viel Champagner heraufbefördern lassen, gespickte Gänse und eine Straßburger Pastete. Die Wirtsleute wundern sich über diese Stadtleute, die jetzt um drei Uhr morgens noch nicht schlafen gehen, dulden aber willig den so einträglichen Radau.
Allein draußen hat der Himmel ausgeschneit. Seine Bläue harrt nur der Frühe, um zu erstrahlen. Vollzählig blitzt die Sternenschar durch die windstille Luft. Noch ein paar Tage, und der Mond wird voll. Ein Strahl zittert zu den Zechern herein. Gustl reißt die Fenster auf. Vor dieser strahlenden Nacht ist ihm plötzlich Rausch und Weindunst in der niederen Stube verleidet.
»Den Hörnerschlitten!« ruft er.
Und kurz darauf fahren sie alle, vom Schnee, den sie aufwirbeln, schier erblindet, atemringend, aber zwischendrin immer wieder jauchzend, zu Tal. Denn von der Höhe hinabzusausen, wo Hütten und Häuser an der Erde haften, die Tiere, die Menschen und das Feuer sind und die Kirchtürme ragen, ist eine ähnliche Lust und Losgelöstheit, wie den Wolken entgegenzufliegen. Und wir, können wir unsere Sympathie der ausgelassenen kleinen Schar versagen? Und ist Gustl Kummerfelds Tollheit, ist sein Taumel so unbefugt? Warum sollte er sich nicht vergnügen und seine Jugend der Jagd nach den Genüssen weihen? Was steht dem entgegen? Alles wohl erwogen, eigentlich nichts, und er hat recht; oder sagen wir: er hätte recht, sie hätte recht, die Kreatur, wenn das Leben sie nicht Lügen strafte.
Der Vorschlag Aribert Zells, Weihnachten zusammen in Partenkirchen zu verbringen, erfolgte auf Franzls Drängen; um diese stillere Zeit ließ sich der Verkehr mit Mattreis in der Stadt nicht intimer gestalten, ohne neues Gerede zu veranlassen. Alle stimmten dem Plane bei, wider Erwarten auch Constantin, welcher die Natur im Winterkleide nicht liebte. Aber ihn lockte die Mitternachtmesse in der kleinen tausendjährigen Kirche, die abseits von Garmisch steht, sowie eine Fahrt nach Kloster Ettal und zu dessen Abt. Herzhafte Weihnachten feierte die Familie Herbst schon seit Constanzens Tode nicht mehr, vollends nach Helgas Dahinscheiden, auf Reisen, in Rom und ohne Franz unterschlug man sie, Christbaum wie Gaben; letzteren war besonders Lori abhold. Die Eltern Mattreis überboten sich gegenseitig, um sie mit Geschenken zu überhäufen, sie kam sich, während sie Freude und Staunen bezeigte, etwas albern vor, und der Abend zu dritt lastete im vornherein auf ihr wie ein Alp. Daß Carry nicht zurückblieb, Daphnes verwaistes Fenster im Auge, verstand sich von selbst. Man hatte in einem der stilleren Hotels bis zum ersten Januar gemietet, an welchem Tage die Damen Mattrei in München der Neujahrscour mit darauffolgendem Hofkonzert beiwohnen sollten... mußten, nannte man es.
Weihnachten lag nun zurück und war in der glücklichsten Weise verlaufen. Reichlicher Schnee und Vollmondnächte begünstigten Ausflüge und Fahrten. Franzls Hütte in Mittenwald stand gerüstet. Er wollte selbst den Kaffee und den Schmarren zubereiten. Schon des Morgens hatten sich die jungen Leute mit ihren Skiern aufgemacht, Lori in Kornblumenblau, Daphne in Zitronengelb wie mattes Gold, denn helle, aber einfarbige Sweater waren die Mode. Lori, unsportlich, aber süß, dankte Gott, als Franz ihr gegen vier Uhr endgültig die Schneeschuhe löste und sie die schmucke Stube betrat, mit dem offenen Herdfeuer, in dessen Schein sich geruhsam plaudern und so beschaulich lächeln ließ.
Daphne und Carry jedoch wurden noch lange nicht müde die Höhen dahinzusegeln, welche gegen Westen diesen merkwürdigen Ort überschneiden; ihr buckliger Boden, im Sommer grün und grasig, steht im milden Kontrast zu dem seltsam geisterhaften, stets etwas bedrohlichen, bei Unwetter furchtbar sich verfinsternden Karwendel, welcher den Charakter dieser Landschaft bestimmt. Wie sein Bruderberg in Lermoos erhebt auch er sich urplötzlich allein und ohne Übergang von einer tellerflachen Erde. Wie sein Bruderberg in Lermoos nur am Fuße von finsteren, aber beredten Waldungen umzogen, dann kerzengerade und kahl zum Himmel aufschießend, ungangbar selbst den Gemsen, allein mit Gott und der Natur. Dumpf wölben sich die Kuppen der meisten Berge. Als tote Schar zieht sich die Kette des Wettersteins hin.
Nur sehr wenig Berge gibt es, die von einem geheimnisvollen Leben umwittert scheinen und einer Zauberformel untertan, als würde, wer dieser mächtig wäre, ihre Pforten sprengen und ihrer Wunder kundig. Nichts außer dem terrassenförmigen und tollkühnen Absturz, den die Zugspitze dem Eibsee zu vollführt, am wenigsten ihr grauer, seelenloser Felsenvorbau, läßt etwas von der vielgliedrigen Fassade, die sich nach Süden aufrichtet, vermuten, mit dem finsteren Waldeskranz an ihren steilen Flanken, noch die tollen Melodien der Trauer und der Lust, welche an lauen Tagen oder unter einem weißlichen Himmel ihrem Gestein entströmen.
Durch Täler und Klüfte getrennt, aber in der Luftlinie nahe, sahen ihre Firne wohl zu dem Karwendel hin. Er stand jetzt im Feuer, und es loderte sein Schnee, Zwiesprache hielt er mit dem Äther, dieweil seine Schatten Signale mit der Dämmerung tauschten.
Carry und Daphne zogen wortlos bergan. Ihre Gemeinsamkeit war Fülle und Beseligung inmitten dieser herrlichen Natur. Carry ein geübter Läufer, der manche Turniere in Davos mit Ehren bestanden hatte und seinen Telemarkschwung mit großer Eleganz vollzog. Wie ein Stich von Chodowiecki nahm er sich dabei aus, aber die Klarheit seiner Umrisse spiegelte sein Inneres nicht. Als ein ziemlich direktionsloser junger Mann, geneigt, seine Gaben, seine Zeit zu verschleudern, sich von den Frauen verhätscheln zu lassen und sich in Zynismen zu ergehen, gefühllos, lieblos, ein wenig leblos fast, so hintreibend, war er vor nun zwei Jahren Daphne begegnet, die ihm Halt und Inhalt gegeben, seinen Ehrgeiz und sein Gefühl der Verantwortung weckte. In ihrer Ungeduld, von der nächsten Anhöhe noch einmal hinabzufliehen, war sie ihm jetzt vorausgeeilt. Aber gebannten Fußes blieb sie oben stehen. Der Mond war heute abend voll. Großmächtig ging er auf, da noch die Alpen von der Sonne glühten; mit jeder Minute verstärkte sich sein Schein, winterliche Dämmerung vermochte nicht um sich zu greifen. Schon fing sich der tödlich erblaßte Karwendel silbern, hingerissen, an dem neuen Glanz, der schnell auch Daphne umspann.
»Carry«, rief sie und breitete die Arme aus, als nähmen sie Besitz von Berg und Tal.
Aber diese Arme nahm da Carry für sich in Beschlag, mit festen Griffen schlang er sie um seinen Hals.
»Taut es endlich auf, dieses Herz?« sagte er.
Er hielt sie gefangen. Sie sah nur ihn, als sie aufblickte, und da sie lächelte, war er wiederum blind für ihre bedingte Hingabe, ihr halbes Widerstreben. Nicht: »Ich liebe dich«, sondern »Mein Gesicht ist so kalt« — und — »Diese Welt ist zu schön!« war ihr Ruf.
Aber Carry ließ sie nicht los. »Entzieh dich mir nicht, du mein Leben!«
Da verhehlte sie ihm das tief innere Versagen ihrer Natur.
»Nie!« gelobte, beteuerte sie.
Aber Daphnes kleine Füße, diese mutigen, aber bangen Füße, die wir schon kennen, drohten anzufrieren. Carry lud ihre Skier auf seine Schultern; auf ihn gestützt, betrat sie die Hütte, in der Franz und Lori ihrer warteten.
An Loris Finger funkelte ein unwahrscheinlicher Rubin. In einer modernen Fassung wäre er fast unförmlich erschienen. Aber die kunstvolle Ornamentik hob und milderte zugleich seine Pracht. Es war ein Ring aus der Renaissance; Constantin hatte ihn einst in Palermo aufgetrieben und Helgas Schätzen einverleibt, die Daphne nunmehr verwahrte. Immer gebefreudig, hatte sie ihn Franz überlassen, damit er ihn Lori beschere. Denn seit dem Weihnachtsabend waren die beiden, wenn auch nicht offiziell, verlobt. Lori hing am Herde wie am Rande eines Brunnens, der Reif feuerte sein Licht an ihrer Hand. Sie spielte mit ihm im Scheine der Flammen, den Kopf ein wenig gesenkt, und es schatteten ihre melancholischen Wimpern.
»Ein Riemenschneider!« rief Daphne.
»Wer ist das?« fragte Lori.
Den Blick, den Carry ihr zuwarf, fing Daphne nicht auf. Lori war selbst ein Kunstwerk. Brauchte ein Kunstwerk Kunstgeschichte zu treiben oder über sich selber zu dozieren? Franz war beschäftigt; stolz auf den Kaffee, den er kochte, und den Schmarren, der auf seiner Pfanne prasselte, kein Kaiserschmarren, ein Schmarren, wie die Sennerin ihn bratet auf der Alm.
Wie sie dann von ihren Zinntellern aßen, wie sie plauderten, wie Lori sich von Carry, der sie im Skilaufen unterwies, aufziehen ließ, weil sie nichts konnte, wie Franzl vor die Türe trat und jodelte, wie alle lachten, wie sich plötzlich herausstellte, daß auch ein Grammophon zum Inventar dieser Hütte gehörte, und wie sie darauf tanzten. Oh, welch einen Anblick boten diese vier! Gab es wirklich auch eine niederträchtige, verruchte und unglücksschwangere Welt? War sie die Norm? Entgleisten Züge? Mordeten Mensch und Tier?
Als sie talwärts zogen, nach Klais, wo der Schlitten ihrer wartete, rief Daphne:
»Aber mein Gott, es taut.«
Es taute nicht nur. Ein Föhn hatte sich erhoben. Warmen Hauches fuhr er von den Tiroler Bergen herauf.
In der Schnelligkeit, mit welcher sich der Mensch dem Glücke anpaßt, nimmt er es gerne als die Norm, indem er seiner habhaft wird, besinnt er sich nicht seiner Flüchtigkeit. Dem bis lange so gequälten Franz war jetzt zumute, als könne ihm nichts mehr geschehen. Selbst die Wartezeit, mit der er sich abfinden mußte — ein halbes Jahr, wenn nicht länger, wog nichts im Angesicht der Tatsache, daß Lori ihm versprochen war. Seine ungestüme Phantasie hatte ihn schon tausendmal vorweggenommen, jenen Tag, an welchem er das reichgeschmückte Schiff der Kirche mit ihr durchschreiten würde, er sah die Kerzen brennen im Tagesschein, die Schar der Anwesenden, sich selbst in blanker Uniform an der Seite einer solchen Braut und Daphne in nächster Nähe, sie, die stets die Zuflucht seines stürmischen Herzens gewesen war.
Daß Kinder eines so ausgefallenen Paares wie Helga und Constantin sich unter sich verwandter fühlten als mit ihren Eltern, lag auf der Hand.
Süden, Osten, Westen,
Daheim ist’s am besten!
lautete zwar immer noch Constantins Refrain, dennoch war sein Zuhause nicht seine Welt. Daphne und Franz hegten ihn wie einen jüngeren Bruder, gefragt wurde er nie.
War er ein scheuer Vater, so zeigte er sich seiner künftigen Schwiegertochter geradezu verschüchtert. Aber diese fand schnell den richtigen Ton, und Constantin fühlte sich wieder leicht und froh, weil niemand ihm zu nahe trat. Trotzdem waren ihm zwei Familien ein bißchen viel.
»Sind sie fort?« fragte er am Neujahrsmorgen, indem er seinen Kopf vorsichtig durch Daphnes Türe steckte. Denn Mattreis und Onkel Aribert hatten beschlossen, den Frühzug nach München zu nehmen, Franz sollte erst mit dem nächsten folgen. »Sind sie fort?« vergewisserte er sich.
Er stand schon fix und fertig zur Fahrt nach Ettal, und Daphne hatte versprochen, ihn zu begleiten. In ihre schiefe Position bei Hofe fand sie sich herzlich leicht. Sie war nicht vorgestellt. Constantin eine solche Ungelegenheit zuzumuten, schien nahezu undenkbar. Franz kanzelte ihn jetzt herab, weil er in seiner Ungeduld und Freude lang vor seinen Kindern, und dabei nur mit einem dünnen Mantel angetan, im Schlitten saß.
»Ein prachtvolles Wetter, geradezu heiß, macht schnell! Los!« sagte Constantin begeistert.
»Sie warten gefälligst«, rief Franz dem Kutscher zu, ging ins Haus und brachte einen Pelz. »Fertig!« befahl er dann; ließ aber nicht ab zu schelten, von prachtvoll heißer Lungenentzündung und sträflichem Leichtsinn zu reden. Constantin riß endlich die Geduld.
»Es sollte nur jemand hören«, brauste er auf, »in welchem Ton du zu deinem Vater sprichst.«
Da aber platzten beide Kinder belustigt aus.
»Du glaubst doch nicht selbst«, lachte Daphne und legte die Hand begütigend auf seinen Arm, »daß du ein Vater bist.«
Wer lehnte da vergnügter in seiner Wagenecke zurück und fuhr seelenfroher im Sonnenschein das lange Tal entlang als unser Constantin? Er wollte seinen Sohn zur Weiterfahrt nach Ettal überreden, als gäbe es seit heute mittag in München keine Lori. Franz, vom Eisenbahnfieber gepackt, zuckte die Achseln. In Oberau sah er den Zug schon stehen und sprang aus dem Schlitten. Dieser kehrte sich nun den zahlreichen Windungen zu, welche den Berg emporführen. Hoch und höher zog sich der Weg, das Gebirge im Auge, das sich immer freier von der Tiefe löste. Die Tannen strömten Harzdüfte aus, und wieder einmal hatten die ältesten Leute das Wort, die sich so lauer Lüfte im Herzen des Winters nicht entsannen. Die Kampenwand, eben noch schwer verschneit, stand in dunklem Kleide da, ungeschmolzener Schnee lag nur im Schatten und auf den Straßen, von den Abhängen jedoch fegte der Föhn sie herab; er tat seine Arbeit, heulte, blies, legte sich mit einem Ruck und schien wie trunken in die Erde zu fahren, erhob sich wieder um so lauter, weiten seufzenden Hauches. Der Himmel aber strahlte ungetrübt. Wohl trieben Schafwölkchen daher, die sich wie Amoretten tummelten und im Blau zerflossen. Denn golden und heiß spielte die Sonne auf den Kanten der Berge, deren Wände zwar an Schärfe gewannen und näher heranrückten. Seine Ferne behielt einzig der geisterhafte Karwendel, sommerlich auch er. Wie in Ekstase erblaßt leuchtete er am Rande des Horizontes.
Constantin, der sich nie gern von seinen Kindern trennte, bat Daphne, in Ettal über Nacht zu bleiben.
»Wir behalten dann den Schlitten«, sagte er.
»Der wird morgen alle Mühe haben, und wo unterkommen? Das Wetter kann nicht halten«, meinte sie zögernd, »ich wollte es ausnützen und morgen nach Graseck, um dort zu malen.«
»Doch nicht allein!« rief er aus.
»Carry Loon hat sich angeboten, mit mir zu gehen.« Es entstand eine Pause. Constantin dachte: Das gehört sich erst recht nicht, aber er sagte nur:
»Ist der noch nicht fort?«
Daphne schloß die Augen und überlegte: Die Atmosphäre des Klosters würde ihren Vater alsbald erfassen und von ihr ablenken. Seine Enttäuschung, wenn sie heute abend zurückfuhr, konnte nicht in Betracht kommen gegenüber Carrys Zorn und Verdruß, wenn sie bliebe. So stand ihr Entschluß fest, während sie ihr weißes Gesicht bescheinen und den Wind an ihren Haaren zausen ließ.
Aber gerade auf das Unerwartete mußte man bei Constantin gefaßt sein. Er ging plötzlich zum Angriff über:
»Du wirst mir das nicht antun, daß du diesen Lutheraner heiratest.«
»Er ist doch Hugenott«, gab Daphne mit gespielter Ruhe zurück.
»Das ist gehupft wie gesprungen!« rief er aus. Sollte sie die Wogen glätten, indem sie unverweilt Carrys Bereitschaft zu Konzessionen, ja Konversionen preisgab. Ihr Inneres sträubte sich dagegen, und sie schwieg.
Daß sie die Augen noch immer geschlossen hielt, verdroß ihn.
»Deine Gleichgültigkeit ist mir ein Gegenstand des Kummers«, sagte er.
Da blickte sie mit ihrem hellen, beherrschten Blick, der ihn immer beruhigte, zu ihm hin:
»Wir werden uns doch weder von Luther noch von sonstwem die schöne Fahrt verderben lassen.«
»Ja, welche Fahrt und welch ein Land!« sagte er, aber ein Schatten hatte seine frohe Stimmung getrübt.
Es war oft mühsam mit Constantin. Seit seiner Rückkehr in die Heimat ließ er sich von allen Strömungen des Partikularismus treiben. Bismarck nannte er nur mehr das »Porte malheur« und jeden reichsfreundlichen Minister einen Kriecher. Er sah die Welt von Partenkirchen aus, und von Partenkirchen aus, ja von München aus gesehen, hatte er ja recht, wenn er seinen Groll bis zum König Max zurückgehen ließ, der so viele »Katholikenfresser«, so nannte Constantin die Preußen, heranzog, und sich bis zum heutigen Tage grämte, daß man den Krieg von 66 an sie verlor. Auch jetzt erging er sich wieder infolge seines Unmutes in allerlei pessimistischen Erwägungen und hing ihnen sein »Finis Bavariae« an.
»Finis Bavariae«, sagte er, »und das dicke Ende kommt nach. Ich werde es nicht mehr erleben.«
Er irrte zwiefach. Das dicke Ende kam, aber anders und schneller, als er dachte, und er erlebte es. Und wohl verpreußten seine Bayern, aber auf eigne Faust. Auf wessen Schuld, wäre schwierig zu sagen.
Es lag zum Teil an ihrem Boden, den erdrosselten Sonnenuntergängen, den eskamotierten Fernblicken, wie Franz sie nannte. Von keinem Punkte dieses schönen, aber küstenfernen Landes aus sah man die Welt im geringsten sich wölben. Ihm entsprach nicht nur die Schmuckheit, der beschauliche Frohsinn und Humor seiner Bewohner. Zwar für ihre Bergespoesie, ihre jauchzende Luft, ihre Täler, die Lauterkeit ihrer Flüsse, für Schatten und Licht ihrer Klüfte besaßen sie ein Auge, und auch für ihre weißen Straßen, deren spannend träumerische Art, sich in die Wälder einzulassen, für dies Lauschende und Abgelegene ihrer Natur hatten sie ein Organ. Übersicht jedoch war ihnen nicht zu eigen. Wie hätte der Teufel nicht leichtes Spiel gehabt, sie zu verwirren? Was hätten sie gewußt? Weltpolitik, der Weltkrieg stieg ihnen zu Kopfe. Aber wir haben auch an einzelnen Menschen erlebt, daß hier ein Versagen und Nichtverstehen mit einem liebenswerten Grundzug ihres Wesens zusammenhängen konnte. Von ihren nächsten Stammesbrüdern, den Österreichern, abgesplittert, mit welchen ein selber Dialekt sie verband, um ihre Eigenart gebracht, aus ihr hinausgedrängt, gingen da die Bayern, nicht länger katholischer als der Papst, sondern preußischer als die Preußen, ja als die »Südpreußen« von ihnen verspottet, ins Zeug, um die letzten Brücken ihrer so eifersüchtig gewahrten Selbständigkeit geopfert zu sehen. Ihr störrischer, aber gänzlich unfähiger Partikularismus trat hell zutage. Wohl war es der Lauf der Welt, daß Bayern in einer größeren Gemeinschaft auf-, das heißt in seinem Falle unterging. Aber man darf mit Fug bedauern, daß ein so originelles und schönheitsliebendes Volk, von außen geschluckt, von innen genarrt, sich überdies zur Zielscheibe internationalen Gespöttes machte. Wer es kennt, der darf bedauern. Was? Ja, sie zog mit ihren blauen Kutschen und Livreen, ihren Oberhof- und Zeremonienmeistern und ihrem Hofjargon den Strom hinab — sie ist vergangen, aber sie war doch mehr als eine dralle Bilderbuch-Autokratie, und mit ihr ist auch ein sehr kunstsinniges und unaufdringliches, ein sehr unwilhelminisches, gar kein säbelrasselndes Königtum dahin.
»Finis Bavariae«, wiederholte Constantin, ohne zu ahnen, wie er ins Schwarze traf.
Zur Linken war jetzt der alte Ettaler Fahrweg zum Abgrund geworden. Gleich darauf hielt der Schlitten vor dem Kloster, und Constantin stieg aus. Im inneren Hof hatte sich eine Pforte geöffnet und ein hochgewachsener Mann — der Abt, wie Daphne vermutete — trat mit ungemeiner Würde seinem Gast entgegen.
»Es sollte obligat für einen Priester sein, so auszusehen«, dachte sie.
Doch nur im Fluge fing sie die Urbanität, das Dekorum des Empfanges auf, der ihrem ehrwürdigen, ihrem naiven Vater zuteil wurde, denn schon zogen die Pferde an, und sie fuhr weiter.
So frisch und verlockend lief hier oben die Straße, teils besonnt, teils im Schatten, weiter, daß Daphne sie alsbald zu verfolgen gedachte, aber schon vor der Ettaler Kirche ließ sie halten. Auf der Rückkehr würde es zu dunkel sein, sie zu betrachten, und es war unmöglich, sie beiseite zu lassen.
Dem Kranz des waldigen Gebirges ganz und gar verwandt, enthob sich die Kuppel den vorgeschobenen Quadern als ein Pol der Rast. Sie war ein und desselben Geistes wie dieses Tal, ernst und heiter zugleich, und selber ein Stück Landschaft. Ihr schweifendes, beredtes Rund wölbte sich nach innen über einen Thronsaal; einen Thronsaal mit Altären zwar, dessen Rampen, Gitter und Loggien jedoch den Pomp der Welt mit einbezogen, in der reichen Zierart seiner Wände ihn bejahten, ja ihn emporhoben in der Glorie seiner Orgel.
Daphne war allein, ungestört dem Brausen hingegeben, das auch ohne Sang, ohne Einsetzen der Geigen und Fortissimi den Bau erfüllte. Die Fenster, ein verstärkter Chor, atmeten den Zug der Wolken ein, und den Text des Liedes, den diese geschmückten Mauern aufrichteten, verstand Daphne wohl. Sie verweilte so lange, daß dem Aloys auf seinem Bock schon manch kräftiger Fluch entfahren war. Er hatte eines der schön bemalten Gasthäuser von Oberammergau für die Mittagspause auf sein Programm gesetzt, der Hausdiener war sein Spezl, und in der Küche waltete Censi, sein Schatz. Sie war schon seit gestern durch das Telephon verständigt, daß er mit einer feinen Herrschaft kommen würde. Und was es denn gäbe? hatte er gefragt. Und »Beff la Motte« mit Knödeln, hatte sie gesagt. Es war aber Zeit. Endlich stieß Daphne das Portal der Kirche auf und trat ins Freie. »Wir können auch in Ettal rasten«, schlug sie vor, seine Ungeduld spürend. Doch er trieb die Gäule auf der ebenen Straße an, daß sie flogen, und verwundert starrte Daphne auf die gelben Wiesenflächen, mitten in der Winterlandschaft, die, wie vom Lichte gebleicht, nicht dazu paßten. Und was für sonderbare Felsen zeigten sich da, gleichsam ausgehöhlt, als wäre die Luft hier oben eine Flut, die sie umspülte. Zu alten, uralten Kulissen hatte die Natur sie aufgestellt, und nichts fehlte, außer Schafherden an den Hängen, um eine rein biblische, ja neutestamentarische Gegend dem Auge vorzutäuschen. Reflexe einer weltfernen Zone sind dieser Ammergauer Straße auf ihrer rauhen Höhe zugetragen. Und plötzlich teilt sich das Gebirge, es tritt zurück, ein fingerdicker Fels wirft sich zum Sprecher des Ortes auf, und Oberammergau ist die Arena.
Weil irgendein Fest fiel, wehten blauweiße Fahnen von den Dächern, vom Winde hin und her geschlagen; der Schlitten klingelte durch das bunte, oberbayrische Dorf. Censi erspähte ihn zuerst.
Dank ihrer Fürsorge gab es noch Knödel, obwohl in letzter Stunde der Herr Kaplan einer benachbarten Pfarrei gegangen kam. Ihm war das Menü zum Glück nicht fein genug. Aber Knödelsuppe für Daphne. Sie zerteilt ihn mit ihrem Löffel, erst in zwei Teile, dann in kleinere. Sie sitzt vor ihrem Teller mit dem halben Lächeln, das wir schon kennen. Dem Kaplan wurde eine Biskuitsuppe, Forellen, Brathuhn mit Erbsen und gerösteten Kartoffeln und Kompott sowie ein mächtig großer Streuselkuchen in rascher Folge aufgetischt. »Viel zuviel für einen Seelsorger«, stellte sie fest. Und wie vorhin beim Anblick des Abtes oder Priors von Ettal: »Es sollte in diesem Stande obligat sein, so auszusehen«, dachte sie jetzt: »Es sollte diesem Stande verboten sein, so auszusehen.« Der Inhaber desselben hatte jetzt sein Mahl beendet, den Kaffee genommen, eine Zigarre angezündet und fing an, sich zu langweilen. Es war niemand in der Gaststube, mit dem er sich unterhalten konnte. Daphne saß am anderen Ende mit einer sehr unnahbaren Miene. So blieb nur Censi, die ihn bediente. Ihre Mutter war krank; er erkundigte sich nach ihrem Befinden, und Censi erwiderte, es sei »allawei glei«. Sie strebte nach der Küche, in welcher Aloys ihrer wartete; doch der Kaplan hielt sie mit der Ermahnung zurück, sie solle fleißig um eine Besserung beten; »’s hat nix gnützt«, erwiderte sie unbedacht. Dies war Wasser auf seine Gebetsmühle. »Wen Gott liebhat, den züchtigt er. Alle Prüfungen sind zum Heile unserer Seelen. Weißt du denn, was deiner Mutter frommt?« — »Is der Vater erst gstorben«, bockte Censi, »i mein, ’s wär gnua.« Was gab es da viel zu reden? Und da war Aloys, der Trost ihres Lebens, der in der Küche wartete und bald einspannen würde. Aber der geistliche Herr war im Zug: »Mein ist die Rache, spricht der Herr, und du willst gegen seinen unerschöpflichen Ratschluß, die ewige göttliche Langmut und Barmherzigkeit murren?« Censi erwiderte nichts und wollte gehen, er aber wollte, daß sie bliebe und noch mehr von seinem Zuspruch vernehme. »Du kannst gleich heute abend dein Gewissen erforschen und Reu’ und Leid erwecken. Ist dir bewußt, daß du im Zustand der Todsünde lebst? Wann bist du zum letztenmal bei der heiligen Beichte gewesen?« herrschte er sie an.
»Bitte zahlen«, klang Daphnes Stimme mit ungewohnter Schärfe herüber. Daraufhin verlangte er alsbald seine eigene Rechnung. Er mußte zuerst berücksichtigt werden. Es galt sein Prestige. Dann erst konnte Censi dem Rufe Daphnes folgen und sich entfernen. Sie kam nicht wieder.
Ein Blick schärfster Mißbilligung traf nunmehr die Urheberin des unziemlichen Zwischenrufes. Der Kaplan erhob sich, um zu gehen, und durchschritt den Raum. »Gelobt sei Jesus Christus«, wandte er sich ihr im Kommandotone zu.
Daphne blieb stumm. Keine Schergen hätten sie vermocht, ihm das Responsorium zu erstatten. Da drückte er entrüstet die Tür ins Schloß.
Auf dem Rückweg lag Ettal im beginnenden Dunkel, nur die Kirche war erleuchtet, Orgelklänge drangen bis an den Schlitten, aber Daphne stieg nicht mehr aus. Sie hatte für heute genug.
Was für Auswüchse geduldet wurden! — Die erste Reformation war mißglückt; warum schritt man nicht zu einer zweiten? — Ihre Undurchführbarkeit, weil ja die Vorbedingungen noch nicht geschaffen waren und der Reformator seine Reformation sowenig in der Hand hielte, wie der Revolutionär seine Revolution, solche Dinge bedachte sie nicht. Das Jahrzehnt unserer großen Erfahrungen stand noch aus.
Daphne hatte zwar ihre eigenen Gedanken. Aber diese Eigenschaft stellte sie nicht nur abseits, sie machte sie auch naiver als das Herdentier. Sie wußte nicht, daß die allerwenigsten Menschen ihren geistigen Bedarf aus persönlichen Ideengängen bestreiten. Schließlich hatte sie Helga gekannt, sie kannte Antonie, sie hatte in Carry einen Partner. Constantin, mit welchem eine Diskussion freilich nicht in Betracht kam, rückte gelegentlich mit originellen Bemerkungen heraus, der unintellektuelle Franzl war höchst kurzweilig, Constanze war ein Wunder gewesen. Wie gewisse Milliardärinnen, die keine Ahnung von der Armut haben, hatte Daphne wenig Fühlung mit der Wirklichkeit. Es muß hier vermerkt werden. Wie könnte der Leser ihr Schicksal sonst begreifen? Denn es naht. Trügerisch ist die Geschütztheit ihrer Bahn. Gehegt, von Liebe und Bewunderung umgeben und ungewöhnlich frei in ihrem Walten, hat sie wohl vom Tode, von der Gefährlichkeit des Lebens aber so gut wie gar nichts erfahren. Rasch trägt sie jetzt der Schlitten zwischen wehenden Tannen zu Tal. Gerührt und wie berauscht blickt sie, inmitten des Sturmes, zu einem ungetrübten Sternenhimmel empor. In schwere Pelze gehüllt, dennoch so leicht, so federleicht, überlegt sie ihren Tag und das Geschaute; die seltsame Landschaft, und mittendrin die stolze Abtei. Denn schöne Kirchen liebte sie, aber sie durften nicht düster sein. Die Wunder der Gotik ließen sie im Grunde kalt. Ihr Fall waren goldene Girlanden über Hochaltären, rote Baldachine, schwere seidene Quasten, gewundene Säulen, wie frohe Leuchter aufgerichtet, Pomp, Prunk, Parade der Schloßkirche zu Würzburg, Engel, die von Amoretten kaum zu unterscheiden waren, das in den Lüften den Wolken zuschwebende, die Grabesschatten fliehende Kreuz der Nepomukskirche zu München, ihre süßen Pförtchen, Fensterscheiben und Perspektiven, die galanten Beichtstühlchen und beim Portal der geflügelte kleine Seraph, hinter dem schaurigen Skelett sich bergend wie Gezwitscher im alten Gemäuer; überall Verschwiegenheit, Doppelsinn, verschleiertes Lächeln, Spott sogar..., ja, so unpuritanisch fiel hier das Licht. Die frühen Kirchen waren nur zu oft durch neues Glas und Restaurierungen entweiht, diese aber standen noch verschont, und sie griffen weiter vor. Sie waren unendlich vorgreifend, und war dies eine Haydn- oder Mozart- oder Beethovenmesse nicht auch? Und was ist die Zeit angesichts letzter Erfüllungen? Ja, hier war Entzücken, das sich nicht Ekstase nennen mochte, Dinge des Seins kamen wieder zu Atem, die fürchterliche Wörtlichkeit entsank, und das Profane, nicht nur tributär, sondern bejaht, erblühte zwiefach. Sollten die entgegengesetzten Dinge auf eine unformulierbare Weise sich zueinander verhalten, statt einander aufzuheben? Und konnte die Freiheit des Gedankens weit genug getrieben werden? Wer durfte das Recht des Glaubens beanspruchen, der dem anderen das Recht des Unglaubens bestritt?
Daphne, welche schroffsten Rationalismen gegenüber mit keiner Wimper zuckte, war nur im höchsten Grade reizbar und sofort dem Lager der Verneiner zugetrieben, Leuten wie dem Kaplan von heute mittag gegenüber, der seinerseits schlecht und recht eine Hexe in ihr gewittert hatte, derart sie einst vor Richterstühlen zur Verantwortung gezogen wurden. Und er war ganz von der Sorte, welche die Methode gebilligt hätte. Aber an den widerwärtigen Mann wollte sie jetzt nicht mehr denken, sondern der immer dichteren Nacht und der Heimkehr in ihrem windumrauschten Gefährt sich erfreuen.
Und mittlerweile nimmt die Neujahrscour und das anschließende Konzert in den Prunksälen der Residenz einen, wie auch der röteste »Sozi« zugeben müßte, imposanten Verlauf.
Pünktlich auf die Sekunde hat der Regent die Steinzimmer verlassen, um seine Gäste zu empfangen. Weil es sein muß. Denn sein Element ist die Jagd in den bayrischen Bergen, möglichst tief: bei St. Bartholomä am Königssee. Er liebt es auch, den Pudel zu Füßen, in seiner blauen Kalesche (Autos lehnt er zeitlebens ab, so daß auch die Prinzen ihrer entraten müssen) nach Nymphenburg zu fahren oder Maler in ihren Ateliers zu besuchen. Bei feierlichen Gelegenheiten jedoch läßt er der Etikette ihr volles Recht.
Es ist die spanische, die an seinem Hofe herrscht. Und daß alles klappt und nichts wider sie verstößt, dafür sorgt Zeremonienmeister Graf Immenegg-Clar, der die ganze bayrische »grand monde« an der Spitze seines Stabes hält. Sein Blick ist streng, die Schritte abgezirkelt, seine Gewandtheit ungeheuer. Für die Orden ohne Zahl wird sein Galarock in Bälde keinen Raum mehr bieten. Wundervoll sind die Spitzen seines grauen Schnurrbartes hinausgewichst. Er ist wie eine aus Scharlachrot, Gold und Seide zusammengenähte Figur aus dem Marionettentheater. Nur viel, viel schöner. Und lacht nicht: Er ist der Letzte.
Nach dem Regenten halten die Hoheiten Cercle. Die jüngsten Komtessen sind jetzt eingeführt, Onkel Aribert hat seinen Neffen vorgestellt, als Schlußeffekt vollzieht Paulinchen Kummerfeld an der Spitze ihrer feinen Stiefmama den weitaus tiefsten Knix.
Julian Bland del Nero hat das Ausbleiben Antoniens entschuldigt, und dem Regenten will es scheinen, daß er seine Sätze noch langsamer als sonst artikuliert. Er selbst reicht jetzt der rangältesten Prinzessin den Arm, um mit ihr den Ballsaal zu beschreiten. Der Hoffourier, dann Graf Immenegg-Clar klopfen dreimal mit ihrem Stabe auf die Spiegelfläche des Parketts, paarweise ziehen die Prinzen und Prinzessinnen, dann die Diplomaten, dann die Standesherren herein. Der Fürst von Reichersstetten hat nichts zu lachen, weit kommt er hinter seine Gemahlin Annunziata, einer geborenen Erzherzogin, zu gehen.
Und nun hat sich ein dritter Stab erhoben und das Orchester eingesetzt. Welch ungeteilter Aufmerksamkeit wäre es würdig, dies Konzert! Allein die Ablenkungen, welche die Uniform eines Bojaren und eines Prinzen von Georgien bereiten, sind zu mannigfach, der Schmuck mancher Damen zu aufregend, das Kleid der Herzogin von Vendôme, welche dies höfische Fest als Souvenir du bon vieux temps mitmachen wollte, zu interessant. Zenaide Waldmann bringt ihre langstielige Lorgnette nicht von ihren Augen weg, und Aribert Zell frönt wieder einmal einem geradezu besinnungslosen Hochmut. Den zwei Fingern, die er dem Schnudel zur Begrüßung entgegenhält, setzt dieser sich schon lange nicht mehr aus, und sein Dünkel ist um so größer, als er haltmacht nach Belieben. Von der Münchner Hofgesellschaft haben nur die allerwenigsten sein Speisezimmer gesehen, der Antiquar Isidor dagegen ist dort häufig sein Gast.
»Is alles gangen wie gschmiert«, berichtet der General der Hatschiere von La Vallée seiner zu Hause gebliebenen Generalin.
»Tout a marché comme sur des rouleaux«, telephoniert — sie hat jetzt ihr Telephon — Zenaide noch in selber Nacht an Notburga. Denn die Familie hat dem Feste nicht beigewohnt. Graf Vogt ist plötzlich schwer erkrankt.
Mitternacht ist vorüber.
Solange die aufreibenden Festlichkeiten währten, hat der Regent kein Zeichen von Müdigkeit gegeben, und der Rhythmus seiner Bewegungen ist von einer, wenn man so sagen darf, schlichten Grandezza geblieben. Aber stumm vor Erschöpfung läßt er sich jetzt entkleiden. Wie eine Decke wirft sich die Last der Jahre über ihn, und nur wenig Bilder ziehen noch durch sein Bewußtsein, bevor er einem Schlaf, der einem Abgrund gleicht, entsinkt. Er war es müde. Er hatte sie ausgekostet, alle Ehren des Monarchen. Frei von jeder Überheblichkeit stand er, und mit ihm seine Familie, nur jüngeren, wenn auch mächtigeren Dynastien voll Hochmut gegenüber; Hochmut kannte sie nur in geschlossenstem Kreise und innerhalb der Verwandtschaft; Nebenlinien gegenüber konnte er sehr barocke Ausbrüche finden. So war da eine seit Generationen entthronte Königin. Wohl verfügte sie sich zu den allerbescheidensten Tees: Ihre Base aber, die gutmütige Herzogin Leopoldine, die nur ihr zuliebe auch hinzukommen pflegte, hatte zuerst anzutreten. Unbedingt. »Ist die Leopoldin schon da?« lautete fast jedesmal die erste, fast ein wenig atemlose Frage der Königin.
Und so war auch der humane und liebenswürdige Regent ein strenger Chef des Hauses. Seine Urenkelinnen und Urgroßnichten saßen sorgenvoll in ihren hochgelegenen Zimmern, hinter ihren Doppelfenstern, vor welchen Gardinen und Vorhänge fielen und auch noch Blattwerk zu ranken liebte. Undenkbar für sie, bis zu Frau Herzogenbuchsee oder Frau Waibert sich zu stehlen; und ebenbürtige Ehen oder keine. Auch nur den Schatten eines Skandales hätte er mit Härte geahndet.
