Vielleicht ist es nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß sich diese Schrift streng in den selbstgesteckten Schranken halten und, so nahe die Versuchung liegen und so beengend die gebotene Entsagung mitunter sein mag, nach keiner Seite hin den Rahmen des biographischen und litterargeschichtlichen Bildes sprengen will, das sie zu zeichnen vorhat. Nur was Goethe in Wetzlar wirklich erlebte, sein äußeres wie sein inneres Leben dort galt es vorzuführen. Dies aber in der Vollständigkeit, die das vorhandene und erreichbare Material irgend zuläßt. Diese Aufgabe, über deren inneres Recht die Einleitung sich ausspricht, ist bisher noch nicht versucht worden. Denn was wir hier bieten, deckt sich keineswegs mit den bekannten Schriften von J.W. Appell (»Werther und seine Zeit«, Neue Ausg., 1865) und B.R. Abeken (»Goethe in den Jahren 1771-1775«), so nahe die beiderseitigen Gebiete aneinandergrenzen. Jener würdigt die Wirkungen des »Werther« und charakterisiert die Litteratur, die sich an die Fersen des Romans heftet, der erst zwei Jahre nach dem Zeitpunkt, von dem unsere Schrift handelt, veröffentlicht wurde; dieser umspannt eine ungleich [viii]längere Periode, geht aber eben deshalb nicht gründlich und tief genug auf die Erlebnisse Goethes in Wetzlar selbst und auf die Zustände der Reichsstadt ein. Und doch ist auch ohne dieses kulturgeschichtliche Moment, in dem die realen und idealen Beziehungen sich treffen, ein völlig anschauliches Bild nicht möglich. Es versteht sich, daß das Bild der damaligen Reichsstadt, da es nur als Mittel zum Zweck erscheint, in den knappsten Linien, wenngleich auf Grund alles erreichbaren Materials, gezeichnet werden mußte. Die beiden genannten Schriften haben freilich unser Thema gestreift, keine aber hat auch nur den Versuch gemacht, neues Material oder das alte in zum Teil neuer Beleuchtung zu bieten. Der treffliche Abeken, dessen schönste Jugenderinnerungen noch in die Goethe-Schiller-Periode zurückreichten, hat dabei den ruhigen, historischen Ton dem vergötterten Dichter gegenüber keineswegs überall getroffen. Mein Wunsch und meine Hoffnung ist, daß in dieser Schrift Bewunderung und Nüchternheit keine sich spröd ausschließende Gegensätze geblieben sein mögen.
Die sachlichen Gründe, die mich zu der Schrift veranlaßten, habe ich in der Einleitung dargelegt, ich gestehe aber gerne, daß mich dieselben ohne den Hinzutritt von persönlichen kaum zu dieser Arbeit bestimmt hätten.
Wetzlar ist mein Geburtsort, den ich zwar seit den Knabenjahren verlassen, aber im späteren Leben doch gar manchmal wieder und mit nie rostender Jugendliebe vorübergehend aufgesucht habe. Unter den Eindrücken der Goethe-Werther-Traditionen und in jener so anziehenden Natur, die den Dichter entzückte, bin ich aufgewachsen. Und — es kann es jeder erfahren — wir kommen nie wieder im späteren Leben mit der Außenwelt auf so vertrauten [ix]Fuß wie in den Tagen der Kindheit und Jugend. Noch im vergangenen Sommer habe ich auf einer im Interesse dieser Schrift unternommenen Reise auch jene Jugenderinnerungen bis ins kleinste wieder auffrischen können.
Und nur im Lichte der erneuerten Autopsie mochte ich die Arbeit wagen. Aber auch nicht ohne neues Material. Ist dieses auch nicht so reichhaltig, als der Autor, dem naturgemäß die Lücken und Zweifel am meisten sich aufdrängen, selbst wünschen möchte, so fällt doch auf manche biographisch wichtige Punkte durch das neue urkundliche Material, das ich sammeln und verarbeiten konnte, ein helleres Licht. Vor allem habe ich hier dem verehrten Senior der Familie Kestner, Herrn Georg Kestner in Dresden, dem Hüter des Kestnerschen Familienarchivs und einer der umfangreichsten Autographensammlungen, die wir in Deutschland besitzen, auf das herzlichste zu danken. Derselbe kam meinem Wunsche, jenes Archiv, aus dem statutarisch nichts nach außen hin verliehen werden darf, an Ort und Stelle zu benutzen, auf das bereitwilligste entgegen, und so konnte ich im vorigen Sommer mehrere Tage in den reichhaltigen Sammlungen ungehemmt mich umsehen; namentlich verdanke ich den tagebuchartigen Aufzeichnungen von J.Chr. Kestner gar mancherlei. Auch ist der verehrte Mann nicht müde geworden, mir auch noch weitere schriftliche Auskunft über einzelne Punkte zu geben. Außerdem habe ich in Wetzlar das Reichskammergerichts-Archiv, wenn auch mit geringem Erfolg für meine Zwecke, besucht und verdanke der freundlichen Beihilfe der Herren Oberlehrer Dr. Glaser in Wetzlar und Pfarrer Allmenröder in Obernbiel bei Wetzlar mehrere wertvolle Antworten auf gestellte Anfragen. Mein Versuch, auch aus dem Goethe-Archiv in Weimar noch irgend[x]welche Ausbeute zu gewinnen, schlug leider fehl. Des Dichters Enkel, Herr Kammerherr Baron Walther v. Goethe, beruhigte mich übrigens mit der Versicherung, es finde sich für diese Zeit nichts Urkundliches in dem Familienarchiv, dessen Schätze überhaupt oft überschätzt würden. Auch ist es nicht unmöglich, daß Goethe gerade die auf Wetzlar und Werther bezüglichen Briefschaften vor seinen beiden Reisen nach Italien mit anderen vernichtet hat. Ebenso wenig ließen sich die Briefe Gotters an Goethe noch auffinden, wie mir Herr Professor Schelling in Erlangen, der Sohn von Gotters Tochter, auf Befragen mitzuteilen die Güte hatte.
Von dem bisher gedruckt vorliegenden Material hoffe ich Wichtiges nicht übersehen zu haben. Die Noten ziehen, was nötig erschien, zum Beweis oder zur Ergänzung des Textes heran; doch war das um so weniger überall erforderlich, weil wir nun in v. Loepers trefflichem Kommentar zu »Wahrheit und Dichtung« ein so gediegenes Hilfsmittel besitzen.
Dies über den biographischen Teil der Schrift, der naturgemäß den ungleich breiteren Raum einnimmt. Was den litterargeschichtlichen anlangt, so war es auch hier meine Aufgabe, nur das in Wetzlar nachweisbar Geleistete oder Vorbereitete — und das letztere eben in dieser Beschränkung — zu untersuchen. Diese Prüfung hat auch zu einigen peripherischen Punkten der Faust-Dichtung geführt, sowie zu der Frage nach dem Zusammenhang der Grundidee dieser Dichtung mit bestimmten Punkten in Goethes damaliger theologischer Entwickelung.
Diese Fragen konnten hier meinem Thema gemäß nicht zum Austrag gebracht, sondern nur gestreift werden. Ich habe[xi] aber die Absicht, die theologisch-philosophische Entwickelung des jungen Goethe zum Gegenstand einer besonderen litterarisch-kritischen Würdigung zu machen.
Die artistischen Beilagen werden, so hoffen wir, vielen willkommen sein, beide sind weiteren Kreisen bisher unzugänglich gewesen. Über den Zeitpunkt der Entstehung des Kestnerschen Porträts hat sich in der Familie keinerlei Tradition erhalten. Lottens Bild ist ein Nachbild der Silhouette, die Goethen nach Frankfurt nachgesandt worden war und die seitdem dort über seinem Bette hing und deren er so manchmal in den Briefen an Kestner gedenkt. Unaufgeklärt ist die Bedeutung des Datums in der Unterschrift: »Lotte gute Nacht am 17. Juli 1774«. — Soll es etwa den Tag der Vollendung des »Werther« bezeichnen, an dem eine Art Abschied, eine »gute Nacht« an Lotte allerdings angebracht war? Nach Goethes Tod war diese Silhouette durch den Kanzler v. Müller der Familie Kestner als Reliquie übersandt worden.
Einige Nachsicht möge man der Form da zugute kommen lassen, wo der spröde, sich oft aus einer Reihe kleiner Einzelheiten mosaikartig zusammensetzende Stoff einer künstlerischen Verarbeitung sich nicht fügen wollte. So sehr ich danach gestrebt habe, das Ganze auch für weitere Kreise lesbar zu machen, so oft stellte sich diesem Wunsche die Natur der Quellen, sowie die Nötigung, im Interesse meiner leidenden Augen zum Diktieren zu greifen, in den Weg. Möge trotz dieser Hemmungen und Gebrechen das Gesamtbild ein einigermaßen treues und lebendiges Abbild der denkwürdigen Episode geworden sein!
Nicht schließen mag ich dieses Vorwort ohne einen Gruß an die Vaterstadt. Es ist nur natürlich, daß Wetzlar, in[xii] neuester Zeit immer stärker in den Weltverkehr hineingezogen, nicht bloß zeitlich den Erinnerungen seiner Vergangenheit immer ferner rücken wird. Wo findet die Romantik eine Zuflucht, wenn allstündlich das laute Leben der eisernen Verkehrsstraßen durch das einst so stille Thal rauscht? Allein jene Erinnerungen gehören zu den idealen Gütern der Stadt. Und wenn das Gedächtnis des Reichskammergerichts, die andre jener stolzen Erinnerungen, uns heute im »Neuen Reich« mumienhaft genug anblickt, so tragen die Goethe-Traditionen doch den Stempel des Unverwüstlichen, die kein materieller Aufschwung verdrängen darf, weil er sie nicht ersetzen kann.
Halle, 20. Februar 1881.
W.H.
Einen aus Versehen im Texte unkorrigiert gebliebenen Irrtum bitten wir nachträglich zu verbessern, wie dies bereits in den Schlußnoten geschehen.
S. [139], Z. 10 ff. ist zu lesen: »nicht aber das weitere, daß Goethe, Höpfner und Schlosser die Trias bildeten, vor deren Tribunal der armselige Tropf Schmid so übel bestand. Denn daß bei diesem examen rigorosum Merck anwesend war, ist ausdrücklich durch einen fast gleichzeitigen Brief Höpfners bezeugt.«
Seite | ||
Vorwort | vii | |
I. | Zur Einleitung | 1 |
II. | Wetzlar | 14 |
III. | Goethe am Reichs-Kammergericht | 33 |
IV. | Goethes Freundeskreis in Wetzlar | 45 |
V. | V. J. Chr. Kestner | 87 |
VI. | Die Familie Buff | 97 |
VII. | Goethe und Lotte | 109 |
VIII. | Die Gießener Episode | 128 |
IX. | Dichten, Studien und Weltanschauung | 140 |
X. | Letzte Tage; Vorblick. Epilog | 188 |
Anmerkungen (Quellen und Belege) | 199 |
S. | 9, | Z. | 5 | v. u. | lies: von statt vor. |
" | 35, | letzte Zeile | lies: 1772 statt 1792 (in den meisten Exemplaren bereits verbessert). | ||
" | 55, | Z. | 1 | lies: »ich kenn das Pack auch«. | |
" | 59, | vorletzte Zeile | lies: Appell statt Appelt. | ||
" | 74, | letzte Zeile | lies: an statt von. | ||
" | 76, | Z. | 8 | v. u. | lies: berührte statt berührten. |
" | 79, | " | 6 | lies: Schranke statt Schranken. | |
" | 81, | " | 23 | " Rousseau statt Rosseau. | |
" | 112, | " | 9 | " Wolpertshausen (sic), denn so steht an der betreffenden | |
Briefstelle statt des richtigen Volpertshausen. | |||||
" | 121, | " | 22 | " bewegen statt begegnen. | |
" | 123, | " | 22 | " uns sagen statt aussagen. | |
" | 130, | " | 9 | " Gießen statt Wetzlar. | |
" | 149, | " | 14 | " Gottfried statt Gotfried. | |
" | 153, | " | 8 | v. u. | lies: 82 statt 92. |
Zwei Vorfragen, beide wieder unter sich in engem Zusammenhang, fordern an der Schwelle dieser Schrift eine Antwort. Einmal, ob diese kurze Episode ein inneres Recht hat, aus dem Gesamtbilde von Goethes Leben und Dichtung herausgenommen und als ein gesondertes Ganzes behandelt zu werden; dann die Frage nach der menschlichen und dichterischen Gestalt, in welcher Goethe bei seinem Übergang in die Wetzlarer Verhältnisse vor uns tritt.
Der Satz wird kaum einem Widerspruche begegnen, daß es — gegenwärtig oder überhaupt — fast unmöglich ist, den ganzen Goethe biographisch zu erschöpfen. Die bisherigen Versuche, so willkommen und dankenswert an sich, beweisen nur diese Unmöglichkeit. Der Stoff dieses überreichen Menschen-und Dichterlebens ist zu breit und groß, um die äußeren und inneren Seiten seiner Entwicklung gleichmäßig zur Anschauung bringen zu können. Und doch hemmt hier die Fülle — die Größe der Aufgabe wie die Masse des zu bewältigenden Materials — kaum drückender als der Mangel. Denn so reich jetzt auch die ursprünglichen Quellen fließen, so massenhaft die peripherische Litteratur angeschwollen ist und täglich weiter schwillt, doch gähnen noch empfindliche Lücken, die selbst die noch immer aussichtslose Öffnung des hermetisch verschlossenen Familien[2]archivs in Weimar nicht alle füllen würde. Hat doch der Dichter nach mäßigem Anschlag mehr denn zehntausend Briefe während seines langen Lebens ausgehen lassen. Die Folge des bezeichneten Notstandes ist, daß man sich entweder an einer skizzenhaften Zeichnung des Gesamtlebens und Dichtens genügen läßt, oder daß nur der äußere Goethe betrachtet wird, der innere Lebensgang und das poetische Schaffen aber uncharakterisiert und der parallellaufenden Lektüre entweder der Dichtungen selbst oder von deren Interpreten überlassen bleibt; oder endlich es wird, wie von H. Grimm, nur das poetische Schaffen in seinen Spitzen genetisch und analytisch vorgeführt, während das äußere Lebensbild völlig zurücktritt. Alle diese Methoden aber, die natürlichen Folgen einer von der Sachlage aufgedrungenen Resignation, führen nur zu Fragmenten, nicht zu einer Totalität. Um ein Ganzes, gleichmäßig ausgeführt, zu erreichen, dazu wäre schon nach dem jetzt zugänglichen Material ein Werk erforderlich, das die einer Biographie gesteckten Schranken überspringen oder sprengen müßte, und ein universeller Geist, wie ihn die Gegenwart schwerlich birgt. Und doch — gerade hier, bei diesem unvergleichlichen Ineinander äußerer Verhältnisse und inneren Werdens, bei dieser organischen Verbindung des Einzellebens mit der Kultur seiner Zeit in all ihren Lebensregungen führt jeder Verzicht auf die Würdigung eines dieser Faktoren zu einem unbefriedigenden Ziele.