Liebte er es noch, sein Haus, das er konsolidiert zurückzulassen glaubte, oder beschlich Marasmus zuletzt auch dieses Gefühl? Wir schreiben hier nicht Geschichte, was hinter den Dingen steckt, betrifft uns stärker: Wir vordatieren das Fest. Seit einigen Jahren schon hat der Regent aufgehört, es zu geben. Er stürbe gern: Neunzig Jahre und mehr sind ihm zur Bürde geworden. Aber die Zahl 12, heißt es im Volke, wird sie erst von ihm heben: der 12. des 12. Monats 1912. Er naht. Indessen scheint in den Gemächern, in welchen er noch lebt, die Atmosphäre selber zu erstarren. Immer zeitiger können seine Lakaien sich zur Ruh’ begeben: weißhaarig auch sie. Denn neue Gesichter kann er nicht leiden. Nur unten in der Wachstube, die auf die Straße sieht, bleibt es hell. Dort sitzen ein paar junge Leutnants beisammen und führen muntere Gespräche. Ihr Lachen dringt in die Stille hinaus. Denn gleich hinter der Türe setzt sie schon ein, tiefer als die Sinne sie wahrnehmen können, und erfüllt den Palast. In morbider Unbewegtheit stehen die Höfe und lagert Dunkelheit, als hätte sie nichts mehr zu künden, als schatte sie schon die Öde des Vorbei; als gähnten hier schon gelangweilte Museumsdiener, als harrten sie schon, frierend, in ausgeräumten Zimmern, um sie dem Publikum zu zeigen.
Wir raten die Gesetze nicht, nach welchen der Strom des Lebens sich sein Bette gräbt oder es verläßt, hier versandet, dort blindlings neue Brandungen zurückwirft, wo er zu verebben drohte.
Die Jacke nur übergehängt, schritt Daphne an Carrys Seite der Partnach zu. Vorübergehende staunten über das zierliche Paar. Er hielt ihre Malgeräte, und eins berichtete dem anderen seinen gestrigen Tag, der bei Carry ziemlich ergebnislos verlaufen war, bis auf ein Zusammentreffen in der Konditorei Fischer mit den Herrn vom »Simpel«.
»Es ist doch schade, daß Sie nicht auf der Neujahrscour waren«, sagte Daphne, »ihr Schweizer seht so etwas nie, und wir konnten gestern doch nicht zusammensein.«
»Aber heute früh.« Er blickte um sich her. »Und was für ein Prachtwetter das wieder ist.«
Der Föhn war verstummt, doch die Sonne schien noch immer, sie leuchtete mit fast schwerem Glanz; der Mittag kündete sich heiß. Unter dem geborstenen Eis rannen die Bäche frühlingshaft. Schon gingen die Büsche in die Irre und setzten scheue Triebe an. Am Ende des Tales reckte der Daniel ein tiefblaues Haupt, man sah die Furchen mit freiem Auge. Erst in der Klamm wehte der eisige Hauch der Jahreszeit. Den nackten, schieferigen Felsen schlug von unten die kalte Dusche entgegen, oben, wo sie im Lichte sommerlich strahlten, schienen sie zu schwitzen.
Daphne und Carry begannen den Aufstieg. Oft eilte sie voran, dann wieder zog er mit einem Griff seiner Hand die Flügelleichte über mehrere Stufen zugleich und, ein und desselben Schwunges, verfänglich nahe an sein Herz. Es war noch früh, noch lange nicht elf, als die beiden, förmlich eingeblaut, die kleine Bergwiese erreichten, von welcher der Ausflugsort seinen Namen bezieht. Tische und Bänke standen im Freien, denn man erwartete Gäste.
Sie wählten den am weitesten hinausgerückten Platz. Zur Linken, ohne Übergang, ohne Vorberge nunmehr, drohte die Dreitorspitze herüber. Das Wettersteingebirge, von hier oben gesehen, riß sich mit phantastischem Schwunge empor, als dränge es nach Süden den Tiroler Alpen und Fernpässen zu; vom Reintal und von der blauen Gumpe strömte die Luft betäubend stark zu ihnen her, der Schachen träumte still für sich. Nach Norden zwischen den langsam abfallenden Bergen lief wie ein Riesenboulevard das breite Tal der Ebene zu, die sich im Dunste verlor.
Die Kellnerin im Dirndlkostüm hatte eine grobkörnige, aber schneeweiße Decke gebreitet und Servietten gelegt, dann trat sie wieder ins Haus. Von Zeit zu Zeit erdröhnten niedergehende Lawinen.
Carry hatte seine Zigarettendose geöffnet und hielt sie Daphne hin.
»Wir könnten heute einen Schritt weiter sein, wenn du gewollt hättest«, sagte er unvermittelt. Das »Sie« war unterwegs wieder einmal weggefallen, aber Carrys Stimmungen wechselten mitunter sehr jäh.
»Wie, was meinst du?« fragte sie errötend. Er warf ihr von der Seite einen Blick zu, beugte sich dann vor und gab ihr Feuer.
»Du hast gestern dem großen Kinde, deinem Vater, nichts von meiner bedingungslosen Bereitwilligkeit gesagt. Die Gelegenheit war günstig. Aus Furcht vor ihm kann’s nicht gewesen sein. Warum also?«
Seine Worte fielen sehr gelassen und klangen nur um so schneidender.
»Ich habe mich nicht gefürchtet«, sagte sie erbleichend, »sondern mich geniert.«
»Geniert? Worüber denn? Daß ich kein Kathole bin?«
»Das ist mir doch so gleichgültig«, sagte sie in ihrer Verwirrung, »aber du mußt verstehen...«
Im Grunde verstand er sehr wohl, aus seiner immerwährenden Ungeduld heraus wollte er es jedoch nicht wahr haben.
»Ich danke dir für deine Gleichgültigkeit«, erwiderte er.
Daphne fühlte, hier saß ein Stachel, und es oblag ihr, ihn zu bannen. Nur nicht jetzt! Zum Glück trat die kostümierte Kellnerin hervor. Sie brachte Wein. Daphne goß zwei Gläser bis an den Rand, stieß sie lächelnd gegeneinander und reichte ihm dann das eine hin. »Giftmischerin«, sagte er, doch ihr Blick entwaffnete ihn, und sie aßen in Frieden.
Graseck, so hart an den Felsen gelehnt, ließ nicht erraten, was sich jenseits desselben am Himmel begab. Dies erhöhte nur das Gefühl der Geschütztheit. Das Licht war gedämpft und schläfrig geworden. »Dort ist mein Stand«, seufzte Daphne und deutete auf zwei Tannen, die seitwärts vom Hause standen. »Freilich, es war Sommer, als ich ihn mir vor Jahren ausersah, aber wie habe ich mir ein Bild von hier oben in den Kopf gesetzt, und welchen Anlaufs bedarf es nun!« Sie erhob sich, er geleitete sie, half ihr die kleine Staffelei aufstellen, bog dann in den Wald und war entschwunden. Daphne faßte Licht und Landschaft ins Auge. Sie hörte Schritte, Rufe und Gelächter. Es waren die neuen Ausflügler wohl. Doch sie saß vor ihnen geborgen. Nicht lange, und sie nahm weder Stimmen noch Treiben im Hause wahr.
Unten war sie ein einziges Mal zum Malen gekommen, als sie eines Tages ausriß, einige Stationen weiterfuhr und sich absonderte. Dabei hatte sie das morgendliche Gewölk, den Zug der sich ineinanderschiebenden Berge, den Puls der Erde, der sich als ein Duft darüberlagerte, nicht übel gepackt, und es war eine melodische und talentierte Skizze geworden, wenn auch nicht mehr. Was sie aber heute fertigbrachte, war ein Bild. — Die zwei Flügel des wetterfesten Häuschens, mit seinen wenigen Fenstern, seinem Dach, seinem Gemäuer, das so trotzig und verlassen inmitten der Leere des Raumes stand, war auf dem kleinen Stück Leinwand so vortrefflich wiedergegeben, und es war so gekonnt, daß Daphne damit sich selber und ihre Kräfte überboten hatte. Stunden vergingen, ohne daß sie es merkte, und Carry war längst zurück. »Fertig!« rief sie ihm zu, als er sich endlich entschloß, sie zu stören. »Fertig!« Und sie sah mit angestrengten Augen zu ihm auf.
Auch er zeigte angestrengte Augen, doch nicht vom Schauen. Er betrachtete ihre Arbeit, er würdigte sie auch, aber für den gegenwärtigen Tumult seines Herzens wäre es ein Palliativ gewesen, wenn sie einen ausgemachten Schund verfertigt hätte.
»Recht heißer Kaffee wäre jetzt etwas Schönes«, meinte sie.
»Der wird sich gleich finden«, sagte er und half ihr zusammenpacken. »Nur die Gesellschaft hat ihre Haken. Es sind die Zeichner, die ich gestern kennenlernte, aber sie führen ein paar Freundinnen mit..., ob die gerade...«
»Charmant!« rief sie.
Er zögerte: »Ich weiß doch nicht recht...«
»Aber mach doch keine Geschichten«, und sie war schon unterwegs. »Doch müssen wir bald aufbrechen, ich gebe dir ein Zeichen«, sagte sie leise, denn schon näherten sie sich der Gruppe.
Die Herren waren aufgestanden. Nur Irma Salvini, die Prima Amorosa aus der Bonbonnière, blieb sitzen. Sie hatte von Daphne durch Gustl Kummerfeld gehört und verhehlte nun ihre Freude über die Bekanntschaft hinter einer eisigen Zurückhaltung. Daphne ließ sich gar nicht dadurch stören und plauderte über Irmas Kopf hinweg. Man betrachtete sie mit Neugierde; ein solcher Vogel war dem Kreise noch nicht zugeflogen; und nie hatte Carry diese leise Ausgelassenheit und Gefallsucht an ihr wahrgenommen; er war überrascht, als sie ihm dennoch bald das verabredete Zeichen gab. Sie nahm schnell Abschied, versprach jedoch auf den Kostümball der Allotria zu kommen. »Wir scheiden also nicht für immer«, sagte sie.
Nicht übel, kaum war sie außer Sicht, zog Irma Salvini über sie als ein »kokettes Luder« her, das mit seinem Verhältnis unverfroren herumzog. Denn daß Carry ihre »Amourschaft« war, sprang doch ins Auge. Die Kolleginnen dagegen äußerten sich entzückt, während die Herren schwiegen. Der eine, seine Pfeife rauchend, nannte Irma im stillen ein Stück, während ihr ein anderer heimlich rasche Blicke zuwarf und im Begriffe stand, in seinem Skizzenbuch eine schauderhafte Fratze von ihr zu entwerfen; da gelang es Irma, ihm das Blatt zu entreißen, tobend nannte sie ihn einen infamen Kerl, und mit der Vornehmheit dieser Schmierengräfin war es vorbei.
Carry und Daphne zogen indessen bergab. Sie war müde.
Er aber dachte: »Nicht mehr lange.«
Ein Drang zu fliehen, viele tausend Meilen zwischen sich und sie zu legen, bewegte ihn. Paris oder London, die Wüste, Algier schwebten ihm vor. Besaß er nicht Freunde hier und dort? Manche von ihnen fuhren jetzt ins Engadin, nach Monte Carlo oder Cannes. Hatte er es nötig, in Bayern für den ganzen Winter festzusitzen? »Une croisière«, dachte er. Wie...? lockte auch sie ihn nicht mehr? war es so weit mit ihm gekommen?
Es dämmerte noch nicht, obwohl die Schatten im Walde sich schon vertieften. Als sei jedoch die Zeit nicht vorgerückt seit elf Uhr vormittag, als säße sie noch mit Carry auf Graseck und als hätte er soeben erst zu ihr gesagt: »Ich danke dir für deine Gleichgültigkeit«, so sagte Daphne jetzt zu ihm: »Nie könnte mir gleichgültig sein, was du denkst, aber meine Hemmungen verstehst du gewiß.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte er spröde, »worauf sie sich beziehen.«
»Doch; auf deine Bereitwilligkeiten natürlich. Wir können die Situation nicht eingestehen; es fragt sich also, wie wir sie umgehen.«
»Nach Belieben, und ganz wie du meinst. Verzeih, wenn ich da meinerseits antworte: es ist mir gleichgültig.«
»Aber mir nicht und dir auch nicht, wenn du es einen Augenblick bedenken wolltest. Du wärst dann ein Kathole, wie du es nennst, wofür Gründe, aber keinerlei Voraussetzungen bestehen.«
»Und warum sollten die ersteren nicht genügen?«
»Aber Carry, lebst du denn im Monde? Mit einer einfachen Erklärung, wie bei einem Austritt, wäre es doch nicht getan. Da sind Formalitäten, die dir bis ins Mark widerstehen werden. Ein Bekenntnis deiner Überzeugungen würde auch mein Vater von dir erwarten. Wie willst du dich dem entziehen? Bestenfalls käme alles auf eine Komödie heraus.«
»Bestenfalls, meinst du? Nun, so katholisch wie du wäre ich dann gerade auch.«
»Ich bin es schon. Das ist ein Unterschied; ich kann einem verwitterten Hause treu bleiben, mich nicht von ihm lossagen wollen aus Anhänglichkeit, mich darin zurechtfinden, weil ich ihm angestammt bin, diese oder jene Fenster, die auf einen unwirtlichen Hof, verfallene Rückgebäude sehen, verhängen oder gar vermauern. Aber werde ich es beziehen? Um es zu beziehen, werde ich nicht lieber warten, daß es renoviert ist, fünfzig, hundert, zweihundert Jahre? Das ist doch sehr die Frage.«
Es entstand eine Pause.
»Ihr Katholen seid doch komische Leute«, lachte er gereizt, »aus irgendeinem Korpsgeist heraus gebt ihr euch viel gläubiger, als ihr seid. Es steckt da ein Dünkel, fast etwas wie Snobismus dahinter. Ihr stellt euch zu den Konvertiten ein wenig wie euer Adel zu den frisch Geadelten. Habe ich nicht recht?«
»So schroff verhält es sich nicht«, entgegnete sie. »Nur finden wir uns nicht so ohne weiteres in sie hinein, wenn sie an einen so althergebrachten Kult mit einem breitspurigen Eifer wie an etwas Niegelnagelneues herantreten, daran betonen, worüber wir uns längst nicht mehr äußern oder was wir nur in Gottes Namen noch in Kauf nehmen. Das hat seine Peinlichkeit.«
»Was sagte ich? Das reine Cliquenwesen.« Und da sie abwehrte: »Ich rede nicht von dir, sondern von den richtiggehenden Katholen; sie retten einfach hinter einer Schablone, was sie ihren Glauben nennen.«
»Es ist nicht, daß wir nicht glauben, aber die Gewöhnung macht natürlich viel.«
»Dich nehme ich aus, wie gesagt; du bist ja nicht gläubig. Was glaubst du schon?«
»Alles«, sagte sie unversehens.
»Wie, was?« fragte er scharf und faßte sie bei der Schulter. Das Wort war ihr entfahren. Aber er hatte das metallische Aufleuchten in ihren Augen gesehen, wie von geheimer Lust. Zwar wollte sie es zurücknehmen: »Es ist außerdem auch bequemer. Wo sollte man aufhören zu sichten.« Aber Carry versetzte in noch schärferem Tone: »Keine Witze.«
»Sind es denn Dinge, über die man spricht?« gab sie zurück. Alle ihre Nerven waren gesträubt.
Sie machte sich mit einem leichten Achselzucken von ihm los und blickte zurück.
Mit jedem Schritte nahm sie das Dickicht auf und schloß sich wieder hinter ihnen zu. Immer war nur eine kleine Spanne des hohen, nunmehr entfärbten Himmels sichtbar und drückte dennoch seine Unendlichkeit aus. Die Tannen standen still, als ruhten sie, um Kraft zu schöpfen. Oder war es, daß sie trauerten? — Schon schlug der Saft in ihren Stämmen jäh zurück, ihre Wipfel wußten von der nahenden Kälte, von der Streitmacht, die bereitstand, und dem Sturmlauf des von neuem heranbrechenden Winters. Aber die Luft war noch lau, Daphne und Carry gingen ahnungslos, zu ihren Füßen raschelte trocknes Laub. Carry ließ nicht locker.
»Ich bin starr«, sagte er.
Denn wie reimte sich dies? Daphnes Freigeistigkeit stand für ihn fest. Wenn auch unausgesprochen, durfte sie mit Sicherheit entnommen werden. In Rom war er Zeuge gewesen, daß Constantin geradezu darunter litt. Dieser scheue Vater hätte nicht gewagt, sie aufzufordern, einer Zeremonie in St. Peter mit ihm beizuwohnen. Jene zufällige Begegnung in St. Etienne du Mont war ihre einzige geblieben. Die sonst so willfährige Daphne hielt ihre wunderliche Abwehr aufrecht. Es dünkte selbst Carry hin und wieder, sie triebe sie zu weit.
Statt dessen..., und wenn sie glaubte oder gar »Alles« glaubte (der Gedanke war angesichts ihrer Haltung grotesk), weshalb ihre Geheimnistuerei, als gälte es ein verschwiegenes Laster? — eine Daphne, die er nicht kannte, ging neben ihm her. Jener metallische Schleier, der ihre Augen überzogen hatte, beschäftigte ihn. Da er hartnäckig schwieg, nahm sie einen Anlauf. »Wenn es erlaubt ist, nicht zu glauben, wie zu glauben«, sagte sie, »warum sollte es nicht gestattet sein, zu glauben und nicht zu glauben zugleich? Sowohl hinzunehmen, abzulehnen wie zurückzuweisen? Kennst du unsere modernen Christusbilder? Hast du schon einmal in unseren frommen Büchern geblättert? Die angeblich aufgeklärten sind die ärgsten. Rette sich vor ihnen, wer kann, ich gehe so weit, siehst du, daß mir der Aberglaube einleuchtet, welchen Bootsleute gegen einen Priester hegen, den sie nicht gern als Passagier nehmen. Nicht gegen ihn, aber gegen seine Tracht ist das Mißgefühl berechtigt. Wenn ein Kleid besagt, daß sich dessen Träger der Krankenpflege widmet, mag es sein wie es will, das der barmherzigen Schwester oder der weiße Kittel des Arztes, so ist es ehrwürdig, wenn es aber aussagt: ›Ich diene Gott‹, dann gehört es innerhalb der Kirche oder der Klausur. Und wo kein Dekorum möglich ist, wie das der Kardinäle, welche sich nie zu Fuß öffentlich zeigen, sollte zum mindesten die strengste Zurückhaltung gefordert werden. Hast du aber schon gewissen frommen Ordensfrauen ins Auge gesehen, die im schwarzen Habit, an dem der Rosenkranz bei jedem Schritt baumelt, das gesteifte Wäschzeug um die oft pausbäckigen und unsagbar dummen Gesichter, wenn sie zu dritt, zu viert, nein rudelweise die Straße daherkommen und die Bahnhöfe überziehen? Ich weiß mir im Straßenbild nichts Anstößigeres. Und kennst du ihren Jargon vom lieben Gott, dem bon Dieu, dem lieben Heiland und der ewigen Seligkeit? Ich erzählte dir von dem Kaplan, den ich gestern antraf, und wie er sich Kaffee trinkend und Zigarre rauchend äußerte. Nun ja, vor Lieferantentüren den Reißaus nehmen, das tun wir alle, dazu bedarf es keines Aufgebotes. Aber eine andere Fährte aufzuspüren, zur Freitreppe, von wo aus gesehen das Engste, Obskuranteste zum Vieldeutigsten und Kosmischen sich weitet, dies, Carry, ist schon pfiffiger; von allen geistigen Befriedigungen vielleicht die größte. Nur macht sie, wie die Dinge liegen, doppelt reizbar. Meinungen, Gedanken lassen sich äußern; aber ein Glaube, der kommt an Intimität vielleicht nur unserem Tode gleich.«
Sie hatten eine vorspringende Felsenplatte erreicht, die einen Blick in die Tiefe gewährte. Daphne ergriff den Arm ihres Freundes und sah hinab.
»Mädchen!« sagte er. Weil aber hier ein Echo jeden Laut auffing und weitertrug, schallte es auch von den schieferigen Felsen »Mädchen« herüber, und einige Sekunden lang schien der ganze Wald mit Carrys Ruf beschäftigt. Wenige Meter tiefer toste die Partnach zu ihnen herauf.
Es herrschte Nacht, als sie aus der Klamm hervortraten, und ein kalter Regen schlug ihnen ins Gesicht. Daphne zog den Hut über die Augen. Wer dachte heute morgen an einen Schirm? Da hatten sie auch das Gasthaus, das den Fahrweg bis zum Eingang der Schlucht überragt, links liegen lassen. Nun warteten sie dort vergebens auf einen Wagen. »Wir müssen los; es wird sonst zu spät«, sagte Daphne. Sie schritt im Takt mit ihm aus, um ihre Müdigkeit zu verbergen.
In Ettal hatte man den Umschwung kommen sehen. Constantin war viel früher, bei noch leidlichem Wetter, heimgekehrt. Daß Daphne so lange weilte, verdroß und beunruhigte ihn. Er machte Carry Loon dafür verantwortlich: ein taktloser junger Mann, sonst wäre er doch gestern mit den anderen abgefahren. Da hörte er ihre Schritte im Flur und ihre süße, müde, immer ein wenig umflorte Stimme. »Ich komme gleich, bin durchnäßt«, rief sie ihm an der Schwelle zu. Sie erschien sehr bald in einem seidenen Hausrock, dick wattiert wie ein Federbett, aber sie schlotterte, der Raum fing an mit schwarzen Dämpfen sich zu füllen, wie eine Bühne. Mit Mühe erreichte sie ihr Zimmer, rief die Jungfer, ließ die Tür abschließen.
Als der Arzt sie als geheilt seiner Pflege entließ, hatte er sie gewarnt, und in der Tat, wenn sie sich überanstrengte, meldeten sich Schmerzen im Halse sowie das Fieber alle Male. Die grauen Augen zur Decke emporgerichtet, überlegte sie ihren Fall. — So jung an Jahren, gehörte sie nun einmal zu jenen ältlichen Personen, die mit ihren Kräften haushalten müssen, und mit dem heute so gelungenen Bildchen hatte sie zugleich ihr Schwanenliedchen produziert. Ein ernsthaftes Vorwärtskommen stand für sie nicht in Frage. Was blieb? — Carry. — Und plötzlich fühlte sie eine große Angst, ihn zu verlieren.
»Nein, keine Spur, ich bin nicht erkältet, morgen fahren wir heim«, sagte sie zu Constantin, den sie später zu sich einließ und der, eine Zigarette nach der anderen rauchend, besorgt, angstvoll an ihrem Lager saß, wie damals in Paris, während der Jahre ihrer Krankheit.
In München war um die Jahreswende eine Epidemie, man nannte sie noch nicht Grippe, sondern Influenza, ausgebrochen. Die Ärzte hatten alle Hände voll zu tun, und in allen Apotheken schossen Medikamente in verschiedensten Packungen auf. Es kam dem Absatz sehr zustatten, daß beim Maltheser einige Besucher plötzlich von dem Übel ergriffen und aus dem dichtbesetzten Saale fortgeleitet wurden. Ängstliche Bierbrauer erwirkten daraufhin die Veröffentlichung eines Gutachtens über Bestandteile von Hopfen und Malz, welche geradezu als Präventiv gegen die herrschende Krankheit zu erachten seien.
»Also das übliche Quantum ja nicht herabsetzen. Hernach ist es zu spät.«
Sogleich entstand ein Couplet für den Hauptkomiker des Gärtnerplatztheaters: Als beste Gegenmaßnahmen seien Zigarren, Punsch, ein fescher Sportanzug bei Neuner & Basch, Mouson-Gesichtscreme Frankfurt a. M., fleißige Theaterbesuche und so weiter zu empfehlen, immer mit der Ritornelle: »Hernach ist’s zu spät.« Man lachte indes nicht lange. Schauspieler und Sänger wurden selber der Reihe nach unpaß, und ob auch jeden Tag neu verlautete, es bestünde keinerlei Anlaß, den »Bal Paré« zu verschieben, nahmen die Blumenläden alles in allem mehr Bestellungen auf Trauerkränze denn auf Kotillonsträußchen entgegen.
Graf Sempronius Vogt lag in den letzten Zügen. Er hatte Frau und Kinder, Verwalter, Pächter, Personal, bis auf die Praktikanten auf seinem Mustergute, so hartnäckig in Atem gehalten, daß sie nie dazu gekommen waren, seinen Tod ins Auge zu fassen. Auch in der Gesellschaft war die Überraschung allgemein. »Kopf hoch und ruhig Blut«, telephonierte Zenaide an Notburga, die keinen Augenblick Gefahr lief, ihre Fassung zu verlieren. Die Kinder weinten: Es war doch ihr Vater, welcher da so unvermittelt alle in Ruhe ließ und dessen querulierende Stimme sich nicht mehr erhob.
Als Constantin, im Begriff, seine hochgelegene Wohnung am Maximiliansplatz zu betreten, an seine Tochter die Worte richtete: »Süden, Osten, Westen, daheim ist’s am besten«, und auf die Frage, ob er den Tee schon wünsche, die Uhr zog, welche die vierte Stunde anzeigte, da, um diese Minute, starb in seinem Palais der Amalienstraße Graf Sempronius Vogt.
Drüben bei Carry, der am Morgen vorausgefahren war, zogen schon Lichtsignale auf. Zwar tagte es noch, als er Daphnes schmalen blassen Kopf hinter ihren Scheiben auftauchen sah: so schmal und blaß; es gab ihm einen Stich.
»Was trägst du denn für Brillen?« fragte sie ihn.
»Es sind Fernbrillen. Damit ich dich besser sehen kann. Ich bin wie der Wolf im Rotkäppchen, und du siehst mir reichlich angegriffen aus. Wie geht’s?« — »Ganz gut. Aber ich gebe Pinsel und Palette weg. Es reicht höchstens, um ein bißchen Geige zu zupfen.«
Carry sprach ein Bedauern aus, das er nicht empfand; mit einigem Neid war er gestern Zeuge ihres Eifers, einer Leidenschaft gewesen, von welcher er sich ausgeschlossen, ja benachteiligt fühlte. Zwar stand ein großer Tisch zum Zeichnen bei ihm auf, an Reißzeug, Plänen, auch an Begabung fehlte es ihm nicht. Immer noch recht sporadisch war bei ihm nur der Fleiß.
Franzl erschien aufgeregt und finster. Angesichts der Rückkehr Trszinkys hatten Loris Eltern für Mitte Januar eine Romreise beschlossen.
Dann war auch Zeremonienmeister Graf Immenegg-Clar erkrankt. Zenaide Waldmann hing an ihrem Weihnachtstelephon und brachte Nachrichten in Umlauf: »Le pauvre, il a 39, c’est donc terrible. Et le bal de cour, qui est déjà comme ça anberaumt pour le vingt-quatre, Mimi Laders a aussi déjà 38,6.« Nur ihr selber fehlte nie etwas. Wie angeblich der Hopfen, so schien sie als der wandelnde Alltag, der sie war, Bestandteile zu enthalten, welche Fieber und Ansteckung fernhielten.
Auch Frau Waibert ging es in diesen Tagen gut. Sie hatte fast so viel wie die Ärzte zu tun, und eine Konsultation reihte sich an die andere. »Nicht eher wird das Übel weichen, als bis sich Löw’ und Fisch erreichen.« Auf nähere Daten betreffs seiner Dauer ließ sie sich nicht festlegen. Höchstens — für privilegierte Kunden — auf ein: »Nimmer lang; aber no net glei.«
Am tollsten aber trieb es Frau Dirigel, die in ihren Kreisen eine Art Gegenstück zu Zenaide Waldmann stellte. Sie gehörte dem Stabe der Zeitungsfrauen an, und auch sie schien gegen die Epidemie gefeit, während sie durch Wind und Wetter von Tür zu Türe unkte. Sie pflegte ihre Hiobsposten für die Abonnenten mit einem »A Herr hat gsagt« einzuleiten und ging mit der deutschen Sprache ähnlich wie die Baronin mit der französischen um. Sie sprach von den »Bakzillern« wie später von den Spionen. Ja man hätte (hätte man’s gewußt!) eine kleine Kostprobe der Münchner Leichtgläubigkeit während der Kriegsjahre gehabt. Unbekümmert nahm indes die Krankheit ihre aufsteigende und sodann absteigende Kurve. Manch lebensmüden Greis winkte sie vom Schauplatz ab und schuf neuen Elementen Platz. Und es wäre alles nicht so schlimm gewesen, hätte sie nicht Antonie ihres Bruders beraubt, des letzten, der ihr noch blieb.
Zenaide Waldmann an ihrem Weihnachtsapparat berichtete voll Feuereifer nach allen Seiten: »C’est donc terrible. Hier soir il avait seulement 37,9, mais le cœur naturellement. Herzschwäche, c’est toujours comme ça avec eux.« Wie höhnisch, hätte er sie gehört, würde Julian Bland del Nero gegrinst, was für Bosheiten, näselnden, gedehnten Tones, vorgebracht haben! Denn ihm wäre sie keinen Augenblick entgangen, die Genugtuung, welche Zenaide selbst nicht zum Bewußtsein kam. Hatten die vier Brüder sie doch um die Wette ihr Lebtag lang geschnitten, kannte sie die berühmten kleinen Diners, ja sogar die Räume der Bland del Neros, die nie jemand bei sich sahen, den sie nicht wollten, nur vom Hörensagen! Was hatten sie nun davon? — Während sie noch viele Jahre zu leben gedachte. »Ach! La pauvre Antonie. La voilà toute fine seule! C’est déjà terrible«, telephonierte sie an Notburga.
Antonie hatte sich alle Kondolenzbesuche verbeten. Daphne, die einzige, die unangemeldet bei ihr vorgelassen wurde, fand sie am Kamine sitzend, die grauen Haarstränge noch unordentlicher als sonst. Das Übermaß ihres Kummers brach sich erst Bahn, als Daphne beim Abschied fragte, wann sie wieder kommen solle. Denn der Schüchternheit, die ihr zur zweiten Natur geworden war, sich entäußernd, stieß da Antonie ein kurzes Lachen hervor, indem sie sagte: »Täglich wäre Ihnen wohl zu oft.«
»Täglich, täglich«, versicherte Daphne und hielt ihr Wort.
Sie fand sich meistens um die Dämmerstunde ein, der schwersten, wie sie vermutete, für die vereinsamte Frau. Carry holte sie ab, und es traf sich gewiß glücklich, daß Antonie ihn gerne litt, war sie ihrerseits doch der einzige Mensch, mit welchem er sich über Daphne aussprechen konnte. Im Gegensatz zu Constantin zeigte sie sich einer Ehe zwischen den beiden gewogen. Und diese bezogen sie in ihre Zukunftspläne ein und stellten sich schützend vor eine Verlassenheit, der Antonie noch nicht ins Auge zu sehen vermochte. Griechenland, Spanien kamen als Reisepläne für den künftigen Herbst aufs Tapet, und so tat man dergleichen. Denn Daphne fühlte wohl, daß sie nunmehr Antoniens einziger Trost und Lichtblick geworden war. Zehn Jahre später, als mit lächerlicher Bereitwilligkeit auch rein platonische Affekte unter den Gesichtspunkt des Abnormen fielen, wäre Antoniens leidenschaftliche Zuneigung für das junge Mädchen wohl mißdeutet worden. Gerade durch ihre undemonstrative, ihre unzärtliche Ader jedoch waren sich die zwei so ungleichen Freundinnen verwandt. Antoniens Sympathie, wenn auch nicht entfernt mit derselben Stärke erwidert, war keine einseitige. Daphne brachte mit ihren täglichen Besuchen kein Opfer. Mit wem unterhielt sie sich freier? Wo kannte sie eine Frau von dieser Intelligenz, diesem Wissen, dieser Kenntnis der Welt? Und es ging ihr wie Carry: Antonie war so recht die Vertraute der beiden. Vielleicht, wenn alles gesagt war, dünkte ihr ein Leben, wie Antonie es sich gestaltet hatte, so selbständig und im Rahmen eines solchen Palais, das homogenste; freilich mit einem stets erreichbaren Carry; wenn auch lieber einem Carry nicht unter demselben Dache vielleicht, so sehr widerstrebte ihr im Grunde jede Abhängigkeit... Sie gestand ihre Hemmungen Antonie gegenüber; diese trieb aber die Diskretion so weit, daß sie sich einer vertraulichen Eröffnung nur auf den ausdrücklichen Wunsch dessen, der sie ihr gemacht hatte, besann. Im übrigen war sie stets bereit, sich der Erinnerung an sie vor sich selber zu entschlagen. So groß war ihre Angst, der andere könne sie bereuen. Eine derart auf die Spitze getriebene Wahrung der Distanz ergab eine Unverbindlichkeit, welche die Zungen leichter löste und ihr dienlicher wurde als jedes Befragen. Denn in Wahrheit lauerte sie Daphnes Mitteilungen nicht nur mit Interesse, sondern ausgemachter, oft brennender Neugierde auf. Als diese eines Tages auch eine indische Reise erörterte, wobei Carry die Bauten studieren sollte, sagte Antonie: »Ihr tut gut, solche Pläne für den Anfang auszuhecken. Denn sind einmal Kinder da...«
»Kinder?« sagte Daphne ganz erschrocken. »Ich bleibe hoffentlich davor bewahrt.«
»Wieso? — Die euren hätten gerade die allerschönsten Aussichten. Es wäre schade darum.«
»Und wenn sie noch so gut wären, wer sichert sie ihnen? Sagen Sie selbst«, und sie rückte ihren Stuhl näher zu Antonie heran, »sagen Sie selbst, sollen wir Geschöpfe zur Welt bringen, die schon mit ihrer Sterbeziffer ans Licht kommen?«
»Mein Gott«, rief Antonie, »vorher leben sie doch!« Und obwohl oder vielleicht, weil sie von Helgas letzter Stunde wußte, sagte sie lieber: »Es erfahren die wenigsten ihren Tod. Keinem meiner Brüder wurde er bewußt.« ›Ich habe ihr doch von meiner Mutter erzählt‹, dachte Daphne und schwieg. Sie saß über eine Straminstickerei gebückt, für welche sie große Blumen entworfen hatte. Es sollte ein Ofenschirm im Rokokogestell für Antonie werden; denn diese pflegte einen Fächer in ihren runden, geballten Händen zu halten, wenn die Hitze der Flammen sie störte. Daphne drehte jetzt ihre Arbeit ans Licht. »Antonie«, sagte sie mit halbem Lachen, »ich bin nicht einverstanden mit der Natur. Da sitzt der Hase im Pfeffer.«
Nun lachte auch die andere.
»Ich meine es im Ernst. Solange der Mensch nicht auf den Plan tritt, geht es ja zur Not. Katzen beobachte ich mit Wonne, während sie buhlen; auch der Gier, mit der sie Fische verzehren, sehe ich mit Vergnügen zu, und nichts Schöneres, als wenn sie schnurren. Auch alles andere ist erträglich, selbst daß sie sterben, da sie morden.«
»Tun wir das etwa nicht?«
»Daher auch wohl für uns der unstandesgemäße Tod; von der Geburt zu schweigen...« Sie zuckte die Achseln. »Aber alle sogenannten natürlichen Dinge gehen uns ja ein wie Mus.«
»Was bleibt uns denn übrig?« sagte Antonie.
»Mag es noch so unsinnig klingen, ich kann mich aber mit dem teuflischen Dreh der Eventualitäten nicht zufriedengeben. Es paßt mir nicht, daß ein Tiger, sofern er die Chancen hätte, mich wuppdich mit Haut und Haar zerrisse. So will es aber die Natur, das ist ihr Lauf. Na gut, oder vielmehr schlimm, denn ich gebe mich mit einer solchen Welt nicht ohne weiteres zufrieden. Ich weiß«, fuhr sie fort und streckte den Arm wie zur Abwehr aus, »es gibt die äußerliche Flucht vor ihr; ich könnte sie nie mitmachen. Die innere aber...«
»... ist gerade eine Ehe, wie du sie dir denkst, am wenigsten.«
»Mit dem Zölibat ist auch nicht alles gesagt.« Sie sah in die Luft.
»Außerdem könnte ich Carry nicht entbehren. Ist er nicht charmant?«
Antonie stieß ihr kurzes Lachen hervor. »Wenn ich dich recht verstehe, möchtest du deine Kinder vor einem Leben bewahren, das du für dich selbst nicht verneinst. Ob sie es nicht auch annehmbar fänden?«
»Ich bin nun einmal da. Aber alltägliche Anlässe, oder die dafür gelten, sind imstande, mir den ganzen Betrieb zu verleiden. Bei mir sind ja keine kosmischen Gedankengänge zu holen, Antonie. Ich erhebe mich nicht so hoch. Mir genügt, daß ich ein Kälbchen sehe, wie es, am Stricke gezerrt, unter Püffen oft und ohne daß ihm auch nur die instinktive Todesangst zugute gehalten wird, dem Schlächter entgegen muß, um meine Lebenslust stracks in Unlust zu kehren. Manche Dinge leuchten mir dann nur zu deutlich ein. Denn durch derartige Methoden scheinen mir auch für uns die Möglichkeiten, kläglich zu verenden, klipp und klar gegeben. Hat einer Pech, so ersäuft er wie eine Maus oder wird fortgefegt wie eine Spinne. Weg! Wen’s gerade trifft. Wie das Kalb. C’est la guerre. Einer solchen Maschinerie soll ich Kinder anheimstellen?« Sie schüttelte den Kopf.
»Höre, ich bin wahrlich keine Optimistin...«, sagte Antonie. »Aber ich, aber ich«, fiel ihr Daphne ins Wort. »Gelangen Striche durch die Natur und das Durchsetzen höherer Gesetze nicht schon? Wozu sie diskreditieren, indem man den Namen Wunder darauf setzt. Irgendwie leuchtet es ein, daß die Vögel einem Franz von Assisi nicht davonflogen und daß die Fische neugierig zusammenrückten und ihre Köpfe aus dem Wasser steckten, als er des Weges kam, und daß ein Wolf, statt über ihn herzufallen, ihn begleitete. Warum nur die eine Seite, die des Heiligen, in ihm sehen? War er nicht vor allem ein Rebell? Ein Rebell wider die Natur, ihr Chaos, ihr Geheule? Weil die Parole des Friedens auf Erden, mag die Wirklichkeit ihr noch so sehr hohnsprechen, nun einmal ausgegeben ist. Aber sie verwirren uns ja alles mit ihrer verwünschten Frömmelei.« Sie sagte es mit ihrer hellen Stimme, die kindlich geklungen hätte ohne den kühlen Unterton, der Antonie bezauberte.
Daß Daphne sich ihr gegenüber so gesprächig zeigte, geschah zu Anfang nur, um sie von ihren düsteren Gedanken abzulenken, und Antonie fragte sich oft, wie sie diese Zeit ohne ihre täglichen Besuche ertrüge.
Woran aber erinnerte die Melodik, zu welcher sich dieser Winter für die Familie Herbst abstimmte? Constantin schlug den Weg des öfteren zu Notburga ein; aus dem reichen Schwarz ihres Witwenstaates hoben sich ihre weißen, zierlich geformten Zähne ab, und sie hatte den Mund ihrer jungen Jahre behalten. Gottlob war auch Franzl wieder im Gleichgewicht. Um Ostern sollte er auf eine Woche zu Mattreis stoßen, als offizieller Verlobter mit ihnen wiederkehren, die Trauung schon im Juni stattfinden, so daß seine Bedrücktheit der alten Spottlust und einem oft tollen Übermut wich. Vor allen Dingen aber hielt Constantin — unter Notburgas Einfluß vielleicht — sein Widerstreben Carry gegenüber nicht mehr aufrecht. O wie alles klappte! Und woran nur klang die Harmonie der Luft, die Traulichkeit, dieses Winters an, als läge eine Wiederkehr in der Huld seiner Dämmerungen? Daphne, die es manchmal suchte, aber nicht erhaschen konnte, gab sich dem träumerischen Echo hin. Zwar hatte sie das Malen aufgegeben, statt dessen die Geige ihrer Mutter wieder vorgenommen und sich einen Lehrer am Konservatorium gesichert. Sie übte lange jeden Morgen, abends war viel los, und Daphne vergnügte sich mehr außer als in der Gesellschaft, wie sie sich selber nannte; sogar einmal unter Franzls und Carrys Begleitung in einer Loge am Bal Paré.
Das damalige München war die demokratische, die individualistische Stadt par excellence. Den Rang bestimmte die Persönlichkeit. Die Monde nahm sich nur selber noch sehr ernst; in Wahrheit hielten auf Bällen auch schöne Bäckerstöchter Cercle und waren stolze Damen. Der Adel war zu zahlreich, zu ungebildet und zu arm, im Münchener Kunstleben spielte er keine Rolle, und München war in erster Linie Kunststadt, der Künstler war es, der regierte. Legte einer, was selten genug vorkam, einen Titel oder alten Namen hinzu, ja, dann rückte er an erste Stelle in der allgemeinen Gunst. Man liebte Künstler doppelt, welche Kavaliere waren.
Wer dem so gemächlichen, so gemütlichen, so schönheitsliebenden München geweissagt hätte, daß es in wenigen Jahren ein München des roten und des weißen Terrors werden würde, den hätte man prompt der »Psychiatrischen« zur Beobachtung überliefert. Und doch... Bestes München hatte sein Teil an der Auswirkung des schlimmsten. Seine Abgekehrtheit von der Politik, sein »lascia fare«, seine Ahnungslosigkeit, ebenso viele Momente der Unschuld — München hatte, weiß Gott, keinen Krieg gewünscht —, setzte es außerstande, die Ereignisse zu übersehen. Zwiefach überrumpelt und verwirrt, verdummte es zwiefach.
Nur seinen Humor behielt der Münchner auch unter Qualen bei. Als sein plat de résistance nur noch jene schrecklichen Krautköpfe wurden, die man Dotschen nannte und die keine menschliche Nahrung mehr waren, da nannte er die Halle, in der sie täglich feilgeboten wurden, den Dotschenpalast. Denn selbst der ewigen Verdammnis vermöchte er, an Stelle des Dantesken, gemütliche Untertöne abzutrotzen.
Wir haben die Soireen bei Fräulein Selma Kreitmayer noch nicht erwähnt. Sie war die nicht mehr junge, immerzu beturbante Enkelin eines weltbekannten Historikers, dessen Tochter pietätloserweise einen obskuren Privatdozenten heiratete, so daß Selma weder ein Vermögen, das der Rede wert war, noch einen Namen ererbt hatte. Denn für sie ging der Mensch nicht wie für Zenaide beim Baron, sondern bei der Berühmtheit an. Ein Kunterbunt von Leuten, wie es nur in München unter ein selbes Dach gebracht wurde, vom biedersten Philister, wenn er nur für irgend etwas bekannt war, bis zur hemmungslosesten Boheme, würfelte sich bei Selma zusammen. Da fachsimpelten würdige Kollegen des verstorbenen Kreitmayer, oder es ließ sich einer in ernste Gespräche mit Dämchen ein, die ihn zum besten hielten und von welchen er so ziemlich allein nicht wußte, in welchem Rufe sie standen. Illegitime Pärchen traten hier ungeniert zusammen auf. Dafür mußte Dr. Bollinger, der Don Juan aus der Ainmillerstraße, das Mädchen aus der Fremde erst aufklären. So nannte man eine junge Hannoveranerin, cand. med., im braunen Seidenkleid mit Puffärmeln, ein Medaillon im winzigen Ausschnitt und, als einzige Konzession an die Wildheit des Münchener Faschings, mit einem ondulierten Scheitel. Dennoch so unbestreitbar hübsch, daß Dr. Bollinger sie im scharfen Tone über den Tiefstand der unausgelebten Frau im Vergleich zur ausgelebten unterwies. Ihr Spleen aber war so entschieden die Heilkunde, Anatomie statt Erotik, daß er, angewidert von so viel Ungelehrigkeit, es verschmähte, sie auf seinen Bal Noir für nächsten Montag einzuladen. Professor Dr. Plehganer erschien in Begleitung seines Töchterchens, und es fragte sich, wer von beiden ahnungsloser war. Denn nicht lange, und er hatte sich mit Irma Salvini in ein Gespräch über Biologie vertieft. Zu den karnevalesken Vergnügen dieses Winters gehörte es, Ausländer (zu welchen man unbedingt auch Berliner zählte) unter einem tönenden Namen bei Selma einzuführen. Zur Sicherheit wurde zuvor erkundet, ob sie die Zelebritäten, die für sie zurechtfrisiert wurden, schon etwa angetroffen hatte. Für heute war Professor Max Liebermann im strengsten Inkognito bei ihr angesagt, und Carry und die Geschwister Herbst hatten sich von den Herren vom Simpl und von Gustl Kummerfeld überreden lassen, dem Jux beizuwohnen. Im Jackett, die Beine übereinandergeschlagen, warf ein täuschend ähnlicher Max Liebermann mit Aphorismen über Malerei um sich her und faßte dämonischen Auges Selmas Turban oder ihre Adlernase für ein in Angriff zu nehmendes Porträt ins Auge. Der Kreis zog sich ganz eng, weil der Meister angeblich nur vor Selma und den Freunden, mit welchen er gekommen war, sich zu äußern wünschte. Die Regie führte Daglkofer, der beliebteste aller Lohndiener, dessen man sich Wochen zuvor versichern mußte und ohne den angeblich kein Fest glückte. Ein echt münchnerischer Typ und überall begehrt, wußte Daglkofer in allen Mondes trefflich Bescheid, sprach immer leise und wahrte immer seinen Ernst. »Essens des net«, sagte er zu Daphne, indem er ihr eine Platte mit Fischmayonnaise entgegenhielt. »Dees is aa nix Rars«, war sein Kommentar zu einer rot wabernden Sülze. »Des geht no eher«, ermutigte er sie zu Pastetchen. Wen Daglkofer aber nicht mochte, dem bot er stumm alle Imbisse und Erfrischungen dar, welche auf Selmas Empfängen ziemlich ohne Unterlaß aufzogen. Sie wollte, daß alles reichlich sei, und war der Ansicht, es müsse immer gegessen werden. Qualität jedoch bei solchen Quantitäten vermochte sie nicht aufzubringen, so gab sie erstere auf der ganzen Linie preis. Gern hatte sie auch Exklusivität beansprucht, aber allzu stillos liefen ihre Zimmer ineinander, ungünstig war die Beleuchtung, gewöhnlich die Aufmachung, nicht eine einzige schmucke Schüssel in ihrem ganzen Porzellan. Selmas zahlreiche Turbane legten ebenso viele Zeugnisse ab für ihr mangelndes Auge, und sie war eine Hausfrau in Gottes Zorn. Trotzdem servierte Daglkofer mit Vorliebe bei ihr, denn nirgends in ganz München wurde so gelacht; dies um so mehr, als zwar alle von der allgemeinen Heiterkeit angesteckt, aber nur sehr wenige in die wahre Ursache derselben eingeweiht zu sein pflegten. Es mußte also stets ein zweitbester Vorwand dafür her. Inmitten der Konfusion der Mitlachenden stieg aber die Lachlust der paar Spaßmacher bis zur Unabhängigkeit.
»Es genügt ein weniges für die Toren«, bemerkte Professor Plehganer zu Irma Salvini, in welcher er mit wachsender Bestimmtheit eine seelenverwandte Natur zu erkennen glaubte. Unmutig, wie ihm dünkte, blickte das ernst veranlagte Mädchen zur Liebermann-Ecke hinüber. Ohne sie nämlich hatte die kleine Gruppe sich verständigt, sichtlich betroffen sogar, sie hier vorzufinden, man hatte sie aus dem Spiel gelassen, wütend stellte sie es fest. Daphne Herbst dagegen war der Mittelpunkt, die Gefeierte. Mit Gustl stand Irma ohnedies vor dem Bruch. Aber dem gedachte sie es ja zu zeigen. Nicht unter hunderttausend voll ausgezählten Silberlingen kam er von ihr los. — Noch war sie zu jung, ihre Züge zu wohlgebildet, als daß sie ihren gekränkten Schmierenstolz, den Schmierenkalkül ihrer gemeinen Seele gespiegelt hätten. Noch nicht.
»Wer ist die entzückende Dame?« fragte der ungeschickte Professor, ihren Blicken folgend.
Irma zwang sich zu einem Lächeln. »Daphne Herbst«, sagte sie, »ich kenne sie sehr gut.« Sie beugte sich zu ihm vor: »Nichts für Ihre junge Tochter. Schwer nymphoman, wie die meisten Tuberkulosen; mit dem brünetten Herrn, der ihr so nah zur Seite sitzt, hat sie ein Verhältnis, läuft aber dabei dem Herrn von Kummerfeld nach.« Denn Irmas Zorn galt weniger diesem, stand er ihr doch für manches gut, als der ahnungslosen Daphne, die in Silbergaze, in silbernen Schuhen, in einer weiten Schärpe aus Silbergaze eingewölkt, die Zielscheibe der Fragen und der Bewunderung bildete. Sie führte, obwohl der Artikel aus der Mode war, stets Helgas schönen Empirefächer mit und zog ihn heute des öfteren hoch, um ihre Belustigung zu verbergen; man sah dann nur die herrliche, gerade Stirn unter der eitlen Goldwelle des Haars. Auch von den langen Handschuhen bis über den Ellbogen ließ sie nicht, ihrer zu schmächtigen Arme wegen, und da machte sich denn die zu schmächtige Hand, die den Fächer hielt, gar feenhaft. Die Männer, welche Daphne umringten, schienen ihr weniger huldigen, als sie beschützen zu wollen, so gewichtslos, so fragil war ihre Erscheinung: nicht von der knabenhaften, muskulösen Schlankheit der damals schon einsetzenden Mode, niemand dachte bei ihrem Anblick ans Turnen, und nichts an ihr war stürmisch, nichts heftig, alles heiter wie ein Lied, bis auf die Stirn und die gelassene Schärfe der Augen.
»Einmal und nicht wieder«, war ihr Resümee am folgenden Nachmittag, als sie Antonie den Abend bei Selma berichtete. Der Gipfel der Genüsse dünkte ihr heute, sich um neun Uhr schlafen zu legen. Aber die Freundin, trüber und schwerer abzulenken als sonst, bat sie dringend, über den Abend zu bleiben. Es war das erstemal seit Julians Tod, und Daphne wagte nicht zu enttäuschen. Constantin wurde verständigt, Carry sollte auch kommen, und der Koch der Bland del Neros freute sich, endlich wieder einige seiner Pikanterien anzusetzen. Es lohnte sich in letzter Zeit nicht mehr. Da war der verstorbene Graf ein anderer Herr gewesen. Doch ach! Man aß gar spät bei Antonie. Eben erst schaffte man den Teetisch hinaus. Um ihre Schläfrigkeit zu überwinden, stickte Daphne die große Mittelrose zu Ende, doch nun entfiel ihr der Stramin. Müde sah sie in die Flammen. Um diese zu nähren, fehlte es hier nie an Pinienzapfen und dürren Bündeln aus dem Süden. Mit solchen Artikeln wurde bei Bland del Neros ein großer Luxus getrieben. Waren die Vorhänge zugezogen, das winterliche Nordlicht ausgeschaltet, so glaubte man sich in einem römischen oder florentinischen Palast. Übrigens durfte sich Daphne bald ihren Träumereien überlassen, denn Antonie machte sich am anderen Ende des Raums — selbst sie erschien darin klein — an ihrem Sekretär zu schaffen. Der große Lüster brannte nicht, nur die Kerzen in den vorspringenden Leuchtern der silbernen Appliquen. Hinter den seidenen Schirmchen schimmerten sie nur gedämpft. Antonie hatte eine kleine Lampe neben sich, eine große, auf hohem Gestell, breitete über Daphne ihren Schein. Sie löschte sie jetzt. Sie hatte das Gefühl, Antonie wünsche heute nur ihre Gegenwart und es genüge ihr, sie da zu wissen. Nein, wie gesagt, zu Selma Kreitmayer ging sie kein zweites Mal, die ließ ihre Gäste nicht aufbrechen, wenn sie genug hatten, und Daphne konnte das nicht leiden. Auch führte sie den seitlichen Kopfschmerz, der sie seit dem Morgen quälte, auf ein Glas lauen süßlichen Champagners, den nicht Daglkofer ihr gereicht hatte, und eine Reizung im Halse auf den zu langen Abend zurück. Eine Weile noch starrte sie in den Kamin. — Flicks Zimmer stand bereit. Weiß und grün. Noch zehn Tage, und sie war daheim, hatte endlich auch ihr Zuhause.
Der Zeiger war um eine ganze Stunde vorgerückt, als Daphne rufen wollte: »Ich bin eingeschlafen«, der Anblick Antoniens sie aber zurückhielt. Diese schien in Notizbüchern — oder waren es Tagebücher? —, von welchen sie bald das eine, bald das andere vornahm, vertieft, legte sie zuletzt alle hin, entfernte sich und stand im Dunkeln. Aus ihrer Haltung ging hervor, daß sie sich unbeobachtet und Daphne noch schlafend wähnte. Wieder wollte diese ihr zurufen. Statt dessen starrte sie mit unerklärlichem Grauen zu ihr hinüber. Denn es geschah weiter nichts, als daß Antonie von neuem ihre Bücher zur Hand nahm. Es waren keine Tagebücher, sondern eine Anzahl großer Kalender. Was stellte sie zusammen? Was rechnete sie aus? Waren es die Lebensdaten ihrer toten Brüder, welche sie verglich? Heute vor sechs Wochen auf den Tag starb ihr der letzte hin. Daphnes kundiges Herz gab einen Stoß, als sie Antonie zur Tür stürzen sah. Zugleich erstrahlte der Lüster.
»Habe ich dich geweckt?« fragte Antonie.
Denn auch Daphne hatte sich erhoben. »Nein«, gab sie tonlos zurück und zog an den Ketten der Stehlampe, daß auch diese brannte. Überall blühte jetzt an den Wänden die weinrote Farbe des Damastes auf. »Soll ich den Lüster nicht löschen? Er blendet. Wir sind zu lange im Dunkeln geblieben.« Sie legte ihre Hand um Antoniens Schultern und führte sie zum Kamin, nahm aber nicht ihr gegenüber Platz, sondern ganz nah dem Feuer, am Boden, froh der Flammen und ihrer Hitze. »Auch solche Tage gehen vorüber«, sagte sie. »Es sind nicht die Tage...« Antonie sprach zögernd, ruckweise, wie immer, wenn Schüchternheit sie benahm. »Die Zeit, sollte man glauben, besteht doch nur für uns. Tot aber ist tot, was meinst du, Daphne, ohne Grade, ohne Stadien des Abgeschiedenseins?«
Daphne zuckte die Achseln: »Was wissen wir vom Gestorbensein?«
»Hernach ist’s zu spät«, zitierte Antonie mit ihrem gestoßenen Lachen. Auch sie hatte von dem Couplet vernommen, welches das Inserat der besorgten Bierbrauer veranlaßt hatte.
Aber Daphne warf Pinienzapfen und Reisigbündel ins Feuer, daß es prasselte.
Die beiden stellten ein Bild des Frühlings und des Herbstes dar: Antonie, formlos wie ein müder Blätterhaufen zusammengesunken, und Daphnes beschwingte Schultern im Widerschein der Glut.
»Sind Ihnen schlimme Träume widerfahren, Antonie?«
»Es ist nicht, daß ich träume. Halluzination vielleicht, mehr oder minder eindrückliche...« Sie hielte inne.
Daphne griff nach der Zange, um Scheite, die verkohlen wollten, aufzurichten, doch sie sagte nichts. Ja, ja, Halluzinationen, Gesichte, oder wie man sie nennen mochte, sie kannte das.
»Aber Menschen, die ihre Wahrnehmungen nicht registrieren, tun vielleicht besser daran«, und Antonie stockte von neuem.
Daphne nickte, ohne zu ihr hinzusehen. Eine registrierende Natur war sie ja auch. Und sie war im Bilde. Jawohl. Was aber half dies Antonie? Nichts. Konnte Daphne anlegen an den Ufern, die zu Antoniens geistiger Landschaft gehörten? Nein. Und wenn sie heute die ganze Nacht bei ihr aushielte, wäre Antonie darum minder weit von ihr? Vielmehr setzte ihre Gegenwart auf Antoniens heutige Verlassenheit den verschärften Akzent. Und Antonie selbst fühlte dies jetzt in ihrer Unfähigkeit sich mitzuteilen. Es war noch die nächste Gemeinschaft, daß sie zusammen schwiegen, ihr Schweigen zusammenlegten, bis ihre Stille sich vertiefte, jede den eigenen Gedanken nachhing, als wäre sie allein. Daphne, die kluge, die sich im Bann des Feuers hielt, Antoniens Auge und ihr Vertrauen meidend, hatte jene Morgendämmerung vor Augen, im Hotel der Place Vendôme, als ihre Mutter, wie von einem inneren Sturmwind an ihr Lager hingeweht, mit verstörter, mit entsetzter Miene die Worte murmelte: »Wir kümmern uns zu wenig um Flick.« Welchem Schreckbild. Traum oder Gesicht hatte sie, zu Unrecht oder Recht, diesen Sinn entnommen? Wie ein Engel hatte Daphne Helga da umgeben, und Vogelsang hatte das Ende jener Nacht verkündet. Sie aber — zu wem wäre sie geflohen, als von neuem die Mutter an ihr Lager trat, einer Statue des Grames gleich, daß ihre Kleider als ein Tränengewand mit ihr zerrannen; eins schien es mit ihr und einem unerschöpflichen Quell entströmt. Trug sie Mitleid? Bat sie darum? Diesmal griffen Daphnes Arme, als sie die Klagende umringen wollte, ins Leere, sie war dabei erwacht, und Helga war tot, seit sechs Wochen lag sie schon in ihrem Grabe. Hoch aufgerichtet, mit dumpfen Pulsen, hatte Daphne das Herz der Finsternis behorcht, und kein Mensch, keine Vogelstimme ward jener Mitternacht entsandt.
»Carry!« rief sie erlöst.
Denn Carry war eingetreten, ihr Carry, dem sie gehörte, dem sie folgen, mit dem sie unter ein und demselben Dache leben wollte und der sie schützen sollte vor den Schatten der Familie Herbst.
Antonie selbst trieb die Verlobten früh zum Aufbruch. Die Oper war eben zu Ende und die Theatinerstraße so belebt wie am Mittag. Daphne überquerte sie, Carry voraneilend, an einer Kreuzung, als gerade ein blauer Wagen aus dem Hofe der Residenz einbog. Außer der Gräfin Rellpach, der Frau eines Adjutanten, und ihren zwei Töchtern Olly und Elly waren auch noch Odette Blau und Paulinchen Kummerfeld darin verstaut. Alle hatten Daphne erkannt, die im hellen Laternenschein ausweichen mußte.
»Nun läuft sie gar nachts allein auf der Straße herum«, bemerkte die Gräfin vernichtend.
»Da ist auch Carry Loon«, machte Olly sie aufmerksam.
»Noch schöner.«
»Es heißt, sie sind verlobt...«
»Verlobungen pflegt man bekanntzugeben«, sagte die Mutter. Sie allerdings konnte sich das nicht anders vorstellen.
»Wer ist dieser Herr Loon?«
»Ein Schweizer«, riefen die Mädchen wie aus einer Kehle.
»Er ist nett, Mama. Am Hofball habe ich mit ihm getanzt.«
»Am Hofball? Wie kam er denn dahin? Man ist wirklich viel zu lax den Ausländern gegenüber.«
»Er tanzt aber gut, und er ist elegant. Du solltest sehen die Schuh’«, sagte Elly zu Odette.
»Mein Genre ist er nicht.«
Die Kutsche hielt vor dem Hause, in welchem Kummerfelds eine hochherrschaftliche Wohnung innehatten; Paulinchen küßte der Gräfin die Hand, gab den Mädchen mit affektiertem Schwunge die Hand und entstieg.
Die Mädchen stießen sich an. »Sie wird immer mehr zur Wiener Komteß«, spottete Odette, und die anderen kicherten.
»Und ihr zweites Wort ist immer demimonde, Mama, dabei könnte sie doch froh sein, wenn ihre Eltern wenigstens so viel gewesen wären«, sagte Elly.
»Ihr Großvater hat noch selbst Schuhe besohlt, ich weiß es gewiß«, versicherte Odette.
»Entsetzlich«, klang es im Chor der Mädchen.
»Das ist an sich keine Schande, es gibt auch brave Leute unter den Schuhmachern, nur maßt man sich dann nicht an, in unsere Kreise zu dringen.«
»Denn sonst wird es schon eine Schande, nicht wahr, Mama.«
Im Balkan hatten blutige Kriege ausgewütet, besiegte Sieger wieder zu Besiegten gemacht. Und es war des Jammers kein Ende.
Daphne war zu einem nächtlichen Spaziergang durch den weichen Schnee mindestens bis zum Siegestor, am liebsten in den Englischen Garten aufgelegt.
»Ich bin jetzt wach wie ein Zeisig«, sagte sie. »So Tag für Tag ins Palais Bland ist doch ein Zwang.«
Vorhin war es zwar der Gedanke an die eigene Familie, der an ihren Nerven riß.
Die Stadt war wieder still und leer; sie hatten schon die ganze Ludwigstraße zurückgelegt, und Carry winkte einem Auto. Es war mit Masken besetzt, die ihnen zujohlten. Er nahm das nächste. »Wäre es nicht schöner zu Fuß?« fragte Daphne, ließ sich aber willenlos hineinheben. Er hatte längst ihre Übermüdung gespürt. »Morgen gehe ich allein zur alten Dame und unterhalte sie.« Eine Sekunde lang kniete Daphne förmlich auf seinen Knien. »Schwöre, daß du mich nicht läßt, selbst wenn ich dich darum anginge!« Aber schon hatte sie sich in ihre eigene Wagenecke zurückgeworfen. Carry, ebenso prompt einen Handschuh abstreifend, erhob zwei Finger zum Schwur. Es geschah mit so feierlicher Lustigkeit, daß sie in Gelächter ausbrach. »Ich meine es aber ernst«, platzte sie aus. Alsbald hob er wieder zwei Finger hoch.
»Ach, Carry«, rief sie, »immer ist man guter Dinge mit dir.« Er umarmte sie sanft, ohne das Kompliment erwidern zu können. Ihm war oft bang um das geliebte Wesen.
Zu Hause angelangt, verstellte der Riesenfiaker der russischen Gesandtschaft die Zufuhr. Geleitet von einem Lakaien, dem der gelbe Livreerock um die Beine schlenkerte, segelte Mrs. Turneycroft durch das Tor.
»Die Schlüsseldame lebt«, bemerkte Carry.
Sie lebte nicht nur. Sie hatte ihren Weg gemacht und das Ziel ihrer Wünsche nahezu erreicht. Und welch einen Kitzel mußte es ihr bereiten, die Münchner Hofkreise hineinzulegen, sie, die vor sechzehn Jahren als Polly Smiders der väterlichen Spelunke eines Vororts von Milwaukee bei Nacht und Nebel, aber nicht allein, entlief, um ein Jahr später als sittsame Doppelwaise unter dem Namen Pamela Smith ihr Glück auf neuen Wegen zu versuchen. Und wie wäre es ihr bei dem sanften Blick ihrer großen naiven Augen nicht begegnet? Konnte man anders, als diesem herzförmigen Gesichtchen, den Reizen dieser Gestalt gewogen sein?
Mr. Turneycroft war ein Narr aus bester Familie, wenn auch kein solcher Tor, daß ihm nicht bald genug, wenn auch zu spät, klargeworden wäre, welch unmögliche Braut er da in Myrtenkranz und Myrtenschleier zur kirchlichen Trauung geführt hatte. War die Vermählung überstürzt, so ging eine Scheidung noch schneller vor sich. Die Welt aber ist groß und einer auch schuldig erkannten Mrs. Turneycroft nicht unbedingt verschlossen. Polly fuhr nach Europa und besah sich die verschiedenen Metropolen. München behagte ihr entschieden am besten. Es war am weitesten vom Schuß, am leichtesten zu narren, am wenigsten gewitzigt; auch Widerstände wie die der Hallensteins, Trachbergs und Hoheneggs ließen sich unschwer verwinden. Diese Leute waren ja viel zu bequem, um mehr als eine passive Resistenz zu bieten. Was unternahm Aribert Zell gegen sie? War ihr vom Grafen Bland del Nero Schlimmeres widerfahren als die Ironie seines Blickes, die gelegentliche Verweigerung eines Grußes? Außerdem war er tot. Viel wichtiger war es, daß sie die Baronin Waldmann für sich gewann, der sie zu einer hellen, standesgemäßen, im ersten, statt im vierten Stock und in der Prinz-Ludwig-, statt in der äußeren Schellingstraße gelegenen Wohnung verhalf. Und die Differenz? — Ei, sie wäre nicht die gerissene Polly Smiders aus Milwaukee gewesen, hätte sie nicht die annehmbare Formel gefunden, sich die alte Baronin dauernd zu verpflichten. Ein Zehntel des ihr gegen sofortige Scheidung überlassenen Kapitals opferte sie schlankweg, um das ganze Spiel zu gewinnen. Es saß ihr übrigens von der elterlichen Spelunke her eine waghalsige Ader im Blut, die mit ihrem Ordnungssinn und allerlei kleinen, aber sympathischen hausfraulichen Talenten kontrastierte. Und wer verstand es, sich eine große Blume einladender anzustecken, wer trug einen verfänglicheren Busen mit unbefangenerem Augenaufschlag zur Schau und einen so runden, weißen, heute noch nirgends gelockerten, gleichsam gurrenden Hals. Auf der russischen Soiree, von welcher sie soeben hochbefriedigt nach Hause kam, hieß es allgemein: »Elle est charmante«, und der arme Trszinsky hatte seit dem Bruch mit Lori Mattrei die ersten angenehmen Momente verlebt.
Soviel war sicher: Sie bedurfte für ihren gesellschaftlichen Aufstieg der Familie Herbst nicht mehr. Vielmehr schien Daphne die Gunst der Monde in dem Maße zu verscherzen, als Mrs. Turneycroft (viele nannten sie schon Pamela) an Boden gewonnen hatte. Es wurde besonders beim Schnudel Mode, zu sagen: »Ich gehe zur Pamela.«
Pamelas Element war die Lüge. Sie schwamm, sie tummelte, sie überschlug sich darin wie ein Fisch in der Flut. Sie machte Kopfsprünge. Wenn sie nicht eine auf die andere stülpte, war ihr nicht wohl. Sie ließ sie wie Bälle steigen und fing sie wieder auf, trieb noch Scherz mit dem, der ihr entfiel; eine Virtuosin, die nicht log aus Notbehelf, sondern aus Herzenslust, und wäre es nur gewesen, um jemanden dabei recht treuherzig anzusehen. Ihre Augen hielten dicht in ihrer reifen Süße und hexten ohne die geringste Mühe schimmernde Tränen hervor.
Da eine ausschließlich katholische Gesellschaft das Feld ihrer Operation war, gab sie sich kurzerhand als Katholikin aus, von ihrer irischen Mutter her, einer O’Connor, Abkömmling irischer Könige (dies nebenbei) »and such a saint!« Was konnte da natürlicher sein, als daß sie keinen Sonntag versäumte, die Zwölfuhrmesse der Frauenkirche, ein Andachtsbuch in Händen, an Seite der Baronin Waldmann zu besuchen? Constantin pflegte um diese Stunde in den Dom zu gehen, dessen Höhe ihn träumerisch stimmte, auch Notburga fand sich ein, und friedlich zog er neben ihr heimwärts. Sie hatten denselben Weg: er begleitete sie noch ein Stück. Sie kam allein. Auch Constantin war allein. Von den Vogtschen Kindern wußte man, daß sie die Theatinerkirche bevorzugten. Daphne aber...? Übel wurde es ihr vermerkt, daß sie hier unweigerlich fehlte. »I am afraid«, sagte Mrs. Turneycroft vieldeutig, »she is not quite what a young girl should be.« Und Daphne. Nein, so wenig wie in Rom ließ sich Daphne betenderweise an Constantins Seite blicken. Am Sonntag vormittag war sie überhaupt nicht aufzufinden, verließ schon zeitig das Haus. Gegen zwölf Uhr trat sie dann mit Carry aus der Pinakothek hervor. Franzl wurde in seiner Parterrewohnung abgeholt, und schritt das Leibregiment unter herrlichen Klängen aus der Türkenkaserne zur Parade, so zogen auch schon die drei Unzertrennlichen die Brienner Straße herauf.
In der Nepomukskirche — vielleicht ist sie zu arm — werden nie gesungene Ämter abgehalten, und dabei ist sie dafür wie erdacht. Hier, wo nie ein bekanntes Gesicht ihr begegnete, hätte man Daphne mit einigem Spürsinn entdeckt, und kein Sonntag verging, ohne daß sie sich über die stumme Orgel betrübte. Dem Mesner war sie bekannt. Er wartete ihrer und ließ sie durch die gewundenen Treppen heimlich zur Galerie empor, die ganz schmal den Mauern entlang bis zu den vier barocken Säulen lief, zwischen welchen, in den Lüften gleichsam, sich noch mal ein Altar aufrichtet, direkt unter dem schwebenden Kreuz, nahe dem entzückenden Plafond und in selber Höhe wie die Fenster, durch die das Licht schräg und entkräftet bricht. Daphne hatte ausfindig gemacht, daß um acht Uhr morgens ein Domkapitular hier oben zelebrierte. Offenbar ein beschaulicher Mann; und sie selbst hätte kein Regen, kein Sturm, keine Kältegrade abgehalten, zu kommen. Niemandem, weder Antonie noch Carry, verriet sie etwas davon, denn sie hätten ihr zu folgen begehrt, und ihr Alleinsein in der Atmosphäre dieser leeren, von den edelgeformten Scheiben belichteten Tribüne gehörte zur Fülle dieser morgendlichen Feier.
Allein, denn Daphne verstand es, sich seinen Blicken zu entziehen, wähnte sich auch der Priester, der, bald rechts, bald links, bald zur Mitte des Altares ziehend, lautlos oder mit einer leis versonnenen Stimme die konsekrierten Worte sprach oder aus dem großen Buche las, das er öffnete und wieder schloß, dessen Seiten sich wie von selbst aufschlugen, und der, ein Bild der Sammlung, seinem Amt mit seltener Ergriffenheit oblag, während der Knabe im roten Chorrock ministrierte. Rührend klangen auf dieser Höhe die silbernen Schellen. Einem Meßopfer, in solcher Weise, einem so gemäßen Rahmen dargebracht, fügte sich als Hintergrund, mitnichten wie eine stumpfe, schwarzbespannte Wand, der bare Zwang des »Glaub oder Verdirb«, sondern er hob sich von dem Worte ab, das nicht eindeutig, dem Raume, der unendlich ist. Daphne lehnte den Kopf zurück, die schwelgenden Augen verschleiert. Kein Wunder, daß sie die Pfade ihrer geistigen Wonnen heimlich, als wären es die Pfade des Lasters, beschritt. Denn nichts störte, nichts unterbrach, kein Mißklang beeinträchtigte sie hier. Ein paar stillose moderne Fenster, mittelmäßiger oder auch nur langweiliger Gesang hätten Daphne verjagt.
Der sogenannte unsinnige Donnerstag löste bei schönstem Wetter einen wahren Taumel in München aus; für den Faschingsmontag war ein Kostümball bei einem der Söhne des Regenten angesagt; dieser hatte Constantin im Schreibwarenladen von Joseph Prantl angetroffen und ihn persönlich aufgefordert, mit seiner Tochter zu erscheinen, die arme Zenaide jedoch mußte bis zuletzt in ihren schweren Galoschen viele Schritte gehen, um eine Einladung für Mrs. Turneycroft zu erreichen; vergebens machte sie geltend, daß in München kein amerikanischer Gesandter, der englische aber abwesend sei, es wurden über ihren Schützling, welcher diese Rolle von der einer Protektorin so abhängig zu machen verstand, Referenzen gefordert, und die waren nicht da. Am Morgen des Tages, an dem die alte Baronin sich genötigt sah, mit dem endgültigen Nein des Zeremonienmeisters herauszurücken, traf es sich, daß sich Pamela des Fahrstuhles, der sich nur selten für sie lohnte, bediente. So fuhr sie zum ersten Male, seit jenem unerquicklichen Vorfall mit dem Schlüssel, mit Daphne zusammen. Kaum hatte sie dann ihre Wohnung betreten, als das Telephon mit der schlimmen Nachricht ertönte.
Wie Metalle den Blitz, so zog Daphne den Haß gewisser Naturen an. »Sie ist eine Jettatora«, vertraute Pamela Zenaiden an und brachte, rachsüchtig wie sie war, das Wort schnell in Umlauf. Es gab ja zwei Parteien, und Daphne wurde von der einen ebensosehr geliebt wie von der anderen verdammt. Zur ersteren gehörten, wie Daglkofer sie bezeichnet hätte, die »schöneren Leut’«, Antonie an der Spitze. »Na, und...?« fragte Pamela. »Hatte sie nicht in demselben Winter ihren einzigen Bruder verloren?«
Viele Herzen, viele Augen betörte ja Daphne in der Tat auf jenem Balle, an dem sie als Sonnenblume erschien: eine Vision in Braun, Gold und Blond. Sie zog von dort, denn er war früh zu Ende, auf ein anderes Fest und tanzte sich in diesen letzten Faschingstagen die Seele aus dem Leibe. Mit Besorgnis nahm Carry eine Sucht sich zu betäuben, bei manchen Zeichen der Erschöpfung, an ihr wahr. Wieviel besorgter wäre er noch gewesen, hätte sein Fernglas bis zu dem Tische gereicht, von welchem Helgas silberne Leuchter, Dosen und Flakons erstrahlten. Nur den Handspiegel aber, nicht den schönen im venezianischen Rahmen, der zwischen den Leuchtern stand, zog Daphne zu Rate, um das Innere ihres Halses und die weißen Flecken zu beschauen, die sich darin zeigten, wenn sie übermüdet war. Warum aber ermüdete sie sich? Um sie zu vergessen; aber wurde sie auf die Weise nicht erst recht daran erinnert? Dafür kam jetzt die lange Fastenzeit, in der sie nicht mehr tanzen, sondern sich erholen konnte.
»Was treibst du heute?« rief Carry am Aschermittwoch gegen zehn Uhr sie an.
Mit schlaffer Hand hatte sie das Hörrohr gefaßt.
»Ich bleibe liegen, bis ich zu Antonie gehe.«
Die meisten jungen Mädchen der Monde mußten an diesem Vormittag in die Messe gehen, um »eingeäschert« zu werden, eine etwas trübe Zeremonie, bei der sie aber weniger die Vergänglichkeit als den Ernst ihrer besonderen Lage vor Augen hatten. Es kamen jetzt noch Routs, doch die Gelegenheiten, es sei denn, daß schon etwas spielte, waren nicht mehr so günstig, kurz befristet zudem; gleich nach Ostern kam noch ein Ball, wer aber bis zu den Frühjahrsrennen, nach welchen alles bis zum nächsten Winter auseinanderstob, nicht sagen konnte: »Ich bin verlobt«, für den war die Saison vertan oder, wie Resi Vogt es voriges Jahr genannt hatte, »versaut«.
Pamela fügte sich den frommen Bräuchen des »bon ton«. Sie schritt mit Zenaiden zum Altar und hielt ihre verlogene, aber weiße Stirne der unliebsamen Asche entgegen.
Am Samstagabend war die Familie Herbst für ein paar mit einer Hand aufzuzählende Freunde zu Hause. Es kam auch Daphnes Lehrer, der einen Cellisten aus dem Konservatorium mitführte. Aber so klein diese Zusammenkünfte waren, ruchbar wurden sie doch, und obwohl Daphne jetzt vielfach als Jettatora galt — Olly Rellpach, die sich am Kleinhesseloher See beim Schlittschuhlaufen den Fuß gebrochen hatte, war ihr drei Tage zuvor in einem Blumenladen begegnet —, Einladungen gegenüber fielen alle Bedenken fort, denn man folgte ihnen einfach zu gern. Sogar Paulinchen Kummerfeld, Daphnes überzeugteste Gegnerin, die immer erst zwei Finger ausstreckte, bevor sie zu ihr sprach, beschwerte sich auf direktem Wege, daß sie noch nie aufgefordert worden sei.
Und eines Abends saßen sie bei Herbsts richtig über den Listen ihrer zu ladenden Gäste unter endlosem Gelächter auf. Jedes hatte die seine und brachte Vorschläge vor, denn der ursprüngliche Plan, alle auf einen Haufen zu bitten, mußte wegen Platzmangels aufgegeben werden.
Es war Franzl, welcher da vorschlug, fürs erste nur die Dümmsten aufzufordern und eine Idiotensoiree daraus zu machen. »Damit wir auch was haben«, meinte er.
»Baron Blau am Klavier!« rief Daphne, ihren Bleistift schwingend.
»Quel talent!« stimmte Franzl in Zenaidens Stimme bei.
»Ich serviere als Mohr mit Daglkofer das kalte Gebäck«, sagte Carry.
»O nein, du sprichst französisch mit Zenaide.«
Constantin hatte vier Kandidaten, aber nur zweien wurde das erforderliche Quantum Dummheit zuerkannt.
»Was sie nur haben, daß sie heute gar so lustig sind«, sagte der Diener zur Köchin. Er mußte eine neue Zufuhr von Wein und Kuchen besorgen, Daphne bereitete Tee, alle waren hungrig geworden, und als gegen zwei Uhr Daphnes Jungfer Harriet von ihrem Ausgang zurückkehrte, hatte sich nur Constantin zur Ruh’ begeben. Die Heiterkeit der drei tobte weiter, sie standen sich mit wässerigen Augen gegenüber und fanden immer etwas Neues auf Waldmannisch zu sagen. »Ich lache mich noch schief«, sagte Franzl. »Daß so ein Abend überhaupt ein Ende nehmen soll«, seufzte Daphne. Es waren aber längst die ersten Morgenstunden des Tages, an welchem Flick nach Hause kam.
Über Flicks Heimkehr waltete insofern ein Mißverständnis, als sie mitnichten, wie angenommen wurde, die Tage ungeduldig zählte. Ihr Abschied von Schwester Vulgentia, für welche sie in letzter Zeit schwärmte, vollzog sich unter so heißen Tränen, daß sie mit verquollenen Augen auf die alte Cilly zuschritt, die vor der Klosterpforte ihrer harrte und Punctilian zum Empfange mitgenommen hatte. Punctilian im Arm und unter Cillys Begleitung trat sie ihre Fahrt nach München an.