So liegt es nahe, statt der totalen, die noch nicht an der Zeit sind, partielle Versuche in der Art zu wagen, daß man zunächst einzelne Abschnitte dieses Dichterlebens heraushebt, diese aber nach allen Seiten, den realen wie idealen, zu würdigen strebt. Auch solchen Versuchen wird die mit Vorliebe gepflegte, methodisch-kritische und resultatreiche Goethe-Forschung unserer Tage auf Schritt und Tritt förderlich sein. Erst nachdem eine Reihe biographischer Einzelabschnitte durchgearbeitet vorliegt, wird[3] sich allmählich ein Gesamtbild zusammenfügen können, wenn die gestaltende Meisterhand darüberkommt.
Freilich haben solche Versuche nur dann ein Recht und einen Sinn, wenn man die rechten Abschnitte herausgreift, d.h. solche, die wirklich loslösbar sind von dem Vor- und Nachher des Lebens; die auch bei aller Zeitkürze gehaltvoll genug erscheinen, um der Episode ein charakteristisches Gepräge aufzudrücken; endlich, wenn der gewählte Teil die volle Kenntnis des Ganzen zur lebendigen Voraussetzung hat. Alle Willkür würde das erstrebte Schlußziel mehr hinausschieben als näher rücken. Denn darüber darf kein Zweifel bleiben, daß dieses vor vielen organische Leben überall in sich zusammenhängt, daß es im Fluß bleibt, daß man den fortlaufenden Faden weder durchschneiden will noch kann. Solche Gruppen treten in Goethes Leben mehrfach hervor. So, um nur Beispiele zu nennen, die Leipziger, die Straßburger Zeit, so die Frankfurter Periode von 1771-1772, von 1773-1775, so das erste Jahrzehnt in Weimar bis zur italienischen Reise, so der Glanz- und Höhepunkt unserer Dichtungsgeschichte, der Dichterbund mit Schiller. Es fragt sich, ob sich, mit diesen Maßstäben gemessen, auch die Wetzlarer Episode als ein relativ selbständiger Abschnitt aussondern läßt. Unter allen aufgeführten Gruppen wäre diese allerdings die kürzeste. Wird diese Kürze aufgewogen durch inneren Gehalt und fortwirkende Tragweite? Denn daß hier das Leben des Dichters sich auf neuer Scene bewegt, ist kein ausreichendes Motiv für die Sonderung. Das hieße dem Rahmen größeres Gewicht beilegen als dem Bilde, das er umschließen soll. Immerhin ist es ein Motiv, wenn auch ein sekundäres; denn ein solcher Scenenwechsel, ein neuer örtlicher Schauplatz, neue Menschen und Verhältnisse, neue Thätigkeiten und Interessen bilden allerdings eine wesentlich neue Welt für das Werden des Dichters. Dabei bleibt das Vergangene und Errungene sein[4] Eigentum, aber er tritt ihm in freierer Sammlung gegenüber. So wird durch den Ortswechsel, der nie bloß ein äußerer Vorgang bleibt, der Abschnitt dem Betrachter eben abtrennbar von dem Vor- und Nachher. War aber der Gehalt dieser »Glückseligkeit von vier Monaten« bedeutsam genug, um ihn als ein selbständiges Ganzes darzustellen? Der Dichter selbst scheint einer solchen Annahme zu widersprechen, wenn er in seiner Selbstbiographie sagt: »was mir in Wetzlar begegnet, ist von keiner großen Bedeutung«, und wenn er »auf Mangel oder Stockung der Produktionskraft« dort hindeutet. In der That, wenn es sich in dem poetischen Schaffen um sicht- und greifbare Früchte handelt, war der Wetzlarer Sommer für den Dichter wenig ergiebig; rechnen wir aber zu der produktiven Arbeit auch deren Vorstadien, das stille unterirdische Reifen, die Sammlung und die Kontemplation, das weitaussehende Planmachen, die realen Bedingungen neuer größerer Schöpfungen, so werden jene Monate nicht arm und leer erscheinen, vielmehr bewegt von den größten Intentionen, welche Goethes Frühzeit überhaupt bewegen. Allerdings nicht in dem Sinne, als ob in die Wetzlarer Zeit nachweisbar große epochemachende Impulse fielen; aber gerade die innerste Triebkraft seiner Dichtung, die ihr den Stempel ihrer Größe und Eigenart, den Zauber und die Gewalt ohnegleichen aufprägt, ist dem Dichter hier klarer wie je zuvor in das Bewußtsein getreten. Die Erkenntnis nämlich, die wie eine Inspiration über ihn kam, daß die poetische Gestaltung nur des Selbsterlebten die Bürgschaft ewiger Dauer und Lebensfähigkeit in sich trage. Diese Erfahrung, die er längst an der Lyrik gemacht hatte — der sie am nächsten liegt —, verallgemeinert sich ihm jetzt für das gesamte Gebiet der Dichtung. Daß darum der Dichter den Menschen voraussetze, und daß, je reicher und lebensvoller dieser dastehe, jener um so tiefer und schöner erscheine, diese Erfahrung[5] wurde ihm in dieser Zeit gewiß. Eben darum wurde ihm das Leben an sich, der Zuwachs an innerem und äußerem Erleben so bedeutsam, darum das Betonen und Hervortreten des psychologischen Moments als der Seele seiner Dichtung, auch der dramatischen und epischen. Dieser springende Punkt in Goethes Schaffen tritt aber am kühnsten und energischsten im »Werther« hervor, der gerade darum einen Wendepunkt unserer Dichtungsgeschichte bedeutet. Solche Enthüllungen der Menschennatur, mit einer Naturnacktheit vorgetragen, die nur dadurch möglich war, daß Held und Autor ein' und dieselbe Person sind, sie waren bis dahin unerhört. Wurde der Dichter aber erst durch seine Wetzlarer Erlebnisse an die Quelle seiner Dichtergröße geführt, so liegt hierin auch ein ausreichendes Motiv, dieses Stück Goethescher Lebensgeschichte besonders zu behandeln. Es ist eben der Vorhof und die Rüstezeit zur größten Erhebung seiner Jugendpoesie. Selbst der »Götz« schreitet nicht über diesen Vorhof hinaus in das innerste Heiligtum. Denn so mächtig er Goethes Dichterberuf überhaupt offenbart, die eigentliche Seele seiner Poesie enthüllt er doch nur halb, d.h. jene psychische Meisterschaft, die nur aus dem persönlichen Moment der ganzen oder annähernden Identifizierung des Dichters mit dem Helden stammen kann. In »Werther«, »Faust«, in »Iphigenia«, in »Tasso«, in »Wilhelm Meister«, in den »Wahlverwandtschaften« ist das Beste und Tiefste aus der eigenen Brust geschöpft, im Götz, dem unter dem Wehen des Shakespeareschen Geistes empfangenen Drama, sind es höchstens partikulare Konfessionen, die in Nebenpersonen (wie in Weislingen) wiederklingen. Wie viel weiter ab lag ihm doch dieser historische Stoff, an den ihn keine unmittelbare Erfahrung band, der den Nerv seines Lebens nicht traf — so jugendwarm er ihn umfaßte und den überlieferten poetisch weiterbildete und belebte —, als Werther, den er nach eigenem Bekenntnis gleich dem Pelikan[6] mit seinem Herzblut gefüttert hatte. Sehen wir also zunächst in dem Wetzlarer Leben Goethes einen Grund, dem flüchtigen Intermezzo einen dauernden und hohen Wert beizulegen, so giebt uns hierzu vor allem der Dichter selbst das Recht. Nicht freilich in dem matteren Abendrote der Selbstbiographie. Aber auch in diesem betont er als Grund seiner Enthaltung, er habe schon, von seinem Genius getrieben, in »vermögender Jugendzeit« im Werther das Bild jener Zeit festgehalten. Wie mochte er eine Tautologie wagen, die unmöglich die volle Farbe des Lebens tragen konnte? Vollends aber im Spiegel der gleichzeitigen Briefe betonte der Dichter immer und immer wieder, mitunter in halb träumender Ekstase, den einzigen Charakter dieser Wochen. Aber dieser Realität, die doch erst um einige Zeit später ihren poetischen Ausdruck findet, geht sofort ein ideales Moment zur Seite, die ahnende Erkenntnis, von der ich sprach, daß sein poetisches Schaffen mit der Vertiefung in die Wirklichkeiten des Menschenlebens, des eigenen vor allem und nie ohne die tiefste Beteiligung des eigenen, stehe und falle. Nicht das Völkerleben mit seinen Kämpfen war seine natürliche Welt, sondern das Einzelleben mit seinem lösungsbedürftigen inneren Widerstreite, wo in allem Wandel der Zeiten das Dauernde und Ewige seine Stätte hat. Innerhalb dieser Innenwelt war ihm nichts Menschliches fremd; er ist darum, wie kein anderer aufnehmend und gestaltend auch der Dichter des Zeitalters der Humanität geworden, so wenig wir ihn, den zeitlosen und unsterblichen, in diese zeitlichen Schranken bannen dürfen. Rühre ich hiermit an das Ziel und die Summa Goethescher Dichtung, und hat das ahnende oder vorschauende Bewußtsein dieser seiner Lebensbestimmung, das sich zuerst in Straßburg regte, in Frankfurt nach Bethätigung suchte, in der Wetzlarer Sammlung einen merklichen Schritt vorwärts gethan, so liegt hierin ein zweites, dem realen ebenbürtiges Motiv, diese Episode als eine relativ[7] selbständige aus dem Zusammenhang des Goetheschen Lebens herauszuheben.
Dann stehen wir vor der zweiten Frage, wie d.h. in welchem Stadium seines menschlichen und poetischen Werdens der junge Dichter in die neuen Verhältnisse eintrat. Die Antwort auf diese Frage stellt den Anschluß dieses Abschnitts an die nächste Vergangenheit her, und es ist natürlich, daß wir Goethe in Wetzlar und das, was ihm dieser Aufenthalt eingebracht, erst dann verstehen, wenn wir wissen, was er mitgebracht. Freilich liegt eine volle Antwort auf diese Frage in der ganzen Vorgeschichte, in der genetischen Entwickelung, auf die wir hier verzichten müssen. Nur mit kurzen Strichen kann das Bild des Dichters im Frühjahr 1772 gezeichnet werden.
Wir erinnern uns daran, daß Goethe menschlich und poetisch in Straßburg eigentlich aufzuleben begonnen hat. Was weiter zurücklag, namentlich die Leipziger Zeit, zeigt mehr eine Verhüllung als eine Entfaltung des wahren Goethe. Sind doch die Jugenddramen, die »Mitschuldigen« und die »Launen des Verliebten« nach Art und Geist so grundverschieden von den poetischen Früchten, die in Straßburg und Frankfurt reifen oder ansetzen, als ob es Kinder verschiedener Väter wären. In der Straßburger Zeit hat vor allem Herders überwältigende Einwirkung und die Liebe zu Friederike herausgebildet, was in dem Jüngling schlummerte. Man hat die Folgejahre wohl Goethes deutsche Periode genannt. Und sie war es, wenn man auch richtiger den allgemeineren und umfassenderen Namen »germanische« Periode wählen sollte, womit neben dem hervorbrechenden Eigenen auch die mitwirkenden Kräfte von außen, Shakespeare und Ossian und der englische Roman bezeichnet würden. Und alle diese Hilfskräfte von außen vertritt dem ahnenden und suchenden Dichter[8] Herders entscheidender Rat; und hinter Herder und von diesem dem Dichter nahe gerückt steht die sibyllinische Weisheit des nie gesehenen Magus im Norden. Aber derselbe Herder wird ihm auch zum Vertreter der Antike, der hellenischen Dichtung. Und wenn die in Straßburg beginnende Homerlektüre und die Erweiterung seiner griechischen Studien in Frankfurt und Wetzlar auch nicht unmittelbare Früchte reifen, die jener deutschen Periode alsbald eine klassische gegenüberstellten, so sieht doch jede schärfere Betrachtung, daß die Reaktion griechischer Einfalt und Plastik gegen ungefüge germanische Formlosigkeit alsbald und lange vor »Iphigenia«, »Tasso« und »Hermann und Dorothea« hervorscheint. Gewiß nur als ein edles naturverwandtes Pfropfreis, nicht als ein Fremdes und Aufgedrungenes. Denn Goethes schlichtem Naturgefühl kam die Antike nur bestätigend, fördernd entgegen. Selbst in den bewegtesten Teilen des »Werther« erkennen wir den besonnenen Zügel des Künstlers, der das Gesetz der Harmonie in sich trägt. Es ist, als ob die Motive der deutschen Renaissancezeit schon in dem jungen Goethe mit ursprünglicher Kraft wiederkehrten. In ihm vertrug sich das scheinbar Fernste hellenischer Poesie, das er sich mit wunderbarer Aneignungskraft zu eigen machte, mit dem von Natur Nächsten, Vaterländischen.