Eine grausame Kälte war auf die milden Vorfrühlingslüfte der Faschingstage gefolgt. Wieder häufte sich Schnee; nicht mehr traulichen Scheines wie im Dezember; grell und häßlich stach er von dem schärfer gewordenen Tage ab. Die Dämmerung war noch fern, als drei schöne, aber frierende Gestalten vor der Sperre des Münchner Zentralbahnhofes warteten: ein schweigsamer Constantin, eine Daphne, ganz in Pelze gehüllt, und ein recht unmutiger Franzl in Uniform, die blauen Augen nach der Richtung ausschauend, von welcher der Zug schon lange einlaufen sollte. »Der Fratz hat Verspätung«, murmelte er.
»Da ist sie!« — und Daphne deutete auf eine Lokomotive in der Ferne.
Punctilian im Arm, wie schutzflehend an die alte Cilly gepreßt, mit einem roten, unglücklichen Gesicht, kam Flick in ihren Institutskleidern auf ihre Angehörigen zu. Constantin drängte zu einem Wagen, man ließ sie mit ihm vorausgehen. Die andern folgten. »Was hat sie?« fragte Daphne leise. »Sie hätte noch bleiben wollen«, sagte Cilly. »Aber im Herbst schrieb sie doch, wir sollten sie endlich holen.« »Damals hat’s ihr nimmer gepaßt, nur nix sagen«, flüsterte die Alte. »Du siehst, wie es pressierte«, warf Franzl hin, ließ das Gepäck aufladen und verabschiedete sich. Er ging zu Fuß.
Die Möbel in Flicks Zimmer waren weiß, grün und weiß die vorherrschenden Farben. Daphne lief voran, um es ihr zu zeigen. »Wie hell«, rief Flick.
»Es ist das hellste von allen«, bestätigte Daphne, ohne zu ahnen, daß der Ausruf eine Kritik bedeutete.
Um ehrlich zu sein: Nicht nur der Morgensonne wegen sah es nach der entgegengesetzten Seite auf die Anlagen hinaus. Daphne gedachte niemanden in ihrer nächsten Nähe zu haben. Schon wegen des Telephons. Sie wohnte am anderen Ende des Ganges mit Harriet als ihrem Gegenüber.
»Komm zum Tee, Flick, du bist erfroren; wir sind es alle«, und sie zog sie mit.
»Wie hübsch!« entfuhr es dieser, als sie den Salon betrat. Hier waren die Gardinen schon herabgelassen. Nur zwei Lampen breiteten unter weitausladenden Schirmen ihren Schein. Sie setzte sich in die dunkelste Ecke, und Daphne ließ sie gewähren, denn ihre Verlegenheit war ersichtlich.
»Gar nix sagen«, hatte Cilly geraten, und die kannte sie ja am besten.
Die nächsten Tage drehten sich natürlich größtenteils um Flick, die ihrem Pelerinenkleid treu bleiben wollte und sich nur mit Mühe zu einem Rundgang durch die Modegeschäfte überreden ließ.
Die Anproben erwiesen sich als eine dankbare Aufgabe.
Niemand hätte in dem reizend aufgeschossenen Mädchen das unangenehme und halbwüchsige Wesen erkannt, das, eng an seine Bonne angeschlossen, mit einem roten Nichts von Gesicht ohne Augenbrauen, seinen Einzug hielt. Neben Flick verblaßte Daphne mit einem Schlag zu einem Pastell, das, wie immer prunkvoll, der Sonne zu lange ausgesetzt oder einfach vom Tageslicht verzehrt worden wäre. »Passée Herbst«, nannte sie der Major von Dürr, als er sie mit ihrer Schwester einherkommen sah. Er war ohnehin erbittert. Adele von der Lerch hatte zwar keinen anderen Verlobten, dennoch war sie ihm wie ihren nachrückenden Schwestern sowie der eigenen Torschlußpanik entronnen. Dank einer Tante, die sich ihrer Lage erbarmte und ihr zu einer Hofdamenstelle verhalf. Nun führte Adele die sieben weißen Hündchen einer alten Hoheit spazieren, lernte auch sonder Wank rückwärts auf dem Parkett bis zur Türe zu gehen und, bevor sie dieselbe öffnete und hinter sich schloß und ihrem Nichts anheimfiel, nochmals in eine tiefe Verbeugung zu versinken. Aber war sie dafür außerhalb ihrer Dienststunden nicht frei? Hatte sie nicht ihre eigene Wohnung, in den Mansarden, zugegeben, aber war sie nicht jung, was schadeten ihr Treppen, und war sie nicht von einer unterdrückten und belanglosen Baronesse über Nacht auf eigene Faust zur Frau Baronin avanciert, statt in Niederbayern an der Seite des Majors zu leben? Auch wir freuen uns, sie von ihren Nöten erlöst zu wissen, und wenden uns wieder der Familie Herbst und ihrem neuen Ankömmling zu; denn ihn gilt es.
Constantin konnte nicht mehr spotten: Locken und kein Kopf, so glücklich täuschte über dessen Kleinheit die blonde Fülle dieser Locken weg. Sogar Franzl sagte: »Mein Kompliment«, als er Flick zum ersten Male im Abendkleide sah. Carry betrachtete sie mit geheimer Aufmerksamkeit, und nur Antonie wollte nicht mehr als eine beauté du diable in ihr sehen.
»Keine Augenbrauen«, bemerkte sie und dachte: »Ein ganz undefinierbarer Mund.« Aber wer versah sich des Mundes und der fehlenden Brauen angesichts dieser Augensterne, so dunkel und groß, die das helle Gesichtchen verschlangen. Augen ohne Heiterkeit, es ist wahr, doch um so fesselnder durch ihren geflammten Hauch, dem eines schweren Falters vergleichbar. Und hatte man schon ein so zierliches Näschen gesehen?
Es vergingen vierzehn Tage und mehr, ehe Daphne sich eingestand, daß Gespräche mit Flick sie ermüdeten; sie schob es auf den Altersunterschied. Flick hingegen bewunderte Daphne über die Maßen. Wie sehr diese ihr auch Franzls Braut rühmte, wies sie auch nur den Gedanken einer Gleichstellung weit zurück, und Schwester Vulgentia war so abgetan wie das Pelerinenkleid. Dafür sprach sie nur in Hyperbeln von Daphne, und unentschieden blieb nur ihr Gefühl; denn auch ihr war doch am wohlsten bei der alten Cilly, die alles, was sie äußerte, mit einem zustimmenden Gebrumme beantwortete. »Bei dir ist’s am schönsten«, sagte sie und setzte sich in ihre überheizte Stube. Daphne hatte Leonhard, den alten Diener, außer Hause logiert, um Cilly neben Flick unterzubringen, und meistens stand die Durchgangstüre zwischen ihnen offen. Flick empfand es sehr merklich als Störung, wenn jemand hinzutrat. Übrigens fuhr Punctilian auf jeden los. Recht wie eine Doppelwaise saß sie bei ihrer alten Cilly, kam Besuch, so lief sie sogleich zu ihr. Constantin, der Gewohnheitsmensch, richtete seine Worte zumeist an Daphne und war mit seiner Jüngsten noch nicht heimisch. Nur deren Nachahmungskünste bereiteten ihm Spaß. Es kamen ganze Revuen zustande. Sämtliche Klosterfrauen, wahre Glanznummern, ließ sie vorüberziehen und ergötzte die ganze Familie. Immer mußte auch Cilly hinzu. Nein, das Zusammenleben hatte nicht gelitten, man konnte das nicht sagen. Zu Anfang nicht. Schade, daß Flick nicht anderen Kreisen entstammte und sich zu keinem Beruf genötigt sah. Ihre schauspielerische Begabung war unverkennbar. Aber eine Schüchternheit, ja ein Ungeschick in ihrem Benehmen ließ nicht einmal den Gedanken an eine Ausbildung aufkommen. Es fehlte ihr jede Spur der Herbstschen Haltung. Sie hatte eine Art, von Helga als der Mama selig zu reden, die allen einen Riß gab. »Die Dinge sind in ihrem Kopf noch nicht eingeordnet«, meinte Carry. Onkel Aribert, nach kurzem Zaudern, lehnte sie ab. Sie selbst hegte für Notburga eine mit Eifersucht stark vermischte Abneigung, von welcher sie aber nur Cilly Stunden hindurch erzählte. Daphne war der Meinung, daß sie es nicht leicht hatte. Das arme Kind war überzählig nach wie vor, und dies bei einem etwas schwierigen, wenn auch gewiß edlen Charakter.
»Du spielst aber gut«, sagte Flick zu Daphne, nach dem ersten Trioabend, dem sie beiwohnte.
»Ja, und du, was ist mit dir?«
»Oh, meine Geige war zu schlecht. Ich habe sie weggegeben.«
Helga hatte in den letzten Monaten ihres Lebens zwei Amati geopfert, um den Stradivarius erwerben zu können. Flick sollte jedoch eine gute Violine haben, und Daphne besprach die Sache mit ihrem Lehrer. Sie beschloß, ihren Jungmädchenschmuck herzugeben, den brauchte sie nicht mehr, und eine Kompensation stand Flick gewiß zu. Ohnedies nahte ihr Geburtstag, und so wurde mit vereinten Kräften eine Guadagnini gestiftet. »Ich hätte den Stradivarius nur gern gehabt, weil die Mutter« — sie sagte zum Glück nicht mehr Mama selig — »darauf spielte«, sagte Flick. Aber Daphne nahm an, daß sie sich über das Geschenk dennoch freue.
Daphne hatte Flick, die nie von selbst zu ihr herüberkam, in ihr Zimmer gerufen. Sie stand vor Helgas etwas altmodischer, reich mit rot ausgepolsterten Fächern versehenen Schatulle.
»Wir müssen an die Teilung des Schmuckes gehen. Sag, was du gerne hättest.« Aber Flick wehrte heftig ab. Ihre ungestümen Bewegungen paßten nicht zu ihrer ebenmäßigen Gestalt. »Ich will nicht. Du mußt alles behalten. Dir steht er so gut.«
»Unsinn, das wird bei dir nicht anders sein.« Und sie breitete Ringe, Kolliers, Broschen, Armbänder, Nadeln und Ketten, eine Tiara und schöne Steine in alter Fassung vor ihr aus. »Wähle. Wir lassen dann alles werten. In solchen Dingen muß man Ordnung halten.«
»Nein, ich will nicht. Ich verzichte.« Und nach einem raschen Blick: »Nur den großen Rubin hätte ich gern, weil ihn die Mutter immer getragen hat.«
»Den hat Franz für Lori gewünscht.«
»Oh. — Es ist das einzige, was ich gewollt hätte. Weil ihn die Mutter immer getragen hat.«
»Sie trug auch diesen.« Und Daphne hielt ihr einen Smaragdring hin: »Es sind auch die Silbersachen da.«
»Aber was tue ich damit?« und Flick warf wieder einen raschen Blick auf Helgas Toilettenspiegel und die massiven Leuchter. »Es wäre gar kein Platz auf meinem Tisch.«
»Dann wechseln wir einfach die Tische.«
»Aber nein, du sollst alles behalten. Ich will nichts. Ich verzichte.«
Daphne seufzte. »Wie wollen wir da zum Ende kommen?«
Flicks Bewegungen wurden immer hastiger: »Ich will nichts. Ich verzichte«, und damit lief sie zur Türe hinaus.
Daphne holte sich wieder Rat bei Cilly und wählte einen Zeitpunkt, wo Flick außer Hause war. Aber Cilly war nicht die mitteilsame Kinderfrau von einst. Einsilbig und diplomatisch, als stünde sie unter einem Druck. »Sie möchte halt die Geige«, sagte sie nur; und beugte sich wieder über ihren Koffer. Denn ihre Base war erkrankt; sie wollte deren Enkel betreuen und stand im Begriff zu packen. Von einer Rückkehr sagte sie nichts.
»Was tun wir ohne dich, Cilly? Was geschieht?« Aber dann ging sie, denn Punctilian war nicht zu beruhigen, und sein Gekläffe zerriß ihr die Ohren.
Cilly fuhr ab zur allgemeinen Bestürzung, auch Harriet machte ein Gesicht, weil sie sich nun in die beiden Fräuleins teilen sollte. Um Flick zu beschäftigen, stellte ihr Daphne die häuslichen Angelegenheiten unter, denn es war ersichtlich, daß sie gerne Befehle erließ. Antonie fand dies verfrüht, aber Flick hatte schon eingewilligt, und je eher sie Daphnes Stelle vertreten lernte, je besser. Ablenken mußte man sie doch auch. Über Cillys Abreise weinte sie sich wieder krank. Geistige Interessen zeigte sie noch keine, und ihr gesellschaftliches Ungeschick blieb bestehen. Ein Komtessentee, an welchem Daphne, die ältere Schwester herauskehrend, nicht teilnahm, schlug gänzlich fehl. Flick verging vor Verlegenheit. Abends aber kritisierte sie eine jede so hartnäckig, bis alle gähnten. »Wie wäre es, wenn wir jetzt jemanden lobten?« schlug Carry vor. Flick erhob sich und ging. Es gelang Daphne nicht, sie zurückzuholen; sie beharrte im Dunkel ihres Zimmers. Nein, es war nicht wie früher. Flick bestimmte jetzt die Menüs, welche bisher die Köchin besorgte; zum Glück währte ihr Eifer nicht lang. Die Samstagtrios aber gingen in die Brüche. Daphne hatte stets für ein, in Anbetracht der kleinen Versammlung, glänzendes Büfett gesorgt; besonders die Musiker wollte sie damit ehren. Aber Flick ließ Sandplätzchen, Tee, Bier und Salzbrezeln auffahren, und das Speisezimmer blieb geschlossen. »Wird geweißt?« spottete Onkel Aribert. Und das Tischchen überblickend: »Wo bleiben unsere sonstigen Herrlichkeiten?«
»Das geht nicht, das geht absolut nicht«, sagte Daphne später zu Flick. »Du hast doch gesehen, was wir sonst geben.«
»Gut, dann lege ich alles nieder«, rief die andere, als spräche sie von einem Ministerposten. »Es gehört sich nicht, in der Fastenzeit eine Unmenge Eßwaren zu stellen, wir sind keine Protestanten«, und sie sah zu ihrem Vater hin, seine Parteinahme erhoffend. »Sie ist eine Gans«, brauste Franzl auf.
Constantin, auf das peinlichste berührt, seine Kinder streiten zu sehen — ein unerhörtes Vorkommnis in seinem Hause —, zog sich wortlos von ihnen zurück. Nein, es war nicht mehr wie sonst.
Redeten sich aber die paar nächststehenden Freunde in eine Abneigung für Flick hinein, so erstand ihr andrerseits, ohne ihr Zutun, eine täglich wachsende Partei. Daß Constantin nicht mehr »so allein und verlassen« wie bisher sonntags in der Frauenkirche erschien, sondern die strahlend junge Tochter zur Seite hatte, mußte den besten Eindruck erwecken. Die kannte ihre Pflicht. Beschämend genug für Passée Herbst, die atheistische Poseuse. Weniger angenehm empfand es Notburga, deren Heimkehr mit dem Freunde ihrer Jugend so empfindlich gestört war, daß sie nicht mehr in diese Messe zu kommen beschloß. Zwar ließ Constantin auch heute Flick allein ins Haus eintreten, wie sonst geleitete er Notburga bis zu ihrer Tür, alsbald stellte sich auch die alte Gemütlichkeit wieder her, allein die spröde, ja geringschätzige Miene Flicks beim Abschiednehmen hatte Notburga empört.
Es war der dritte Sonntag nach Flicks Ankunft. Zenaide und Mrs. Turneycroft zogen hinter dem Trio einher. Eigentlich war es nicht ihr Weg, aber Zenaide, als fände sie sich in ihre alte Hofdamenrolle zurecht, paßte sich ohne Widerrede den Wünschen ihres Schützlings, ihrer Protektorin an; und diese, obwohl sie Daphne unentwegt die Ehre abschnitt, interessierte sich nach wie vor für die Familie Herbst und wünschte nach wie vor in Beziehung mit ihr zu treten. Auch im Dom, sie erschien stets um eine Idee zu spät, wählte sie einen Platz, der in Constantins Gesichtsfeld fiel. Sogar ihr riesiges Gebetbuch hatte er nicht umhinkönnen zu bemerken. Es war von Sterbebildern mit und ohne Photographien angeschwellt. Weiter als ein Jahr reichte die Rundschau der hoffähig gewesenen Toten nicht zurück, aber sogar das ironische Gesicht des letzten Grafen Bland del Nero sah zwischen den Seiten hervor. Es war als Trophäe, anhaben konnte er ihr nichts mehr, wer weiß wie, in ihren Besitz gelangt. »She is divine!« rief sie auch heute beim Anblicke Flicks, so laut, daß diese es hörte. Sie stand vor dem Portal an der Seite ihres Vaters, der auf Notburga wartete. Und wirklich gemahnte sie an einen großen, von Frühlingswinden ein wenig verwehten Veilchenstrauß. Ein paar Locken hatten sich gelöst, und die dunkel geflammten Augen in dem hellen Gesicht hatten die melancholische Schwere der kaum erschlossenen Magnolienblüte, die eine rauhe und stürmische Luft bedroht. »She is divine«, sagte Pamela, ihre Schritte beschleunigend, und sie drängte Zenaide ins Haus, als Flick es kaum betreten hatte. »Stell mir die Kleine vor«, sagte sie. So geschah’s, und Zenaide konnte gehen.
»Sie bezauberndes Geschöpf!« sagte Pamela.
Flick errötete.
»Der Lift befindet sich in Fahrt. Wollen wir die wenigen Stufen bis zu meiner Türe zusammen gehen?«
Schüchtern schloß Flick sich ihr an.
»Da uns der Zufall zusammenführte, müssen Sie einen Moment zu mir herein.«
Flick erschrak.
Den Arm zärtlich um ihre Taille legend, zog Mrs. Turneycroft die jüngste Herbst in ihr Heim, welches diese eine Stunde später in hochgradiger Begeisterung verließ.
Als Daphne und Franzl von der Parade kamen und noch ehe es zu Tisch ging, hatte sie ihrem Vater von der entzückenden Dame, die unten wohnte, vorgeschwärmt.
»Flick hat sich mit unserer Nachbarin angefreundet«, sagte Constantin im Laufe des Essens.
»Wie kommt das?« fragte Franzl brüsk.
Flick warf den Kopf zurück. »Sie hat mich eingeladen.«
»Sie hat dich eingeladen? Sieh mal an, und du bist ihr sogleich in die Falle gegangen?«
»Es ist uns bisher gelungen, nicht mit ihr zu verkehren«, sagte Daphne.
»Sie scheint eine sehr einwandfreie Dame«, wand Constantin ein, dem ihre fromme Haltung und das große Gebetbuch vorschwebten.
»Wir wissen in der Tat gar nichts Bestimmtes«, sagte Daphne und wollte ablenken, denn Flicks Augen waren klein geworden, der Mund wie zerfranst, und sie sah wieder dem Backfisch, der mit einem roten Nichts von Gesicht seinen Einzug hielt, zum Verwechseln ähnlich.
»Wir wissen gar nichts«, sagte Daphne und warf ihrem Bruder einen Blick zu, den Flick statt seiner auffing.
»Wir vermuten nur«, lachte der, und zu seinem Vater gewendet: »Wenn dieser Klüngel hier einmal von seiner Exklusivität absieht, dann lachen die Hühner. Dann fällt er ganz gewiß auf eine Abenteuerin aus dem Ausland herein.«
»Sie ist keine Abenteuerin!« fuhr Flick auf, im Gefühl, loyal zu handeln, indem sie die Partei der Dame ergriff.
»Wir wollen uns genau erkundigen, da sie dir gefällt«, sagte Daphne, »und uns freuen, falls du recht behältst.«
»Ihr wißt gar nichts, sagt doch, was ihr wißt. Es ist alles Verleumdung.«
»Genug«, sagte Constantin, »deine Schwester versteht die Dinge besser als du.«
»Hör jetzt auf«, fuhr Franzl unnötigerweise dazwischen. Da beharrte sie um so mehr auf ihrem Text. »Wenn ich von deiner Antonie solche Dinge sagen wollte«, brach sie gegen Daphne los.
»Nichts zu machen. Es ist der helle Unverstand!« rief Franzl und lehnte sich zurück.
Da Flick sah, daß sie den kürzeren zog, lief sie weinend vom Tische weg. Constantin legte die Serviette hin. Er war erblaßt. Seine Autorität kam nicht in Frage. Ein Vater war er nie gewesen; die Rolle des jüngeren Bruders, die seine frühen Kinder ihm zugewiesen hatten — seine Scheu erratend —, war die einzige, die sein Herz erfreute, ja die er ertrug. »Il est comme ça un Schlappié«, sagte Zenaide von ihm, womit sie natürlich seine Nachsicht Daphne gegenüber meinte. »Ihr werdet noch viel Kummer mit Flick haben«, sagte er niedergeschlagen. Daphne wollte dies keinen Augenblick gelten lassen, aber sie dachte: »Die mich ersetzen? Es gibt nur Notburga.« Nachdenklich bereitete sie den Kaffee, ein Amt, das sie nach kurzem Interim stillschweigend wieder übernommen hatte.
Flick kam nicht mehr zum Vorschein. Punctilian im Arm, das Gesicht gegen die Scheiben gedrückt, waren es nicht die Ausfälle Franzls, die ihr zu schaffen gaben. Ihm, sonderbarerweise, trug sie nichts nach. Mit einem einzigen Worte besänftigte er sie wieder. Jener Blick Daphnes dagegen, der ihm gegolten und den sie statt seiner aufgefangen hatte, und jene Worte Constantins: »Daphne weiß es besser«, sie waren es vor allem, welche den Aufruhr in ihr anrichteten. Zwar hielt sie ihren Hang, ihr alles nachzutun, noch immer für Bewunderung. Sie konnte mit der Hand an die Stirne fahren, den Kopf aufstützen wie sie, auch Daphnes verschleierte Stimme bei Gelegenheit gut nachahmen, Ton und Worte aber stimmten nie dazu, noch die Bewegungen, und freie Gesten im Stile Daphnes mißlangen beim geringsten Versuch. Um jedoch auch eine Freundin zu haben und ihr tägliche Besuche zu entrichten, dazu brauchte sie nicht weit zu gehen. »Do come again«, hatte die entzückende Dame unten gesagt und nur von ihr gesprochen, nach den andern gar nicht gefragt und ihr ein Buch mitgegeben, das sie sehr bald zurückbringen sollte: »Promise!«, und sie hatte versprochen. Man muß immer ein Versprechen halten. Nicht lang, und sie steckte jeden Tag bei ihr.
Pamela verstand es ungleich besser mit ihr umzugehen als Daphne, die an ihr herumriet, sich den Kopf über sie zerbrach und noch immer an ihre Vernunft appellieren wollte, die nicht vorhanden war. Nicht nur, daß Pamela Flicks Instinkten in findigster Weise schmeichelte, sie beherrschte sie zugleich vollständig, die Störrische war schmiegsamer als dänisches Leder in ihrer Hand. Wie froh und geehrt würde sich Flick gefühlt haben, wenn Daphne sich über ihre Beziehungen zu Carry mitteilsamer gezeigt und sie zur Vertrauten erhoben hätte. Dies eben tat Pamela und ließ ihr von ihren Herzensaffären durchblicken, was ihr gutdünkte. Sie war seit kurzem Trszinskys Geliebte. Flick vernahm von seiner unglücklichen, aber grenzenlosen Liebe zu Pamela, und mit unsäglicher Genugtuung durfte sie sich als Eingeweihte empfinden; eingeweiht in die Nöte, die Komplikationen im Seelenleben einer schönen und gefeierten Frau. Denn Pamela war nicht aus einem Stücke. Mehr als einmal, auf der Jagd nach einer guten Partie, hatte sie infolge erotischer Extratouren günstige Anschlüsse verpaßt. Wie hätte sie dem schönen Trszinsky widerstanden? Er war mit keiner anderen Braut von Loris Gnaden zu entschädigen gewesen. Die Lage der Dinge zwischen ihnen, seine Natur, ließ keinen versöhnlichen Ausklang zu. Er tobte. Er war ruhelos, und er war allein; eine gegebene Beute für Pamela, auch er. In einem Schimmer von Güte und Verstehen kam sie ihm entgegen. In ihren kundigen Armen fand er die Betäubung, die er suchte. Pamelas kitschige Wohnung war reich an rosa verhängten Lampen, falschen Antiquitäten, schneeigen Musselindraperien, imitierten Teppichen und Portieren. Trszinsky hatte Geschmack, wenn auch! Den Amoretten, die hier herumflogen, hafteten samt und sonders kleine Teufelshörner an. Gleichviel: Gerade diese breitstirnigen Amoretten träufelten ihm den Balsam der Vergessenheit ein, keine neue, nur eine neue Art von Liebe vermochte ihn zu halten. Und verstand die neue Gebieterin auf ihren gemieteten Ottomanen, auf welche so zart getönte Seidenstoffe gebreitet und so viele kleidsame Kissen geschichtet waren, nicht in der Tat wie eine Titania sich zu lagern? Wie hätte seinerseits der junge Trszinsky ihr widerstanden?
Wir haben gesehen, daß Pamela sich erst richtig in ihrem Element fühlte, wenn sie Lügen über Lügen wie ihre Polster virtuos aufstapelte, und ein siebzehnjähriges junges Mädchen frisch aus dem Kloster mußte die erwünschte Folie für ihre gegenwärtigen Heimlichkeiten stellen. Daß andererseits die ahnungslose Flick in dieser Luft sich glücklich fühlte, hing wohl auch irgendwie mit der Frühlingsschwere ihrer Augen zusammen, die an die kaum erschlossene Magnolienblüte gemahnte. Sie gehorchte Pamela auf den Wink und kam ihren Wünschen zuvor. Erschien Trszinsky, so empfahl sie sich unverweilt, stolz darauf, daß sie »alles wußte« und im Grunde diejenige war, welche Pamela »mehr liebte«, während sie Trszinsky »nur tröstete«. Der wissende und feierliche Blick, mit welchem sie sich verabschiedete, ergötzte Pamela nicht wenig, sie verstand es aber zugleich, die törichte Jungfrau zu entschädigen und in Spannung zu halten.
»Ich heiße Flick«, hatte diese auf Befragen erwidert. Pamela war erschreckt zurückgetreten. »Das ist nicht möglich. Es wäre empörend. So hieß mein Foxterrier.«
Flick war errötet.
»Und so etwas duldet Ihre ältere Schwester?«
Aber Flick sang Daphnes Lob.
Was Pamela nicht hinderte, mit aufgeregten Schritten hin und her zu gehen:
»Sprechen Sie mir nicht von ihr.« Sie sagte nichts weiter, als beliebe es ihr nicht, ihre Meinung auszusprechen.
Wenn Flick keine Befehle erteilte oder nicht häkelte, stickte sie am liebsten an einem Stil- oder Kreuzelstichdeckchen. Die schöne Geige holte sie kein einziges Mal hervor. Für Bücher hegte sie dieselbe Abneigung wie Franzl. Was blieb, die Leere ihrer Stunden zu täuschen, als ein müßiges Hin- und Herdenken über Dinge, welche Pamela mit so ausgemachtem Vorbedacht zu ihr sagte. Ja, sie hatte alle Muße, über alle Unbill zu sinnen, die ihr Anteil waren. Fürs erste hatte sie einen Hundenamen. Sie hieß wie ein Hund. Pamela hatte es selber gesagt. Sie nannte sich wie ein Hund, und Daphne duldete es. Sie selber aber hieß Daphne. Daß diese sieben Jahre zählte, als Flick sich den Namen selbst zulegte, zu einer so naheliegenden Folgerung gelangte sie nicht. So licht war es nicht in ihrem degenerierten Köpfchen. Nach wie vor blieben Locken dessen vorwiegender Bestandteil. Innen drin fehlte der Raum für das elementarste Nebeneinander, die primitivste Logik. Nur eine ständige, streng ablenkende Arbeit oder Beschäftigung hätten über die Mängel ihres Geistes hinweghelfen, ihnen zu steuern, den Ausgleich mit manchen glänzenden Anlagen und Ansätzen zu schaffen, den Harm hintanzuhalten vermocht. Flick war nicht nur äußerlich ein großer Blender. Sie war es auch für sich selbst. Bei einer brennenden Beobachtungsgabe fehlte jede Möglichkeit, einen einzigen, psychologisch richtigen Schluß zu ziehen. Wie Drähte ohne Knotenpunkt, so hingen alle Leitungen ihres Intellektes leer. In steter Betätigung, wie Gesunde, unter scharfer Kontrolle, wie Kranke, können so manche Wesen zu einer wenn auch bedingten Brauchbarkeit sich entwickeln, die auf eigene Faust nur Unfug anrichten und stets von einer Rückentwicklung bedroht sind. Aber nichts von all dem erkannte Daphne. Sie wußte nicht, daß es Geschöpfe wie ihre Schwester gab, die zwischen dem Kobold und dem Menschen — ja unter Umständen dem Engel, wer weiß? — die problematische, gefährliche Mitte behaupteten. In ihrer Scheu vor Szenen gewährte sie ihr, wo sie nur konnte.
Bei Antonie aber saß sie eines Tages mit Franzl und Carry wegen der Nachbarin zu Rat. »Sie ist jeden Tag bei ihr«, seufzte Daphne, »ich weiß es von Harriet. Während ich hier bin, ist sie dort.« »Personen, wie die Turneycroft«, meinte Antonie, »pflegen von selbst abzuwirtschaften, und es dauert meist nicht lange, bis ihre Netze zerreißen.« »Es frägt sich nur, mit wem wir sie einladen sollen, wozu wir am Ende«, nahm Daphne wieder auf, »doch kommen müssen. Wenn wir fortfahren, die Bekanntschaft abzulehnen, wird es natürlich zum Affront. Gesellschaften geben wir keine. Wir haben nur unsere Samstage, Onkel Aribert würde sich bedanken, von Notburga nicht zu reden, und der ganze Abend wäre verdorben. Bitten wir sie allein, so ist sie erst recht beleidigt.« »Soll sie zur Idiotensoiree kommen. Da gibt’s Leute genug«, warf Franzl hin. »Halte nur dicht, um Gottes willen. Wenn Flick ahnte...« »Sie verriete euch glatt«, sagte Carry. Daphne warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ohne es zu wollen«, setzte er hinzu. Er dachte am schroffsten über sie. Sie nahm Daphnes Zeit zu sehr in Beschlag. Es war, als ob sie jene Worte der armen Helga: »Wir kümmern uns zu wenig um Flick«, zur Richtschnur ihres Verhaltens genommen hätte. So manche Abende, früher mit Carry verbracht, widmete sie ihr, nahm sie in alle Konzerte und fast alle Theater mit, trotz der Störung, die ihr Beisein unweigerlich mit sich brachte. Man wußte selbst nicht, warum. »Es ist sonderbar«, sagte Carry eines Tages, »wie gänzlich ihr, bei einem so bestechenden Äußeren, jede Atmosphäre abgeht. Bestenfalls fühlt man ein Vakuum neben sich. Bestenfalles, und wenn sie gerade guter Laune ist. Denn oft geht etwas Gewalttätiges, ja Unheimliches von ihr aus.«
»Sie ist gut, sie ist nur schwierig. Vielleicht bin ich ihr im Weg. Vielleicht wird sie sich, wenn sie allein ist, vortrefflich bewähren. Nur noch zwei Monate Geduld, Carry.«
Aber tags darauf kündigte Harriet. Die eine Hand trug sie im Verband, nun hatte Punctilian sie auch in die andere gebissen. Dem doppelten Dienst der Fräuleins könne sie nicht gerecht werden.
»Wie kannst du mir dies antun?« sagte Daphne bestürzt.
Aber Harriet bat in bewegten Worten, sie nur als beurlaubt anzusehen, sie wolle keine neue Stelle nehmen und stünde für später zur Verfügung. Daphne hoffte sie noch zu halten und ging zu Flick, Punctilians Gekläffe nicht achtend, die Hände in den Jackentaschen. »Halt ihn doch an der Leine. Nun verläßt uns Harriet wegen dieses Biestes«, sagte sie ärgerlich. »Sie neckt ihn immer, es ist ihre Schuld«, eiferte Flick. »Wer neckt ein so widerwärtiges Tier. Necke ich ihn vielleicht? Hör’ mir das an.« »Der Cilly tat er nie etwas.« »Ach, die hat ihn schön erzogen!« »Es ist alles nur, weil du Hunde nicht magst.« »Ich spreche nicht von Hunden, sondern von Harriet. Ich habe sie gerne mit dir geteilt. Aber du hättest mir das ersparen sollen. Es ist mir ein Schlag, daß sie geht.« »Als ob es nicht Jungfern genug gäbe. Man nimmt halt eine andere.« Ein plötzlicher Verdacht, daß Flick diese Wendung gewünscht und vorbereitet hatte, stieg in ihr auf. »Zehn Jahre ist Harriet bei uns gewesen«, sagte Daphne im scharfen Tone, »und auch du hättest mehr Grund, ihr anhänglich zu sein wie diesem bissigen Spitz.«
Über diese Anspielung geriet Flick außer sich. Sie nahm ihn, hielt ihn fest. »Wir passen zusammen«, rief sie, »auch ich habe nur einen Hundenamen.« Daphne verließ das Zimmer. Sie bereute, daß sie gekommen war. Es führte zu nichts, mit Flick zu diskutieren. Sie sah alles verkehrt. Eigentlich hätte Punctilian sie stets an den Tag erinnern sollen, dessen Stachel sie angeblich nie verwand, er war der Anlaß, daß sie ihre Mutter nicht mehr lebend antraf. Und da war Harriet, dies lebende Erbstück Helgas, die zur Familie gehörte.
»Flick«, sagte Daphne tags darauf. »Ist es, daß dein Name dir mißfällt? Dann nennen wir dich Philiberte. So heißt du in Wirklichkeit.«
»Nein, o nein!« war da ihr Ausruf, von einer heftigen Gebärde begleitet, als drücke sie ein Cilicium in ihr Fleisch. »Nein, wie ich heiße, so heiße ich.«
»Du hast dich selbst so genannt, wie du klein warst, ich fände es aber viel richtiger...«
»Nein, nein«, unterbrach sie Flick. Ihre müßigen Gedanken hingen mit wahrer Leidenschaft an allem, was ihr zum Torte geschah. Von ihren Gründen zur Klage konnte sie keinen entbehren.
Aber bereitwillig übernahm sie die Sorge, einen Ersatz für Harriet zu suchen, und fuhr mit Pamela zu den guten Hirten, einem Kloster in der Au, um, wie sie vor ihrem Vater geltend machte, ein braves Mädchen zu sichern. Es war bald gefunden und bezog Cillys Zimmer neben Flick. Daphne, durch Schaden gewitzt, gedachte sich ohne dessen Dienste zu behelfen. Am Abend nach Harriets Abreise war sie allein von der Familie bei Onkel Aribert eingeladen; und wer flog da hin und her mit einer Gefälligkeit ohnegleichen, voll Freude, ihr behilflich zu sein (oder war es die Befriedigung über Harriets Scheiden, man wußte es nie bei Flick, am wenigsten sie selbst) — aber Daphne staunte, sie war wie von einem Engel bedient; wie auf Flügeln umgab Flick ihre im Augenblick wahrhaft geliebte Schwester, zwang sie, die langen Ohrringe, das Geschmeide, auch die Perlen anzulegen, und »so bist du am schönsten!« rief sie in echter und so überzeugender Bewunderung, daß Daphne sich schwere Vorwürfe machte, Flick verkannt zu haben. Ja, es kam noch am selben Abend zu einer richtigen Meinungsverschiedenheit mit Carry, den Onkel Aribert ihr zum Tischnachbarn bestimmt hatte.
Und um dieselbe Zeit saß Flick unten bei Pamela, zu deren Mißvergnügen sie sich in Schilderungen über Daphnes Kleid erging, wie die Seide des Röckchens ausstrahlte, die Steine funkelten, die Perlen ihr standen, die zarte, nur wie angedeutete Tiara in ihrem Haare blitzte. Es sei alles so gut auch ohne Harriet gegangen. Flick war ehrlich begeistert.
»Es ist doch der Schmuck ihrer Mutter«, sagte Pamela streng.
»Hat sie ihn noch immer nicht mit dir geteilt?«
»Ich will doch nicht. Sie soll alles behalten. Ich habe verzichtet!« rief Flick exaltiert.
Zum Unterschied von Pamela, die Fangball mit ihren Lügen spielte, sagte Flick immer nur die halbe Wahrheit.
Jetzt aber war es Pamela, welche Feuer fing. Wenn schon, dann sollte das hirnverbrannte Geschöpf lieber ihr selbst etwas zustecken.
»But this is outrageous, you poor poor darling«, und sie drückte Flick, die nichts so liebte, wie bemitleidet zu werden, an ihr Herz und sprach so lang von deren Edelmut, von dem Mißbrauch, der damit getrieben wurde, bis Flick, sich ganz als Opfer fühlend, unter bittern Tränen gestand, einzig und allein den großen Rubin hätte sie beansprucht, aber der sei weg.
Als Haupt der Flickpartei gab Pamela die Ausbeutereien, welche die kleine Herbst von seiten ihrer Schwester erfuhr, all ihren Bekannten kund. Zenaide erfuhr sie per Telephon. Trszinsky noch in selber Nacht. Flick, beizeiten heimgeschickt, begab sich im Vollgefühl ihres Elends in ihr Zimmer. Dort stand sie noch lange am Fenster und grübelte. Sie hörte Daphne nach Hause kommen, die sie schlafend wähnte, da kein Licht bei ihr brannte. Denn Flick hielt sich gerne im Dunkeln, wie sie das schlechte Wetter dem schönen vorzog. Als Daphne nichts ahnend ihr tags darauf den Verlauf des Abends erzählen wollte, war ein »Geh, laß mich« und »schon recht« alles, was sie aus ihr herausbekam.
»Ich kenne mich nicht mehr aus«, gestand sie Carry.
»Aber ich«, sagte er.
Wieder hatten sich in dem rauhen München, wie plötzliches Grün im Wüstenland, herrliche Frühlingstage aufgetan. Franzl war abgereist. Nicht in Rom, sondern in Venedig sollte er Lori wiedersehen, an ihrer Seite den Himmel dieser Stadt, ihre Paläste und Wasserstraßen erblicken, und sie alle, wie die Gondel, in der sie fuhren, stellten für ihn nur den traumhaften Rahmen zum Schein ihrer Augen, der Suavität ihres Mundes und ihres Lächelns.
Auch Carry stand vor einer Abreise: acht Tage Clarens zu Besuch seiner Mutter. Er benützte das milde Wetter zu einem weiten Gang mit Daphne in die Isarauen. Leichten Taktes fielen ihre Schritte, wieder besprachen sie das Haus, das er zu bauen gedachte, erwogen dessen Lage, wünschten das Verschiedenste zugleich: das Meer, die Ebene, in leicht erreichbarer Ferne auch das Gebirge, Klüfte und Täler, einen Alpsee durchsichtig und entrückt; Wälder durften nicht fehlen, in deren Schwärze eine weiße Straße drang. Keine rote Erde wie in Franken. »Nun, ich denke mir, du wirst dich im eigenen Land ansiedeln wollen«, sagte Daphne. Aber Carry räsonierte über die Schweizer. »Jeder soll dort was tun«, sagte er, »sie tadeln das farniente, ihre Nötigung zu einem Beruf macht mich schon ganz nervös.« Daphne lachte: »Möchtest du ein Deutscher sein?« »Nein.« — »Oder Franzose?« »Nein. Ich fühle mich leider nur zu Hause, wo beide Sprachen beheimatet sind.« »Da bleibt freilich nur die Schweiz.« Carry seufzte: »Ja, es ist ein langweiliger Planet. Aber der Genfer See ist schön, und er ist nicht weit von der Welt, dort, wo er der Rhône zuzuströmen anfängt. Die Hauptsache«, und er drückte ihren Arm, »wir haben unsere Papiere.« Die Trauung sollte eine Woche nach der Franzls stattfinden, die man auf Schloß Waizenach (wegen Trszinskys) feiern würde; mit allem Tschindara, wie man in Bayern sagte. Carry und Daphne aber — und sowohl Constantin wie Onkel Aribert waren einverstanden, wollten ganz »en tapinois«, sagte Carry, »ohne Brimborien«, sagte Daphne, frühmorgens in eine Sakristei und dann aufs Standesamt huschen. »Und dann auf zu Buddha«, rief Carry und eilte im Laufschritt voran. »Wie, was?« Sie wollte ihm nach, lachte aber so sehr, daß sie Seitenstiche bekam.
Sie waren bei der Fähre angelangt. Das Boot schwankte ihnen auf reißenden Wellen zu. Daphne wollte es nehmen, hinüber und wieder zurück. Die Isar hatte ihren unwirklichen Tag; ihre Bläue, ihre Frische, die Strömung selbst waren die eines Götterflusses. »Welch ein Fluß, ich weiß keinen, der mir lieber wäre. Dort, wo er am blausten und am grünsten fließt, will ich eines Tages geistern. Carry, laß uns ein Floß nehmen, sobald du wiederkommst, nach Tölz, tief hinein in die Riß, Franz tut sicher mit. Es kommt da eine Stelle, man taucht in einen Wirbel unter und saust durchnäßt und atemlos in die Höhe. Also Buddhist willst du werden?«
»Der schöne Sing-Sang in deinem Neumann hat es mir angetan. Irrewahn, Irregelöscht«, modulierte er vor sich hin. »Außerdem sehe ich mich als Tierfreund zu meinem Bedauern genötigt...« »Als ob die Haltung den Tieren gegenüber bei einem richtigen Menschen sich nicht von selbst ergebe«, entgegnete sie. »Und mittlerweile gibt es noch Kriege!« Sie fuhren jetzt quer über den Fluß. Daphne sah von den Wellen zum Himmel, als nähme sie dort Abschied von ihnen, als zögen die Wolken nur, wo die Isar rauschte, mit diesem Widerscheine hin, als trüge die Luft nur hier diesen Laut, dies Echo. Carry dachte: »So klug; und doch unfähig, das Nächstliegende zu erkennen!« Nämlich Flick. Aber er selbst, warum durchschaute er diesen Typ? Doch nur, weil er ihm schon begegnet war. Man geriet nicht ohne weiteres darauf. Allein er sah jetzt einen Weg, um Daphne den Fall darzulegen. Und zwar gleich. Sie stießen ans Ufer. Er hob sie aus dem Boot und erschrak.
»Mit deinem Gewicht stimmt etwas nicht«, er stellte sich ärgerlich, »was fang’ ich an mit einer Frau, die mir davonfliegt«, sagte er. »Du hast mir versprochen, einen Arzt zu suchen. Nun tu es endlich. Ein Jahr lang wirst du mir in der Sonne liegen. Vorher wird nicht gebaut: Ägypten oder Cannes.«
»Mir soll’s recht sein. Ich bin das Frieren leid«, sagte sie.
»Iß noch mit mir zu Abend. Morgen ist kein Tag mehr. Auch hätte ich dir etwas zu sagen.« Sie trennten sich vor ihrer Türe. »Wenn es fünfmal läutet, bin ich’s, der unten steht.« Er gedachte über Flick mit ihr zu sprechen. Doch als sie eine Stunde später so ausgeruht herniederstieg, in hellem Pannekleid und mit einem Hütchen wie eine witzige Replik, schwankte er wieder. Wozu ihr die Hölle heiß machen, und in acht Tagen kam er ja zurück.
In der obersten Ecke, unter einem kleinen Baldachin des Odeon-Kasinos, saßen die beiden und aßen. Von hier führten Stufen abwärts zur Estrade, von der aus man das ganze Haus und die Kapelle übersah. Dort war heute statt der üblichen kleinen ein einziger großer Tisch festlich gedeckt. Der heillos verschuldete Graf Zinkendorf hatte um Paulinchen Kummerfeld gefreit. Sie fand ihn schön und fesch. Die feine Stiefmama, froh sie loszuwerden, redete nicht ab. Herrn Dengler mißfiel er, aber Menschen waren nicht seine Sparte, sondern Effekten, Aktien, Baumwolle. Er hatte zur Rechten Mrs. Turneycroft, zur Linken eine stark orientalisch aussehende Dame, die einen der ältesten bayerischen Namen trug. Von Antisemitismus war damals in München nichts zu spüren; in Hofkreisen schon gar nicht. Denn gerade dort riefen ausfällige Bemerkungen fast jedesmal größtes Unbehagen hervor. Zwar gab es noch keine Komtessen, die Juden heirateten, aber ein ganzes Bataillon reicher Jüdinnen war schon im Gotha vertreten. So freite Baron Lorch, Rittmeister bei den Ulanen, um die nicht mehr junge Ida Löwy, von deren elf Millionen schon so lange die Rede war, daß sie sich zu dreizehn aufgerundet hatten. »Und denkt euch, der Engel hat Geld«, mit diesen — von da an geflügelten Worten teilte er den Regimentskameraden seine Verlobung mit.
Freilich hielt da unter anderen eine Palastdame, welche, wie sie von sich selbst aussagte, ausnahmsweise nicht »jüdisch alliiert« sei, mit der Feststellung nicht zurück, daß zwar die israelischen Gräfinnen in der Folge kein christliches, ihre Männer dagegen sehr leicht ein jüdisches Aussehen bekamen. Solche Wahrnehmungen hätten nun wohl antisemitisch gedeutet werden können. Eine reizvolle und feingebildete Jüdin aber, Frau eines jungen Advokaten, gehörte zu den gefeiertsten Frauen. München war nun einmal eine Stadt, in welcher nur schöne Bräute und nur Liebesheiraten Sympathie genossen, die käufliche Seite in jenen anderen Ehen war es, die sie mißliebig machte und unweigerlich dem Schnudel überwies. Dem gegenüber der philosemitische Aribert Zell so hartnäckig auf seinem Hochmut beharrte. Eine Stellung würde auch Graf Zinkendorf Paulinchen nicht zu geben vermögen, vielmehr sie ihn um die seinige bringen, so gut wie um den Georgiritter, der für seine eventuellen Kinder in alle Winde flog wie sein Monokel. Sein Haar war gelichtet, sein Teint verlebt, was Schönes erheiratete sich da Paulinchen, aber auf Kummersfelden stickte man jetzt neunzackige Kronen, und auf den Schuhsäcken, wie die Hausschneiderin erzählte, waren sie »größer als die Schuh’«.
Ja, das war noch eine Welt, geliebter Leser, und nie saß der Schnudel so selbstgerecht in allen Sätteln. Er wußte nichts, er wollte nichts wissen. Was die Gemüter trotzdem rege hielt, war das Spötteln, und ihre intellektuelle Nahrung fanden sie im Bekritteln. Von keinem Geisteswerk, keinem wichtigen Buche drang die Kunde zu diesen Spitzen der Gesellschaft. Frau von Kummerfeld, die für schrecklich gebildet galt, hatte den »Unfug des Sterbens« von Prentice Mulford gelesen. Aber von den zwanzig hier Tafelnden war nicht einem einzigen Walt Whitman auch nur dem Namen nach bekannt. Dafür stand der für universal begabte Baron Blau im Begriffe, einen Toast zu halten, von dessen Plattheiten keine einzige unter den Tisch fiel, denn für jeden der zwanzig Gäste hatte dieser Tausendkünstler eine Anspielung eingeflochten. O welches Genügen, welches Niveau, und wie undenkbar war die edle Antonie in diesem Kreis!
Trotz der vorgerückten Fastenzeit wurde ein üppiges, wenn auch fleischloses Mahl aufgetragen, und Odette Blau tauschte über den Tisch hinüber mit Paulinchen Ansichten über Daphne aus, die ohne Chaperon in der Öffentlichkeit speiste. Nur über ihr Kleid waren die Meinungen verschieden, aber Zenaide entschied die Frage: »Elle est habillée comme une petite femme d’artiste«, was immer sie sich darunter vorstellte. Bei dieser Gelegenheit war es, daß die Gräfin Rehlingen, die nie zurückbleiben mochte, den Satz prägte: »Ce qui est original, n’est jamais comme il faut.« Übrigens stellte sich heraus, daß auch sie sowie Baron Blau und Zenaide, desgleichen Paulinchen mit ihrer feinen Stiefmama am Samstag nach Ostern zur Soiree bei Herbst gebeten waren. Zenaide stellte die beliebte Frage: »Qui viendra donc tout?«, und so unterhielt man sich recht gut. Nur Herr Dengler langweilte sich, und Gustl, sein Sohn, fehlte wie gewöhnlich.
In ihrer Nische oben lächelten Carry und Daphne einander zu. Die Schwingungen der gemeinsam verlebten Stunden in der Natur, am Fluß, bebten noch in ihnen. Sanft erhob Carry ein wenig sein Glas und sah in Daphnes Augen.
»Du wolltest mir etwas sagen«, erinnerte sie ihn. Doch er schüttelte den Kopf. Es eilte ja nicht; er kam in acht Tagen zurück. »Dann werden es nur mehr fünf Wochen sein, und wir können schon anfangen, die Tage zu zählen.«
»Und dann verrinnen die Stunden schnell«, meinte Daphne. Der armen Antonie hatten sie heute ganz vergessen.
Die hübsche und fromme Anna aus dem Kloster zu den guten Hirten in der Au war in der Tat ein braves Mädchen. Sie blieb es nicht lange. Flick, zur Pädagogin nicht geeignet, vertraute ihr blindlings, denn sie hatte sie selber gedungen, und wies ihr schon nach wenig Tagen Cillys Stellung im Hause zu. Daß Punctilian, der wütend bellte, wenn Daphne nur in die Nähe kam, sich mit Anna vertrug, war ein günstiges Zeichen. Hunde seien die besten Menschenkenner, versicherte Pamela mit Nachdruck.
So schön hatte sich Anna das Leben freilich nicht gedacht. Auf Bitten einer Patin und aus Mitleid von den Nonnen aufgenommen, zum einfachen Dienstmädchen, nicht zur Jungfer erzogen, war sie von Kind auf elf Jahre hindurch unter strenger Aufsicht geblieben. Der Vater, mehrfach vorbestraft, büßte zur Zeit einen Einbruch ab, zur großen Entlastung seiner Ehefrau, einer Hausmeisterin in Giesing, nicht übel beleumundet, als tüchtige Putzfrau gesucht. Während sie ihre Fenster scheuerte, konnte sie jetzt an die Tochter denken, die eine so ausgezeichnete Stelle gefunden hatte, wo sie von dem jüngeren Fräulein »wie das Kind im Hause« gehalten wurde. Was Wunder, daß sie dessen Ansichten alle im voraus teilte und ihr blinde Gefolgschaft leistete? Nicht lange, und Flick ließ, wie zu Cillys Zeiten, die Verbindungstüre offen und erzählte ihr von Notburga, hinter deren Schliche sie gekommen sei, und wie sie Pamela verfolge. »Eine so liebe Dame!« bedauerte Anna. Leider sei auch Daphne gegen sie. »Das ist aber unrecht!« rief Anna entrüstet. »Mit der hab’ ich nichts zu schaffen«, erzählte sie der Mutter.
Constantin blieb nicht unempfindlich für das Lob, welches Flick in klerikalen Kreisen erntete. Es gelang, sie als heilige Elisabeth für lebende Bilder zu gewinnen. Niemand schien so geeignet, das Rosenwunder darzustellen. Der dunkelgeflammte Hauch ihres poetischen Augenfleisches konnte sehr wohl für Beseeltheit gelten. Auch Daphne redete ihr zu und gab sich große Mühe, ihrem Gewand die traditionellen Falten zu geben. Der Erfolg, der nicht ausbleiben konnte, würde, so hoffte sie, Flick größere Sicherheit geben. Aber diese Rechnung war falsch. Ein Jüngling verliebte sich und trat ihr näher, ein zweiter folgte. Unwirsch fertigte sie beide ab; keineswegs, daß sie ihr mißfielen, nur weil sie nicht wußte, wie ihnen begegnen; denn nur ganz ruckweise legte sie ihre Schüchternheit ab. Schnell trieb sie wieder ihrer Klause zu — verärgert, innerlich gedemütigt, und dann brachte auch Anna nichts aus ihr heraus. Aber zu Hause wenigstens, dort, wo es ohne Mühe ging, gedachte sie sich zu behaupten, ihre Herrschsucht zu entfalten. Morgens trug Anna die erste Post zu ihr hinein, damit sie selbst sie verteile. Erbittert stellte sie dabei fest, daß Franzl seine Briefe manchmal an den Vater, meistens an Daphne, an sie nie einen adressierte. Ihr lag an der Kontrolle. Sie wollte wissen. Vor allem aber täuschte sie solch geschäftiges Tun über die Trägheit, welche den Grundton ihres Wesens bildete; Trägheit, daß sie ihre ungelenken Manieren nicht überwand, Trägheit ihre Familiarität mit Anna, Trägheit ihr endloses Geschwätz unten bei Pamela, Trägheit alles, was sie tat, denn sie tat alles, was sie tat, um nichts zu tun; es war der Makel ihrer Natur, sich nicht aufzuraffen. Gerade aus diesem Grunde aber gediehen die Ereignisse unter ihrem Walten ohne Übergang, ohne Allmählichkeit, ohne Reife, mit verzehrender Schnelligkeit.
Dieselbe Eifersucht, mit welcher sie früher die alte Cilly und nunmehr Anna in Beschlag hielt, fing sie über Nacht an auch für ihren Vater zu nähren und sah es mit scheelem Auge, wenn Daphne so oft bei ihm saß, während er, auf und nieder gehend, ihr diktierte. Er stand im Begriffe, einen ausführlichen Katalog seiner Sammlung zu verfassen. Vielen Gegenständen hing eine interessante Geschichte an. Seine Kinder sollten eine genaue Übersicht auch über den Wert seiner Schätze gewinnen. »Man kann nie wissen, was kommt«, pflegte er zu sagen.
Zur Hälfte war das Verzeichnis gediehen, als Flick nach Hause kam. Warum, fragte sie sich jetzt, wurde nicht sie damit betraut? War sie nicht immer zur Stelle, immer bereit, ihren Vater zu begleiten, während Daphne herumflitzte? Oder taugte sie nur, um nach dem Küchenzettel zu schauen?
Einige Tage ging sie finster herum, dann kam auf, warum sie beleidigt war. Daphne fand ihren Wunsch gerechtfertigt. Der Katalog gab noch auf Monate zu tun. Von den Stichen war noch keiner aufgenommen. Da empfahl es sich gewiß, daß Flick sich einübte, solange Daphne für sie einspringen konnte, wo ihre Dienste sich als unzulänglich erwiesen. Flick machte sich voll Eifer daran; sie tat sich auf ihre deutliche Klosterschrift viel zugute. Constantin klagte. Er brachte jeden Bogen zu Daphne, die ihn insgeheim korrigierte. Dann gewöhnte er sich daran, Flicks blondes Köpfchen über seine Mappe geneigt zu sehen. Sie war ihm freilich nicht so genehm. Er unterhielt sich nicht mit ihr. Flick aber schrieb bebenden Gemütes und addierte die Summe, aufgeregt. »Nur der Kontrolle halber«, sagte sie sich. »Damit ich weiß.« Alsdann würde sie ja hintreten und erklären, daß sie auf alles verzichte: »Ich verzichte«, würde sie sagen: auf den goldenen Pokal, den zierlichen, unbeschreiblichen aus dem neunten Jahrhundert, dessen Geist zu ihr nicht sprechen konnte, die bemalte Holzfigur am hohen Sockel, den Gobelin mit den blassen, süßen, schachspielenden Königinnen, die antike Statuette. Daphne sollte sie alle nehmen. Es waren die wertvollsten Stücke. Ihr Vater hatte es gesagt, und sie behielt es wohl. Aber sie verzichtete. Sie würde es genau machen wie mit dem Schmuck.
Kam Daphne jetzt nach Hause, so zeigte Flick sich erpicht, das Diktat nicht unterbrechen zu lassen, oder sonstwie bestrebt, sie auszuschalten. »Ich gehe doch ohnedies bald«, dachte Daphne befremdet. Der Ungestüm, mit dem sie alles anfing, mutete wirklich etwas lästig an. Aber sie war ja noch ein solches Kind.
Daphnes großer Irrtum beruhte in dem Glauben, Flick sei ein Kind. Von einer Kinderseele atmete die Unverspieltheit ihres Wesens, die tierische Melancholie ihrer Pupillen nichts. Hintergedanken, ach! Denn auch sie waren leichter und die Mühe um sie viel geringer als um Einsicht und Vernunft. Hintergedanken trieben in dem niedlichen Kopf, über dessen Kleinheit die Fülle der Locken täuschte, ihren Spuk.
Carry war mit dem ersten Zuge abgereist. Seine Fenster geschlossen, die Läden herabgelassen, als sei er für immer fort. Früh am Nachmittag machte sich Daphne bereit. Sie wollte heute den Arzt aufsuchen, bevor sie zu Antonie ging. Am Vorplatz fiel ihr ein dicker Brief ins Auge, in Notburgas Handschrift an ihren Vater adressiert. Sie hätte ihn gleich zu ihm hineingetragen, wäre er zu Hause gewesen. Der Umschlag trug eine ausländische Briefmarke. So nannte man damals noch die reichsdeutschen; denn Bayern rühmte sich noch stolz der eigenen Post und Eisenbahn.
Daphne freute sich, daß Notburga geschrieben hatte. Sie dachte auch unterwegs noch daran. Aber nun lag sie, ein Thermometer unter der Achsel, in dem Konsultationszimmer des berühmten Professors, mit dem sie eine Verabredung getroffen hatte, weil sie ihn schon kannte: vom Balle her, auf dem er sie als Sonnenblume tanzen sah. Er hatte ihren Hals beschaut, dann mußte sie ihm ausführlich über ihre zweijährige Krankheit berichten, von dem Beine, das nach dem Sturz so lange nicht heilte. Sie plauderten, sie lachten jetzt auch über dieses und jenes, die Temperatur ergab 37,6. »Das war damals auch immer so«, bemerkte Daphne und bat um einen wahrheitsgetreuen Bescheid im Interesse ihres Verlobten. »Gewiß«, nickte der Professor, indem er jede Nachdenklichkeit aus seinen Zügen bannte. »Nichts ist leichter. Wann soll geheiratet werden?«
»In sechs Wochen.«
»Ganz einverstanden, sofern Sie dann Ihrer Pflege leben können.«
»Das wohl«, meinte Daphne.
»Dann ist mir in sechs Wochen viel lieber als in sechs Monaten«, rief er zuversichtlich.
»Darf ich fragen, weshalb?« sagte Daphne.
»Ja sehen Sie, das Hin und Her vor einer Hochzeit — ich habe doch kürzlich eine Tochter hergegeben und weiß, wie es da zugeht; es ist eine ruhelose Zwischenzeit, und das Herumstehen in den Läden, der Aufenthalt in einer staubigen Stadt, das alles ist Gift für Sie. Je eher Sie Ihre Kur beginnen, desto besser, denn desto kürzer wird sie sein.«
Daphne wollte eine neue Frage stellen, brachte sie aber nicht über die Lippen.
»Ein Jährchen oder so werden Sie Ihrer Krankheit schon widmen müssen; und solange vorerst noch kein Kind. Und keine Strapazen; vermeiden Sie Aufregungen.«
»Ist mein Leiden wieder tuberkulöser Natur?« fragte sie jetzt.
»Nur nicht so geschwind«, spottete der Professor. »Das wird sich ergeben, man braucht es nicht dazu kommen lassen. Sie wissen, wie weit in diesem Punkt die Heilkunde vorgeschritten ist. Wären wir überall so weit«, seufzte er.
Sie kannte diesen Unterton von Güte in der halben Aufrichtigkeit. Er trieb sie fort, gepeinigt, zu Antonie, geradewegs; mit ihr über die »harte Nuß« — so hatte sie ihre erste Krankheit genannt, schon nannte sie auch die zweite so! — offen zu Rate zu gehen. Mit wem sonst hätte sie es gekonnt?
Doch welch neuer Schrecken erwartete sie dort! Vor dem Kamin zusammengesunken, die grauen Haare im wirren Durcheinander über Stirn und Schläfen, saß Antonie, die bläuliche Röte des Gesichts von Blässe durchstreift, und ihr Auge hellte sich bei Daphnes Anblick nicht auf. »Mein Gott, was ist Ihnen?« rief Daphne bestürzt. »Ich bin wohl krank«, erwiderte sie und griff nach dem Spiegel, der auf dem Tischchen vor ihr lag. Oft hatte Daphne ihn zur Hand genommen. Schwer, kreisrund, Rücken und Einrahmung aus alter Silberarbeit, schien er recht für eine Schöne geschliffen. Nun sah Antonie hinein. »Je crois que je vais mourir«, sagte sie.
»Diese Idee!« Und Daphne versuchte zu lachen.
Aber Antonie hatte sich aufgerichtet und blickte umher, als vergegenwärtige sie sich zum ersten Male, was ihr der kostbar ausgeschlagene, dem eines italienischen Palastes so ähnliche Raum bedeutete.
»Mein Gott, was ist geschehen, wollen Sie es mir nicht sagen?«
»Ist Ihnen nicht bekannt, daß einem ein Kummer zugefügt werden kann? Das gibt es doch, nicht wahr?« Es klang scharf, fast böse, als bezöge sie nunmehr alles und jedes in eine endgültige Abrechnung ein.
»Und ich darf ihn nicht erfahren?« fragte Daphne.
Aber Antonie hatte die Augen geschlossen. »Ich spreche so schwer.« Und sie hielt die Hand an den Kragen ihres Kleides.
»Ich darf nichts für Sie tun?«
Kaum merklich schüttelte Antonie den Kopf.
»So will ich gehen.«
»Adieu«, war alles, was ihr Antonie erwiderte.
Aber draußen lauerte die Jungfer auf. Sie wußte nicht, was tun. Die Frau Gräfin wollte keinen Arzt. Sollte sie die Schwester in England benachrichtigen?
»Seit wann ist sie so?«
»Seit heute mittag, seit ich ihr die Post hineingelegt habe. O mein Gott«, und die alte Person brach in Tränen aus.
»Schreiben Sie der Schwester. Rufen Sie trotzdem den Arzt. Lassen Sie sie nicht allein«, riet Daphne und ging.
In der Apotheke — sie hatte ja keine Harriet mehr, um ihre Besorgungen zu übernehmen — mußte sie sich eine Weile gedulden. Die Ausführung der Rezepte, die ihr der Professor gegeben hatte, erforderte Zeit. Sie setzte sich solange abseits, Käufer kamen und gingen. Die großen Schaufenster sahen auf eine der belebtesten Straßen, auf mehrere zugleich, die sich hier überquerten. Fortwährend gellte die Elektrische. Man rief die Abendblätter aus. Blumenverkäuferinnen, sogenannte Fliegende, suchten ihre Waren loszuwerden; mit Erfolg. Die Luft war mild. Wie hatte das Gebaren der Fußgänger sich verändert seit zwei Tagen! Nicht länger eilten sie mißmutig und verfroren ihres Weges; sie schlenderten, sie standen wohl auch still, plauderten und lachten.
Ein Gefühl der Verlassenheit beschlich da zum erstenmal in ihrem Leben die so gehegte und umringte Daphne, der Minderwertigkeit sogar, als wäre sie durch die Krankheit von ihrem Piedestal gezogen; ein wenig entwürdigt? — Kläglich jedenfalls. Der Trost, sich mit Antonie auszusprechen, war ihr so unerwartet versagt geblieben. Ihr Vater durfte nichts erfahren. Und Flick...? Eine schwierige Frage.
Sie erhielt Arzneiflaschen, Watte, Pulver und Oblaten eingehändigt. Aber federnden Schrittes zog sie jetzt mit den mißlichen Paketchen die Residenzstraße hinab. Unterkriegen? Nein, unterkriegen galt nicht. Sie war nicht kränker als gestern um dieselbe Zeit, als sie mit Carry so rüstig die Isar entlangschritt, und später noch, als sie im Odeon-Kasino zusammen aßen. Wie lang schien es mit einem Male her! Es dämmerte. Sanft schwangen sich die Türme der Theatinerkirche ins dunkle Blau. Es war dasselbe Abendlicht wie tags zuvor, als Antonie den neuen Kummer, sie die neue Sorge noch nicht hatte. Blau und frühlingshaft war auch der weite Platz und schien zu träumen. Nur die Elektrische riß mit ihrem brutalen Geläut immerzu in die sanfte Stimmung ein. »Nirgends bellen sie doch so laut«, dachte Daphne. Sie kaufte einen mächtigen Veilchenstrauß, betrat eine Buchhandlung, besah die Auslagen. Auch zu dem rosigen Himmel blickte sie auf. Graue Wölkchen, wie lustiger Rauch, flogen drin her. Die schöne Jahreszeit, sie nahte, ob der Winter noch so oft sie in Schach halten würde, er mußte ziehen. April ging über in den Mai, dann kam der Juni. Was konnte einem groß widerfahren, wenn die Tage immer länger wurden?
»Ich bin um Antonie besorgt.« Daphne saß matt unter der Lampe, und es war das erste Wort, das sie einschalten konnte. Flick sprach unentwegt vom Katalog und den Stunden, die sie heute darüber verbracht hatte (während Daphne herumflitzte), oder von der schönen Missionspredigt, in der sie mit Anna gewesen war. Da hatte Daphne nicht mitzureden. — Antonie. Pah..., der Vater machte sich doch gar nicht viel aus ihr... Sie ging das Damebrett holen, um eine Partie mit ihm zu spielen.
»Was schreibt Notburga?« fragte ihn Daphne sanft, den Augenblick des Alleinseins wahrnehmend.
»Notburga?« Er stutzte, sichtlich unangenehm berührt. »Nichts.«
Daphne schwieg. Vertraute er ihr nicht mehr, daß sie die einfache Frage nicht stellen konnte? Hatte das Schwergewicht im Hause sich so weit verschoben? Trübe, schweigend, wie von einem anderen Ufer, blickte sie zu Constantin hinüber. Flick umgab, sie belagerte ihn. Er hatte öfter unter ihren Launen zu leiden, aber er ließ sie gewähren. Sie kam jetzt zurück und stellte die Steine auf, als wäre es eine Arbeit. Ihr Vater sollte sich konzentrieren. Man hätte glauben können, die schwerste Schachpartie.
»Den ganzen Tag flitzt sie herum, abends sollte sie dann nicht müde sein«, bemerkte sie, als Daphne sich zurückgezogen hatte.
»Ich muß doch wissen, was Antonie fehlt«, sagte Constantin und nahm es als Vorwand, um zu Daphne hinüberzugehen. In heller Wut packte Flick den Kasten zusammen. Alles tat sie für ihren Vater, sie opferte sich ihm ganz, ihm zuliebe würde sie niemals heiraten, und dies war der Dank.
Seltsam erleichtert lauschte Anna heute ihren Klagen (bis gegen Mitternacht blieben die Verbindungstüren offen). Fräulein Daphne sei eine Falsche, versicherte sie mit Genugtuung: »Und die ganze Schatulle behält sie, wo ihr nur die halbe gehört.«
Goldene Damentäschchen waren damals die Mode; die teueren von Tiffany oder Cartier gleißten grünlich mit einem Rubin oder Saphir als Verschluß. Sonderlich praktisch waren sie nicht, denn das kostbare Gewebe bekam leicht einen Riß, der eine langwierige Reparatur beim Juwelier erforderte, so daß man sie lieber sein ließ und nach einer neuen spähte. Bald stellte man sie auch aus Silber oder vergoldet her, so daß sie rasch überhand nahmen, um, wie vorauszusehen, rasch wieder abzukommen.
Sie faßten nicht eben viel; unweigerlich aber gehörte ein Beutelchen aus demselben Gewirk für Goldstücke hinein.
Carry hatte in Paris eine besonders schöne besorgt. Da in die kleine Geldkatze nur fünf Dukaten hineingingen, hielt Daphne sie immer vollzählig beisammen, darauf bedacht, sie alsbald zu ergänzen, wenn einer oder der andere ausgegeben war.
Ein bei Verschwendern seltener Ordnungssinn war ihr zu eigen. Er grenzte an Pedanterie. Selbst wenn in ihrem Zimmer beim Ankleiden oder Packen ihre Sachen in Unordnung gerieten, war es, wie Carry an Hand seines Opernglases feststellte, wie Blättergewirbel in einer hellen Pfingstrose. Mit den Goldstücken jedoch schien sie sich eines Tages geirrt zu haben. Und es traf sich ungeschickt auf einem Basar, als sie alles ausgegeben hatte und nun des kleinen Goldbestandes ganz bedurfte; statt der fünf Dukaten aber blieben ihr nur vier. Nach einer Weile wiederholte sich der Vorfall; diesmal wurde sie stutzig, und ihr Verdacht fiel auf Anna, welche sie einmal beim Kramen in ihrer Schublade überraschte, angeblich, um sie aufzuräumen. Solche Freiheiten schätzte sie gar nicht, und sie schloß von nun an ihre Schublade ab. Doch die Maßnahme war so neu, sie konnte nicht unverweilt zur Gewohnheit werden; und so kam es, daß sie am Palmsonntag morgen wiederum statt fünf nur vier Dukaten in dem Beutelchen vorfand. Doch im Augenblick achtete sie dessen kaum, denn sie hatte eben zu Antonie telephoniert und schlechte Nachricht vernommen: Der Arzt habe einen leichten Schlaganfall festgestellt, dem ein schwerer folgen könne, daher strengste Ruhe geboten. Die Schwester sei verständigt worden. Nicht ohne Egoismus empfand Daphne es als eine Härte, daß ihr die Freundin gerade an dem Tage entzogen wurde, an dem sie ihres Rates, ihrer Stütze, ihrer Sympathie so sehr benötigte. Auch die Karwoche sollte sie ihr helfen überstehen. Flick sprach bei Tische mit ihrer schrillen Stimme von nichts anderem mehr als vom Stabat Mater in St. Bonifaz. Am Karfreitag müsse man nachmittags sieben Kirchen besuchen; vormittags sei ein Kirchenbesuch nicht obligatorisch; aber der Osterschinken dürfe nicht in einer beliebigen Pfarrei geweiht werden. Welcher Pfarrei gehörte die Max-Joseph-Straße an? Es stellte sich heraus, daß Constantin es nicht wußte. Der Diener war auf Urlaub. Statt seiner servierte Anna und mischte sich in das Gespräch. Mrs. Turneycroft hatte sich bei Schober einen pechschwarzen Hut erstanden, denn die Mode warf sich in Trauer für diese Tage. An sich war gegen die Sitte nichts einzuwenden. Aber was mischte sich nicht alles hinein! Und Daphne? Würde sie sich wieder abseits halten, wiederum nicht zu sehen sein, wo es der Brauch war, sich zu zeigen? beim Stabat hier, beim Miserere dort, beim Halleluja in St. Bonifaz. Von Unruhe erfaßt, rief sie Notburga an, die sich jetzt so selten sehen ließ; sie war verreist. Also stammte der Brief bestimmt von ihr. Ein Bruch vielleicht? — So lange Briefe schrieb man dann nicht.
Sie sah hinüber zu Carrys Fenster, und ihr Zuhause war ihr plötzlich fürchterlich verleidet. Zu schier unerträglicher Länge dehnten sich die sechs Wochen, die ihr noch verblieben, aus. Sie war verwöhnt. Nie zuvor hatten sich so öde Tage vor ihr aufgetan. »Ich reise auch«, dachte sie laut. Wohin konnte sie ausweichen, ohne Anstoß zu erregen? Sie verfiel auf Beuron. Sein Osterrituell war berühmt. Oft hatte sie es zu sehen gewünscht. Constantin besaß einen Vetter unter den dortigen Benediktinern. Ihr Entschluß war schnell gefaßt. Um zwölf Uhr ging ein guter Zug über Ulm, der nachmittags dort eintraf. Mit dem wollte sie schon am nächsten Tage fahren. Niemand bemerkte, daß sie vorher schnell auf die Bank fuhr, Helgas Schatulle unter dem Arm. Wie die Dinge lagen, fand sie es geraten, sie einem Safe zu übergeben. Ihr oblag eine doppelte Verantwortung. Der Schmuck sollte bis zu ihrer Hochzeit dort verbleiben. Sie machte sich anheischig, hart vor dem Abschied die Teilung durchzusetzen. Um zehn Uhr war sie schon zurück und holte zwei Handtaschen aus Harriets verlassener Stube. Flick, ob zufällig oder nicht, stand am anderen Ende des Ganges und flog herzu. Und nun begann ein eiliges Packen, bei dem sie flink und gefällig der Schwester half, und Daphne mußte lachen über den energischen Ton, in dem ihr befohlen wurde, was sie mitnehmen sollte und was nicht. Flick war entzückend in solchen Momenten. Blitzartig zwar durchfuhr sie der Gedanke: »Den ganzen Schmuck behält sie allein, und bedienen soll ich sie auch noch.«
»Was hast du da für Zeug eingepackt?« forschte sie und zog die Arzneiflaschen hervor. »Wozu gebrauchst du Jod?« Daphne war einen Augenblick versucht, die Wahrheit zu gestehen, aber dann gewann die Herbstsche Scheu die Oberhand. »Laß das, der Zahnarzt hat es mir verordnet.« »Nimm doch nicht so viel mit«, sagte Flick. »Du bist doch zu Ostern zurück! Warum fährst du denn eigentlich weg?« Aber wußte sie denn selbst, ob sie bedauerte oder wünschte, daß Daphne sich entferne?
»Es ist die einzige Gelegenheit, den Ort zu sehen. Wann komme ich sonst noch hin?«
»Freilich, mit deinem protestantischen Mann«, spottete Flick.
»Ja«, sagte Daphne zerstreut, denn sie bestellte gerade ein Auto. »Es ist dein Verdienst, daß ich fertig geworden bin«, wandte sie sich ihr dann zu, und die Kleine zeigte sich so lieb und reizend, daß Daphne vertraulich zu ihr sagte: »Du bist ganz sicher, nicht wahr, daß Anna ein ehrliches Mädchen ist?«
Aber wie von einem dunklen Windstoß verfinsterten sich da Flicks Züge unverweilt.
»Was?« fuhr sie auf. »Wie kommst du auf so etwas? Das ist doch unerhört!« Unwillig schüttelte sie den Arm ab, den Daphne sofort begütigend um sie legte, indem sie sagte: »Ich bin dessen überzeugt.«
»Warum fragst du dann?«
»Ich sage es dir, sobald ich zurück bin. Du mußt mir helfen, hinter eine Sache zu kommen. Nur du kannst es. Ich baue auf dich, eine ganz unheimliche Geschichte.«
»Jedenfalls kann Anna nicht darin verwickelt sein.«
»Natürlich nicht. Es war nur deine Zusicherung, die ich wollte. Aber nun komm. Mach dich fertig. Begleite mich zur Bahn, du kannst gleich wieder mit demselben Wagen zurückfahren. Willst nicht?« — Sie sprach in heller Angst. Unterwegs fuhr sie fort ihr zu schmeicheln, um den Eindruck ihrer Frage zu verwischen. Flüchtig nur hatte sie sich von ihrem Vater verabschieden können, den ihre Abreise in eine schwere Depression versetzte.
»Geh nicht«, bat er sie, »brauchst du mir diese Kostprobe zu geben?« sagte er, sie umarmend.
»Ach Gott!« seufzte Daphne laut in ihrem leeren Kupee, als der Zug aus der Halle ins sonnenbeschienene Land ausfuhr. Sie vermißte Harriet. Sie war noch nie allein gereist. Der Gedanke an ihren Vater erfüllte sie mit Schwermut.
Notburgas Brief war nicht in Constantins Hände gelangt. Aber Flick trug nicht die Schuld. Nicht direkt. Nur insofern, als unter ihrem Regime die unvernünftige Anna schnell verwildern mußte. Mit Bedacht hatten die Schwestern zu den guten Hirten in der Au sie in so strenger Zucht erzogen, wohl ahnend, daß sie nicht weit vom Stamme geraten war. Es sei daran erinnert, daß Flick nicht anstand, alles mit ihr zu besprechen, und wie gerne sie dunkle Nebenzimmer zu ihrem Standort wählte. Auf die Weise hörte sie einem Gespräch zu, das Franz und Daphne zusammen führten, was ihr beider Wünsche betreffs des Vaters verriet. Hatten die aber ihre Pläne, so schmiedete Flick unverweilt die eigenen. O eine bessere, eine weit bessere Kandidatin wußte sie: Pamela! Sie war die rechte! Und mit ihrer üblichen Hemmungslosigkeit zog sie die Frau gleich ins Vertrauen.
Für Pamela war Constantin eine nicht zu verachtende Partie. »Vorerst nicht dergleichen tun«, dachte sie. Erst mußte Daphne endgültig den Platz geräumt haben. Auch gingen die Wogen mit Trszinsky noch sehr erfreulich hoch. Aber wie lange noch, und sie würde das erste Öl in dieses Feuer gießen müssen? Und dann, was weiter? Sie lebte zum Teil von ihrem Kapital, ihrem Betriebskapital; und viel davon war schon verschleudert.
Constantin hatte an Notburga geschrieben. Der dicke Brief war ihre Antwort. Als Anna ihn sah, brachte sie ihn zu Flick hinein. Dieser war nicht wohl, wenn sie nicht disponierte oder kommandierte. »Legen Sie ihn zur letzten Post«, befahl sie; »das ist früh genug. Mein Vater ist jetzt nicht zu Hause, wenn er heimkommt, will er mir diktieren. Er hat dann keine Zeit.« Auch sie kannte diese Handschrift, o schon längst!, und mit einer höhnischen Bemerkung wies sie daraufhin. »Soll ich ihn jetzt dazulegen?« fragte Anna folgsam, als der Abend gekommen war. »Lassen Sie mich doch mit dem widerwärtigen Brief in Ruhe«, fuhr Flick sie heftig an. »Was geht denn der mich an?«
Da unterschlug ihn Anna. So war es am besten; da er doch von der bösen Dame stammte, die ihr angebetetes Fräulein so erzürnte.
Denn wenig bedurfte es, um einen Kopf wie den Annas zu verwirren. Auch Daphne wendete sie ihre Mißbilligung zu. Auch von der Schatulle wußte sie, die voll war von Kronen und Diamanten und wo ein Rubin weggekommen war. Gern hätte sie den Schatz einmal gesehen. Oft räumte sie nur zu dem Zweck bei Daphne auf, wenn diese ausgegangen war.