Nach Frankfurt von der Universitätszeit heimgekehrt, geht Goethe sofort zur praktischen Anwendung des in Straßburg Erlebten und Erlernten über. Gleichzeitig tritt er ein Amt an und versucht zum erstenmale den höheren dramatischen Flug. »Götz« und die Advokatur gehen im ersten Quartal des Winters von 1771 auf 1772 neben einander her. Es sind die Konsequenzen und Fortwirkungen der Straßburger Zeit. In dem zweiten Quartal aber dieses merkwürdigen Winters vertieft er sich in die griechischen Studien und tritt zugleich in jenen Darmstadt-Homburger Kreis ein, der ihm menschlich so ungemein viel wurde. Man darf sagen: es waren bei seinem[9] Eintritt in Wetzlar fast alle Elemente zusammen, die den Dichter gründeten und bedingten; in Wetzlar selbst wurden diese Elemente ergänzt und vervollständigt. Und dabei bedeutet der Zeitpunkt jene fesselnde Lage unmittelbar vor dem Aufthun der Schranken, aus denen er zu poetischen Großthaten in die weite Arena unserer Litteratur hervortreten sollte. Wohl war man schon aufmerksam auf den Dichterjüngling in engeren Kreisen, aber nach außen hin war er ein noch unberühmter Name. Er selbst aber glaubte an seinen Beruf von Gottes Gnaden und er führte in dem ersten noch unfertigen Entwurf des »Götz«, den nur wenige kannten, sein Probe-, wenn auch noch nicht sein Meisterstück mit nach Wetzlar. So war es ein eigener Mittelzustand zwischen glücklicher Verborgenheit, welche hinter den Coulissen der großen Welt die volle Unbefangenheit zuließ, und den inneren Ansprüchen einer genialen Natur, die ihrer selbst gewiß geworden war. Ein litterarisches Inkognito, aber mit erprobtem Kraftgefühl und poetischer Legitimation, die sich noch steigerte durch die Mitwirkung an dem nun auftauchenden und den neuen Geist verkündenden kritischen Institut der Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Und für dieses große Streben war es charakteristisch, daß der Dichter wie instinktiv damals nach Stoffen von universeller und prinzipieller Tragweite suchte, in denen er dichtend zugleich eine Weltanschauung aussprach. Auf dieser Linie bewegen sich in dieser und der nächstfolgenden Zeit Stoffe wie Sokrates, Prometheus, Cäsar, Ahasverus, Mahomet, Faust, die alle auszutragen auch über seines Geistes Maß ging; und an dem einen Stoff, von dem er nicht abließ, trug er sein Leben lang. Und dies eben darum, weil es von allen der zugleich universellste und persönlichste war. In welchem Grade Faust gerade ein Spiegel eigener Konfessionen war, zeigt jede neue Forschung immer heller. Es wird uns unten entgegentreten, wie Goethe selbst bei seinem Übergang nach Wetzlar mitten[10] in einer inneren Gährung und Krisis steht. Dies überreiche Ausgeben setzte ein reiches Einnehmen, und nicht bloß aus Büchern, sondern aus lebendigem Menschenverkehr voraus. Ein solcher fehlte in dem denkwürdigen Frankfurter Winter von 1771 bis 1772 nicht. Doch fand ihn der Dichter ungleich weniger in der Vaterstadt, die er überhaupt schon damals nicht mit sympathischem Blick ansah, als in der Nachbarschaft, in Darmstadt und Homburg. Hier erschloß ihm der geistig gemütliche Verkehr mit Merck und jener Dreizahl der Freundinnen Louise v. Ziegler, Fräulein v. Roussillon und Karoline Flachsland — oder in der poetischen Sprache: Lila, Urania und Psyche — eine neue Welt. Bildete sich auch zu keiner ein leidenschaftliches Verhältnis, weil dem Dichter noch die verlassene Friederike in dem Elsässer Dörfchen in Erinnerung und Gewissen zu gegenwärtig war, so streifte doch die Hinneigung zu Lila namentlich dergestalt an Liebe, daß die weiche Schwärmerin unter ihren »Lauben und Rosen und ihrem Schäfchen, das mit ihr ißt und trinkt«, selbst an eine solche glaubte und den Dichter bedauerte, daß neben einer anderen Neigung in ihr auch die unübersteigliche Mauer des Standesunterschiedes sie trennte. Es war dort die modische Empfindsamkeit in der sublimiertesten und ätherischesten Gestalt zuhause, und für den Dichter war es wie ein Resonanzboden, worin jedes poetische Erzeugnis und jede poetische Regung des Moments verständnisvollen Wiederklang fand. Und unter dieser weiblichen Dreizahl befand sich Herders Braut, die somit zum Wärmeleiter und zur Vermittlerin zwischen dem oft verstimmten Meister und dem vertrauenden Jünger wurde.
Und dieses Zaubernetz, in welchem Goethe sich nicht nur wohl, sondern selig fühlte, das er im Frühjahr 1772 wiederholt als stürmischer »Wanderer« aufsuchte, sollte nun zerrissen werden. Gleichwohl war es nicht bloß das Leidgefühl, das Goethe bewegte, als er der Vaterstadt auf Monate den Rücken kehrte.[11] Vielmehr war es ein gemischtes Gefühl und eine Doppelstimmung. Von Frankfurt selbst, das er gelegentlich eine »Spelunke« nennt, und von der kaum begonnenen, aber von vornherein verhaßten und als Nebensache betriebenen Advokatur, aber auch von dem Vaterhaus und speziell von dem Vater selbst, dem vielfachen Beschränker seiner genialen Lebenswünsche und Gewöhnungen, trennte er sich leicht. Freilich war es gerade des Vaters juristischer Fortbildungsplan, der ihn nach Wetzlar trieb, und die väterliche Hoffnung, er werde dort tiefer in die Rechtspraxis eingeführt werden und dadurch größeren Geschmack an seinem eigentlichen Lebensberufe finden. Trat er damit doch nur in die Fußtapfen des Vaters, der in jungen Jahren gleichfalls den Reichsprozeß an dieser Quelle studiert hatte. Ja es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Vater zeitweise noch weitergehende Gedanken an diese Wetzlarer Digression knüpfte, den Wunsch nämlich, daß sich der Sohn vielleicht dauernd dort als Advokat oder Prokurator festsetzen würde. Es war dies wohl ein Reserveplan, wenn der ursprüngliche, sich durch die vaterstädtische Anwaltschaft zu städtischen Ämtern geschickt zu machen, scheitern sollte. War dies des Vaters Plan, so hatte der Sohn schon einen Gegenplan im Kopfe, als er gen Wetzlar zog. Stritten in Frankfurt unter des Alten Augen Themis und die Musen um seinen Besitz, so gedachte er, der väterlichen Kontrolle ledig, in Wetzlar diese Geteiltheit abzuschütteln und der Themis zeitweise Valet zu sagen.
So war der Wetzlarer Sommer auch ideell die natürliche Fortsetzung des Frankfurter Winters, und die Fäden, die beide Zeiten zusammenknüpfen, sind unzerreißbar. Aber es war von Bedeutung, daß Goethe aus dem volleren Strome des Außenlebens in stillere Zustände und in die Möglichkeit strengerer Sammlung und Vertiefung überging. Ja man kann sagen, daß er auch die geistige Atmosphäre, die seinem »Werther« Hintergrund und Stimmung gibt, von Frankfurt nach Wetzlar mitbrachte.[12] In Wetzlar herrschte durchaus eine andere Temperatur, als in Darmstadt-Homburg, wo weibliche Elemente den Ton angaben. Dort war diese weiche, dämmernde, weltschmerzliche, marklose Art zuhause, dieses Lächeln unter Thränen, dieses kränkelnde Schwelgen in verstiegenen Gefühlen. Auch Goethe wurde von der sentimentalen Modekrankheit stark berührt. War er doch mit krankem Herzen aus dem Elsaß und von seiner tiefsten, schuldvoll abgebrochenen Jugendliebe heimgekehrt, und diesem Herzen that die Krankenstubenluft, in der sich so anmutige Pflegerinnen bewegten, ganz wohl. Blieb doch selbst der mannhafte, verstandesscharfe, aber im eigenen Hause nicht glücklich befriedigte Merck nicht frei von der Influenza der Zeit, die gerade in Darmstadt der zweideutige Leuchsenring großziehen half. Bei Goethe schlossen sich diese pathologischen Anwandlungen an die tieferen religiösen Stimmungen, wie sie von der Klettenberg, auch jetzt wieder des Dichters origineller Seelsorgerin, geweckt und genährt wurden. Das innerste Leben Goethes wurde von dieser eigenartigen Mystik getroffen, die in Grundtrieben seiner angeborenen Natur Anschlußpunkte genug fand, und so bildete sich aus Erlebtem und Erlerntem, aus Alchimie und Mystik, aus spekulativen Einzelanstößen und selbstherrlicher Phantasie jenes elementare Chaos, aus dem nur das gestaltende Schaffen den Ausweg finden mochte. Es sind die Elemente und Voraussetzungen, denen die Faustidee, deren erstes Regen der nämlichen Zeit angehört, zum Leben verhalf. Zu den Voraussetzungen gehört aber neben dem dämonischen Universalismus und der Vertiefung in die Geheimnisse alles Lebens die tragische Idylle von Sessenheim und das nach Entlastung verlangende Schuldgefühl, dem die poetische Befreiung näher lag und leichter fiel als die ethische.—
Wenn wir schon in dieser Frühzeit auf das Höchste der Goetheschen Poesie, wenn auch als ein embryonisch werdendes,[13] hinweisen dürfen, so sagt dieser Hinweis genug, welchen Vorsprung schon der Genius vor der gleichzeitigen Litteratur gewonnen hatte. Aber eben dieses Unterscheidende erinnert uns auch daran, daß Goethe sich von der Quintessenz alles Lebenskräftigen, was die deutsche Dichtung der Zeit ihm zutragen konnte, hatte berühren und befruchten lassen: von dem hohen Flug des Odensängers, von Lessings dramatischer Dialektik, von Wielands weltmännischer Eleganz. Aber auch die Emanzipation von diesem Triumvirat, die erst dem Eigenen vollen Raum schafft, beginnt in diesem und den nächsten Folgejahren. Unmittelbar vor der Wetzlarer Reise war »Emilia Galotti« erschienen. Dem tieftragischen Stoff sieht Goethe des Dichters korrekte Geistesklarheit doch nicht völlig gewachsen. Er erklärt das Stück, »so ein Meisterstück es sonst sei«, für »nur gedacht«. Dem Messias-Dichter sagt er allerdings erst 1776 ab und aus Gründen, die nicht in poetischen, sondern in realen Differenzen liegen. Aber im litterarischen Gegensatz bewegte er sich längst, und in gewissem Sinne, wenn auch völlig absichtslos, ist sein Faust ein Anti-Messias. Der Widerspruch gegen Wieland trat wenige Jahre darauf in »Götter, Helden und Wieland« scharf zutage.
Herder aber, nicht selbst Dichter, doch in ahnungsvoller Theorie jene Trias überragend, bildete ein Zwischenglied zwischen dieser und dem Dichter der Zukunft, den er prophetisch vorverkündigte. Es war darum nur natürlich, daß Goethe diesen übermochte, sobald er dessen Programm durch seine Schöpfungen zu That und Leben geführt hatte.