Aber nur das goldene Täschchen geriet ihr unter die Finger mit dem goldenen Beutelchen darin. Sie untersuchte es, und ein Dukaten fiel zu Boden. Er rollte unter das niedrige Najadenbett. Anna nahm nicht Zeit, ihn hervorzuholen, sie hatte Schritte gehört; schnell legte sie das Täschchen an seinen Platz zurück, drückte die Lade zu, griff nach Besen und Staubtuch und trat mit gespielter Unbefangenheit auf den Gang.
An das Goldstück in seinem dunklen Spalt dachte sie viel. Sie wollte es hervorholen, morgen oder sobald es nur ging. Denn sie war nicht »so eine«. Mittlerweile lag es ja gut. Sie hatte es nicht hingetan. Ganz von selbst war es herausgefallen. Sobald das Fräulein es vermißte, wollte sie überall suchen und es dann finden. Aber Daphne forschte nicht danach. Also merkte sie nicht einmal, wenn ihr eines fehlte, während Annas arme Mutter sich einen Scherben in den Fuß getrieben hatte, der sie um ihre Tageslöhnung brachte. Erfinderischer als die wildeste Phantasie ist ja das Leben, wenn es seine Fallen stellt. Erst wurde Anna zur unredlichen Finderin, dann, als sie nach einer Weile das blinkende Täschchen von neuem untersuchte und den Schatz ergänzt fand, wurde die Versuchung zu groß. Um den dritten Teil des gestohlenen Geldes brachte sie ihrer Mutter Eßwaren, Wein und Orangen, den Rest »hob sie auf«. Ein Schrecken faßte sie, als Daphnes Kommode plötzlich verschlossen war. Dann aber stand sie wieder offen, woraus sie entnahm, daß es nur aus Zufall geschehen sei. Und so riß die Straflosigkeit ihrer Handlung sie unwiderstehlich hin.
Zur Schale lag das kleine Tal gerundet. Keine Lücke unterbrach den Waldesring, mit welchem hoch über dem Meeresspiegel die Berge es umschlossen. Als Daphne dem Zug entstieg, strömte ihr brausende Kühle entgegen. Sie fand ihr Gasthaus. Es hieß »Zum Pelikan«: von eigenartiger Gemütlichkeit die Lage, der niedere und langgestreckte Speisesaal, die altväterischen Treppen. Auch eine behagliche Stube konnte sie dort sichern, hatte sich im Nu drin eingerichtet und trat dann wieder ins Freie, um den Ort zu besehen.
Alles war dicht bei: die Abtei, der malerische Pfad, der sich zur Kirche wand; höchst stimmungsvoll die langen immergrünen Bäume am Eingang. Aber noch beschien die Sonne die westlichen Hänge. Wie schnell waren auch sie erreicht! Dort rann die Donau, jung, grün, von zauberischer Unschuld, auf die zusammengeschobenen Pforten des Gebirges zu. Würden sie ihr Raum gewähren und auch der Straße, die Daphne neugierig verfolgte? Ein Himmel, blau, wie Perugino ihn malte, intensiver nur, schweifte hier nicht, nein, wie eine Zimbel schlug sein Blau gegen die schwarzen Wälder auf, daß es noch tiefer erblaute, sie noch schwärzer sich tönten.
Daphne spürte kein Ungemach in ihrem Halse; infolge des Pinselns mit der scharfen Substanz vielleicht; oder das reine Licht, die Luft dieses unwirklichen Tales hatten sie schon gestärkt. Abgetrennt von der Zeit, losgelöst von der Welt, wie eine Insel mitten im Lande, stellte es sich dar. Ein Junker in Wams und Federbarett auf weißem Rößlein einhertrabend, fahrende Schüler auf dem Weg nach Salamanka hätten sie nicht überrascht. Sie fühlte sich froh: sie ging wie befreit. Nur an Zuhause durfte sie nicht denken. Seltsam, daß die vielen Meilen, nunmehr dazwischen gelegt, die Peinlichkeit der Eindrücke nicht verwischten, sie nicht als wesenlos erzeigten, vielmehr bewußter, schärfer noch abzeichneten. So ging es nicht weiter. Sie wollte Carry zu Rate ziehen. Morgen bekam er ihren Brief, der ihm haarklein mitteilte, was der berühmte Professor meinte, ihm auch sein Wort zurückgab. Aber sie wußte ja, was er erwidern würde.
Erst als es dunkelte, machte sie kehrt. Müde, fieberfrei, zu ihrer Freude, und sorgloser als seit langem in ihrem schönen Muschelbett ging sie in dem Gasthausstübchen zur Ruh’.
Ihren Brief erhielt Carry in der Tat am nächsten Morgen und las ihn mit Entsetzen. Es litt ihn nicht auf seinem Hügel, unter den Bäumen und ihrem Blütenrausch, den goldenen Bienen und ihrem Gesumme, und er ertrug ihn nicht, diesen »Dent du Midi«, der so verklärt herüberstrahlte vom Ende des Sees. — Ein langes Telegramm in Händen, mit dem er Daphne seinen sofortigen Besuch anzeigte und das er selbst aufgeben wollte, eilte er hinunter nach Vevey. Ihre Antwort lief in wenigen Stunden ein: »Erwarte dich Freitag abend in Sigmaringen.«
Man schrieb erst den Mittwoch, aber so lange wollte sie allein bleiben. Die Abtei Beuron war nicht nur für ihre Musik zum Gregorianischen Gesang zurückgekehrt, sie beging auch die Karwoche nach den ältesten Gebräuchen und in so ausführlicher Weise, daß der größte Teil des Tages darüber verging. Aber Daphne beschloß, den Feiern beizuwohnen, nun sie doch mal gekommen war.
Zwischendrin lief sie auf der Sonnenseite die Wälder entlang oder den zusammengeschobenen Felsen entgegen, die sich dann doch teilten, um dem grünen Strom und, wer hätte es gedacht, auch einer Eisenbahn Raum zu gewähren. Aber laut hallte dann von dem engen Durchlaß ihr Echo nach dem Tal zurück.
Von allen Himmelsrichtungen hatte sie auch schon das Kloster erblickt, das in nächster Nähe teils Häuser, teils Mauern verdeckten; und pünktlich fand sie sich zu den Zeremonien ein. Sie kam sich ein wenig dabei vor wie in Beyreuth. Statt der Fanfaren waren es die Schläge der Turmuhr, welche sie riefen. Sie kaufte sich die Liturgie, die für vier Tage einen ganzen Band füllte; der klein gedruckte Text deutsch neben dem lateinischen. So entging einem nichts.
Sei es nun, daß sie den Worten folgte, welche, vor hohen Pulten stehend, die Mönche abwechselnd lasen, oder die Stimme des Abtes sich erhob und er selbst eingriff in die Feier, wobei oft und oft der Rauchmantel ihm abgelegt, ihm wieder umgehängt, die Mitra ihm aufgesetzt oder wieder vom Kopfe gehoben, der Stab ihm gegeben oder genommen wurde, er bald, aller Insignien entblößt, im Chorhemd diese oder jene Handlung vornahm, bald in seinen Trauerparamenten zum Altare schritt oder das Schiff der Kirche zwischen den zwei Priestern verließ, die, von ein und derselben Rauchwolke umhüllt, als seine Diakone ihm stets zur Seite, den Saum seines Mantels hielten, nie verloren die schmalen Züge des Abtes auch nur für einen Augenblick die marmorne, in ihrer Unbeweglichkeit fast entpersönlichte Würde. Daphne ließ ihn nicht aus den Augen. Ihre Spannung wuchs. Sie entsann sich einer Einkleidung, der sie, halb erwachsen, beigewohnt, wobei die Nonnen um die Wette falsch gesungen hatten, die Predigt so flach, die Kirche so häßlich, das Licht so nüchtern, eine rosa und grüne Statue des heiligen Joseph so widerlich gewesen war, daß ihr das Ganze wie eitel Ketzerei erschien. In der Tat: War aller Pomp, war des Aufgebotes aller Künste zu viel, wenn, ja wenn schon das Überweltliche als Zeugenschaft, Gewähr, Instanz genommen wurde? Rief etwa Katzenmusik, riefen Plattheiten es hernieder?
Hier aber?
Die Feier hatte sich zu einem Niveau vermocht, das als Folge seiner höheren Natur eine Art von Wechselwirkung beschwor; und wie die beiden Diakone den Mantel des Abtes, so durfte der Beschauer glauben, auch er fasse die Wahrheit bei einem ihrer Enden.
In einem dieser Diakone hatte Daphne übrigens auf den ersten Blick ihren Onkel Emmerich erkannt. Hochgewachsen und weltmännisch, auch das helle blanke Gesicht wenig verändert. Als sie ihn zuletzt sah, war er im Hotel der Place Vendôme Gast ihres Vaters, Constanze lebte noch. Tonangebend wie immer, hatte sie ihn aller Gunstbezeigungen für würdig erklärt, daraufhin ließen ihn die Kinder nicht mehr los: Immer hatte er Constanze an einem, Daphne am andern Arme hängen, Franzl marschierte voran, und es war fast zu viel der Lieb’, denn Helga interessierte ihn weit mehr.
Wohin er kam, war um den schönen Emmerich Zell, den Prince charmant, wie ihn die Münchner Damen nannten, ein »Geriß«. Vielleicht half der Mangel an Widerständen den Überdruß bereiten, sofern es Überdruß war, der ihn dem geistlichen Stande zugetrieben hatte, eines Tages war er verschwunden, mit einer »Amourschaft«, wie Zenaide wußte, tauchte aber statt dessen als Pater Cölestin wieder auf. »C’est dans la famille«, sagte sie sodann, wie beim Herzschlag des Grafen Bland. »Gräßlich!« riefen alle Komtessen wie aus einer Kehle. Zudem kam er doch als Ariberts Erbe in Betracht, dessen Kinderlosigkeit die Ballmütter von Anfang an in Atem hielt; Franzl sollte dadurch als Partie »ganz was Gutes« werden, wie es in der Folge von ihm hieß.
Onkel Emmerich hatte seine geruhsamen Züge bewahrt, und auch seine neue Bahn schien fernerhin sich eben abzuzeichnen. Schon ging er zur rechten Seite des Abtes; wie bald, und dessen Würde fiel ihm zu, später der Bischofsrang, zuletzt der Hut des Kardinals. Wohl ragte sein Kopf jetzt aus dem Chorhemd und der Kapuze, aber nach wie vor hätte statt der Stola die Georgirittertracht, ein Frack mit Ordensband oder der Rock des Diplomaten mit seinen Zügen harmoniert.
Dicht vor der Klausur lag das kleine Sprechzimmer, in welchem Daphne am selben Nachmittag Pater Cölestin besuchte. »Ich kann dich nicht so nennen«, hatte sie nach ein paar mißglückten Versuchen halb lachend, halb verlegen gesagt. »Nenn mich doch, wie du willst«, war seine Antwort gewesen und seine erste Begrüßung: »Das ist schön, daß du hierher gekommen bist«, kein »Warum?«, denn warum kam einer schon nach Beuron? Ihr erster Eindruck, flüchtig, aber wie ein schwarzer Schatten, der alsbald entschwand, daß ein furchtbares Erlebnis, wie ein Schlagbaum zugefallen, hinter ihm lag. »Bist du gut untergebracht? Kann ich etwas für dich tun?« fragte er.
Daphne äußerte sich begeistert: »Dabei niemand, der einen kennt. Daß ich dir’s nur gestehe, diese obligate Frömmigkeitswoche inmitten einer ganzen Bekanntenflora hat mich von München verscheucht.«
»Ich kann das sehr gut verstehen«, erwiderte er.
»Wer hat die wundervolle Regie hier eingeführt?« versprach sie sich, behielt aber das Wort doch bei und setzte hinzu: »Es ist eine Regie sublimster Ordnung.« Sie sprachen dann von Constantin, von Lori und Franz. »Aber soll ich nicht gehen?« fragte sie. Er warf einen Blick auf die Wanduhr, die wohl zur Mahnung der Besucher so laut hier tickte. »Noch einen Moment. Und wird dir die Zeit hier nicht zu lang?« forschte er. »Nicht einen Augenblick«, versicherte sie. »Nun habe ich ja auch die Liturgien vorgefunden. Man täte sich sonst wohl ein wenig schwer. Da in dem großen schönen Laden bei der Bahn. Aber welch ein Ramsch im übrigen! Diese billigen Devotionsartikel und Bilder, da es doch so schöne gibt: sie passen so gar nicht hierher. Sie sollten verboten werden.«
Einen Augenblick sah Pater Cölestin seine schöne Nichte ein wenig unsicher an. »Das Kloster hat schon viele Reformen durchgesetzt«, wich er aus.
»Eben deshalb. Es muß noch das Interdikt über solche Ware durchsetzen.«
Wieder zögerte er unmerklich. — »Ich haue daneben«, dachte sie und stand auf.
Er ging mit ihr zur Tür. »Wie lange bleibst du? Komm noch einmal, bevor du fährst«, sagte er. Und sie schieden.
Um einen Platz in der vordersten, womöglich der ersten Bank zu sichern, fand Daphne sich schon um sieben Uhr morgens ein. Auf diese Weise entging ihr keine Einzelheit des sakralen Umzuges am Gründonnerstag aus einem Tabernakel in den anderen, unter dem ständigen Getöne der Schellen, bevor sie ganz verstummten. Erhobenen Armes, die Monstranz gleichsam umschleiernd, deren Gold zwischen den Falten des Brokates erglühte, trug der Abt sie vom Hauptaltar in die Kapelle. Sämtliche Mönche, paarweise angereiht — ein langer Zug —, schlossen sich ihm an. Er selbst ging zwischen seinen zwei Diakonen; er trug den Rauchmantel, und sie hielten dessen Rand. Transzendenten Geleisen aber schien das Vorwärtsschreiten dieser Drei entzogen: Nie ließ sein innerer Rhythmus das leiseste Versagen zu; nie erlitt es durch all die Stunden einen Hauch der Störung. Tausend Proben hätten eine so unverrückbare Harmonie nicht festgehalten. Und keinen Augenblick wich vom Gesicht des Abtes der marmorne und entpersönlichte, in seiner Würde fast entfrommte Zug. Daphne fragte sich, ob sie je etwas so Schönes gesehen hatte.
In den Trauermetten wechselten die Stimmen der Brüder ab: Die Antiphonen, die Nokturnen, die Psalmen, der Lobgesang des Moses dehnten sich schier endlos aus. Dem wohlklingendsten Organ und seinem Tonfall von berechneter und ergreifender Monotonie oblag die Führung am längsten. So gewaltig jedoch die Texte waren, Daphnes Interesse wandte sich immer stärker der Ritornelle zu, mit welcher der Abt jede Lesung, die er selber übernahm, jedes Oremus schloß: »Per omnia saecula saeculorum«; wie oft mochte er sie nun schon gesagt haben? Endlich würde sie abgeleiert klingen; man würde sie endlich nicht mehr hören können. Sie paßte darauf. Statt dessen waren es diese ewig selben Worte, welche, wie ein Schiff, das seine Ladung aufnimmt, von seltsamen Schauern zu schwellen begannen. Mehr als ihr Sinn vielleicht war es ihre Wiederkehr, ihr Laut. »Per omnia saecula saeculorum«, sprach der Abt. Nie zu oft. Worte, die zur Kadenz abfielen, keine Namen nannten, reichten sie vielleicht am weitesten, stürmten sie am ehesten die Himmel? — Sie faßte die Züge Onkel Emmerichs ins Auge, die sich unbeweglich hielten wie die des Abtes. Wunderte sie sich noch, daß er als Erzdiakon hier stand, der Prince charmant von einst? Begriff sie nicht vielmehr die Lockung dieser Abtei? Tat er ihr leid? O nein!
Mit dem Wetter hatte sie es wieder einmal gut getroffen. Am Freitag bestieg sie die Höhen auf der Sonnenseite, um den oberen Waldweg zu verfolgen. Glückhaft, ohne Melancholie, lag das Tal zu ihren Füßen. Heut abend würde auch sie mit diesem kleinen Zuge dort, der sich zwischen die Felsenzacken schob, nach Sigmaringen fahren, um Carry zu treffen.
Denn hier mit einem jungen Mann aufzuziehen, hatte ihr, die in München der Kritik so wenig achtete, widerstrebt. Wie sehr ihre Erscheinung auffiel, war ihr nicht verborgen, Blicke der Neugier wie der Bewunderung war sie gewohnt. Aber nie zuvor hatte sie Carry mit solcher Ungeduld erwartet. Viel war ihr indes genommen worden: die letzte Illusion eines Zusammengehens mit Flick seit dem kurzen, aber vielsagenden Auftritt, die Vertraulichkeit mit ihrem Vater, den Flick gleichsam verbarrikadierte, die Nähe Franzls gerade jetzt, Notburga, die sich zurückzog, und Antonie, an welche sie nur mit Sorge denken konnte, denn die Nachrichten besserten sich nicht.
Sie lag im Sterben. Als ihr — den Spiegel in der Hand, den für eine Schöne geschliffenen Spiegel — die Worte entschlüpften: »je vais mourir«, hatte sie wohl den Tod an ihre Seite gezogen, ihn, der nicht zu kommen pflegt, wenn man ihn ruft. Aber er hatte es ja eilig mit dem Aussterben der Geschwister Bland. Obwohl Daphne nicht wußte, wie schlimm es um die Freundin stand, hegte sie doch wenig Hoffnung, und jenes kurze, fast böse »Adieu« haftete ihr wie ein herber Abschiedsgruß im Ohr. Lebhafter noch hatte sie den Nachmittag vor Augen, an welchem Antonie am anderen Ende ihres Riesensalons in allerlei Kalender vertieft saß, sie immerzu verglich und plötzlich zur Türe stürzte, um alle Lichter auszudrehen; und die Stunde im Halbdunkel sodann vor dem Kamin, da sie selbst den Flammen zunächst am Boden kauerte und jede stumm ihren Gedanken nachhing, bis Carry wie ein Retter eintrat.
Daphne, die gerne gründlich zu Werke ging, hatte nicht nur die Liturgie der Karwoche, sondern auch die der Ostertage erworben. Auch diese füllte einen ganzen Band und war in ihrer Ausführlichkeit weit fesselnder als das übliche Manuale, das mit Kunst das meiste unterschlägt, um den Leser nicht zu ermüden. Auch an einem zu schnell gespielten Adagio hört man am ehesten vorbei. Daphne hatte vorm Einschlafen, in dem Buche blätternd, die Stelle gelesen: »Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater.« Jetzt, nachträglich erst, fiel sie ihr auf. Zum ersten Male stutzte sie: Auferstanden, jedoch nicht aufgefahren zu seinem Vater? Wie aber? Noch nicht imstande, wie die Worte zu besagen schienen? Und weshalb? Und warum durfte Maria Magdalena, die von ihm Angeredete, ihn nicht berühren? Weil er noch nicht aufgefahren war zu seinem Vater, durfte sie ihn nicht berühren. War es etwa, weil er noch für sie berührbar war? Und was hemmte seine Auffahrt, da er doch auferstanden war? Genau auf vierzig Tage später ist die Feier dieser Auffahrt angesetzt. Welcher Gedankenausgang lag dieser Bestimmung zugrunde? Gab es eine Geheimlehre auch hier? Und welchen Banden unterzog nach ihr der Auferstandene sich noch? Gab es für Tod wie für Geburt ein Werden? Zerfällt die Zeit, wenn der erkaltete Fuß sich ins Zeitlose setzt, noch nicht sogleich? Von welcher Schnur muß der Abgeschiedene sich erst lösen? »Was wissen wir vom Gestorbensein?« hatte die kundige Daphne eines Tages Antonie gefragt.
In Sigmaringen, zu Füßen der Burg, windet sich die Donau zu einer breiten, leuchtend grünen Schleife, schaumbesäumt schlägt sie schon kühne Wellen gegen den Fels und übt ihre Kraft wie ein Vogel seinen ersten Flug.
Konnte Daphne sich heute nicht von Carry trennen? Der letzte Zug nach Beuron ist längst versäumt. Carry will sie im Auto über die Burgen Werenwag und Wildenstein zurückbringen. Diese heben sich vom Nachthimmel nicht mehr ab, als das Paar, ohne sie zu sehen, daran vorüberfährt. Aber morgen war auch noch ein Tag. Dann wollte jeder seiner Wege gehen, Ostern ein letztes Mal seiner Familie widmen.
Morgen früh, soviel stand fest, holte er sie schon um zehn Uhr direkt von der Kirche in demselben Wagen ab, in welchem sie jetzt fuhren, dann wollte sie sich von Onkel Emmerich verabschieden, und Carry sollte sie begleiten, dann ging es wieder über Berg und Tal zurück nach Sigmaringen. Bis Ulm fuhr er mit ihr. Sie kam spät nach München, er um viele Stunden später nach Clarens und bei Morgengrauen erst nach Vevey.
Ja, was beschlossen, was anberaumten sie nicht alles bei diesem Wiedersehen! »Die Trauung morgen in vier Wochen«, bestimmte Carry, das Aufgebot sofort. Franzl würde sich bescheiden müssen und bei ihrer Hochzeit sein, statt sie bei seiner. »Es kommt ja auf dasselbe heraus«, und Daphne stimmte ohne Zögern bei. Er kannte diese schmelzenden Augen an dem kühlen Mädchen nicht.
Schon in der ersten Frühe fand am Karsamstag die Feuerweihe im Freien vor der Kirchenpforte statt. Viele Zeremonien waren Daphne neu, so auch die Segnung des weißen Lammes, das an der Leine zum Hochaltar gezogen wurde und unbeschreiblich rührend dreinsah, als es wieder ging. Beim Gloria brachen Orgelklänge los, setzte Glockengeläute wieder ein; während der Prozession sah Daphne die weltabgewandten Züge des Abtes in nächster Nähe, er zog hart an ihr vorbei, und gerne hätte sie der Feier bis zum Ende beigewohnt. Allein der Gedanke an Carry beunruhigte sie. Er mußte jetzt bald hier sein und würde sie im Gedränge vielleicht nicht finden. Sie trat aus ihrer Bank und wollte ihm entgegengehen. Am Ausgang wandte sie sich noch einmal um. Ihr Blick fiel auf die zwei Seitenaltäre. Man hatte indes die dunkelvioletten Hüllen von den Bildern entfernt; sie standen beide im Morgenscheine, und Daphne erkannte die Originale der Reproduktionen, die, in Licht- und Öldrucken, Tische und Regale jenes Ladens besäten, über dessen frommen Ramsch sie sich bei Onkel Emmerich beschwerte. Kein Wunder, daß er auswich oder schwieg. Noch hatte sie die Schwelle nicht überzogen, stemmte einen Arm noch gegen das Portal, grenzenlos ernüchtert, einem Engel selbst dabei so ähnlich, als Carry vor ihr stand und eintreten wollte. Sie hielt ihn ab.
»Aber gestern wolltest du doch...«, sagte er erstaunt.
»Gestern ist nicht heute.«
»Und dein Onkel...?«
»Komm«, drängte sie ihn. »Mein Gepäck ist schon auf der Bahn. Wir nehmen es dort auf. Laß uns fahren. Wo ist der Wagen?« — »Und dein Onkel?« Sie trieb ihn förmlich zurück, damit er die Bilder nicht sähe.
Wie ein fliehendes Liebespaar fuhren sie über die Burgen Wildenstein und Werenwag und erreichten gerade noch ihren Zug.
Die Wirte in der Umgegend Münchens hatten sich für die Feiertage mächtig mit Vorräten eingedeckt, von Menterschweig bis Kochel, und fluchten nicht wenig, als am Samstag jähe Kälte einbrach; erst Finsternis, dann Schnee. Immer neue Niederschläge wechselten mit groben Windstößen ab, und das Licht war abscheulich. Die Riesenostereier in den Auslagen der Konditoreien und die Bataillone von Schokoladenhasen, aus den vergangenen Jahrgängen als Landsturm bereitgehalten, halfen der Stimmung nicht auf. Verärgerte Familienväter, die ihre frisch-fröhlichen Bierausflüge nach Harlaching und ins Isartal verhagelt sahen, hielten mit den Biskuitlämmern für die Kinder zurück. Die Wetterberichte von der Zugspitze lauteten katastrophal, dabei hatte niemand den Umschlag vorausgesehen. Bayern kriegte ihn zuerst ab. Am längsten hielt ihm der südliche Schwarzwald stand. Trotz des bedrohlich sich schwärzenden Hohen Säntis konnte noch eine fröhliche Regatta die badischen Ufer des Bodensees entlangziehen; dann ertranken auch diese in der Regenflut.
So lieferte der Winter eine seiner grausamen Rückzugsschlachten, lockerte Lawinen, riß Häuser in die Tiefe, brachte Brücken zum Einsturz und einen Zug zur Entgleisung. »Da habt ihr euren Frühling«, höhnte er.
Den Pelz eng um die Schultern gezogen, den Kragen hoch aufgeschlagen, entstieg Daphne um die zehnte Abendstunde fröstelnd ihrem Zug. An der Sperre stand Constantin und lächelte beglückt, als er ihrer ansichtig wurde. Er hatte ihre Depesche dem Boten abgenommen, die Ankunft, die sie meldete, mitgeteilt, doch ohne die Stunde zu verraten, denn er wollte seine Tochter abholen ohne Dreinreden Flicks. Auf Schleichwegen begab er sich zur Station, nur von dem einen Wunsche beseelt, Daphne eine Stunde ungestört für sich allein zu haben. Denn allein war er fast nie mehr in seinem Hause. Von Flick beständig umschwirrt, unfähig, sich ihrer Tyranneien zu erwehren noch den Neckereien der hübschen Anna entgegenzutreten, die sich täglich mehr Kühnheiten erlaubte, beim Servieren ihr Wort mitredete und, von Flick ermuntert, ihre Weisheit über kirchliche Veranstaltungen anbrachte. Stundenlang saß Constantin bei Aribert, ganze Nachmittage im Café. So sehr der Ton seiner anderen Kinder, obzwar er die Beziehungen verkehrte, ihm behagte, so zuwider war ihm Flicks bevormundende Art, den Geschwistern abgeguckt, dabei aber stets danebengreifend und ihn, der auf seine Bewegungsfreiheit so eifersüchtig war, mit ihrer immerwährenden Fürsorge belästigend. Zwischendrin fand er an ihrem Talent, Mienen und Stimmen von Bekannten nachzuahmen, seinen Spaß. Deren Angriffsflächen waren sozusagen ihre Spezialität. Da kamen ihr dann Einfälle; ja, sie entwickelte Phantasie. Jeden hätte sie dann geblendet; keiner hätte dann gedacht, wie unmöglich es war, mit dem armen Geschöpf eine Unterhaltung zu führen. Constantin war nicht der Mann, über die Peinlichkeiten ihres Tuns Betrachtungen anzustellen. Diktierte er ihr nicht, sondern zog er sich mit seinen Katalogen zurück, so litt er es ja eine Weile gerne, daß sie mit ihrer Stielsticharbeit sich zu ihm setzte. Dann begannen ihre Reden, die sich stets um Franzl drehten und die dumme Partie, die er machte, dessen Braut ihn eingefangen habe: »Mach mir nichts weiß, ich bitte dich«; um Daphne, die immer herumflitzen müsse und die nun einmal so sei: »Nimm mir’s nicht übel«; um Carry, dem sie nicht über den Weg traue mit seinem stechenden Blick, und daß es nicht zu verstehen sei, daß er ihr gefiele, und daß er doch nicht im Schlaf daran dächte, katholisch zu werden, das sei purer Schwindel, und daß eines schönen Tages Daphne mit protestantischen Kindern als eine Exkommunizierte dastehen würde und es im Grunde recht gut wisse, aber sich nichts daraus mache. Leider.
Constantin hörte nur halb hin, da er aber trostlos war, sowohl daß Franzl wie Daphne ihn verließen, stimmte er ihren Einwendungen gegen Schwiegersohn und Schwiegertochter zu. Erzieherische Versuche lagen ihm nicht, es wären die ersten gewesen. Hörte das Kritisieren gar nicht auf und wurde es ihm zu langweilig, so griff er zu Mantel und Hut. Dann redete Flick mit Anna über dieselben Themen weiter, oder sie schwätzte endlos unten bei Pamela. Für diese war Daphnes Abreise nicht ganz unbenützt verstrichen. Nach einigem Zögern folgte sie Flicks Aufforderung und betrat mit ihr die Herbstsche Wohnung. Es war schon Abend. Man aß dort früh zu Nacht. Constantin wurde überrumpelt. Triumphierend und geschäftig ließ Flick ein Gedeck zulegen. Anna tanzte vor Vergnügen, und Pamela blieb zu Tische. Aber sie mißfiel Constantin. Insofern schlug die Intrige fehl. Er war andere Damen gewohnt, die nicht so mit der Türe ins Haus fielen.
»Ob das der richtige Umgang für die Tochter ist, fragt sich der Vater«, sagte Constantin zu Daphne. Sie schwieg und schloß aus der Bemerkung, daß indessen ein Verkehr mit der Schlüsseldame eingeleitet worden war.
Sie saß jetzt mit ihm in dem großen Speisesaal des Reginahotels und wäre statt dessen gerne mit einer Anzahl Wärmeflaschen in ihrem Najadenbett gelegen. Aber wie konnte sie ihn, den sie schon so bald verlassen würde, früher noch, als er ahnte, enttäuschen?
»Du bist heiser«, sagte er.
Sie war nicht nur heiser. Der lange Tag, seit sechs Uhr morgens, die Reise, der Rauch, die plötzliche Kälte hatten ihren Hals recht angegriffen. Mit Mühe brachte sie eine klare Suppe hinunter, und sogar das Sprechen fiel ihr schwer. Nur dem lichten, wundervollen Blick ihrer Augen war keine Müdigkeit anzumerken. Sie erzählte von Onkel Emmerich und von Beuron. »Und was gibt es hier Neues?« fragte sie zum Schluß.
»Nichts. Deine Schwester geht mir auf die Nerven«, erwiderte er trüb.
»Weißt du, ich habe eine Idee. Ich sage sie dir morgen.« — Sie hatte keine Idee, sie hätte nur gerne eine gehabt; sie wollte ihn ablenken.
»Wie geht es heute der Antonie?«
»Schlecht. Sie hat ihre Schwester bei sich.«
»Ist Notburga zurück?« Sie riskierte die Frage.
»Wer sagt, daß sie fort gewesen ist?«
»Ihr Brief hatte doch eine ausländische Marke.«
»Ich weiß von keinem Brief.«
Daphnes zartes Gesicht nahm plötzlich einen entschlossenen, fast strengen Ausdruck an. Notburga war die Rettung. Und der Sache mit dem Brief wollte sie nachgehen.
»Franzl kommt ja am Mittwoch heim«, sagte sie; denn das war wieder ein angenehmes Thema.
»Aber auf wie lang? Der Bub macht eine dumme Partie. Er ist viel zu jung, um zu heiraten. Er hat sich von dem Mädel einfangen lassen.«
Es war Flick, die jetzt aus ihm sprach. Daphne hörte es sofort heraus. Gewöhnlich genügte ihre Gegenwart, um ihn heiter zu stimmen. Heute tat sie sich nicht so leicht.
»Und du heiratest mir nicht deinen Protestanten«, brach er plötzlich aus. »Ich will es nicht.«
Daphne sah ihn nur an. Ihr Lachen war wie angehauchtes Silber. Constantin hielt sich die Hand vors Gesicht, um zu verbergen, daß er selber lachen mußte. Mein Gott, wie leid er ihr tat!
Sie hatte ihm aus Sigmaringen ein altes Büchschen mitgebracht und zog es jetzt hervor. Er drehte es in seinen Kennerfingern hin und her; es war schön. Daphne erzählte von der kleinen Stadt, dann wieder von Onkel Emmerich und von Beuron. Nach einer Weile hatte sie alle Schatten von ihm gebannt; er war nur noch der Freude inne, mit ihr zu sein. Doch als sie dann aufbrachen, die Straße überquerten und vor ihrem Tore standen, zögerte er plötzlich; gab vor, noch ein paar Zeitungen lesen zu wollen, und nahm die nächste Türe, die in das Café »Zur Neuen Börse« führte.
Daphne war baß erstaunt. Warum wollte er nicht mit ihr nach Hause?
Nur von dem Pikkolo, der ihr Gepäck trug, begleitet, zog sie im Lift herauf.
Auf dem Palier stand Flick. Sie wartete argwöhnisch seit einer Stunde.
»Der Zug hatte Verspätung, o ich bin müde«, rief Daphne ihr entgegen.
Als Flick sie allein und so erschöpft heimkehren sah, half sie ihr, machte selbst die Wärmflaschen und Lindenblütentee zurecht. Daphne klagte über Halsschmerzen, um Gesprächen und der eventuellen Frage, ob der Vater sie abgeholt habe, vorzubeugen.
»Und morgen bleibst du mir liegen«, sagte Flick, ihre Kissen schüttelnd.
Was konnte Daphne erwünschter sein? Sie schloß die Augen und lächelte stumm.
Mrs. Turneycroft befand sich in wachsender Unruhe. Sie hatte ihr Heu noch nicht eingefahren, vielmehr an Trszinsky eine kostbare Zeit verschwendet, und nun waren der englische Gesandte Sir Claude Hay und Lady Hay unversehens von ihrem langen Urlaub zurück. Da sie auch dem ganzen Karneval ferngeblieben und »nichts gegeben« hatten, erließen sie alsbald Einladungen zu einem Riesentee — »from four to six«. — Ihre zahlreichen Empfangsräume faßten alle Prinzen und Prinzessinnen, deren Suiten, die 1., 2. und 3. Hofrangklasse, y compris den insgesamten Schnudel.
Lady Hay war Amerikanerin von Geburt, ihren eigenen Landsleuten sehr zugetan, sie auszeichnend, wo sie nur konnte, dabei aber durchdrungen von der Stellung Sir Claudes, als des Vertreters eines Königs, der zugleich Kaiser von Indien war und nomineller Beherrscher gewaltiger Kolonialreiche. Die Bildnisse seiner Familie — jedes mit Unterschrift —, bis hinauf zur Old Queen, prangten auf eigenen Tischchen in silbernen Rahmen. Der massivste umgab die Photographie Georgs V., als des gegenwärtig Regierenden. Sie stand für sich allein zwischen silbernen Leuchtern, überhängt von einer silbernen Ampel.
Herzförmige Silberschachteln, große und kleine Silberdosen, Silbernippes in Form von Mühlen, Gondeln, Segelschiffen und Tragsesseln in Miniatur, aber keine anderen Konterfeie gruppierten sich um die der englischen Hoheiten. Als die kleine Tochter des englischen Sekretärs bei Gelegenheit eines Kinderballes all das silberne Gefunkel, die silbernen Kandelaber und venezianischen Spiegel gewahrte, rief sie fröhlich: »a chapel!« Denn Silbergeräte waren nun einmal die Schwäche der Lady Hay. Es war ihre einzige. Die untadelige Dame, still, hochgesinnt, von einer Sorte Amerikanerinnen, die in Europa fast unbekannt ist, scheute niemanden. Mochten andere Gesandtschaften, insbesondere die russische (und man stand gut mit Rußland), Mrs. Turneycroft bei offiziellen wie intimen Anlässen bei sich sehen, sie selbst zögerte keinen Augenblick, sie unerbittlich zu schneiden. Nicht aus Feindseligkeit — derartige Gefühle kannte sie nicht —, sondern lediglich, weil sie es Georg V. sowie Sir Claude schuldig war, keine Abenteuerin bei sich zu sehen. So erhielt Mrs. Turneycroft keine Einladung zu dem Feste. Die Welt drehte sich aber jetzt in ihren Kreisen um nichts anderes. Nichts anderes war wichtig. Ein berühmter Tenor und ein Star aus New York sollten singen, die entzückende siebzehnjährige Lida Tarlanda den Frühlingswalzer tanzen. Wurde von diesen Sensationen gesprochen (und wovon sprach man sonst?), so sagte Pamela, um Zeit zu gewinnen: »Es ist zu arg. Noch immer habe ich meine Karte nicht abgegeben; morgen will ich es bestimmt tun.« Es war längst geschehen. Doch sie blieb unerwidert. Sir Claude redete in amerikanischen Dingen seiner Frau niemals hinein. Sie waren ihr Ressort. Was wollte Pamela anfangen? Sie war gerichtet, wenn Lady Hay sie verleugnete. Zenaide konnte sie nicht zu Rate ziehen. Dies wäre einem Geständnis gleichgekommen. Trszinsky fand sie sehr ungnädig in diesen Tagen; mitnichten aufgelegt, inmitten kleidsamer Kissen zu lagern; er fand seine Titania stets im Taylordreß, ruhelos, spröde, interessant, und seine Leidenschaft schlug neue Flammen.
Nach zwei Tagen intensiv ausgeübter Krankenpflege von seiten Flicks wünschte Daphne nur eins: ihr zu entfliehen und, wie immer sie sich fühlte, das Zimmer zu verlassen.
Flick, ihren eifersüchtigen Instinkten folgend, hatte sie wie ein Mameluck bewacht, niemanden zu ihr hereingelassen, auch ihren Vater abgehalten unter dem Vorwand, sie sei zu müde oder sie schliefe. Denn eine leidende, ihr überantwortete, von ihr abgesperrte, nur ihr gehörende Daphne, die sagte ihr zu, und sie wäre nie müde geworden, sie zu hegen.
Aber der schützende Engel verwandelte sich jäh in einen Drachen, als er die Patientin, angetan mit ihrem wattierten Seidenrock, in vertraulicher Unterredung mit Constantin ertappte, auf dem Diwan seines Arbeitszimmers ausgestreckt, sogar eine Zigarette zwischen den Lippen. Sie hatten eben die Rede auf Anna gebracht; Daphne fuhr zusammen, so hastig war Flick eingetreten. Fieber, Halsschmerzen erachtete diese von nun an als Komödie.
»Antonie ist tot«, sagte Daphne, als sei dies ein mildernder Umstand für ihre Flucht.
Antonie war tot; und Daphne wollte die Idiotensoiree nicht mehr geben. Sie fühlte sich zu Späßen nicht mehr aufgelegt, der Zweck der Übung war also verfehlt. Gottlob kam heute Carry. Und gottlob war übermorgen Franzl wieder da.
Die hübsche Anna stahl jetzt wie ein Rabe. Von ihrer geradezu rührenden Ehrlichkeit war jedoch auch Constantin durchdrungen. Flick erzählte ihm Wunderdinge darüber. Vor den kindischen Fallen, die sie stellte, hütete sich Anna wohl und hätte eher eine glühende Kohle angefaßt als Flicks Geld. Mit Constantins Brieftasche dagegen glückte ihr schon mancher Kunstgriff. Denn so unachtsam war keiner. Nein, der merkte nichts, und sie tat ihm nicht weh. Aber die Mutter beschenkte sie oft und gedachte sie immer kräftiger zu unterstützen. — Mit der Vorspiegelung so edler, künftiger Taten beruhigte sich Annas Gewissen. Was Daphne anging, pah! — die verdiente es nicht besser; Anna nahm gleich die erste Gelegenheit wahr, sie wieder zu bestehlen. Diese, den Raub sofort bemerkend, bezwang ihren Ärger und nahm sich von nun an energisch in acht.
In der Sparkasse wunderten sich die Angestellten über die häufigen Eintragungen, zu welchen das junge Dienstmädchen sich vermochte.
Die Kälte hielt noch an. Dem Seelenamte, das mit großem Pomp für Antonie abgehalten wurde, zu welchem das diplomatische Korps sich einfand, Pamela in Begleitung Zenaidens also nicht fehlen durfte, konnte Daphne nicht beiwohnen. Ihr erster Ausgang aber galt dem Palais Bland, denn Antoniens Schwester hatte sie um eine Unterredung gebeten. »The Dowager Lady Cameron« hatte feinere Züge, im übrigen dieselbe blaurote Gesichtsfarbe wie ihre Geschwister. Durch den Tod ihres Mannes um ein Riesenbesitztum gebracht, lebte sie seitdem ganz in London, sehr bescheiden im Vergleich zu der früheren Pracht und ohne je die Stätten ihrer Glanzzeit aufzusuchen, da sie mit dem neuen Lord Cameron nicht sympathisierte. Daphne sah wieder den großen Salon, in dem sie Tag für Tag die einsame Antonie durch ihr Kommen erfreut hatte. Ferne schien diese Zeit schon zu liegen.
»Meine Schwester hat mir in ihren Briefen viel von Ihnen erzählt«, sagte Lady Cameron, »und Sie sind der letzte Besuch gewesen, den sie empfing. Würden Sie mir ihre Äußerungen von jenem Tage mitteilen, falls Sie sich ihrer noch entsinnen?«
»Ach, jedes Wort«, seufzte Daphne, »es waren ihrer so wenige; sie selbst war so verändert.« Und sie erstattete genauen Bericht, auch über die Bitterkeit ihres Tones bei dem Hinweis auf einen Kummer, der ihr zugefügt worden sei, ihre Weigerung, sich näher auszusprechen, und den unerklärlichen und verlorenen Blick, mit dem sie sich umsah.
»Ich bin im Bilde«, sagte Lady Cameron. »Ich weiß jetzt, wie alles zusammenhängt«, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Die Finanzen der Geschwister Bland waren schon lange in Unordnung geraten, ohne daß sie dessen sonderlich geachtet hätten. Besaßen sie doch das Riesenpalais, dessen Unterhalt, wie ihren eigenen, die Mieter der großen Luxusläden in den unteren Geschossen sowie stattliche Leibrenten bestritten. Nur Conny Bland del Nero, der Jüngste, hatte sich aus Vernunftgründen zur Ehe entschlossen und die nicht liebenswürdige, aber enorm reiche Lydia Freitag aus Livland geheiratet. Dank ihrer Mitgift wurde das Stammschloß, das er übernahm, restauriert und blieb das Gestüt erhalten. Blands lebten auf großem Fuße; sie wußten es nicht anders, und Conny streckte den Brüdern sehr große Summen vor. Es war Freitagsches Geld, aber bildete das Palais nicht ein stattliches Pfand, das seine Kinder einst auslösen würden? So und nicht anders verhandelten die Brüder unter sich in geschäftlichen Dingen. Und Antonie gegenüber, um welche sie eine Ehrengarde bildeten, hielten sie aus purer Ritterlichkeit den Schein aufrecht, als seien sie im Palais Bland bei ihr zu Gast.
Conny starb als der erste, und seine Witwe lebte zumeist auf ihren heimatlichen Gütern, dort hörte sie ihr estländisches, livländisches und kurländisches Deutsch, ein anderes als das baltische gefiel ihr nicht. Mit Fug durfte sich indes Antonie als Erbtante betrachten. Aus diesem Glauben war sie am Morgen des Tages, an welchem Daphne von der ärztlichen Konsultation zu ihr eilte, in brutalster Form gerissen worden. Der Advokat der Gräfin Bland-Freitag teilte ihr mit, daß seine Klientin das Palais, welches ihr längst gehörte, zu beziehen wünsche; mit einer Schroffheit, wie nur gewisse Anwälte sie aufbringen, wurde ihr auf Grund zahlreicher Belege dargelegt, daß die geliehenen Summen, von welchen nicht einmal die Zinsen gezahlt worden seien, den Wert des Hauses weit überstiegen, so daß sogar Antoniens Apanage — insofern sie Mitbesitzerin desselben war — ihr nur durch besonderes Entgegenkommen belassen bliebe, in Wahrheit jedoch zum großen Teil schon zur Konkursmasse gehöre.
Keinen Augenblick verfiel die weltkundige, aber in geschäftlichen Dingen ahnungslose Antonie auf den Gedanken, daß es sich hier um eine Rechtsfrage handelte, die noch nicht erwiesen, bei der sie nicht notwendig unterliegen, deren Entscheidung sich erst erhärten müsse, jedenfalls auf die lange Bank schieben ließe. Nein, sie, die schüchternste, wenn auch stolzeste aller Frauen, sah sich nur mit Entsetzen ihrer Unabhängigkeit beraubt, sogar für ihre Rente auf die Gnade einer Schwägerin angewiesen, die ihr und der Familie, insbesondere Julian, stets etwas fremd und nicht ganz standesgemäß erschien, ohne daß auch er ihre wahre Natur nur von ferne erkannt hätte.
Wie aber kam es, wie war es möglich, daß er es nicht tat?
Hier eben sitzt das Dilemma. Gleichgültigere, ja schlechte Anverwandte, die sich wenig oder gar nicht um Antonie gekümmert hätten, wären viel besser imstande gewesen, sie vor der Unbill zu bewahren, denn sie hätten Lydia durchschaut und sich nicht auf die Willigkeit verlassen, mit welcher sie das Palais beleihen ließ; sie hätten zumindest mit der Möglichkeit gerechnet, daß sie insgeheim jeden Pfennig verrechnete und auf den Termin spekulierte, an dem sie einen Schnitt machte und nicht nur mit Fug, sondern mit Gewinn abschlösse.
Aber auch Julian, der zynische und exklusive, der hochgesinnte Julian, der sich für einen Menschenverächter hielt und Mrs. Turneycroft auf den ersten Blick durchschaute, auch mit seiner Schwägerin den Kontakt nie finden konnte und allerlei recht unschmeichelhafte Spitznamen für sie fand, legte dennoch eine von jeder Schlangenklugheit unberührte Einfalt ihr gegenüber zutage, indem auch er sie keiner niedrigen Handlungsweise für fähig hielt. So war zuletzt er es, der Antonie den Keulenschlägen auslieferte, welche sie niederstrecken mußten, sobald sie wehrlos stünde. Sie war leicht zu zerbrechen. Antonie und Geldzänkereien...? Antonie, die arme Verwandte abgebend...?
Die Welt wird nie zur Ruhe kommen, den Frieden sich nie sichern können, bevor die Menschen — dieses Namens würdig — sich nicht aufraffen, die Grenzlande zwischen den zwei Reichen zu erkunden, in welche dieser Planet zerfällt. Denn lange zögern dort die Wege, pendeln hin und her, wissen oft nicht, wohin sie führen, umziehen oft noch lange gesittete Ufer, bevor sie in den Dschungel der Verworfenheit und des leicht festzustellenden Verbrechertums eindringen. Dort an diesen oft noch urbaren Übergängen und Pässen wären die Schranken aufzurichten, die Studienkommissionen zu entsenden, die Geheimarchive anzulegen, Kontrollen zu bestellen.
»Wie unheimlich sind Familien«, dachte Daphne. Sie saß mit Lady Cameron vor dem Kamin, vor dem sie täglich mit Antonie weilte, von ihren Kostbarkeiten umringt; auf dem Tischchen lag der Handspiegel, in den sie zuletzt geblickt hatte. Am anderen Ende des Raumes, wo der hohe schmale Tiepolo hing, stand ihr kleiner Sekretär, zart, auf gebrechlichen Füßen, reinster, später Louis XVI. Es war ihre eigenste Umgebung, der Antonie entschwunden war.
Die Absage der Idiotensoiree hatte die erkorenen Gäste sehr verstimmt. Immerhin bildete der schon auf den folgenden Tag fallende Empfang der Lady Hay die weitaus größere Sensation; ganz aussichtslos war also das Leben nicht. »Won’t it be fun?« sagte jetzt Pamela, wenn die Rede davon war. Aber sie tobte. Auch daß die Einladung bei den Hausgenossen oben ausfiel, gefiel ihr gar nicht. Daphne hatte als Grund ihr Befinden angegeben, aber Flick sagte, daß ihr nichts fehle; es sei nur ihr neuestes Getue. Pamela kam nicht in Betracht für die intimen, wenn auch bewegten Abende, die jetzt mit Mattreis, den Verlobten, Trauzeugen und Brautjungfern stattfanden. Onkel Aribert fehlte, er war an Ischias erkrankt. Flick verhielt sich bocksteif; auch Constantin zeigte sich mit einem Male sehr zugeknöpft. Daß Daphne nun schon in drei Wochen heiraten sollte, nahm ihn wieder ganz gegen Carry ein. War sie leidend, dann sollte sie sich zu Hause pflegen, bis sie sich erholte, eine Ansicht, in welcher Flick ihn bestärkte. Ihm gegenüber hielt sie die These von Daphnes Krankheit aufrecht; denn sie haßte Carry, dem sie stechende, Lori, der sie kokette Augen andichtete. Scharf genug blickte der eine, hold werbend die andere sie an; letztere keine Bosheit, höchstens einen schlechten Einfluß von seiten Pamelas bei ihr vermutend.
So stattlich Sir Claudes Lakaienstab war, für eine so zahlreiche Gesellschaft wie den »crush« vom Weißen Sonntag reichte er nicht aus, und Daglkofer bürstete und putzte seinen Frack. Er ging zu Fuß, damit der Benzingeruch sich verflüchtige. Das Wetter war kalt, die Bäume hielten ihre Knospen noch zurück, willkürlich, wie es schien; sie würden ausschlagen, sobald die Luft sich von neuem erwärmte.
Auf Licht und Wetter kam es heute für das Haus der englischen Gesandtschaft in der Barer Straße nicht an. Die ganze Front entlang waren die gelben Seidengardinen heruntergelassen, und Lady Hay hielt sich in dem großen Mittelsalon zum Empfange bereit. Sie war noch außerordentlich schön, von ganz unbestimmbarem Alter, das Gesicht wie aus Porzellan und vollständig emailliert. Auch lächelten ihre feinen, roten Lippen — rouge glacé — nur mit Vorsicht. Ihr blondes Haar, nach der allerneuesten Mode gewellt, stimmte zu dem metallischen, geheimnisvollen Etwas, soupçon bleu-âtre, magie savante, ihrer kleinen, aber imposanten Züge. Ein König, zugleich Kaiser von Indien und Beherrscher mächtiger Kolonialreiche, konnte keine würdigere Vertreterin entsenden; und die Etikette war ihr Element.
Sir Claude, auch er eine anziehende Erscheinung, gab sich, wie die Münchner sagten, »lescherer« als seine Frau. Ebenso untreu als sie ihm treu, dabei von einer Verbundenheit mit ihr auf Leben und Tod, der unzersplitterten, fast dramatischen Verbundenheit gewisser kinderloser Paare. Kam Untreue auf angesichts einer solchen Verbundenheit? Wort wie Begriff wären nie bis zur Herzenskammer Lady Hays gedrungen.
Ihr Butler hatte die Flügeltüren geöffnet. Sie erhob sich. Ihr »At Home« begann. Von allein stand der schwere Atlas ihres Kleides ab: Bouton d’or hieß die Farbe auch auf deutsch. Sie harmonierte mit all dem Silber an der Wand. Die Lüster erstrahlten, die Ampel über Georg V. brannte, und trotz der herabgelassenen Gardinen tönte Tageshelle sich tief mit dem Schein der Lichter und dem der Blumen ab, grellen, langstieligen, noch mächtig ihres ersten Duftes, noch vollgesogen von der Sonne der Riviera. Die Damen und Herren, welche jetzt eintraten, waren plötzlich alle viel schöner als daheim. Nur Zenaide, stets eine der ersten, schien immer im Alltagszwilch zu stecken. An ihr war nichts zu retten. In unersättlicher Neugierde hielt sie ihr Lorgnon auf die Kommenden gerichtet. Schon waren die Hohensteins, die Zells, die Tratzbergs und Liebeneggs hereingesegelt; sie stellte fest, wie umringt Lori war, im Nu von ihren Eltern wie dem Verlobten abgesprengt. Eine Lori ganz in Weiß von Kopf bis zu den Füßen, das süße, nächtliche Gesicht beschattet von ihrem Hut, ein schmerzliches Licht in ihren Augen aufquellend beim Anblick Trszinskys. Auch die Diplomaten, Glätte der Haltung markierend, standen schon wie die Konjunkturen ihrer Länder zusammen: der französische Gesandte mit dem russischen sich unterhaltend, so daß der sächsische unverweilt auf den preußischen einredete. Unverbindlicher gesellten sich die Sekretäre zu den Mädchen oder Frauen, mit welchen sie gerade flirteten, und da traf es sich denn oft quer genug. Auch Monsignore della Mare Grossa durfte über den Wassern schweben. Strahlend bezog Lucy Schlingen mit Gustl Kummerfeld eine ferne Nische. Mond und Sonne... Nicht hatte Zenaide es heute nötig zu fragen: »Qui vient donc tout?« Denn alle waren sie da, außer der leidenden Daphne, zurückbleiben mochte niemand, abgesagt hatte keiner, der nicht mußte; Pamela bat im letzten Augenblick leidenden Tones die Freundin, vorauszugehen: Sie müsse erst eine Migräne niederkämpfen. Übrigens hatte Zenaide ihrer vergessen, sie war vollauf beschäftigt, denn immer noch ließ der Ansturm der Geladenen nicht nach. Unerschüttert hielt Lady Hay ihnen stand, jeden nur kurz, wenn auch liebenswürdig begrüßend, wenn auch nie mit Wärme, dazu reichte ihre Kraft nicht mehr, nie bis zur Lebhaftigkeit gehend, dazu war der Moment zu ernst. Sie hatte Zeremonienmeister Graf Immenegg-Clar neben sich stehen; beide dem Eingang zugewandt und der Meldung vom Eintreffen der Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses gewärtig.
Eine ganz kleine Atempause, dann zeigte sich in der Öffnung der Türe — der Hofmarschall? — noch nicht, sondern Flick. Hoch aufgeschossen, in einem Kleid von intensivem Blau (sorgsam seinerzeit von Daphne ausgewählt), eine unendlich linkische Flick, und neben ihr, den sanften Katzenkopf fast an sie geschmiegt: Pamela! — Pamela, der Frau des Hauses und ihrem Erzfeinde, dem Zeremonienmeister, gerade in den Weg laufend. So hatte Zenaide sie denn falsch informiert? In den vielen Empfangsräumen nämlich, die angeblich ebenso viele Zugänge besaßen, hatte sie der Kontrolle zu entgehen gehofft. Weiß der Teufel, warum sie heute alle gesperrt waren und man sich erst vom großen Salon aus verstreute. Denn kühner als die Flucht aus der elterlichen Spelunke war Pamelas heutiges Unterfangen. Aber sie konnte nur noch riskieren, zu verlieren hatte sie nichts mehr. Auch bei ihr lag nun seit Tagen eine Karte Lady Hays »from four to six« in der Schale am Vorplatz zuoberst auf. Sie hatte sie geschickten Griffes Zenaiden entwendet, doch nicht mit ihr, mit Flick nur wagte sie den Schritt und hatte sie im letzten Augenblick mit allen Künsten überredet, mit ihr zu gehen.
»Oh«, sagte Lady Hay.
Vor diesem »Oh« erblaßte Pamela, ihre Augen flackerten, aber sie lächelte, und Lady Hay ließ sie entschlüpfen. Aber nicht weit. Graf Immenegg-Clar zugewandt, sagte sie mit der klaren, gemessenen Stimme, mit der sie ihre Gäste bewillkommnete: »I have not asked Mrs. Turneycroft«, und Flick freundlich bei einer Hand haltend, winkte sie Mattreis und schob das törichte Mädchen bei ihnen ab. Und nicht anders als ihr »how do you do« oder ihr »so glad« ließ sie jetzt als dritte Ritornelle die Worte fallen: »I have not asked Mrs. Turneycroft.« Nicht überall, nicht zu jedem; nur wo sie es für richtig hielt. Sie sagte es nicht zu Zenaide und nicht dem russischen Gesandten, aber dem französischen, nicht dem Nuntius, jedoch dem Monsignore della Mare Grossa. »Je n’ai pas invité Mrs. Turneycroft.« Es war nicht nötig, daß sie es den Tratzbergs sagte; genug, wenn es die Zells erfuhren. Und ohne eine Spur von Haß, doch unerbittlich zündete Lady Hay an allen vier Enden ihr Dach an über Pamela. Jetzt konnte sie bleiben. Es hatte nichts mehr auf sich.
In der üblichen solennen Weise vollzog sich der Empfang der Hoheiten, nicht lange, und der Star von New York, einer großen Papierblume ähnlich, trat vor, wie eine künstliche Nachtigall aus goldenem Bauer, und sang ihr Lied. Daraufhin fuhr der Münchner Tenor mit den »Schmiedeliedern« mitten in das Silberinventar hinein, und zu aller Entzücken tanzte sodann Lida Tarlanda.
Auch dies war nun vorüber; ein großes Stimmengeschwirr erfüllte die Luft; es gab die ausgefallensten Dinge: Erdbeeren, Trauben, rotglühende Pfirsiche. »Sie ist also doch diejenige Turneycroft«, sagte der Zeremonienmeister zum Adjutanten Graf Rellpach, »die zum Gaudium ihrer Zuhälter den Myrtenkranz aufsetzte; und der hätte ich den Zutritt bei Hofe verschaffen sollen. Was wäre mir geblieben, als in Pension zu gehen?«
Daß man Lori noch nie so berückend gesehen hatte, darüber war nur eine Stimme; als sie ging, erlosch ein Licht, verstummte eine Melodie. Langsam brach alles auf; Franzl machte sich mit Carry auf die Suche nach Flick und entdeckte sie in einem abgelegenen Boudoir mit Trszinsky und Pamela. Sie stand im Begriff, ein Nußeis zu nehmen, das ihr Daglkofer entgegenhielt. Sonst war das Zimmer leer. Ohne Pamela zu grüßen, nahm Franzl seine Schwester festen Griffes beim Handgelenk. »Komme sofort«, sagte er. Überrumpelt, erschrocken folgte sie ihm. Carry war an der Schwelle geblieben.
Trszinsky und Pamela warfen sich schon den ganzen Nachmittag nichts wie unangenehme Redensarten an den Kopf. Der Anblick Loris hatte in ihm Haß und Verachtung ausgelöst für die Trösterin seines Kummers, und diese bedauerte alle mit ihm verlorene Zeit. Sie meinte, ohne ihn, ohne die Jettatora wäre sie vielleicht mit Constantin schon verlobt, dann könnten die Hays auch nichts machen, und sie selbst hätte den Fehler ihres heutigen Vabanquespieles nicht begangen.
»Sie lassen mich ruhig durch Ihren glücklichen Rivalen insultieren«, versetzte sie ihm. »Aber Sie fürchten sich wohl. Ein feiner Kavalier, das muß ich schon sagen.«
Er zuckte. »Haben Sie nie unfeinere gekannt?« gab er dann ruhig zurück.
»Er weiß auch schon«, dachte sie.
Aber er wußte noch nichts. Nur weil er Lori wiedergesehen hatte, fiel ihm mit einem Male die Gemeinheit von Pamelas Zügen auf. »Ich gehe«, sagte sie stolz. In diesem Augenblick wurde Trszinsky zum russischen Gesandten entboten. Der fand, es sei jetzt der Blamage genug. Trszinsky erhob sich; Pamela schloß sich ihm an, von Raum zu Raum durch die gelichteten Scharen mit ihm gehend, lächelnd, eifrig plaudernd, als wären sie die innigsten Freunde, als stünde auch sonst alles zum Besten mit ihr, bis ein Blick seines Chefs ihn aufhielt und er sie verließ. Aber sie brauchte nur die letzten Schritte zur Türe allein zu gehen. Sie tat es selbstbewußt. So war sie eines Tages aus dem Polizeigebäude von Milwaukee hervorgetreten.
Franzl sprach unterwegs kein Wort mit Flick: einerseits zu böse auf sie, andrerseits in Gedanken zu sehr erfüllt von Lori, die er mit ihren Eltern im Restaurant Preysing treffen sollte. Mattreis waren nur auf der Durchreise hier, die Dienerschaft war schon nach Waizenach vorangeschickt, sie selbst wollten morgen folgen, deshalb aß man heute zeitig. Franzl setzte Flick an ihrer Haustüre ab; er hatte keine Zeit mehr, die Seinen aufzusuchen, und Carry mit den letzten Nachrichten zu ihnen entboten.
Die Isar, von den Eiswassern der Alpen angeschwellt, war aufgeregt und toste. Am lautesten, wo sie, Wehre und buschige Inseln überwindend, unter der Maximiliansbrücke hervordröhnte. Schon lange geht hier ein Desperado auf und nieder. Es ist Trszinsky. Der heulende Wellenschlag scheint die richtige Begleitmusik zu dem Tumult seines Inneren. Er läßt selbst dann nicht ab von der Stelle, als Wirbelwinde ihm den Hut wegreißen, der über die Brüstung fliegt und im Dunkel des Flusses verschwindet. Erst der Regen treibt den nächtlichen Wanderer die Straße hinauf. Sie ist nur stellenweise hell, und Wagen findet er keinen; im Nu sind alle vergeben: Die junge Ivogün hat ein Konzert in den Vier Jahreszeiten beendet. Nun jagt ein Wolkenbruch die Fußgänger panikartig jeder offenen Türe, dem geringsten Dachvorsprung zu. Dort stehen sie gepreßt, schimpfen oder lachen. Trszinsky will sich zu niemandem gesellen; barhäuptig überquert er den Max-Joseph-Platz. Im Palais Preysing, der Residenz gegenüber, liegt sein Klub. Er will keine Bekannten treffen und nimmt die andere Türe. Sie führt in das Restaurant.
Es ist schon ein Weilchen her, daß Mattreis nach Hause fuhren. Franzl ist noch eine Viertelstunde geblieben und hat vor sich hingeträumt, während die Kapelle spielt. Jetzt geht auch er. Die Garderobe liegt hart am Eingang. Ein Diener hilft ihm den Mantel anlegen. In diesem Augenblick tritt der durchnäßte Trszinsky blinzelnd, wirren Haares herein. Beim Anblick seines Nebenbuhlers fährt eine feurige Schlange in ihm auf. »Habe ich den Flegel!« schreit er und schlägt ihm mit der Faust mitten ins Gesicht. Was nützt es, daß Franzl mit verstärkter Wucht den Hieb zurückgibt? Ist die Tat darum minder geschehen?
Carry hatte kein Glück mit seiner Mission, Flick kam ihm zuvor. Sie beschwerte sich bei dem erstaunten Constantin, ihr Bruder habe ihr »vor aller Welt« den Arm fast ausgerissen. »So etwas«, erklärte sie heftig, nachdem sie es sich hatte bieten lassen, »lasse ich mir nicht bieten.« Und Carry sei dabei gewesen, um Franzl aufzuhetzen. Das täte er immer.
Erst spät abends konnte die kranke Daphne den Moment wahrnehmen, um die andere Version und den Skandal mit Pamela vorzubringen. Aber Flick stürzte herein: Kein Wort davon sei wahr, sie habe doch mit eigenen Augen die Einladung der Lady Hay an Pamela gesehen. Alles unter Tränen und Geschrei, daß man es hinaus hörte und Daphne sich schämte, ihren Vater auf solche Weise belästigt zu sehen. »Magst du es von anderen hören«, sagte sie mutlos und ging.
Bei Carry war Licht, und sie hätte ihn gerne angerufen, aber Flick horchte an allen Türen oder sandte Anna als Posten aus. So wartete sie ein Weilchen; verwundert, daß er sich nicht meldete.
Ja, bei Carry war Licht. Aber Franzl saß dort und bat ihn als Zeugen. Als zweiten hatte er Gustl Kummerfeld gewählt. Nach damaliger Auffassung und Sitte gab es für den Leutnant Herbst keine andere Alternative als das Duell.
Ungleichen Ganges ziehen die Geschicke des einzelnen, der Familien wie der Völker auf. Jahre, Jahrzehnte lang können sie träge, unentschlossen, unvollendet sich hinziehen, um sich plötzlich zu erfüllen. Dann stürzen Häuser zusammen, streben andere in die Höh’, füllen die Tafeln der Toten sich aus. Neue Zeiten kommen über Nacht.
Pamela sah ihr Spiel verloren. Sie hatte keine Karte mehr in der Hand und machte sich im stillen reisefertig. Sie gedachte alles von ferne zu liquidieren, dabei möglichst viele Schulden ungeregelt zu lassen, während sie auf immer dem Lande entschwände. Zuvor gelüstete ihr — als kleine Entschädigung für so viel Mißgeschick — nach einigen Schmuckstücken aus Helgas Tresor. Den Wunsch, ihn zu sehen, unter dem Vorwand, Flick zu beraten, in Wirklichkeit, um von ihr beschenkt zu werden, äußerte sie schon vor ihrem Bankrott, dessen Möglichkeit — er war nicht ihr erster — sie nie ganz außer acht ließ.
Der friedliebende, aber Stimmungen unterworfene Constantin hatte sich von dem Auftritt zwischen seinen Töchtern in der Tat so abgestoßen, seines Heims so überdrüssig und entfremdet gefühlt, daß er nach einer schlaflos verbrachten Nacht Leonhard seine Handtasche packen ließ, um auf einige Tage nach Zell zu Besuch des erkrankten Aribert zu fahren. Er ging zu Daphne hinüber und schlug ihr vor, mit ihm zu kommen. Sie sah elend aus.
»Wie lange bleibst du fort?«
»Drei, vier Tage.«
»Dann komme ich übermorgen dich holen.«
»Und haltet Ruh’. Es ist ja schrecklich«, sagte er bedrückt.
»So überlege doch bitte einen Augenblick«, erwiderte sie gereizt. »Ich muß dir sagen, was sich wegen dieser Turneycroft zugetragen hat, die noch unmöglicher ist, als wir dachten, und ich konnte nicht zu Ende reden, weil Flick draußen horchte. Dies war die Situation.«
»Was braucht aber Carry sich hineinzumischen?«
»Nennst du es Hineinmischen, daß er auf Franzls Bitte die Mitteilung übernahm?«
»Schrecklich, schrecklich«, sagte er. »Es ist ein Kreuz mit dem Mädel. Wir hätten sie noch ein Jahr im Kloster lassen sollen. So geht es nicht weiter.«
»Zum Glück ist die Person unten entlarvt. Sie wird sich bald verziehen.«
»Na, dann ist’s gut.« Constantin rauchte ein paar Zigaretten, stellte aber keine Fragen. Er wünschte abgelenkt, nicht an unangenehme Dinge erinnert zu werden. »Also, ich bin bei Aribert, wenn etwas los sein sollte, und du holst mich.«
Leonhard meldete den Wagen, und er ging.
Er war noch keine Stunde außer Hause — in Trszinskys Wohnung hatten Franzls Zeugen vorgesprochen —, als Flick an Daphne herantrat, um die Schatulle zu verlangen: »Nur auf einige Stunden, denn ich will ja nichts.«
»Sie liegt auf der Bank«, sagte Daphne, die sofort erriet, daß Pamela hinter der Forderung steckte.
»Auf der Bank? Das ist stark. Wer hat sie hingebracht?«
»Ich. Sie ist dort viel sicherer aufgehoben als hier, und ich trage die Verantwortung, bis du dich endlich zur Teilung entschließest.«
»Ich protestiere«, sagte Flick und wurde dunkelrot. Sie sagte nicht mehr: »Ich verzichte.« »Ich protestiere, ich will sie auf der Stelle.«
»Wozu?«
»Das ist meine Sache.«
»Nein. Es ist auch meine. Wenn du sie deiner Freundin hinunterbrächtest, würde sie dir abschwindeln, was sie nur könnte. Glaub mir doch endlich.«
»Anna!« schrie Flick wie außer sich. Daphnes Herz stockte vor Entsetzen.
»Du wirst doch nicht..., was fällt dir ein?«
Aber Anna war nicht weit. Sie stand schon im Zimmer.
»Jetzt soll ich die Schatulle nicht einmal mehr sehen dürfen«, kreischte Flick. »Sie ist weg; und sie gehört mir so gut wie ihr.«
Daphne zitterte am ganzen Körper und verlor die Fassung. »Sie wird dir bald ganz gehören«, brach sie aus. »Ich bin kränker, als du weißt.«
Waren solche Worte angetan, Flick zur Besinnung zu bringen? Im Gegenteil. Aber bei der Finsternis, die in ihrem Köpfchen vorherrschte, konnte sie der Erwägungen nicht bewußt werden, welche darin aufzogen: Wie? Die ganze Schatulle sollte ihr zufallen, nicht nur die halbe, ihr, die auf alles zu verzichten bereit war? — O nein! Flick ahnte nicht, was für Nachtgespenster da in ihrem Hirne spukten und sie bewogen, statt der totenblaß vor ihr stehenden Schwester zu schonen, einer Szene ungehemmten Lauf zu lassen, deren Ton immer tiefer herabsank. Daphne versuchte noch einmal, sie auf die Seite zu ziehen. »Du weißt, wie es sich in Wahrheit verhält«, sagte sie.
»Ha! Wie mit der Geige!« höhnte die andere.
»Die gehört ihr auch nicht«, sekundierte Anna.
»Hinaus!« krächzte Daphne. Sie krächzte nicht nur, ihre Stimme überschlug sich und verklang wie ein Pfiff. Anna brach in ein gemeines Lachen aus. Flick scheute sich nicht zu sagen: »Nein, Sie bleiben.«
Sie scheute sich nicht. Denn beide, sowohl Flick, voll schlechter Instinkte zwar, aber guter Regungen jederzeit fähig, wie Anna, die als ein braves und gutwilliges Mädchen das Kloster verließ, befanden sich in voller Rückentwicklung. Anna fand jetzt den Auftritt immer mehr nach ihrem Geschmack. Es bedurfte nur Flicks Ermunterung, damit sie eine letzte Scheu überwand.
»Sie lügen ja, wenn Sie den Mund aufmachen«, sagte sie zu Daphne.
Da wankte Daphne ans Telephon und rief ihren Bruder. Sie rief auf gut Glück. Sie hielt es für ein Glück, daß er zu Hause war. Vom Dienste dispensiert, war er mit Ordnen, Zerreißen und Schreiben von Briefen beschäftigt. Daphnes gebrochenes Organ erschreckte ihn. Er eilte sofort zu ihr. Flick war wie vom Erdboden verschlungen. Anna aber fand nicht die Zeit, das Weite zu suchen. Franzl gab ihr eine halbe Stunde an der Uhr, um zu packen; und sperrte sodann das geräumte Zimmer ab. Still jubelnd half die Köchin den Koffer des »Saufratzen«, wie sie von Anfang an das Mädchen genannt hatte, hinuntertragen.
»So, und nun gib mir den Schein der Schatulle«, sagte Franz. Er steckte ihn zu sich. »Und mache du dich selber bereit, dieses Haus von einem auf den anderen Tag zu verlassen. Telegraphiere an Harriet, daß sie dir hilft.«
»Das könnte ich dem Vater nicht antun, und ich habe ja dich«, sagte sie. »Zwei Wochen halte ich es schon noch aus.«
»Nein. Unter Umständen hältst du es nicht aus. Flick ist ein Unhold. Sie ist als ein Fluch in unsere Familie getreten. Denke zurück.«
Der arme Franz dachte auch voraus.
Er fiel beim ersten Kugelaustausch; ins Herz getroffen. Der finstere und unselige Trszinsky stand, von keinem Schuß gestreift. Franz war nicht der Mann, einen anderen niederzuknallen: ohne Haß für den Rivalen, den wahren Grund seines Überfalles durchschauend. Jetzt waren seine blauen Seefahreraugen erloschen.
Wollte der Frühling gar nicht kommen in diesem Jahr? Stürme machten sich von neuem auf. Ach! der von Frösten heimgesuchten Welt, ach des sternenlosen Himmels, als Franz die erste Nacht unter der Erde lag mit den anderen Toten draußen vor der Stadt, seine jungen Glieder schon winterlich erstarrt!
An wen denkt Constantin, wenn nicht an ihn? In seinem Lehnstuhl zusammengesunken, hängt ihm die linke Hand herab; sie hält ein Taschentuch, und hin und wieder drückt er es an seine Augen. Doch sie sind trocken. Groß und brennend sitzen sie in ihren Höhlen. Daphne hat sich vergewissert, daß er allein ist; leise, ein schmaler Schatten in schwarzen Gewändern, kommt sie zu ihm. »Ein Telegramm.« Es ist von Notburga. Daphne hat ihr geschrieben und sie beschworen, zu kommen. Constantin liest und reicht es ihr wortlos hin. Notburga wird morgen in München sein. Draußen bellt Punctilian. Sooft Daphne eine Tür gehen hört, schrickt sie zusammen. Zwar bedauert sie Flick. Es ist so furchtbar, daß sie sich sagen muß, sie ist der Anlaß, der zum Tode ihres Bruders führte. Ihr Vater weiß es nicht. Er soll es nie erfahren. Aber zum ersten Male ist sie froh, Flick fast die ganze Zeit bei Pamela zu wissen. Nur Flick nicht sehen, sie nicht sehen. Es läutet, wiederum bellt Punctilian. Dann ist es nicht Flick. Für Flick bellt er ja nicht.
Es war Leonhard. Er meldete Carry und zog sich sogleich zurück, durfte er doch annehmen, daß keine Antwort sei.
Aber Constantin sprang auf. Im höchsten Zorn, mit einer Wildheit, die Daphne noch nie an ihm gesehen hatte. »Der Unglücksbube kommt nicht mehr über meine Schwelle. Er hat meinen Sohn in einen gottlosen Tod gehetzt«, schrie er. Einen Augenblick zauderte sie, ob sie erst zu ihm reden sollte, dann aber floh sie in den Salon, denn er lag nebenan, und Carry mußte die schrecklichen Worte gehört haben.
Er stand bebend in der Mitte des Zimmers und fragte: »Meint er mich?«
»Nein; ich weiß es nicht. In einer Stunde komme ich und sage dir alles. Geh voran, geh!« Sie umschlang ihn, drängte ihn aber dabei zur Tür in der Angst, ihr Vater könnte hereinstürzen. »Ich komme gleich, ich komme gleich«, flüsterte sie.
Carry bezwang seine Empörung. »Komm, sobald du kannst«, und er ging.
Constantin saß wieder im Lehnstuhl vergraben. »Carry ist so unschuldig wie du und ich«, sagte Daphne hart, energisch. »Was bedeutet diese neueste Verleumdung?«
»Er hat gehetzt«, schrie er wieder, aber mit mehr Verzweiflung diesmal als Wut.
»Hat Flick dir das gesagt? Ich habe ihrer geschont. Sie ist die Veranlassung gewesen.«
Und Daphne erzählte den Sachverhalt, sie zwang ihn in ein paar schnellen, gepreßten Sätzen ihrem Vater auf, denn sie erkannte, daß er sonst außerstande gewesen wäre, ihr zu folgen. Der Kummer, so unerwartet über ihn hereingebrochen, hatte ihn verwirrt. Während seine Gedanken versagten, pendelte sein Zorn zwischen Flick und Carry hin und her. Daphne, von Mitleid ergriffen, vergaß der eigenen Not. Wie eine Schwalbe, die niederen Fluges über den Boden streicht, so legte sich, Fittichen gleich, ihre traurige Ruhe über ihn. Die verschleierte Stimme übte wieder ihre sanfte Gewalt.
»Flick soll in ihr Kloster zurück!« fuhr er auf.
»Hätten wir sie dort gelassen, ich trage die Schuld«, dachte sie trüb.
Carry wartete gewiß schon. Sie wollte aufbrechen.
»Bleibe noch. Warum gehst du?«
Ja, es war noch zu früh, ihn allein zu lassen. Sie blieb und streckte sich auf dem Diwan aus, den Kopf in die verschränkten Hände gebettet.
»Du mußt gesund werden. Du mußt dich pflegen«, sagte er.
»Hier?« fragte sie mutlos. Und Franzl war tot. Für den gab es kein Pflegen mehr.
»Wo immer du willst. — Aber den Carry will ich nicht mehr sehen.«
Es war zu viel der Unvernunft. »Ich werde eher zu ihm ziehen als ihm dies sagen.«
»Du wirst ihn nicht heiraten.«
»Wer redet denn heute von Heiraten«, sagte sie ärgerlich.
»Heute nicht und niemals. Eure Ehe hätte meinen Fluch.«
Sie schwieg. Die Zeiten schwebten ihr vor, so wenig Jahre nur zurück. Wie hätten die Kinder da ihren Vater, wäre er ihnen mit so großen Worten gekommen, unter Hallo durch die ganze Wohnung gejagt, und wie hätte Constanze, den Arm in ihre süße Seite gestemmt und blitzenden Auges, ihm den Weg verstellt. »Du bist wohl nicht richtig«, hätte sie gerufen und ihm überall die Flucht abgeschnitten, bis er zuletzt in einen Stuhl gesunken wäre, eine Zeitung vors Gesicht haltend, sein Lachen zu verbergen, mit derselben charakteristischen Bewegung der Hand, mit welcher er jetzt das Taschentuch an die Augen drückte, die so groß und brennend in ihren Höhlen saßen.
Sie sah hinüber zu ihm. Auch er war jetzt verstummt. Aber sie wußte, durch ihre Gegenwart nahm sie die Hölle dieses Hauses von ihm. Sie erhob sich erst, als es wieder läutete, ohne daß Punctilian bellte, und Constantin hielt sie nicht mehr zurück.
Carry saß in der Halle des Hotels Regina. Sooft die Drehtüre in Schwung geriet, blickte er auf. Daphne würde kommen, er wußte es. Das Vertrauen, das nun seit langem zwischen ihnen herrschte, schloß jedes Mißverständnis aus. Aber die Zeit verging. In seiner Ungeduld trat er ins Freie. Es war ein kalter Tag gewesen. Nun wich er langsam der Dämmerung. Da glitt ihm endlich ein schmaler schwarzer Schatten entgegen. Nur das Gesicht war weiß. Es lächelte ihm zu.
Wer an den beiden vorüberging, hielt sie für ein junges Paar. Daphne betrat Carrys Räume, über deren Schwelle sie zum ersten Male zog, als wären sie ihr Heim. Ihr Bild tauchte in dem großen Spiegel auf, der gewohnt war, Franzls scharfe, schneidige Gebärden zu mimen. Jetzt war es Daphnes geprüftes Antlitz, das er verkündete. Sie hatte ihren Crêpehut abgenommen, der lange Schleier wich von ihr. Ja, hier ging Franzl täglich ein und aus.
»Du mußt fort«, sagte sie.