Noch vor wenig Jahrzehnten trug das äußere Bild Wetzlars in Stadt und Land ein Gepräge, das uns leichter denn das gegenwärtige an den Zustand der reichsstädtischen und Goetheschen Zeit erinnern konnte. Noch bestand das stille Naturbild des anmutigen Lahnthales unverwandelt und unaufgeregt von den modernen Errungenschaften seines eisernen Zeitalters, den Eisengruben, den Eisenwerken mit ihren Hochöfen und den sich kreuzenden Eisenstraßen; noch war das Innere der Stadt fast getreu geblieben dem längst vergangenen Zustand, denn größeren Konservatismus, oder soll ich sagen größere Stabilität und Stagnation als hier gab es damals kaum anderswo in deutschen Landen. Das Lokal hatte sich mit geringen Änderungen erhalten; man brauchte darum die andersartigen Zustände der Goethe-Werther-Periode, das Reichskammergericht und das Leben der Reichsstadt dem Gebliebenen nur gleichsam einzuzeichnen, um das Jetzt dem Einst völlig ähnlich zu machen. Das ist heute anders geworden. Damals trat der Grundton der Landschaft, das Ineinander von Natur und Geschichte um so reiner und stärker hervor. Ein breites, wiesengeschmücktes Flußthal, sanfte Hügelrücken, unten mit Korn, oben mit Wald bedeckt, überragt von einzelnen charakteristisch geformten, stolzeren Bergen, von denen der Dünsberg und die Basaltkuppe des Stoppelberges zur rechten und zur linken[15] als die Herrscher des Thales sich emporstrecken; der sich in schönen Windungen hinziehende Fluß und, in die Lahn einmündend, die Dill, die den Blick in ein still-anmutiges Seitenthal öffnet, das auch nicht ohne historische Bezüge und Ehren ist. Ersteigt man den Lahnberg auf der linken Flußseite, der einen alten Wartturm wie ein Luginsland auf seiner Höhe trägt und in Goethes Leben wie in Werthers Leiden eine Rolle spielt, so tritt das stimmungsvolle dieser Landschaft alsbald vor das Auge. Nichts in der weiten Umschau imponiert dergestalt, daß es Blick und Sinn gefangen nähme und durch überwältigenden Eindruck dem Sinnen und Träumen keinen Raum ließe, vielmehr schmiegt sich das Äußere dem Inneren weckend und stimmend an; ahnungsvolle Sehnsucht, leise Melancholie, stilles Wohlgefühl finden ihr Echo. Es ist eine tiefpoetische Landschaft und eben darum eine Landschaft für Poeten, von welcher der sinnige Betrachter das Recht von Goethes Lobwort im »Werther«: »ringsumher ist eine unaussprechliche Schönheit der Natur«, und das Wort von den »täuschenden Geistern, die um diese Gegend schweben« gar bald versteht. Das weite Lahnthal schneiden engere Querthäler, darunter das der Wetz, die der Stadt den Namen gab, das bedeutendste. In dieser vielgestaltigen Terrainbildung liegt der Charakter der Landschaft. Nicht viele Gegenden Mitteldeutschlands mögen so reich an Variationen sein wie diese. Hat doch ein besonders bewanderter Kenner des Thales neunzig Spaziergänge mit stets veränderten Aussichtsbildern verzeichnet. Das am meisten Charakteristische ist eben die Verbindung freier Fernsichten mit der knappsten Enge malerischer Nahesichten. Auch die wetterauische Fruchtbarkeit des Thales, die Obstwälder ringsum, die heitere Gartenumgebung gehören zu dem anmutenden Landschaftsbild. Nur die Reben, die vergangene Jahrhunderte, minder anspruchsvoll in ihren Genüssen, auch hier vielfach gepflegt hatten, sind heute so gut wie verschwunden.[16]
Und dieser fesselnde Naturreichtum ist verwachsen mit der Mannigfaltigkeit des historischen Lebens, das überall seine Spuren, seine Reliquien diesem Boden eingedrückt hat. Ja, ein geschichtlich gesättigter Boden überall, wo Römertum und Mittelalter sich in dem Volksglauben wenigstens — und sollte es zum Teil Aberglaube sein — die Hand reichen. Lag doch die Stätte des späteren »Wetafalar« innerhalb des altrömischen Pfahlgrabens. Die der Stadt unmittelbar gegenüber gelegene malerische Burg Kalsmunt führt der Stolz der Bürger, wenn auch mit sehr zweifelhaftem Recht, auf römischen Ursprung zurück; um die Wälder des fernen Dünsberges spielen Sagen von germanisch-römischen Kämpfen. Überall in den Buchen- und Eichenwäldern zerstreut liegen keltische und altdeutsche Grabhügel. Vor allem doch hat die gestaltenreiche und wechselvolle Geschichte des Mittelalters ihre Spuren hinterlassen. Die großen Formen des mittelalterlichen Lebens leben und lebten vollends zu Goethes Zeit ringsum fort. Die Schlösser der kleinen Dynasten krönen die Berggipfel; so Hohensolms und Greifenstein in tiefer Waldeinsamkeit; so das malerische Braunfels, noch heute der stolze Sitz des Fürsten; so Ritterburgen, wie Hermannstein; auf den ferneren Höhen Fetzberg und Gleiberg bei Gießen; so Mönchs- und Nonnenklöster, damals ihrer ersten Bestimmung noch nicht entzogen, unter ihnen vor allem das weithin winkende Prämonstratenser-Frauenkloster Altenberg, die Gründung der heiligen Elisabeth. Und damit nichts fehle von den charakteristischen Reliquien des Mittelalters, so lag um die Stadt mannigfacher Besitz des Deutschordens mit einem Deutschordenshaus innerhalb der Stadtmauern; — für den Goethefreund der wichtigste Punkt Wetzlars.
Das lebendigste Stück Mittelalter ist aber die alte Reichsstadt selbst, und sie war dies damals noch ganz anders wie heute. Sie ist eine Bergstadt, schiefergedeckt, die Straßen klettern die[17] Höhe hinan, mitunter so steil, daß sich die Gäßchen in Treppen verwandeln. Noch standen damals die Stadtmauern mit ihren sieben Türmen nach der Zahl der sieben alten Zünfte unversehrt; noch wurden die alten Stadtthore von ihren Wächtern, den nicht gar martialischen Stadtsoldaten, gehütet. Die Lahnbrücke trug noch ihre beiden Brückenthore. Zwei Warttürme lagen auf den Höhen zu beiden Seiten der Stadt, deren schmales Gebiet durch eine »Landwehr« zum Schutze gegen rasche Reiterangriffe eingehegt war. Im Inneren gab es wenig von architektonischem Schmuck. Immer wiederkehrende Drangsal im dreißigjährigen Krieg und gleichzeitig (1643) zerstörende Feuersbrunst, in der über siebzig der »fürnehmbsten Häuser abgebronnen« waren, hatten ein gut Teil der baulichen Überlieferung des Mittelalters zerstört. Wohl hatte das Reichskammergericht manchen schmucken Neubau gebracht; das achtzehnte Jahrhundert vornehmlich war die Bauzeit für Wetzlar; aber die stattlichen Häuser der Assessoren und Prokuratoren versteckten sich guten Teils in den Winkeln der Straßen. Vor den Bürgerhäusern lagen noch vielfach Düngerhaufen, Kot, Knochen, Austernschalen, darunter, wie ein zeitgenössischer Beobachter berichtet, »noch vieles aus dem vorigen, d.h. also dem siebzehnten Jahrhundert«; und aus den Drachenköpfen an den Giebeln spieen nicht bloß Regengüsse auf die engen, zum Teil ungepflasterten Gassen und auf die Häupter der Passanten. Die gar gelinde reichsstädtische Polizei war auch in diesem Stück überkonservativ. Es ging das Gerede, in Wetzlar seien die Häuser aus Kot gebaut — und in der That gab es nur einzelne massive Steinbauten —, und die Straßen mit Marmor gepflastert, der vor den Thoren gebrochen wurde. So war das Bild der Stadt nichts weniger als ein erfreuliches, und Goethe hatte recht, wenn er im »Werther« die alte Reichsstadt im Gegensatz zu dem Zauber der umgebenden Natur eine »unangenehme« oder in »Wahrheit und Dichtung« eine »kleine und übelgebaute« nennt.[18] Nur das Zentrum der Reichsstadt, der stolze Dom, überragt nicht bloß durch seine Höhe, sondern nicht minder durch den Wert seiner Architektur die Stadt zu seinen Füßen. Der unvollendete und halbruinenhafte Bau zeigt den ganzen Wechsel der Baustile des Mittelalters vom elften Jahrhundert, in das der Ursprung des »Heidenturms« fällt, bis zum Jahrhundert der Reformation. Ob ihm der Dichter, der sich kurz vorher an Erwin von Steinbach berauscht hatte und bald begeistert davon zeugte, irgendein Interesse abgewonnen, davon findet sich allerdings keine Spur.
Ein Blick auf das innere Leben der Stadt darf hier nicht fehlen; es bildet den Hintergrund für des Dichters poetisches Sommerleben.
Wetzlar gehörte zum oberrheinischen Kreise. Auf dem Regensburger Reichstag nahm es den letzten oder vierzehnten Platz der rheinischen Städtebank ein und folgte nach der Reichsstadt Friedberg, mit welcher es nebst Frankfurt und Gelnhausen den wetterauischen Städtebund bildete. Auch den oberrheinischen Kreistag, der damals meist in Frankfurt am Main zusammentrat, hatte es zu beschicken. Ebenso war die Stadt in der Reichsarmee, und zwar mit einem Kontingente von acht Mann zu Fuß, pflichtmäßig vertreten, und zur Reichs-Operationskasse (den sogen. Römermonaten) steuerte sie nach der Reichsmatrikel 32 Gulden. Freilich eine Macht- und Kraftentfaltung, die uns heute lächeln macht; aber solche Impotenzen gehörten eben untrennbar zum alten und hinwelkenden Reichskörper. Es waren absterbende Glieder, die den Leib nicht zu stärken und zu erhalten vermochten. Die winzige Reichsstadt hatte fast kein Territorium — etwa eine halbe Quadratmeile —, sie war vielmehr eng eingeschränkt von den kleinen, der verrosteten Reichsfreiheit keineswegs holden Nachbarstaaten, der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, den Fürstentümern Nassau-Weilburg und Dillenburg, Solms-Hohensolms und Solms-Braunfels. Von einem[19] seiner Warttürme ließ es sich bequem in vierer Herren Länder schauen. Hatte Wetzlar selbst auch niemals eine große geschichtliche Rolle gespielt noch seiner Kleinheit wegen spielen können, doch führte man mit Stolz die Freiheiten der Reichsstadt auf Kaiser Rotbart zurück, und die Überlieferung von dem Afterkaiser Tilo Kolup, der nach der Sage im »Kaisersgrund« sollte gerichtet worden sein, leben noch heute in der Bürgerschaft fort.
Das war Romantik gegenüber der gesunkenen Gegenwart. Die Stadt hatte ihr reichliches Teil an der Fäulnis und Misère, die damals auf allen, zumal den kleinen Reichsstädten lag. Sie waren nur Städte geblieben, als ringsum sich Staaten bildeten, und konnten nur, indem sie wieder Glieder von Staaten wurden, aus der höheren Einheit neues Leben gewinnen. Verarmt, zerrüttet, der eigenen Lebenskraft entbehrend, hatte auch Wetzlar keinen Weg, sich aus sich selbst zu erheben.
Die eingeborene Bürgerschaft, die noch nicht 5000 Köpfe zählte, wurde durch die zugewanderte Bevölkerung des Kammergerichts von etwa 900 Personen durch Besitz, Rang, Bildung, soziale Ansprüche überschattet.
Die mittleren Klassen des Wetzlarer Bürgertums zeigten sich im Gefühl ihrer Abhängigkeit vom Reichskammergericht fügsam und rücksichtsvoll gegen die Wünsche und Ansprüche dieses dominierenden Elementes. Anders stand es mit den unteren Volksschichten, die zwar auch gutenteils ihre Nahrung von jenen höheren Regionen bezogen, denen aber die Bildung und der Überblick abgingen, um deshalb besondere Rücksicht zu nehmen. Überhaupt lag in dem reichsstädtischen Pöbel auch hier ein starker Rest von Trotz und stolzem Selbstgefühl. Die reichsstädtische Polizei ermangelte, wie in fast allen Reichsstädten, der Autorität; das eigene Militär — und welches Militär! — war aus der Bürgerschaft hervorgegangen und darum wenig gefürchtet; das hessische Kontingent aber, das in der Stadt lag, war allezeit[20] ein Gegenstand der Opposition oder der Antipathie für die Gesamtbürgerschaft. Aber auch die städtische Obrigkeit — die beiden Bürgermeister, die Ratsschöffen und Ratsherren — besaß keine durchgreifende Autorität. Gewaltthaten gegen den Stadtrat kamen nicht selten vor. Die Justiz war ohne Kraft. Die Stadt besaß ein Zucht- und Korrektionshaus; man entledigte sich der Verbrecher möglichst bald durch Überlassung an die fremden Werber. Namentlich waren es zwei Punkte, gegen welche sich die Widerstandslust der niederen Volksschichten Wetzlars wiederholt aufbäumte: das unbedingtere Hervortreten des Katholicismus und die Hoheits- und Vogteirechte (seit 1536) des Landgrafen von Hessen.
Wetzlar war (seit 1542) eine streng protestantische Stadt. Die Bürgerschaft wachte eifrig und eifersüchtig über diesen ihren Charakter. Ja sie war wiederholt, während des Abfalles der Niederlande im sechzehnten (1586) und nach Aufhebung des Edikts von Nantes im siebzehnten Jahrhundert, eine Freistatt für niederländische und französische Flüchtlinge geworden. Nun lag es aber in der Natur der Dinge, daß, seitdem die Reichsstadt das Reichskammergericht herbergte, die Forderung der Parität und Kultusfreiheit sich auch zugunsten der Katholiken gebieterisch geltend machen mußte. Das katholische Element erhob stärker das Haupt. Schon bei dem Einzug des Gerichts wurden nicht ohne anfänglichen Widerstand des Stadtrats Bedingungen derart gestellt und schließlich (1692) bewilligt. Und gerade die katholischen Mitglieder des Gerichts, der Chef als der richterliche Vertreter kaiserlicher Majestät an der Spitze, traten durch Rang und Reichtum hervor. Der katholische Gottesdienst fand, wie noch heute, im Chor des Doms statt, wo, um alle Kollisionen zu vermeiden, die Uhren aufgehalten wurden. Auch ein Kloster bestand in Wetzlar selbst und zwar gesetzwidrig, da im Normaljahr 1624 sich noch keine Klöster in Wetzlar fanden. Auch die[21] Jesuiten fehlten nicht; sie hatten ein Kollegium und die gelehrte Schule der Stadt. Doch alles dies ließ sich die Bürgerschaft, da sie es nicht ändern konnte, gefallen. Da aber die Katholiken, auf Grund allerdings des ursprünglichen Abkommens von 1692 und getrieben von jesuitischen Einflüssen, einen Schritt weiter thaten und im Frühjahr 1770 zur Feier der Papstwahl Klemens' XIV. und des von diesem angeordneten Jubiläums wiederholt Prozessionen in Scene setzten, ohne sich auch dabei an die gezogenen Grenzen zu halten, da brach der Unwille des Volkes los, es setzte Schläge und Rauferei, der die Stadtsoldaten und die hessische Besatzung steuern mußten. Die Bürgerschaft hatte das Gefühl, nicht mehr Herr zu sein im eigenen Hause. Kriegerischer als diese Religionskriege en miniature sah der hessische Krieg gegen Wetzlar vom Jahre 1763 aus; an Tragikomik jenem Wasunger Krieg nicht unähnlich, gleich nach dem Ausgang des siebenjährigen, in welchem die hessischen Truppen, namentlich bei Roßbach, keine Lorbeeren erkämpft hatten.