»Also doch.«
»Flick hat dir die Rolle eines Agent provocateur zuerteilt, um sich selber zu entlasten.«
»Und deine Stimme fällt bei deinem Vater nicht mehr ins Gewicht?«
»Ich wirke als Zerstäuber, solang ich mit ihm bin. Aber dann tritt sie wieder auf. Gerade als ich ihn verließ, kam sie zurück; oder vielmehr: Ich verließ ihn gerade, als sie kam.«
Carry hatte sich abgewandt. Er starrte zu Daphnes beleuchtetem Fenster hinüber: diesem Fenster aller Fenster, durch so viel Eindrücke, Erinnerungen und Signale gezeichnet. Hielt er stille Zwiesprache mit seinen Scheiben? War es leichter, Abschied von ihnen zu nehmen, während sie noch an seiner Seite stand?
»Du hast das Licht bei dir brennen lassen.«
Was können Liebende sich sagen?
Sie hielt es für eine Frage: »Nein. Ich zog mich rasch an und löschte, damit du wußtest, ich sei endlich soweit. Denn ich dachte, du würdest mich hier oben erwarten.«
»Dann ist jemand in deinem Zimmer.«
Rasch läutete er an. Der Ruf blieb unbeantwortet. Gleich darauf wurde es dunkel.
»Dann ist es Flick. Sie kann sich noch nicht des Telephons bedienen, nicht mal den Zeiger von der Uhr richtig ablesen.«
»Und doch so schlau, alles so unglaublich wohlberechnend, eh’ sie handelt. Die Szene bei Lady Hay war ohne Zeugen, außer der Turneycroft, die zu ihr hält, Daglkofer, den keiner holen wird.« Carry sagte es wie vor sich hin.
»Du hast mich oft gewarnt.«
»Nicht genug, nicht genug. Viel zuwenig.«
»Ich hätte dir nicht geglaubt.«
Sie bestand auf ihrer Selbstanklage.
»Keiner gerät von selbst auf diesen Typ, mir war er schon begegnet.«
Nicht in so lückenloser Ausführung zwar. Er hätte es geltend machen können. Denn diese Welt, und vielleicht steckt hier eines der größten Probleme, ist mit halben, viertel und dreiviertel Flicks durchsetzt. Auch Flick war heilbar gewesen.
»Blicken wir nicht rückwärts«, sagte Carry. »Es gibt immer viele Gründe für einen Schiffbruch. Die sogenannten höheren Mächte spielen immer mit hinein.«
Daphne schwieg. »Als sollte, aber immer zu spät, etwas bewiesen werden«, dachte sie. Und mit den anderen Warnungen war es ebenso. Sie kamen zu spät. Oder es fehlte der Schlüssel, sie zu entziffern. Wozu kamen sie also? Was für Gesichte hatten ihre Mutter geschreckt in jener Nacht, deren Schwärze scheinbar nur erstes Vogelgezwitscher verscheuchte? »Wir kümmern uns zu wenig um Flick.«
Falsch geraten! Wie bevormunden wir sie, damit sie unser Haus nicht niederreißt, daß kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Arme Flick trotzdem. Armes, lichtscheues Gehirn. »Gut; ich gehe«, sagte Carry.
»Und du?«
»Ich folge.«
Sie stand nicht sehr fest auf den Füßen, und er hatte sie auf den Diwan gebettet. Wie ein Hügel das Licht, so fingen die Worte, welche in der Abschiedsstunde dieser Liebenden fielen, Musik. »Ich gehe« — »ich folge.« Es tönte wie gesungen. Und horch! Schwangen die Intervalle nicht von trostlosem Saitenklang?
»So long«, sagte er, da sie ging.
Nun waren sie gar in eine fremde Sprache verfallen.
»So long«, sagte sie.
Er reichte ihr den Schein der Schatulle — denn hier ging Franzl täglich ein und aus. — Auch war Harriet schon eingetroffen. Durch ihre Vermittlung sollten alle Briefe und die täglichen Nachrichten gehen. Vierzehn Tage waren als äußerste Grenze gesetzt. »Ich erwarte dich in Zürich«, sagte er. Indes sollte Notburga ins Vertrauen gezogen, ihre Entfremdung mit Constantin behoben werden. Es würde gelingen, hier konnte Daphne auf die eigene Geschicklichkeit vertrauen.
Über Pamela wurde auffallend wenig gesprochen. Es lag im Interesse der Allzuvielen, sie zu vergessen. Am stillsten verhielt sich Zenaide. Ein paar eiskalte, ja beleidigende Abschiedszeilen waren alles, was ihr von diesem Schützling, dieser spurlos verschwundenen Protektorin blieb. Und wie sollte die Baronin ihre Miete für die schöne Wohnung weiterzahlen? Die Lieferanten bestürmten sie um die Adresse der Frau Durnigroff, wie man sie nannte. Ihre Räume waren schon leer, der kitschigen Möbel, Teppiche und Portieren bar. Nur Flicks Glaube ließ sich durch keinen Transportwagen erschüttern. In spätestens drei Wochen kam Pamela ja wieder. Hier im Hause allerdings würde sie nicht mehr wohnen, der traurigen Erinnerung wegen, sondern im Hotel. Sie hatte es ihr selbst gesagt. Also.
Carry wußte nicht, wie familiär alle Welt mit Daglkofer stand. Dieser wurde sehr wohl vernommen, und Mrs. Turneycroft galt als die Urheberin des Duelles, dessen Ausgang man lebhaft beklagte. Graf Immenegg-Clar schimpfte auf die »verfluchten Ausländer«, und es hieß, der Regent habe großen Ärger und Verdruß gegenüber den Herren seiner Umgebung geäußert. Aribert Zell erlitt nach der Beerdigung einen Rückfall seiner Ischias. Für ihn bedeutete Franzls Tod den inneren Zusammenbruch. Vergebens die unternommenen Schritte, Trotz, Willkür, klügliche Umgehungen des Hausgesetzes, um diesen Neffen als seinen Erben einzusetzen. Auch gefühlsmäßig war der sonst so spröde Mann getroffen. Er hatte im Geiste die Zeit vorweggenommen, Loris und Franzls Kinder auf seinem Grund und Boden heranwachsen sehen — schöne Kinder: Es konnte nicht anders sein. Nun dünkte ihm der Park, der See, die breite Terrasse seines Schlosses doppelt öde. Wälder und Jagden, der ganze Grundbesitz ging auf eine andere Linie über: entfernte Verwandte, die seine Pläne heftig befehdeten und nicht umhinkonnten zu triumphieren, Leute, die er nicht leiden konnte, denen er bei der Begrüßung die bewußten zwei Finger entgegenstreckte.
Über Lori verlautete gar nichts. Sie blieb in Waizenach und schrieb nur an Daphne Tag für Tag trostlose Briefe.
Aus Carrys Zimmern war jetzt alle Ästhetik verbannt. Ein Geschäftsmann ging dort auf und nieder und hetzte eine Sekretärin mit Diktaten ab. Daphne zählte die Tage. Unerklärlich war ihr ein neuer Raub. Diesmal vermißte sie nicht nur Geld, auch einen wertvollen Ring. So hatte sie in einem Punkte Anna doch unrecht getan. Wer aber mochte in ihrem Zimmer gewesen sein, während ihres Besuches bei Carry? Denn Flick, soviel ließ sich feststellen, war es nicht. Kaum heimgekommen, war sie von Pamela gerufen worden und zu ihr geeilt.
Um ihre eigenen Kräfte zu schonen, brachte Daphne den Vorfall nicht zur Sprache. Kummer und Aufregung hatten ihr Befinden verschlechtert. Sie pinselte ihren Hals, zog aber vor, das Thermometer nicht zu befragen. An ihren Vater denkend: »Verlass’ ich ihn nicht bald, so verlasse ich ihn auf immer«, sagte sie sich.
Das Wetter war grauenhaft. Wie sollte sie sich in diesem Klima, diesem Hause erholen? Und dem Frieden mit Flick, so still sich diese auch verhielt, traute sie nicht. Gottlob erschien Harriet allmorgendlich. Sie hatte noch einen Koffer stehen. Heimlich wurde er mit Daphnes Sachen angefüllt.
»Warum wohnt Harriet nicht hier?« fragte Constantin. »Es ist doch Platz«, und plötzlich auf Anna sich besinnend: »Wo ist Anna?«
»Bei ihrer erkrankten Mutter«, erwiderte Flick. Doch ihr Auge blitzte auf. Er wußte also nicht, wie schimpflich Franzl sie fortgejagt hatte. Wer außer ihr dachte auch an Anna in diesen Tagen? Wer vergaß ihrer nicht? Nun, und gar in Flicks Beisein, kam Daphne auf das Thema nicht zurück.
Einen einzigen großen Lichtblick gab es: Notburga. Ihr schüttete Constantin sein Herz aus, und in alles eingeweiht, auch in Daphnes Fluchtpläne, zeigte sie bewundernswertes Gefühl. Freilich, sie war allein. Schon kehrte ihr Sohn den Fideikommiß-Herrn heraus, sie selber war entthront. Die lieblose Resi hatte den Sinn anderwärts, die zweite Tochter spann Ränke wider die Mutter, die dritte war noch ein Kind. War da ihr Platz nicht bei dem einstigen Geliebten? Die Geschichte mit dem verlorenen Brief blieb zwar unaufgeklärt. Aber von einer Seite wenigstens hatten Wolken sich gehoben.
Es kam eine Nacht, in welcher Daphne zu ersticken glaubte. Infolge starker Schluckbeschwerden; vom Ersticken hatte sie nur geträumt. Und auch von Flick, deren Gesicht sich rot vor Anstrengung und breitgezogen wie im Vexierglas zeigte, zwerghaft, ganz Wille, als suche sie etwas zu brechen oder zu zerreißen; blindes, fürchterliches Wollen, unbiegsam wie ein eiserner Haken mächtigen Buges am Tor eines Verlieses. »Fieberphantasien«, dachte Daphne.
Von Durst gequält trat sie auf den Gang, um frisches Wasser zu holen. Die Küche lag auf der anderen Seite, nicht weit von Flicks Zimmer. Schimmerte dort nicht Licht? — Aus mehreren Türspalten zugleich? — Und hörte sie nicht Kichern?
»Ich phantasiere«, sagte sie sich wieder. Aber tags darauf — Flick war mit der scheidenden Pamela zur Bahn gefahren — stand Daphne beim Flügel im Begriffe, einige Noten zu sortieren, als ein Schatten fiel. Sie glaubte, es sei Harriet, die einiges in der Stadt für sie besorgen sollte. »Schon zurück?« sagte sie und blickte mit müden Augen zu ihr hin.
Es war Anna.
Anna in halb dreister, halb demütiger Haltung und mit einem verlegenen Lächeln. »Mein herzlichstes Beileid«, sagte sie.
Daphne starrte sie an: »Was tun Sie hier?«
»Frau Turneycroft hat mich in ihren Dienst genommen; und ich soll jetzt hierbleiben, bis ich etwas finde. O ich suche schon einen Platz.«
Und sie warf den Kopf wieder zurück. Flick hatte ihr zwar aufgetragen, sich zu entschuldigen und »Frieden zu schließen!« Aber dazu kam es nicht. Daphne wandte sich ohne ein Wort von ihr ab und verließ den Salon.
Keine Phantasien also: Das Licht, das Gekicher wie der erneute Diebstahl legten keine Rätsel mehr auf. Aber daß Flick solchen Tuns fähig war, kündete unerträgliches Unheil. Daphne hielt Harriet den ganzen Tag zurück. Sie ließ sich die große Ledermappe bringen, zum Schreiben so wohl ausgestattet, rechts die Bogen, links die Umschläge geschichtet, und in der nichts fehlte, alles übersichtlich und in Ordnung, auch Carrys Briefe.
Daphne überzog viele Blätter mit ihrer freien und kühnen Schrift, faßte die einen mit Klammern zusammen, versiegelte die anderen. Harriet brachte sie zu Bett, aber der Kasten wanderte nach. »Morgen ziehst du in dein altes Zimmer, Harriet, und wir fahren übermorgen. Halte dich bereit.«
Denn hier blieb sie nicht mehr. Sie schrieb an ihren Vater, an Notburga, legte ihr die Sachlage mit Anna dar, wies auf die Gefahr hin, das Mädchen zu behalten, verfaßte ihr Testament, schrieb an Lori; legte eine Kopie desselben an Lori wie an Notburga bei. Sie schrieb die Nacht hindurch.
Spät am nächsten Morgen fand man sie in schwerer Ohnmacht liegen. Als sie endlich die Augen aufschlug, stand ein bärtiger, fremder Mann vor ihr und Flick, mit geschäftiger Miene seine Weisungen vernehmend. Daphne machte falsche Angaben, verschwieg ihr Halsleiden, brachte ihn auf eine falsche Fährte. Leider konnte sie ihr Fieber nicht unterschlagen.
Er riet auf eine schwere Grippe.
Flick im weißen Mantel, jeder Zoll eine Operationsschwester, sah bezaubernd aus. Sie rückte nicht von Daphnes Zimmer weg und saß mit ihrer Stielsticharbeit wie angewachsen; zur Nachtwache lang im voraus bereit, das Telefon schon ausgehängt, hatte doch der Arzt strengste Ruhe befohlen.
Daphne, in zwölfter Stunde wehrhaft geworden, stellte sich schlafend. Unter halbgeschlossenen Lidern schielte sie zu Flick hinüber mit einem neuen Ausdruck: schlangengleich. Sie überlegte. Aber sie brachte es nicht über sich, das Wort an sie zu richten.
Erst abends, als der Arzt zum zweiten Male vorsprach und die hohe Temperatur feststellte, nahm Daphne ihren Vorteil wahr. »Sie steigt«, sagte sie, »weil ich mich aufrege und meine Jungfer nicht kommt; ich kann nicht schlafen, wenn jemand um mich ist. Ich läute, wenn ich etwas wünsche.«
Es war deutlich. Dennoch zögerte der Arzt mit seiner Antwort.
»Sie hat den ganzen Tag geschlafen«, sagte Flick mit sanfter Stimme.
Daphne fing das schmerzliche Lächeln auf, mit dem sie seinen Blick erwiderte. Schnell sich aufrichtend, drückte sie die Klingel. Anna wollte dem Rufe folgen, doch die alte Köchin schob sie beiseite. Daphne ließ ihren Vater bitten, sofort zu kommen.
Ruhelos paßte dieser dem Ende des Besuches auf, um das Bulletin auf direktem Wege zu erfragen.
»Es ist alles nur Übermüdung«, versuchte es indessen Daphne nochmals mit dem Arzt. »Ich will meine Jungfer.«
»Sie wird gewiß nicht dieselbe Aufopferung an den Tag legen wie Ihr Fräulein Schwester.«
Da erkannte sie: Er war schon Flickpartei.
»Eine geschulte Pflegerin dürfte dann wohl das ratsamste sein«, wandte er ein.
Flicks Augensterne verrieten nichts. Aber Daphne witterte neue Gefahren. Zum Glück eilte jetzt Constantin herbei. »Gib mir das Telefon«, wandte sie sich an ihn. Erstaunt, daß sie ihn hierfür benötige, und nichts von dem Drama ahnend, das sich hier abspielte, brachte er das Hörrohr in die rechte Lage und reichte es ihr hin.
»Harriet«, rief sie, denn diese meldete sich sogleich und hatte den Tag in allen Ängsten verbracht. Carrys Weisungen waren so streng. »Nein, lassen Sie sich nicht abweisen«, drang jetzt Daphnes Stimme zu ihr. »Läuten Sie viermal. Läuten Sie laut.«
Erschöpft, aber mit raschen Atemzügen sank sie zurück.
»Eine unangenehme Person«, dachte der Arzt. Die Krankheit schien ihm jetzt problematischer.
Als er sich empfahl, folgte ihm Flick die Treppe hinab.
Aber warum kam Harriet nicht? Sie wohnte so nah. Was hielt sie? Warum ließ keine Klingel sich viermal vernehmen?
Daphne warf den wattierten Seidenflaus über, schleppte sich auf den Gang und spähte bis zur Haustüre vor; sie war nur angelehnt. Auf dem Vorplatz leises Flüstern von Flick und Anna, welche den Eingang verstellten und auf Harriet einredeten. Die Horcherin an der Wand gab diesmal Daphne ab. »Was es ist, weiß man noch gar nicht«, hörte sie sagen. »Vielleicht die Masern.«
Das Tuscheln ging hin und her:
»Es gibt viele Scharlachfälle in der Stadt.«
»Sind Sie in der Krankenkasse? Sonst können Sie nicht ins Spital«, kam es von Anna.
»Meinem Vater wäre es gewiß nicht recht, daß ich die Pflege nicht behielte. Der Arzt hat nur mir alles angegeben. Sie wissen nicht, was zu tun ist.«
Da tönte es wie von einer Engelsstimme:
»Ich kenne das Leiden meines Fräuleins.«
Und Daphne trat vor: bebend, bleich bis in die Lippen. »Es fehlt mir nichts Neues, liebe Harriet.«
»Ich fürchte mich nur vor Punctilian«, lächelte diese. Denn der Weg stand jetzt offen.
So wollte denn Flick Daphnes Verderben? — Nein. — Sie wollte nur ihren Willen. Auf raschestem Wege zu einem Geschöpf des Willens entartet, war es in ihr dunkel wie in einem Insekt, und sie wußte nicht, was sie tat.
Aber die Nachtwache, die Wache dieser letzten Nacht hielt Harriet. Das heißt: Sie packte.
Auf Socken, lang vor Morgengrauen, den Flur entlang zur Treppe schleichend, verließ Daphne wie eine Übeltäterin und ohne Abschied ihr verheertes Heim. Die Luft war kalt und dunkel, aber still, und am Himmel zeigten sich Sterne.
Als Notburga die Kunde empfing, waren die Flüchtlinge schon weit. Daphnes Brief an Constantin hatte in letzter Stunde noch manchen Zusatz erfahren. »Ich gehe, weil kein anderer Ausweg ist, um dir zu bleiben. Glaube mir. Glaube deiner Tochter. Deiner Daphne.«
Wie aber? Hatte der Frühling sich endlich zur Erde aufgemacht?
Die Wiesen und Hänge, nun erst erhellte es, unter all dem Nebel, dem Schnee sogar, waren schon ergrünt. Die Almen lachten von den Höhen. Im Licht lag Lindau, und lauterer als alle Bäche war das Blau des vielufrigen Sees. Kalt noch, in Aufruhr von den vielen Stürmen, streifte ihn kein Schatten als der des weißen Schiffes, das ihn durchquerte. Seitwärts stand das entschleierte Gebirge.
Und an Bord stand Daphne und schaute um sich, und nichts entging ihr von der verjüngten, noch eben so wintermüden Welt. Hoffnung mischte sich in den Tumult ihres Inneren. Glück zuckte auf, als Carry sie in Zürich aus dem Wagen hob. Sie lachte ein wenig. »Die gute Harriet«, sagte sie nur.
Und wessen Herz, noch so verkrampft, hätte nicht höher geschlagen an diesem Frühlingstage, in dieser hellsten Stadt der Welt, der Stadt am See. Eine umkränzte Schale ist sein Becken. Die Hügel biegen ein wenig vor ihm aus. Die Alpen, noch so hoch gestuft, wollen ihn nicht übertürmen; kein Sonnenstrahl geht ihm verloren.
Daphne ging am Arme des Freundes. Ihre Lippen waren rot, nicht ausgetrocknet wie so oft. Nicht flackernd bald, dann wieder trübe, gleichmäßig leuchtete ihr Auge. Ihre Stimme, nicht mehr heiser, war süß wie einst. Carry hatte die schönsten Räume des Hotels, dessen Gärten bis zum Strande stoßen, für sie gesichert. Auch er würde in zwei Tagen sie beziehen. Denn die Trauung stand für übermorgen fest. Wozu war man ein Schweizer in der Schweiz? Ein Schweizer ist mächtiger in seinem Lande als andere in ihrem Haus, und Carry hatte keine Zeit verloren, sondern gehandelt, gedrängt, sogar den Onkel Emmerich mobil gemacht. Nun war von Einsiedeln der Prior selber unterwegs.
Sie aßen oben. Dort hatte Harriet schon ausgepackt. Trug Daphne wirklich ein schwarzes Kleid? Ihre Erscheinung war nie so licht gewesen, wie diesen Abend. Welcher Glanz, welches Leben in ihrem Haar! Wie gesträhltes Gold stand es von der weißen, ein wenig steilen Stirne ab.
Des unvergeßlichen Nachtmahles, das sie da hielten! Und hatte Daphne keine Schluckbeschwerden? Gar keine. Höchstens, daß es ihren Kopf hin und wieder wie von einer haardünnen Nadel durchfuhr. Ganz kurz. Kaum eine Pein. So neu! Fast eine Lust zu Anfang.
»Seitlich?« fragte Carry.
«Nein, im Nacken. Kein Wunder, daß mir der Kopf ein wenig brummt. Wie ein Kreisel. Wie ein Ventilator«, und sie lachte schnell. Denn gerade wollte sich ihr Gesicht verziehen. Die Nadelspitze war aufgeglüht.
»Und was soll geschehen?« forschte er. »Bleiben wir hier?«
»Solang wir solches Wetter haben.«
»Und beim ersten Regentag?«
»Meran.«
»Kennst du Meran? Von allen deutschen Ecken ist es die schönste. Deutscher Süden. Wie ist das beruhigend! Sogar die Natur spricht dort das reinste Deutsch; nicht alldeutsch, sondern weltdeutsch, minnedeutsch.«
»Also ins Minneland.« Er streckte die Hand über den Tisch. Sie stießen an. Sie lächelten.
Ja; in Meran war es schon Sommer. Dort ringelten sich schon Nattern zwischen heißem Gestein.
Doch auch in Zürich blieb es warm. Die Knospen der Kastanien müssen schnell den jungen Blättern weichen; und die Platanen schmücken ihre Achseln mit smaragdnen Kronen.
Was aber geschah in den wenigen Tagen mit Daphnes Haar, daß es so entkräftet an ihren Schläfen klebt? Aus den haardünnen Nadeln sind Dolche geworden, die immer zügelloser ihr Gehirn durchbohren.
Eine Trauung in extremis, mehr war ihr nicht beschieden, dieser Braut. Sie war zu spät entronnen. So zartbesaitete Instrumente sind bald zerschlagen. Es bedarf nicht allzuviel. Menschen wie Daphne sind unschwer zur Strecke zu bringen. Schont ihrer, hegt sie, die Unrobusten, die ihr nicht wohl als Gealterte oder als Greise euch vorstellen könnt, denn gar verletzlich ist die einmalige Gestalt! Es ist, als bestimme sie selber ihr Entschwinden. Kaum einer in ihrem Umkreis, der sich dann nicht einer Schuld oder Versäumnis zeihen müßte.
Das große Zimmer ist hoch gelegen. Es sieht nach dem See. Die Alpen glühen. Eine Blumenarie ist die Luft. Daphne will die Fenster weit geöffnet haben. Sie hat Carry ins Freie geschickt. Laut stöhnt sie jetzt in Harriets Armen. Sie legt ihr die Ledermappe ans Herz. Es ist auch ein Brief für Carry darin. Gestern noch schrieb sie an ihren Vater. Heute ist das vorbei. Jetzt haften ihre Augen schwer umtrauert an dem Abendhimmel, sie werden schwarz vor Gram. Dem Lichte ist jeder hold. Und denkt sie vielleicht an andere Wölkchen, verklärt wie diese, schwebt sie sich selbst in geisterhafter Schärfe vor, die Straße überquerend, Medikamente haltend, aufblickend, Mut fassend und sich sagend, daß jetzt die Tage wüchsen und ihr nichts mehr anhaben konnten? Denn damals war noch Hoffnung. Nunmehr liegt wie eine infame Kappe ein Eisbeutel ihrem Kopfe an. Vergebens. Seine Kühle dringt nicht in das Feuer, das hinter dieser Stirne, diesen Schläfen sich ausbreitet. Sie wird ungeduldig, Harriets Hände dünken ihr so heiß.
Da tritt Carry ein. Er ist nicht weit gekommen. Er bringt eine Rose; eine einzige; denn sie ist so schön, keine andere kann sich neben ihr halten, für sie ganz allein hat er auch den langen geschliffenen Becher erstanden, gießt Wasser ein und stellt ihn neben die Kranke hin. Die Rose trägt sich sehr gerade wie im eigenen Reich.
Aber Daphne beschwert sich über die Glocken.
»Was für Glocken?« fragt Carry. Er hat sich neben ihr niedergelassen. Da ist sein Platz.
»Hörst du denn nicht?«
Und sie horcht. Doch nicht zum Fenster hin; von dort dringen keine Klänge her. Stirnrunzelnd richtet sie ihr Ohr nach abwärts.
»Da«, sagt sie, auf den Boden deutend.
Auf diese Weise fing sie an das Bewußtsein zu verlieren.
Es erwachte zwar, wich aber und versagte in immer kürzeren Zwischenräumen. Nur die Rose wuchs. Man achtete ihrer nicht, kürzte nicht ihren Stiel. Sie blühte dennoch. Nicht wie im Glas. Als hinge sie noch am Strauche, empfinge den Morgentau, schwelgte unter freiem Himmel in der Nacht, das Haupt hoch aufgerichtet, im Schutze der Blätter, als fühle oder dichte sie, des eigenen Geistes, des Geistes der Rose teilhaft, so eigenmächtig, mit erhöhter Pracht gedieh die Rose, welkte nicht und wollte nicht vergehen, solang diese Sterbende noch lebte.
Aber schien nicht auch bei ihr, inmitten der Brandstätte ihres Gehirnes, ein zweites Bewußtsein das andere abzulösen? Ihre Züge waren die einer Verscheidenden: kein Zeichen, kein Wissen um die Vorgänge um sie her. Kein Reagieren. Nur die Hand in der Hand des Mannes behielt Gegenwart. Und er, dem Griffe hingegeben, über ihre stillen Knie gebeugt, gesellte sich ihr bei; zu letztem Gange? Letztem Entgleiten? Letzter Gemeinsamkeit? Ein Atemzug, um vieles leichter als alle anderen, und er hatte sie verloren.
Wenige Stunden später war ein schonendes Telegramm an Constantin, ein sehr ausführliches an Notburga unterwegs.
Dennoch erhielt Constantin das seine nicht zu gemäßer Zeit. Wie üblich durchsah Flick die eingelaufene Post zuerst. Anna brachte sie ihr heute mit arg verweinten Augen; zum zweiten Male vor die Tür gesetzt. Und zwar hatte Notburga, die böse Dame, das Amt übernommen und in einem beweglichen Brief die alte Cilly zu einem neuen Interim überredet. Anna durfte Constantin nicht mehr vor Augen treten, und da sie nicht mehr zu halten war, stellte sich Flick ahnungslos — der letzten Szene mit Franz hatte sie ja nicht beigewohnt — und gab das Mädchen um so leichter preis, als sie sich mächtig auf Cilly freute, ohne deshalb Notburga im geringsten erkenntlich zu sein. Da klingelte diese an und verlangte sie ans Telephon. Sie trug ihr auf, den Vater auf das Schlimmste vorzubereiten.
»Es geht der Daphne sehr gut«, erwiderte Flick in steifem Tone. »Gestern morgen ist ein Brief von ihr gekommen.«
»Sie ist tot!« rief Notburga außer sich. »Heute nacht in Zürich an Meningitis gestorben.«
In ihrem Entsetzen rannte Flick davon; sperrte sich ab, riß zitternd die Depesche auf. Da stand nur von Krankheit.
»Es ist nicht wahr!« rief sie laut und lief in ihrer Angst zu Anna.
»Es ist ein Irrtum«, sagte diese.
Seit Daphnes Flucht hatte Flick ihre Schwester als eine Simulantin hingestellt und mit dem Thema ihrer eingebildeten Krankheit hartnäckig ihrem Vater zugesetzt. Auf das Gutachten des Arztes sich berufend. »Ein schwerer Fall von Hysterie«, hatte der gesagt. Das Fieber bei solchen Patienten beweise gar nichts. Gerade die lange Ohnmacht, nach der sie gleich auf und davon fahren konnte, sei ein untrüglicher Beweis.
Und Constantin?
Je nun. Schweigsamer und lässiger denn je geworden, ließ er sie reden. In seiner steten Sorge um Daphne entnahm er dem ganzen Wortschwall doch eine Hoffnung. Und was Carry anging, gegen den durfte Flick ja hetzen, soviel sie wollte. Das war nun einmal so. Und ihrem Hohne wehrte er nicht, als Daphne in ein paar rührenden Zeilen die Trauung meldete.
»Ha! Das also war die Krankheit! Ja was hatte denn der Arzt gesagt? Aber welche Eile, mon Dieu! Und vor noch nicht zwei Wochen starb der arme Franz.« Und immer sprach sie von dem Paare nur als den Hochzeitern.
Auch Constantin war aufgebracht.
Aber simulierte man das Sterben?
Flick war zu feige, um Notburgas Aufforderung stattzugeben. Sie harrte einer weiteren Depesche. Als keine eintraf, rief sie triumphierend: »Es ist nicht wahr!«
»Es ist ein Irrtum!« sekundierte Anna.
Bis am späten Vormittag Notburga sich den Einlaß erzwang.
Es geht auf Mitternacht. Wieder hat sich Carry am Züricher Bahnhof eingefunden. Der letzte Zug aus dem Norden rollt langsam in die Halle, Constantins schöne, blasse Züge tauchen hinter den Scheiben auf. Er ist allein. Carrys Lippen erbeben bei seinem Anblick. Die Ähnlichkeit mit Daphne tritt im Dunkeln mit großer Deutlichkeit hervor. Er fängt ihn wie einen Vater in seinen Armen auf. Constantin stützt sich auf Carry wie auf einen Sohn.
Der Weltkrieg ist zu Ende. München, durch die eigene Verwirrung verheert, erleidet größere Veränderungen als das junge Berlin. Aber die Mitglieder einer lang angestammten Dynastie treten dort stiller ins Dunkel und verarmen mit mehr Würde als manche Fürsten des Nordens.
Baron Mattrei steht im Begriff, sein Palais in der Königinstraße für Papiermark zu veräußern, und wird binnen kurzem um den ganzen Kaufpreis keine Briefmarke erstehen können. Zu rechter Zeit bewahrt ihn Carry vor dem Unsinn. Dieser, ein ernster Mann geworden, hat im Interesse der Gefangenen viele Reisen nach Deutschland und Frankreich unternommen. Daphnes letztem Wunsch nachkommend, der in dem nachgelassenen Briefe stand, freite er sodann um Lori. Sie wird die Herrin des Schlosses bei Clarens.
Flick hat ihren Vater nie wiedergesehen. Ohne seine Rückkehr aus Zürich abzuwarten, fuhr sie mit Cilly zur Schwester Vulgentia und wollte nicht mehr zurück. Man saß im Kloster über sie zu Rat: Talente hatte sie genug. Am liebsten aber betreute sie Kranke, wie sie das trübe Wetter dem sonnigen vorzog. Und wird nicht im Balkan flehentlich nach Pflegeschwestern für die Verwundeten gesucht?
So erfährt Flick ihre Ausbildung. Sie fühlt sich von aller Welt verlassen, weil Pamela ihr nie schrieb. Was Daphne anlangt, so war sie an ihrem Tode selber schuld. Der Arzt hat es ihr versichert. Zu ihm ist sie noch geeilt, ihm alles zu erzählen. Und wäre er noch ledig gewesen, hätte ihn nichts zurückgehalten, um den weinenden Engel zu freien.
Arme Flick! Von Lazarett zu Lazarett geschickt, hat sie all die Zeit hindurch Verstümmelte ohne Zahl gesehen, und so manchen haben die schweren Augen in dem hellen Gesichtchen bezaubert, so daß er in seinen Fieberträumen nach ihr rief. Und doch — nie kristallisiert sich ein Gefühl für sie, noch eins in ihr. Und zuletzt sind es Retorten, dann feinste Scheren und Meßinstrumente, die man ihrer Sorge anvertraut. Niemand ist ja so sauber und genau. Im Operationssaal leistet sie Vorzügliches, ist hilfreich und beschäftigt. An ihren Vater richtet sie nie eine Zeile und nimmt keine Notiz von seiner Ehe mit Notburga.
Zutiefst im Spessart liegt das wundervolle Wasserschlößchen Herbst, in dem Constantin mit Notburga seine Tage verbringt. Winters über decken es die Nebel, und dann wird es unsichtbar. Doch im Sommer ragt es aus einem blühenden Abgrund. Der kleine Rittersaal umfaßt das ganze Erdgeschoß und enthält so manche Schätze. Den meist unbesonnten Teich, der ihn umringt, gleiten Schwäne entlang. Ein Garten findet nach Süden ein wenig Raum; Rosen wollen hier nicht recht gedeihen; doch wie flammt die Cynie in diesen schattigen Gründen, und wie brünstig schlägt ihr Rot, ihr Ockergelb hier an!
Die Vertrautheit des spät vereinten Paares ist vollkommen, und Helga ist vergessen. Des Nachts jedoch dringt durch die Fenster Constantins des öfteren ein Ruf. Der schwarze Teich, die Schwäne und auch die Stille des nahen Waldes kennen ihn wohl: »Constanze ist tot« — »Franzl ist tot« — und — den Aufschrei dauernden Entsetzens, das den latenten Teil seines Bewußtseins bildet —: »Daphne ist gestorben.« — Jedoch die einmalige Menschenblume, wie das einmal entfachte Licht, ist nicht aus ihrer Bahn zu werfen, und der geistigen Fortwirkungen, ihrer Häuser und Zonen, sind viele. Wie deiner immergrünen Hügel, o Natur! Wie deiner Quellen tief im Walde, die zwischen den Tannen so stillen Glanzes rinnen, wenn die Sonne steigt.
Wie geht es Zenaide?
Recht gut. Als seien niedere Schutzgeister bestellt, sie vor Ungemach zu bewahren. Nicht einmal ihre schöne Wohnung war sie aufzugeben genötigt. Die größere Hälfte bezog mitsamt Pianino der Baron Blau. Ja, sie durfte in sich sogar eine politische Ader entdecken, die sie mit ihrem Hang, im Chor der Wölfe zu heulen, verwechselte. Doch hier wollen wir ihr nicht folgen. Genug, daß ein deutscher Staatsmann von wirklicher Befähigung — ach, auch diese gab’s während des Krieges, wenn auch ihre Stimmen unvernommen blieben! — inmitten schwerster Verarmung und Krankheit die einzigen Momente befreiender Heiterkeit Zenaide verdankte. Seiner Aufforderung, ihm zu schreiben, kam sie geschmeichelt nach, er aber vergaß dann seinen Kummer und lachte Tränen über den unbeschreiblichen Wirrwarr ihrer Exposés.
Und Pamela?
Ei, sie lebt. Wie wäre es anders? Eine Zeitlang hat sie sich durch ihren exemplarischen Deutschenhaß gesellschaftlich etwas rehabilitiert: Sie beteuerte, keinem Deutschen je wieder die Hand geben zu können. Immerhin etwas.
Während der Inflation hat sie dann in Dresden gelebt, doch bei der Einführung der Rentenmark entsann sie sich wieder ihres Schwures.
Das sanfte Wort Locarno ist gefallen. Am Langensee gelagert, atmen die Berge von der Huld des Himmels. Immer höher ansteigend umschreiben sie das hundertfältige Tal, fallen im Westen nieder und laufen in Hügeln aus. Als äußerste Kante steht Genf, die Stadt, in welcher das tausendjährige Werk begonnen wurde. Dort, an ihm beteiligt, lebt Carry den größten Teil des Jahres. Lori führt ihr Söhnchen im Parc des Eaux Vives spazieren, und die Vorübergehenden schauen ihnen voll Entzücken nach. Sagten wir nicht von ihr, sie sei in gewissem Sinne wichtiger als Daphne, eine kleine Stammutter sei Lori, und ihre Kinder seien nicht gedacht, das Wirrsal dieser Welt zu mehren?
Doch was hilft’s?
Solange das Übergewicht der Besonnenen ein kurz befristeter Glücksfall, die Gleichberechtigung der Unbesonnenen ein Faktor bleibt und die Furcht vor ihnen uns lähmt.
An ihre richtige Stelle gehalten, wären sie ungefährlich wie Schatten. So ist also in einem Punkte Lady Hay die Heldin dieses Buches?
Daß Gemeinschaften über kurz oder lang Schiffbruch erleiden und Familien zu Plaketten des Krieges entarten, ist eine ebenso eingebildete Notwendigkeit wie dieser selbst. Wir wissen aber, ohne hinzusehen, die vielen Hände, die geschäftig sind, das Werk des Friedens zu untergraben. Wir wissen: Mehr als die Völker bedarf der Völkerbund des Schutzes. Nichts sichert unseren Bestand, ob die Elemente uns auch gefügig wurden, nichts garantiert, daß unsere herrlichsten Errungenschaften nicht Werkzeuge unseres Irrsinns, unseres Unterganges werden, denn eine vorsintflutliche Menschheit sind wir noch immer. Gebot und Lehre aller Dinge wäre die Beherzigung des Goetheschen Wortes von einer »Rangordnung der Seelen«; diese Rangordnung einzuleiten, neue Gesetze zu schaffen, ein tausendjähriges Unternehmen auch dies. Warum versagt hier unser Glaube?
Wir fliegen doch schon, und wir sind so kühn!
DAPHNE HERBST
Erster Teil
Erstes Kapitel: Baronin Zenaide Waldmann 141
Zweites Kapitel: Heimkehr 146
Drittes Kapitel: Helga und Constantin 148
Viertes Kapitel: Familie Herbst 158
Fünftes Kapitel: Weltbühne 163
Sechstes Kapitel: In München 172
Siebentes Kapitel: Münchner »Grand Monde« 179
Achtes Kapitel: Die beiden Mädchen auf dem Sofa 188
Neuntes Kapitel: Verlobung 198
Zehntes Kapitel: Finis Bavariae 201
Elftes Kapitel: Ettal und Umgebung 206
Zwölftes Kapitel: Föhn 213
Dreizehntes Kapitel: Antonie 220
Zweiter Teil
Zerstört ist schnell
Erstes Kapitel: Flick 241
Zweites Kapitel: Spaziergang 255
Drittes Kapitel: Wolken 259
Viertes Kapitel: Beuron 270
Fünftes Kapitel: Ostern 278
Sechstes Kapitel: Pamelas Sorgen 281
Siebentes Kapitel: Verkettungen 283
Achtes Kapitel: Lady Hay 287
Neuntes Kapitel: Blinde Leidenschaft 291
Zehntes Kapitel: Chaos 292
Elftes Kapitel: Flucht 300
Zwölftes Kapitel: Glück 305
Dreizehntes Kapitel: Ende 307
This book was published as part (pages 141—313) of a larger book Die Romane. References to the other stories published in that book have been removed.
A small number of spelling corrections have been made silently.
In Achtes Kapitel Die beiden Mädchen auf dem Sofa, the sentence
Dagegen schienen Loris Wege seltsam eingeschleiert, geheimnisvolle Kräfte stärker in sie als in Daphne interessiert.
has been changed to
Dagegen schienen Loris Wege seltsam eingeschleiert, geheimnisvolle Kräfte stärker in ihr als in Daphne interessiert.
In Zwölftes Kapitel Föhn, the sentence
Im Grunde verstand er sehr wohl, aus seiner immerwährenden Ungeduld heraus wollte er es jedoch nicht Wort haben.
has been changed to
Im Grunde verstand er sehr wohl, aus seiner immerwährenden Ungeduld heraus wollte er es jedoch nicht wahr haben.
In the same chapter the village name Rheintal has been changed to Reintal.
[The end of Daphne Herbst by Annette Kolb]