Hessische Händel mit der trotzigen Reichsstadt waren nicht neu, schon 1613 überzog der Landgraf mit 10 Fähnlein Fußvolk und 8 Geschützen die Stadt und brachte die widerwillige zum Gehorsam. Eine ähnliche Fehde endete 1763 mit der Eroberung und Besetzung Wetzlars. Die Stadt hatte damals eine Hessische Besatzung von 123 Mann, die mit den Bürgern gemeinsam das Oberthor bewachten und die Ehrenposten am Reichskammergericht stellten. Hessen hatte neben anderen Hoheitsrechten das Geleitsrecht beim Durchzug fremder Truppen. Die reichsfreien Bürger verlangten dies Recht für sich, und so kam es zu wiederholten Zerwürfnissen. Im Jahre 1763 setzten die Bürger ihr Geleitsrecht mit Gewalt durch und entwaffneten die hessischen Truppen; diesem ersten Exzeß folgte wenige Wochen darauf ein zweiter, sogar von einzelnen Ratsherren geschürt, der mit der Flucht der bedrohten Hessen endete. Aber der Tag der Züchtigung kam. Im Mai[22] 1763 setzte sich ein hessisches Kontingent von über 1700 Mann, Fußvolk, Reiterei und Artillerie, in Bewegung, überrumpelte die Stadt in frühester Morgenstunde und zwang den Stadtrat zu der Erklärung, daß künftig der Friede mit dem Schutzherrn erhalten und demselben größere Ehrfurcht erwiesen werden solle. Die Rädelsführer aus der Bürgerschaft, so weit sie nicht entkommen waren, führte man mit gen Gießen, wo einzelne von ihnen Stockhaus und Schanzarbeit erwartete. Nicht einmal die sacrosancten Personen des Kammergerichts wurden respektiert. Einzelne von diesen, die ohne Gruß an den Siegern vorübergingen, erfuhren brutale Behandlung. Bei Kaiser und Reich fand die gedemütigte und gebrandschatzte Stadt kein Gehör. So war es nach innen und außen kein glänzendes und glückliches Bild, das die Reichsstadt, deren Freiheit nicht leben konnte und nicht sterben wollte, damals bot, wenn auch die Friedensjahre nach dem Schluß des siebenjährigen Krieges auch für sie eine Zeit der Erholung waren.
Seinen sozialen Charakter erhielt das damalige Wetzlar durchaus durch das Reichskammergericht. Man sollte nun denken, Reichsstadt und höchstes Reichsgericht, beide wurzelnd in den Traditionen des alten Reiches, hätten sich als zu einander gehörig harmonisch zusammenschließen müssen. Und dies nicht bloß in der Erinnerung an die gemeinsame Wurzel, sondern auch aus dem Triebe der Selbsterhaltung. Denn der ganze Geist der neuen Zeit, der absolute Territorialstaat, von Preußen am glänzendsten vertreten, widerstrebte jenen hinwelkenden Bildungen, die da standen und fielen mit dem Bestande des Reiches. Zunächst aber gehen wir noch nicht ein auf das Reichskammergericht als Rechtsinstitut, vielmehr beschäftigt uns dasselbe hier nur als der sozial in der kleinen Reichsstadt[23] völlig maßgebende Faktor. Denn von den beiden Elementen der Bevölkerung Wetzlars galt nur das reichskammergerichtliche als die eigentliche Gesellschaft. Das Wetzlarer Bürgertum bildete diesem aristokratischen Elemente gegenüber, obwohl es numerisch etwa fünffach überlegen war, doch kein ausreichendes Gegengewicht. Fast wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer verhielten sich zu einander die beiden Bestandteile. Der Bürger lebte eben gutenteils von dem Verdienste, den ihm die Gerichtszugehörigen zuwandten. Es war viel Geld im Umlauf und schuf den meisten Bürgern ein behagliches Leben; aber von Gewerbfleiß und Unternehmungslust regte sich wenig. Ackerbau, Handwerk und Kleinhandel war der Betrieb der Bürgerschaft, von Großhandel zeigte sich keine Spur; ein Patriziat mit altem Besitz und Namen fehlte, die äußerst wenigen altwetzlarer Patriziergeschlechter, die noch nicht ausgestorben waren, wie die v. Klettenberg, v. Rolshausen, waren nach Franken, nach Frankfurt am Main ausgewandert; das Vermögen der Stadt war gering, die Schulden drückend. War doch gerade die Armut der herabgekommenen Reichsstadt achtzig Jahre zuvor der Grund gewesen, das Reichsgericht zu begehren und aufzunehmen, dessen Aufnahme z.B. von dem reichen bürgerstolzen Frankfurt verweigert worden war. Das Reichskammergericht aber brachte an sich schon ein beträchtliches Kapital in die Stadt. Waren der Kammerrichter und die beiden Präsidenten doch Mitglieder des höchsten Reichsadels, deren fast fürstengleiche Stellung sich auch gesellschaftlich ausprägte. Erschien doch der oberste Gerichtschef wie ein Souverän, wenn er aus seiner Wohnung in der oberen Stadt in der vierspännigen Staatskarosse unter dem Vorritt von Läufern in ihrer theatralischen Tracht mit Kaskett und Knallpeitsche, Schuhen und weißen Strümpfen durch die halsbrechenden Gassen zu dem Gericht fuhr, wo die Supplikanten zu Dutzenden ihre Bittschriften hoch hoben. Ein Palais für den Kammerrichter und[24] die Präsidenten, überhaupt nur eine angemessene Dienstwohnung gab es nicht. Die gesellschaftlichen Repräsentationen der meist an Schlösser und Paläste gewöhnten hohen Herren mußte sich in bescheidenen Miethäusern mit bürgerlicher Enge, Knappheit und Niedrigkeit der Räume behelfen. Trotzdem gab der Adel des Gerichts keinen Titel von seinen Ansprüchen und seiner Exklusivität auf. Die spanische Tracht schon, die an die Stelle der französischen getreten war, hob das Erscheinen der Assessoren ab von ihrer Umgebung. Die Genüsse vornehmer Bewirtung, welche die gerngroße Kleinstadt selbst nicht zum Kaufe bot, wurden von dem unfernen Frankfurt am Main verschrieben, wohin wöchentlich dreimal der Köln-Frankfurter Postwagen und einmal die »Kameral-Kutsche« über unchaussierte Naturstraßen — und nur mit großer Anstrengung in einem Tage — fuhr. Nur wer sich auf Wappen und Adelsbrief berufen konnte, hatte unangefochtenen Zutritt in die erste und eigentliche Gesellschaft. Ja es war eine Form der Einladung, zu manchen Ballfesten jeden Adeligen, aber auch nur diese, zu bitten. Die verletzende Ausweisung eines Bürgerlichen, des jungen Jerusalem, die Goethe im »Werther« als mitwirkendes Motiv seiner Dichtung verwendet hat, wie sie ein Motiv der Zerrüttung und des Untergangs Jerusalems gewesen, haben wir unten noch einmal zu berühren. Das ohnehin schon starke Adelselement des Gerichtes wurde noch verstärkt durch die Mitglieder der großen Kammergerichtsvisitation, die überhaupt zu einer Überfüllung der Stadt führte, durch die jungen Praktikanten und Sollicitanten von Adel und durch den steten und starken Zufluß Durchreisender und durch Besuche bei den Edelleuten des Gerichts. In der That war es in dem engen Reichsstädtchen wie ein buntes Stelldichein aus dem gesamten Reichsadel, der sich wie zu einem großen sozialen Turnier hier traf. Die lässige Bequemlichkeit der Österreicher, die unbequeme Straffheit der Preußen, die einen mit gehobenem Selbstgefühl auf ihren Joseph II., die[25] andern mit trotzigem Stolz auf den großen Friedrich schauend, Katholiken und Protestanten, Norddeutsche und Süddeutsche, alle Schattierungen und Gegensätze trafen sich hier auf schmalstem Raum. Den Österreichern und denen »aus dem Reiche« war dieses Reich noch eine volle Realität, die Norddeutschen sahen mit einer Art Ironie auf die abgelebte Hohlheit der Reichsformen. Zugleich hatte diese Aristokratie des Reichsgerichts gesellige Fühlung mit den kleinen Dynastenhöfen der Nachbarschaft. Es versteht sich, daß die Verkehrssprache der bescheidenen Salons die französische war, der Praktikant wurde zum practicien, und als Visitenkarten dienten meist Spielkarten mit der Aufschrift z.B.
de G.
Assesseur de la Chambre
Impériale et de l'Empire
avec son Epouse.
Natürlich fehlte es dieser sozialen Enge nicht an dem haut goût wuchernder Juden, sittenbedenklicher Häuser. Selbst ein genuesisches Lotto tauchte im Anfang der siebziger Jahre für kurze Zeit auf, dessen Gedächtnis noch lange in dem Namen des »Lottohauses« fortlebte. Italienische und französische Sprachmeister, Tanz- und Fechtlehrer, Perückenmacher, Gold- und Silbersticker und was sonst zum Apparat einer residenzartigen Stadt des vorigen Jahrhunderts gehört, fehlten nicht. Im Sommer boten die meist von vornehmen Kammergerichtsbeamten angelegten und zum Teil ungemein malerischen, mit Landhäusern geschmückten Gärten den aristokratischen Zirkeln die gesellschaftlichen Trefforte. Auch außerhalb der Familie war für mannigfache Lustbarkeit gesorgt. Seit 1768 hatte der Gasthof zum Römischen Kaiser einen stattlichen Saal für Redouten und Konzerte hergestellt, der auch zu theatralischen Aufführungen diente. Der Einzug einer Wandertruppe war auch dem Bürger ein Ereignis, und wenn sie auch nur die Schauerdramen mit Dolch, Gift und Ketten oder[26] schwächliche Rührstücke brachte. Und mochte auch bei diesen die Darstellung in der Regel unter aller Kritik sein, so hat gerade in jenen Jahren (1770/71) doch selbst ein Eckhof es nicht verschmäht, sich mit der Ackermann-Seylerschen Truppe auf diesen Brettern sehen und bewundern zu lassen. Die litterarische Nahrung, so weit es deren bedurfte, bezog das damalige Wetzlar meist von dem nahen Gießen, wo der Universitäts-Buchhändler Joh.Phil. Krieger — ein Kuriosum an Vielseitigkeit, denn er vertrieb neben seinen Büchern mit gleichem Eifer Häringe und Lotterielose, war Pferdeverleiher und Speisewirt — schon 1750 eine Lesebibliothek gegründet hatte, die, nicht sehr gesichtet, deutsches und französisches Lesefutter auch nach Wetzlar hin lieferte. Doch gab es auch in Wetzlar selbst eine Buchhandlung, sogar eine Verlagshandlung und Druckerei von E.G. Winkler, in demselben Hause betrieben, worin sich später der junge Jerusalem erschoß. Daran schloß sich eine Leihbibliothek, die als mumienhafte Antiquität aus der Reichskammergerichtszeit noch weit in dieses Jahrhundert hinein fortmoderte. Sie begann mit Talanders (August Bohses) schlüpfrigen Romanen aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts und zog sich auf gleicher Höhe oder in gleicher Niederung herab bis auf Chr.H. Spieß, Fr. Laun, K.G. Cramer und A. Lafontaine, um endlich des wohlverdienten Todes als Makulatur zu sterben.
Eine Zeitung dagegen besaß die Reichsstadt damals noch nicht. Erst die Wehen der beginnenden Revolutionszeit trieben eine solche seit Mitte 1789 hervor. Gleich die Vignette mit dem doppelköpfigen Adler neben dem blasenden Postreuter zeigt symbolisch den Reichsstandpunkt. Und dies war offenbar auch die dort herrschende und durchschlagende Stimmung. Nach Wien als der Reichsmetropole waren über Frankfurt und Regensburg die Blicke gerichtet; vom Reichskammergericht, dem auch die Zeitung einen breiten Raum widmet, über die Krönungsstadt und[27] den Reichstagssitz zum Kaiser und dem Reichshofrat, von dessen Urteln immer ein Extrablatt der Zeitung handelt.
In Goethes flüchtigem Sommerleben dort wird uns noch begegnen, was die Stadt in der guten Jahreszeit an ländlichen Luftorten bot, bei denen die liebliche Natur weitaus das Beste that. Aber sogar ein »Vauxhall« finden wir in jenen Jahren erwähnt, und an Gartenkonzerten fehlte es nicht. Der ungewöhnliche Fremdenverkehr, zu dem das nahe Gießen auch sein Kontingent an wanderlustigen Studenten stellte, füllte die Gasthöfe und Wirtshäuser. Zählte man doch mitunter an 250 Parteien, die ihre Prozesse persönlich betrieben. Die Bauern kamen aus weiter Ferne in hellen Haufen, in dem guten Glauben, das diene zur Förderung ihrer Rechtssache. Es kam vor, daß solche »Wartboten« unter Androhung von Turmstrafe weggewiesen werden mußten. So bewegte sich allezeit ein ameisenhaftes Menschengewimmel in den engen, steilen Gassen, und man mag bedauern, daß nicht ein Chodowiecki zur Hand war, die bunten Typen festzuhalten. Neben der privilegierten Klasse des hohen Richterkollegiums stand eine zweite Rangklasse, die Prokuratoren, Advokaten, die Protonotarien, Notarien, Sekretäre, Leser d.h. Registratoren, und während die Aristokratie des Gerichts mit der reichsstädtischen Bürgerschaft durchaus keine soziale Fühlung hatte, bestand eine solche wohl zwischen dem höheren Bürgerstande und jenen mehr subalternen Bestandteilen des Gerichts. Diese waren in beträchtlicher Zahl vorhanden — z.B. zählte man zu Goethes Zeit 62 Advokaten und Prokuratoren — und machten sich als solche durch ihre schwarze Tracht auch auf der Straße kenntlich. So sehr auch das Bürgertum in die Ecke gedrängt war, von dem alten reichsstädtischen Trotz und Stolz war, wie wir sahen, wenigstens ein gewisser Unabhängigkeitssinn geblieben, der bis zu den unteren Schichten herab sich gegen Zwang und Unterdrückung wehrte. Es war nur natürlich, daß dem sozialen Alleinrecht des Adels[28] gegenüber sich die Versuchung auch unter den bürgerlichen Richtern regte, sich den Adel zu verschaffen, ja mitunter auch bei zweifelhaftem Recht ihn eigenmächtig sich anzudichten. Aber ein neues unabhängiges Element bildete sich in der Jugend, die als Praktikanten wie als Sekretäre der Visitationsdelegierten in Wetzlar weilten, junge Leute, meist eben von Hochschulen kommend, denen der alte soziale Zopf ein Dorn im Auge war, und die darum ihrer Opposition oft mutwillig und übermütig Luft machten. Hier mischten sich unterschiedslos Geborene und Nichtgeborene in halbakademischer Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Praktikanten, junge Volontäre, die sich von der Gunst oder Abgunst ihrer Vorgesetzten ziemlich unabhängig wußten, aus eigener Tasche lebten, fühlten sich wenig gebunden von Autorität und Rücksicht; die jungen Sekretäre aber, wenn auch amtlich strenger verpflichtet, hatten vollends als Zugehörige zu der prüfenden Kommission etwas von deren Geist kritischer Überlegenheit. Diese Kreise werden uns bei Goethes Eintritt in Wetzlar näher treten. Aber auch direkt hielt sich der spottende Gegensatz schadlos für erlittene oder drohende Zurücksetzung. So hat der Dichter Gotter, von dem später mehrfach die Rede sein wird, sich an einem anonymen Pasquill beteiligt, das einen großen Teil der Wetzlarer Gesellschaft, die Damenwelt nicht ausgeschlossen, vor seine scharfe Klinge forderte. Man kann nicht sagen, daß das buntbewegte Treiben der Reichsstadt einen gesunden und frischen Eindruck machte. Es war vielmehr die auf die Spitze getriebene Einseitigkeit einer absterbenden Ständeschroffheit. Der ungemessene Standesstolz, die altfränkische Etikette, die schwerfällige Pedanterie und das zopfige Zeremoniell an dem Sitze des höchsten Reichsgerichts waren fast sprichwörtlich. Goethe hat, da er nur das freiere Sommerleben dort verbrachte, jenen sozialen Zwang und Druck nicht unmittelbar empfunden, gleichwohl haben sie auf ihn gewirkt. Sein »Werther« ist des Zeuge. Auf größerem Schauplatz konnten sich[29] diese sich abschließenden Gegensätze entfalten, ohne sich auf Schritt und Tritt zu stoßen; hier aber auf engstem Raum erschienen sie entweder verletzender oder (in den Augen der sich freier Fühlenden) hochkomisch. Allerdings zeigten kleine deutsche Höfe der Zeit ähnliche Karikaturen. Aber immerhin lag dort im Fürsten selbst ein Regulator, der die ständischen Standesgegensätze, wenn nicht ausglich, so doch milderte, und unter den sogen. aufgeklärten Fürstenpersönlichkeiten der Zeit gab es manche, die auch eine Geistesaristokratie anerkannten und großzogen. Von dem allen kannte Wetzlar nichts. Es war darum ein soziales Unikum im Reiche, wohl verhältnismäßig die größte Anhäufung aristokratischer Elemente, vielleicht noch am nächsten kommend den inneren Zuständen der fränkischen, rheinischen, westfälischen Bistümer, wo der Landesadel sich in fast erblichem Besitz der Domstifter und Prälaturen wußte und in sklavischer Nachahmung des französischen Geschmacks in Tracht und Tafel das Äußerste that. Nur daß in Wetzlar, wo noch weniger bloß lokaler Adel saß, sondern der Adel des gesamten Reiches vertreten war, die Mischung eine weit buntere sein mußte. An barocken Originalgestalten konnte es nicht fehlen, an denen sich der Witz und Humor der Jugend rieb; ja noch ein Menschenalter nach dem Ende des Reiches und Reichskammergerichts schlichen einzelne dieser altgewordenen Reichskammergerichtsfiguren wie Revenants durch die stillgewordenen Straßen der weiland Reichsstadt. Auch der »Werther« verfehlt nicht, des Barockstils der Garderobe zu gedenken, wo »Reste des Altfränkischen mit dem neust Aufgebrachten kontrastieren«, und in der exklusiv adeligen Gesellschaft, in der Werther zu sozialem Fall kommt, einen Baron »mit der ganzen Garderobe von den Krönungszeiten Franz' I. her« vorzuführen. Der große Strom des deutschen Lebens, das sich damals gerade in den Friedensjahren nach dem siebenjährigen Kriege mit neuem Lebensgehalte füllte, ging nicht durch Wetzlar.[30] Nur wenige Jahre nach Goethes Aufenthalt bezeugt (am 20. November 1777) der Freiherr vom Stein in einem ursprünglich französisch geschriebenen Briefe an seinen Freund v. Reden den dort herrschenden kleinlichen Gesellschaftsgeist: »Im übrigen ist der Aufenthalt in Wetzlar auf die Dauer recht langweilig, denn der gesellige Ton ist steif und bürgerlich, und man findet sehr wenig Einklang. Ein Ort, wie dieser, wo wichtige Angelegenheiten verhandelt werden, muß immer geteilt sein und es finden sich dort notwendig Parteien, welche von einander unabhängig ihre Feindschaften selbst auf die Vergnügungen erstrecken. Kennt man die Lage der Dinge, so weiß man vorher, wer zu einem gewissen Gastmahl gehören, wer in einer gewissen Gesellschaft zugelassen, wer davon ausgeschlossen sein wird. Alles dieses verscheucht die Einigkeit aus den Gesellschaften, macht sie weniger angenehm, verbannt daraus Leichtigkeit und Wohlbehagen und beengt bisweilen den Fremden, der auf beiden Seiten achtungswerte Menschen findet und sich ihnen nicht nach seinem Geschmack hingeben kann. Zudem besteht unsere Gesellschaft allein aus Rechtsgelehrten, deren Beruf durch die Masse der Begriffe, womit er das Gedächtnis belastet, den Geist ermüdet und alle Einbildungskraft erstickt — woraus man leicht folgern kann, daß unsere Männer nicht gerade zu den liebenswürdigsten gehören. Unsere Weiber sind größtenteils Kleinstädterinnen, denen der Kaiser durch das Adeln ihrer Männer nicht auch ihren kleinen kreischenden, kleinlichen, förmlichen Ton genommen hat. Vergebens also sucht man bei uns höfliche, unterhaltende Menschen voll Aufmerksamkeit — sondern man findet sie entweder in einer Ecke über ihre Rechtshändel sprechend, oder die Karten in der Hand, und sie nehmen die Artigkeit, welche man ihnen erzeigt, entweder mit einer unpassenden Rauhheit, oder mit lächerlicher Verwirrung auf, oder finden keine Worte, sie zu erwidern. Kurz, Wetzlar hat die Mängel der[31] kleineren Städte, in einer großen Stadt erzeugt der Zufluß der Menschen einen lebhaften allgemeinen Wetteifer, von den Fehlern der Personen, aus denen die Gesellschaft besteht, kennt man manche nicht und vergißt viele; oder hier wird alles strenge, oft falsch beurteilt und macht dauernde Eindrücke. Da ich zum Arbeiten unter einem kenntnisreichen und verdienstvollen Assessor zugelassen bin, und aus den Senatsprotokollen Gelegenheit habe, meine Kenntnisse zu erweitern durch Untersuchung der merkwürdigsten Rechtsfälle, welche das Gericht entschieden hat, so wird mir dadurch der Aufenthalt angenehm und die hier verlebte Zeit kostbar... Außer dem Reichskammergerichtsprozesse macht die Zahl der hier zur Entscheidung kommenden Fälle das Rechtsstudium anziehender und giebt der Theorie das für die Ausübung erforderliche Leben...« Wenn sich die adelige Gesellschaft nach der bürgerlichen Seite hermetisch abschloß, so ging es bei ihr nach innen doch keineswegs immer harmonisch und friedlich zu. Gerade weil es in ihr, deren Leben sich um sich selbst drehte, an Inhalt, an großen Lebensinteressen aus Politik oder Litteraur gebrach, war die moralische Luft geschwängert von Klatsch, Intrigue und jeder Art sozialer Nichtigkeit. Vor allem nährten die Frauen diesen kleinlichen Geist. Der um siebzehn Jahre zurückliegende Fall steht nicht allein da, wo ein Assessor des hohen Gerichts sich in einem Promemoria öffentlich beklagt, auf dem von dem hochfürstlichen Herren Kammerrichter gegebenen Fastnachtsball hätte die Frau Präsidentin öffentlich deklariert, ihre Tochter als stiftmäßiges Fräulein habe das Recht des Vortanzes vor sämtlichen Assessorsfrauen; ja sie hätte »selbige sogar Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht erstem Hof-Cavalier von der Hand und Stelle weggezogen«. Darnach aber hätte »jeder unstiftmäßige Cavalier, Er stehe in einem Character, wie Er wolle, sogar jeder Cammer-Gerichts-Præsident selbst, wenn er nicht just Stiftmäßig, einem jeden Stiftmäßigen Kind in der Wiegen schon den Vorzug zu gestatten«.[32] Vorgänge aber, wie jenen Ballskandal, unwidersprochen zu dulden, das würde »der Authoritaet dieses Höchsten Reichs-Gerichts und jedem dessen Mitglied (sic) aber viel zu verkleinerlich« sein. Ganz anders noch wurde dieser Geist sozialer Disharmonie geweckt und gereizt, seit die große Gerichtsvisitation Mitglieder des Richterkollegiums selbst auf die Anklagebank gebracht und die Integrität anderer zeitweise in Zweifel gezogen hatte. Es werden uns diese Skandale unten begegnen. Diese Kontrolle, die zugleich einer Revisionsinstanz gleichkam, setzte natürlich in den Augen des Publikums die Autorität des Kammergerichts und nicht bloß zeitweise herab. Die Rivalität erstreckte sich auch auf Außendinge. Der kaiserliche Prinzipalkommissarius an der Spitze der Visitation, der regierende Fürst Karl Egon von Fürstenberg-Stühlingen, hielt mit dem zweiten Kommissarius, dem verdienstvollen Freiherrn Georg v. Spangenberg, am 11. Mai 1767 seine erste Auffahrt in einem sechsspännigen Staatswagen, der von Fürstlich Fürstenbergschen Hofkavalieren zu Pferd und der sämtlichen Dienerschaft in Gala begleitet war. Man muß das Terrain und die steilen Gassen der guten Reichsstadt kennen, um das Wagnis solcher Prachtentfaltung zu würdigen. Aber der Kammerrichter mußte doch überboten werden. Alle Glocken läuteten, die wetzlarische Bürgerschaft wie die darmstädtische Besatzung machten die Honneurs. Selbst in den Frieden der Kirche drängte sich die Rivalität. Man stritt, wer im Kirchengebet den Vortritt haben solle, das Kammergericht oder die Visitatoren, bis das Erzmarschallamt für die letzteren entschied.
In diese Tage und Stimmungen fiel Goethes kurzes Verweilen in Wetzlar und am Reichskammergericht.
Goethe trug mehrere Tage nach seinem Eintreffen in Wetzlar seinen Namen eigenhändig in die Matrikel, d.i. in das Album ein, in welches sich die jungen Praktikanten einzeichneten. Die Eintragung lautet buchstäblich:
Johann Wolfg. Goethe
von Frfurt am Mayn
25 May 1772.
Diese Matrikel, seit der Verpflanzung des Kammergerichtes nach Wetzlar (seit 1693) regelmäßig geführt, liegt noch heute in dem dortigen Archiv vollständig vor. Schlagen wir wenige Blätter um, so stoßen wir, fast genau ein Lustrum später, auf den Namen des großen Reichsfreiherrn vom Stein:
Heinricus Fridricus Carolus
de Stein eod. d. et an. (d.h. 30 May 1777),
und nicht ohne Bewegung liest man die Namen der beiden größten Deutschen ihrer Zeit in so naher Nachbarschaft. Und ein dritter im Bunde rückt diesen beiden, wenngleich nicht in der Matrikel, ganz nahe. Der Freiherr v. Hardenberg, der spätere preußische Staatskanzler, erschien wenige Wochen nach Goethes Abreise (mit dem er bekanntlich schon in Leipzig Verkehr gehabt hatte) auf seiner praktischen Bildungsreise auch in Wetzlar, um von da über Frankfurt Darmstadt und die übrigen süddeutschen Höfe zu besuchen. Jene Nameneinzeichnung ist aber die einzige Lebens[34]spur, die der Jurist Goethe in Wetzlar hinterlassen hat. Der Dichter schreibt im Jahre darauf einmal an Kestner: »Ich bin von jeher gewohnt, nur nach meinem Instinkt zu handeln.« Und in der That war es die Art des Genius, der in sich eine größere Welt als außer sich trug, zumal in jener Jugendzeit, rücksichtslos seine eigenen Wege zu gehen, den eingeborenen Trieb frei und unbeirrt walten zu lassen. Pflichtmäßige Zwecke sich setzen zu lassen, war nicht seine Sache. So schob er in Leipzig schon die nächsten Aufgaben zur Seite, so in Straßburg, so nun in Wetzlar. In dem nämlichen Briefe, aus dem wir eben citierten, schreibt der Advokat Goethe in richtiger Selbstkenntnis: »Unter all meinen Talenten ist meine Jurisprudenz der geringsten eins.« Auch das gehörte ja zu dem losen, unstraffen Wesen des Kammergerichtes, daß man jene jungen Volontäre sich selbst überließ. Es blieb denen unter ihnen, welchen daran gelegen war, die Labyrinthe des Reichsprozesses wirklich zu studieren, lediglich selbst überlassen, sich durch einen erprobten Praktiker einführen und zu praktischen Arbeiten anleiten zu lassen. Dies war die Regel; so hat es u.a. der junge Freiherr vom Stein gemacht; wir werden das Gleiche unten bei Kestner, der freilich nicht Praktikant war, zu wiederholen haben. Es machten immer einzelne Prokuratoren und Advokaten des Gerichtes eine Aufgabe daraus, die Praktikanten durch Vorlesungen (zum Teil über Pütters Epitome processus imperii, zum Teil nach eigenen Grundzügen) und »durch Arbeiten aus der gemeinen teutschen Praxi« in die Labyrinthe des Reichsprozesses einzuführen. Die Hauptlehrer der Art in den siebziger und achtziger Jahren waren Noël, Hofmann, Loskant, v. Bostel; und seitdem es eine »Wetzlarische Zeitung« gab (d.h. seit dem 1. Juli 1789) wurde zu diesen reichsrechtlichen Informationen auch öffentlich eingeladen. Von Goethe erfahren wir nichts dergleichen. In der That scheint der Dichter das Äußerste von Enthaltung als juristischer Prakti[35]kant geleistet zu haben. Nirgends erwähnt eine Briefstelle irgendwelche Betätigung nach dieser Seite; dagegen bestätigen mehrere Stellen, daß er, statt die Absicht des Vaters erfüllend, »sich In praxi umzusehen«, die seinige walten ließ, d.h. »den Homer, Pindar &c. zu studieren, und was sein Genie, seine Denkungsart und sein Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingaben«. In dem Reichs-Kammergerichts-Archiv zu Wetzlar findet sich, so weit die Untersuchung irgend reicht, kein Aktenstück, Relation oder dergleichen von Goethes Hand oder mit seiner Unterschrift. Schwerlich hat er den von seiner Wohnung wie von dem »Kronprinzen«, seinem geselligen Hauptquartier, ganz nahen Weg zum Sitzungslokal des Gerichtes, das sich damals provisorisch in dem stattlichen Bau am Buttermarkte — jetzt der erste Gasthof der Stadt, »Zum herzoglichen Haus« — befand, häufig gemacht, und die Wege ins Freie, die wir ihn zu allen Tageszeiten jenes schönen Sommers einschlagen sehen, der Aktenluft weit vorgezogen. Vierzig Jahre später, in der Rückerinnerung von »Wahrheit und Dichtung«, scheint Goethe diese Unterlassungssünden gutenteils auf den »ungünstigen Augenblick«, in dem er bei dem Gerichte eingetreten, schieben oder sie hieraus erklären zu wollen; allein auch das ist ein Gedächtnisfehler, denn jene unjuristischen, poetischen Hintergedanken, von denen Kestner nach des Dichters Mitteilung berichtet, hatte dieser aus Frankfurt mitgebracht. Dem widerspricht nicht sein eigener Bericht, daß er für Wetzlar historisch-juristische Vorstudien (namentlich durch die Lektüre von Datt, De pace publica) gemacht habe, denn er sagt ausdrücklich, diese Studien seien zunächst im Interesse des »Götz« unternommen worden, aber auch dem sekundären Interesse am Kammergerichte zugute gekommen. So floß Poesie und Prosa auch hier ineinander. Goethe trat unter dem Kammerrichter Grafen Spaur als Praktikant ein, oder, um mit dem Cameral-Kalender auf das Jahr 1772 zu reden, unter dem »Herrn Frantz des Heiligen[36] Römischen Reichs Grafen Spaur von Pflaum und Valeur, Herrn zu Purgstall Winckel und Pirscheim S. Römisch Kayserlichen Majestät würcklichem Geheimdem Rath und Cammer Richter«, der seit 1763 im Amte war. Die beiden Präsidenten unter ihm waren die Grafen Waltbott von und zu Bassenheim und zu Sayn und Wittgenstein, Burggraf zu Kirchberg u.s.w. Es kann nicht unsere Absicht sein, in Nachahmung von Goethes — lichtvollem und selbst nach juristischem Urteil wertvollem — Geschichtsbild in »Wahrheit und Dichtung« ein Kapitel über Zweck und Geschichte des höchsten Reichsgerichtes hier einzuschalten. Denn nur das Lokale und Historische, was den Dichter in Wetzlar wirklich berührte, hat hier eine Stelle. Daß Goethe in seiner Selbstbiographie jene Digression einfügt — als Lückenbüßer gleichsam für den Mangel persönlichen Materials —, hat man befremdlich gefunden. Aber der Dichter wollte Werthers und seine Leidensgeschichte, die dichterisch längst Gemeingut war, nicht reproduzieren und ist darum allerdings wortkarg genug über das, was eigentlich sein Wetzlarer Sommerleben füllt. Freilich entsteht dadurch dem Leser, der die Originalakten nicht kennt, die schiefe Vorstellung, als ob das Interesse für das Reichs-Kammergericht den poetischen Praktikanten in erster Linie berührt und beschäftigt habe, während es ihn in Wahrheit nicht beschäftigt hat. Haben wir also guten Grund, auf eine Geschichte des Kammergerichtes zu verzichten, so ist doch der Zustand, wie ihn Goethe bei seinem Eintritt vorfand, kurz zu charakterisieren.
Es war ein in manchem Betracht kritischer Moment für das Gericht, als Goethe nach Wetzlar kam. Einmal war seit fünf Jahren die außerordentliche Kammergerichts-Visitation thätig, welche auf Grund eines Regensburger Reichsgutachtens vom Jahre 1766 vom Kaiser Joseph II. , aus dessen Initiative die endliche Ausführung der längst beabsichtigten Maßregel floß, beschlossen worden war.[37]
Der neue Kaiser, überallhin großer Entwürfe voll, wollte auch die Reichsjustiz, die arg verfallene, wieder heben und beleben. Denn er erkannte mit Recht in der Pflege auch dieses Zentralpunktes eine Kräftigung der Reichseinheit überhaupt. So war es wie geschichtliche Ironie, daß das Kammergericht, das bei seiner Gründung von dem deutschen König eher als Eingriff in seine Autorität mit Abneigung behandelt worden war, nun als Stütze der kaiserlichen Stellung erschien. In der That bot sich hier für den Kaiser, der nach Antritt der Reichsregierung kein anderes Feld der Thätigkeit für das Reichsganze vorfand, eine Gelegenheit, dem kaiserlichen Amt und Titel einen wirklichen Inhalt zu geben. Mit Reformversuchen am Reichshofrat hatte er begonnen, freilich ohne durchgreifen zu können; daran schlossen sich alsbald die Schritte gegen die Gebrechen und Mißbräuche am Reichs-Kammergericht. Eine solche Stütze für die kaiserliche Stellung war um so notwendiger, als der kaum vergangene siebenjährige Krieg das Reich in zwei Heerlager auseinandergeworfen und dadurch die zentrale Kraft und das Ansehen des habsburg-lothringischen Hauses geschwächt hatte. Aber die Hauptkräfte damals im Reiche waren gerade die zentrifugalen, und so war es nur natürlich, daß das Reichsgericht bei den Territorialstaaten, die gerade in der Emanzipation vom Reiche ihr Interesse und ihre Zukunft sahen, keineswegs populär war.
Das Verhältnis des Kaisers und der Hauptstände zum höchsten Reichsgericht hatte sich also gerade umgekehrt. Zu dem Kaiser und seinen Reformideen standen die geistlichen und katholischen Kurfürsten, die Reichsstädte, eine Reihe süddeutscher Kleinstaaten; aber der Fortschritt, das wirkliche Streben lag dort nicht, sondern in den Staaten des norddeutschen Protestantismus, in Preußen und Hannover, die zu Großstaaten ausgewachsen waren oder sich an Großmächte anlehnten. Am Reichs[38]-Kammergericht stießen die Reformideen noch auf weit spröderen Widerstand, als bei dem Reichshofrat. Dieser stand in persönlicher Abhängigkeit vom Reichsoberhaupt, die Mitglieder des Kammergerichts aber wurden großenteils von den Reichsständen ernannt und besoldet, der Kaiser hatte nur den Kammerrichter, dessen Stellvertreter und einen Beisitzer zu ernennen. Die größeren Reichsstände aber hatten kein Interesse daran, das an sich so großartige Rechtsinstitut, durch welches jede Rechtskränkung teils der Landesherren unter einander, teils der Unterthanen gegenüber den Landesherren ohne unmittelbares Eingreifen der kaiserlichen Autorität verhütet werden sollte, bei Ehren und Ansehen zu erhalten. Sie pflegten ihre eigenen Hof- und Appellationsgerichte; das Reichsgericht, gerade weil es sie selbst vor sein Forum zog, war ihnen unbequem, daher die Verwahrlosung. Nur die kleinen Stände zeigten zum Teil reichspatriotischen Eifer. — Der jammervolle Zustand, in welchen das höchste Reichsgericht geraten war, kam vor allem von dem Geldmangel und der ständischen Knickerei, wodurch eine ausreichende Besetzung, Normierung und Dotierung, ja die Herrichtung eines würdigen Obdachs, unmöglich oder Jahrzehnte lang verzögert wurde. Bei Goethes Eintritt hatte das Kammergericht nur 17 Assessoren, während der Osnabrücker Friede die Zahl der Beisitzer auf 50, die der Präsidenten auf 4, und zwar pares numero utriusque religionis, festgesetzt hatte. Die Folge war, daß die Zahl der unerledigten Prozesse ins unglaubliche stieg, und die Aussicht, dies Chaos zu ordnen, immer dunkler wurde. Die entmutigende Erfahrung drängte sich immer stärker auf, daß ein Gericht für die Bedürfnisse des Reichs überhaupt unzureichend war.
So betrug im Jahre 1772 die Zahl dieser Prozesse 16,233. Die Unmöglichkeit, das vorliegende und progressiv wachsende Material zu bewältigen, und die Erfahrung, daß nach mühevollem Bearbeiten und schwieriger Entscheidung die Urteile nicht immer[39] ausgelöst wurden, hatten zu der mißlichen Praxis geführt, nur solche Prozesse zu erledigen, auf deren Betrieb die Parteien selbst drangen. Dieses Drängen der »Sollicitanten« aber war von Geldspenden begleitet, die bei der Abhängigkeit des Einkommens der Richter von den eingehenden Gebühren unbedenklich angenommen wurden. Die Reichsdeputation, in fünf Klassen geteilt, sollte jedesmal durch 24 Abgeordnete an Ort und Stelle in Wetzlar die Prozesse revidieren, die Gebrechen des Gerichtshofes untersuchen und einen Entwurf zur Reform abfassen. Daß diese große Visitation während der neun Jahre ihres Zusammenseins so wenig ausrichtete, lag teils in der Übereilung, mit welcher — ganz im Geist und Stil josephinischer Reformen — das verwickelte Geschäft eingeleitet und betrieben wurde, teils wieder in der großen Langsamkeit, mit welcher an Ort und Stelle verfahren wurde. Am 21. Mai 1767 war der Visitationskongreß eröffnet worden, zwei Monate später fand die Verpflichtung der Subdelegierten der Reichsstände durch die kaiserlichen Kommissarien statt, dann verstrichen anderthalb Jahre, ehe man mit der ernstlichen Untersuchung der Personalgebrechen des Kammergerichtes begann. So mußte die erste Klasse der Visitationsgesandten, die schon 1768 von der zweiten abgelöst werden sollte, bis zum Herbst 1774 zusammenbleiben. Und dieser Schneckengang wurde auch ferner bei der Visitation festgehalten. Es waren also außerordentliche Verhältnisse, die den jungen Praktikanten empfingen; günstige insofern, als das Personal dadurch mannichfaltiger und interessanter wurde, da sich sittliche Kontraste mit fast dramatischem Interesse zwischen dem »richtenden und gerichteten Gericht« dem Beobachter darstellten. Allerdings betonen und wiederholen wir, daß es keineswegs bloß jenes »traurige Bild« des Moments war, das den Dichter abschreckte, »tiefer in ein Geschäft einzugehen, das, an sich selbst verwickelt, nun gar durch Unthaten so verworren erschien«. Goethe war, und[40] ganz begreiflich, der Sache überhaupt abhold. Denn die aktuellen Zustände des Gerichts ließen sich vorher schon von dem nahen Frankfurt aus erkennen; und zu lernen war, da das Gericht immerhin in Thätigkeit blieb, Anlaß genug. Ungünstig waren die Verhältnisse, da der ruhige Rechtsgang und die Gelegenheit, diesen kennen zu lernen, hierdurch gestört ward und vielfach Unruhe und Erregung an die Stelle traten. Freilich hatte sich der Visitationskongreß zu zwei wirksamen Schritten ermannt. Im Frühjahr 1771 war ein Frankfurter Schutzjude, Nathan Aaron Wetzlar, wegen schnöder Justizmäklerei verhaftet worden, und im Juni des nämlichen Jahres folgte die Verhaftung der drei hochadeligen Kammergerichts-Beisitzer, der Freiherren v. Reuß (genannt Haberkorn), v. Pape (genannt v. Papius), und v. Nettelbla, denen wegen schlimmster Bestechung der Prozeß gemacht wurde. Und einer der infam kassierten Assessoren trieb die Frechheit so weit, daß er die Annahme von Geschenken in einer gedruckten Schrift verteidigte. Im Anschluß an die gemachten Erfahrungen wurden die Mißbräuche der Sollicitatur abgestellt und die Geheimhaltung der Reformen anbefohlen. Der andere Schritt war die endlich durchgesetzte Vermehrung der Richterstellen, die Anfang 1772 vor den Regensburger Reichstag gebracht wurde, der nach fast vierjährigem Warten dahin schlüssig wurde, das Richterkollegium auf 25 Mitglieder zu vermehren.
Aber während so die Visitation, wenn auch nach der alten Reichsdevise: festina lente, wirkliche Lebenszeichen zu geben begann, geriet sie selbst in die Gefahr, in Zwietracht unverrichteter Dinge auseinanderzugehen. Diese Krisis war wenige Wochen vor Goethes Ankunft in Wetzlar eingetreten. Unter den Mitgliedern des Visitationskongresses trat durch Geschäftstüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit der herzoglich bremische Subdelegierte, Hofrat J.Ph. Falcke, hervor. Er galt für den[41] ersten Juristen des Kongresses und war als scharfer Gegner der bequemen Lässigkeit namentlich von seinen katholischen Kollegen, voran von dem damaligen kaiserlichen Prinzipalkommissarius Grafen Colloredo und Waldsee selbst, gefürchtet und gehaßt. Aber, wie es in einem Briefe des jungen Jerusalem heißt, seine juristische Überlegenheit und penible Gründlichkeit hatte auch die Jalousie »aller Protestanten« gegen sich. Auch an sittlichem Mut fehlte es ihm nicht, um so weniger, als sein amtliches Selbstgefühl durch das Bewußtsein, das Organ eines Souveräns zu sein, der zugleich Regent einer der ersten Großmächte war, mächtig gehoben wurde. Dieser, Korreferent in einer Sache, wo der kurtrierische Subdelegierte Referent war, flocht starke Ausfälle und Verdächtigungen gegen diejenigen Visitationsmitglieder ein, die nur mit Widerstreben dem Vorgehen gegen jene pflichtvergessenen Beisitzer zugestimmt hatten. Die Erregung des Ehrenmannes spiegelt sich auch in dem religiösen Gepräge, das er seinen Äußerungen aufdrückt. Es seien »alle menschmögliche visitationswidrige Künste und Vorspiegelungen angewandt worden, um dieses durch den Beistand der göttlichen Vorsehung zustande gebrachte Werk und die pflichtmäßige Beförderung desselben zu hintertreiben. Über eine so unwürdige Gesinnung müsse jeder patriotische Justizeiferer, von Verdruß und Abscheu hingerissen, erzittern. Von den dabei gebrauchten geheimen Künsten seien nur die Wirkungen zu spüren gewesen. Vielleicht würden sie, zu ihrer Stunde, noch in dieser Zeitlichkeit an den Tag kommen, wenigstens aber dereinst am Tage des allgemeinen Weltgerichts den in das Innerste der Herzen dringenden Augen des Weltrichters unverborgen erscheinen, dann in ihrer Abscheulichkeit entdeckt, und auf der Stelle mit dem dafür gebührenden Lohne vergolten werden.« Diese Invektiven, die der Urheber sich weigerte zu Protokoll zu geben oder dem Kongresse zur näheren Einsicht vorzulegen, führten schließlich zu einer Erklärung des[42] kurmainzischen Direktoriums, die kaiserlichen Kommissarien und mehrere Visitationsmitglieder sähen sich unter diesen Umständen verhindert, mit dem herzoglich bremischen Subdelegierten fortan in dem Kongresse zu sitzen. So entstand eine Scheidung fast genau nach der Konfession. Das ganze Visitationswerk schien gescheitert; erst nach Goethes Entfernung von Wetzlar, Ende Januar 1773, gelang es, durch eine Erklärung des ersten Veranlassers den Frieden wiederherzustellen und das gemeinsame Weiterarbeiten zu ermöglichen. Während der ganzen Dauer aber von Goethes Verweilen am Reichs-Kammergericht stockte das Visitationsgeschäft.
Man muß sagen: sowohl die Gründe, die dasselbe nötig gemacht, wie das Geschäft selbst, führten nach wenigen Jahren in immer weiteren Kreisen zu einer bedenklichen Diskreditierung des ganzen Instituts. Das kaiserliche Edikt hatte Großes angekündigt, hohe Erwartungen rege gemacht, alle Welt hatte den Kaiser, diesen Hort der Gerechtigkeit, gepriesen, und von der Wiedergeburt jenes »Palladiums der deutschen Freiheit« goldne Tage geordneter Rechtszustände erwartet. Und nun um so ärgere Enttäuschung! Die Schäden lagen aufgedeckt, der Glaube versagte, daß die Heilung für die Zukunft gefunden sei. Die stärkeren Freiheitsregungen der nächstfolgenden Zeit übten auch an dem ehrwürdigen Tribunal ihre rückhaltlose Kritik. »Das Kammergericht, sagte eine Broschüre von 1787, dieser Sitz der Parteilichkeit, der Bestechung, der Schikane, der endlosen Vorenthaltung des Rechts, wird noch immer für das Palladium der deutschen Freiheit gehalten. Man sehe, wie bemittelte Personen eilen, nach Wetzlar zu kommen, ihren Sachen Aufenthalt oder Wendung zu verschaffen; wie die Parteien laufen, vom Referenten zu erfahren, wie alt Streitigkeiten geworden sind. Die[43] einzige Regel des Rechts, die in Wetzlar gilt, ist: beati possidentes.« — Es ist charakteristisch, daß dieselbe Schrift, die sich gegen das alte Reichsinstitut richtet, noch weiter geht und die Frage, ob auch die Wahl eines Reichsoberhauptes noch zweckdienlich, ob der Reichsverband überhaupt haltbar sei, prüft und mit einem runden Nein beantwortet.
Solche Stimmungen wagten sich zu Goethes Zeit noch nicht hervor, die Keime aber auch dazu waren genugsam vorhanden. Auch in Goethes Freundeskreis, wenn sie auch dort über die Linie der Ironie oder der Gleichgültigkeit kaum hinausgingen. Wir werden hierauf zurückkommen. Von Goethe selbst könnte man voraussetzen, daß er als Dichter an dem Labyrinthischen des Reichsprozesses mit dem grauen Hintergrund und Halbdunkel althistorischer Entwickelung eine Art romantischen Interesses genommen hätte, wie denn nach eigener Versicherung (wie wir oben sahen) »Götz« und das Kammergericht nach Idee und Ursprung sich vielfach in ihm berührten.
Allein jene Romantik übertrug sich ihm doch nicht auf die Wirklichkeit. Goethes Wesen drang auf Klarheit, Einfachheit, Durchsichtigkeit und Übersichtlichkeit, auf plastische Faßbarkeit. Das mephistophelische Verdikt über die sich forterbende Krankheit von Gesetz und Rechten, so wie das »garstige, politische Lied« vom »lieben heiligen Römischen Reich« in Auerbachs Keller gehen gewiß auch auf reichskammergerichtliche Eindrücke zurück und sprechen des Dichters eigenes Bekenntnis aus. Und mit dem Lichtvollen seiner intellektuellen Natur stimmte die ethische Klarheit, die sich von der förmlichen, scheinhaften, alles verschleifenden Rechtspraxis und von den verdrehenden und ausweichenden Fechterstreichen angewidert fühlte. Schon in den Anfängen seiner Frankfurter Advokatur zeigt sich dieser präcise Sinn, das Betonen der Rechtsprinzipien statt der Vorschriften des positiven Rechtes, in dem er wenig heimisch war, aber auch das Geltend[44]machen rein menschlicher Stimmungen in den Anreden an die Richter. Bestand also wirklich in den Wünschen des Vaters das Projekt, dem Sohne in Wetzlar eventuell eine dauernde Stätte am Reichs-Kammergerichte anzubahnen, so ward der letztere vis-à-vis der wirklichen Verhältnisse um so gründlicher von dieser Idee kuriert.
Schon in seiner Vaterstadt war ihm die Reichsromantik und der Reichszopf verleidet; die Wetzlarer Erfahrungen steigerten diese Stimmung, und der Dichter folgte nur seiner Natur, wenn er drei Jahre später sich von einem kleinen Territorialstaat, in welchem das moderne fortschreitende Leben pulsierte, dauernd fesseln ließ.
Um die Mitte des Mai 1772 — die genaue Bestimmung des Tages ist nicht mehr möglich — fuhr der Dichter in die engen Gassen der Reichsstadt ein. Seine Stimmung wußte wenig von frohem Erwarten der kommenden Dinge, er war gedrückt, verstimmt ob des Vielen, was er in Frankfurt, Darmstadt, Homburg hinter sich gelassen hatte, und angesichts der unwillkommenen juristischen Praxis, der er wie einer aufgedrungenen Zwangsanstalt entgegenging. Freilich behielt er — wie wir schon sahen — dieser Aussicht gegenüber seine eigenen freien Gedanken in petto. Noch auf der Fahrt, so scheint es, befaßte er sich mit den Liedern, die er wenige Tage darauf gefeilt an die Dreizahl seiner Freundinnen dort abschickte. Und er schrieb dazu an Lila, er fühle sich an dem neuen Orte »einsam, öde und leer«. Es war ein poetisches Vermächtnis an den ihm so lieben Kreis und ein sichtbares Band bis zum Wiedersehen. Sein Quartier fand Goethe in der engen, schmutzigen Gewandsgasse, in die weder Sonne noch Mond hineinschien. Das ziemlich große Haus lag auf der linken Straßenseite, wenn man vom nahen Kornmarkt einbiegt, und ist jetzt, wo es ein Jude J. Thalberg inne hat, mit einer Gedenktafel versehen, die zugleich die Stelle von Goethes Wohn[46]räumen im zweiten Stockwerk anzeigt. Die trübselige Lage des Hauses gemahnt in nichts an eine Dichterherberge. Eben darum ist es kaum glaublich, daß er selbst sich dies Haus ausgesucht hat, wiewohl die Auswahl von Wohnungen in der während der Visitationszeit überfüllten Stadt gewiß nicht gar groß war. Es ist um so eher zu vermuten, daß des Dichters Großtante, die Geheimrätin Lange, die Zimmer gemietet hatte, weil sie in unmittelbarer Nähe von deren Wohnung gelegen waren. Diese Tante, die der Dichter besser fand als ihr Ruf (die jüngste Tochter des Prokurators und Advokaten Dr. Lindheimer, die Schwester von Goethes Mutter), wohnte an der Ecke der Gewandsgasse und des Kornmarktes. Da nun nahe dabei im Gasthof »zum Kronprinzen« der Dichter seinen Mittagstisch und überhaupt den Mittelpunkt seiner Jugendgeselligkeit fand, so konnte er mit dreihundert Schritten den ganzen Kreis umschreiten, den er zunächst zu durchmessen hatte. Aber auch später, nachdem er im »Deutschen Hause« Fuß gefaßt hatte, lagen seine Ziele ganz nahe. Die ersten Eindrücke des neuen Domizils waren wenig befriedigend, wenig verheißend. Statt der Dreizahl der Darmstädter Freundinnen mit dem Zauber, der von ihnen ausging, die alte Großtante mit ihren beiden kaum erwachsenen Töchtern, die durchaus keine Anziehungskraft übten, die der verwöhnte Vetter, vollends nachdem ihm ein anderer Stern aufgegangen war, stark links liegen ließ. Den Sohn erster Ehe dieser Tante, den Hofrat Dietz, fand Goethe bald auch im Buffschen Hause, aus dem jener später die älteste Tochter Karoline heimführte.
Das gesellige Hauptquartier also für die Jugend des Reichs-Kammergerichtes lag im »Kronprinzen«, dem an der Ecke des Buttermarktes, des größten Platzes der Stadt, gelegenen Gasthofe, mit dem Blick auf den hochragenden Dom. Dort aß Goethe zu Mittag inmitten der jungen Praktikanten, Legationssekretäre u.s.w. Sogar das Faktotum des Gasthofs, »des Kronprinzen Kaspar«, wird in den[47] Wertherbriefen auf die Nachwelt gebracht. Dort fand der Dichter einen zahlreichen Kreis junger Männer, die meisten frisch aus der Studienzeit, manche auf der nämlichen Hochschule gebildet und von dort her schon befreundet. Goethe aber kannte nur wenige schon von der Universität her, intim keinen einzigen. Es waren Born, Sohn des Bürgermeisters von Leipzig, und Jerusalem, der Sohn des Abtes in Braunschweig, der aber damals nicht mehr mit an der Tafelrunde aß. Aus der Straßburger Zeit, der Krisis seiner Studienjahre, traf er keinen Genossen. Bald indes bemächtigten sich seiner die Litteraten in dem Kreise oder litterarischen Dilettanten. Es war bald verraten — vielleicht aus dem Hause der Großtante —, daß auch er zu der Zunft gehöre, wenn auch noch wenig von ihm das Licht der Welt erblickt hatte. Namentlich war seine Mitarbeit an den Frankfurter Gelehrten Anzeigen, auf die wir zurückkommen, ruchbar geworden. Der Vereinigungspunkt der litterarischen, wie der unlitterarischen Jugend war aber jene ritterliche Tafelrunde im »Kronprinzen«, von der Goethe selbst in »Wahrheit und Dichtung« so heiter berichtet. Obenan saß der Heermeister, ihm zur Seite der Kanzler und die einzelnen Staatsbeamten; es folgten die Ritter nach ihrer Anciennität, Fremde saßen zuunterst. Ritterlicher Jargon, Ritternamen und der Ritterschlag mit Symbolen, die verschiedenen Ritterorden entlehnt waren, fehlten nicht. Etwas von mittelalterlicher Luft wehte ja ohnehin um die alte Reichsstadt, und durch das Reichsgericht strich auch kein frischer Luftzug. Die Donquixoterie setzte sich auch außerhalb des Wirtssaales auf Ausflügen fort, wo man eine Mühle wohl als Ritterburg, den Müller als Burgherrn behandelte. Die Liste der Ritter wurde gedruckt, nobel wie ein Reichstags-Kalender, und man fahndete mit Vorliebe nach Rekrutierung aus solchen Familien, die den Orden zu verspotten wagten. Als jugendliches Possenspiel würde das Treiben kaum der Erwähnung wert sein, wenn es nicht den Geist und Ton dieser Jugend[48] des höchsten Reichsgerichtes charakterisierte. Zunächst ein Zeitvertreib für eine fast arbeitslose und übermütige Jugend, hatte die Posse doch auch einen ernsteren, aber bedenklichen Hintergrund. Freilich ging der »erhabene Orden« angeblich auf »Verteidigung des Rechts, die Rettung der unterdrückten Unschuld«, aber zugrunde lag doch die Stimmung der Ironie, die das Gefühl der Autorität und Pietät dem morschen Reiche und seinem Institute gegenüber verloren hatte. Alsbald nach dem Beginne der Visitation scheint der karikirende Scherz begonnen zu haben, aber nicht sofort nahm er die romantische Gestalt einer Rittertafel an. Vielmehr war es zuerst eine moderne Staatsfiktion, die dem Spiel zugrunde lag. Fast vergleichbar dem späteren studentischen Bierstaat in Jena stand ein Rochus, Fürst zu Bunpfskowitz, souveräner Herzog zu Prohsutz u.s.w., an der Spitze, ihm zur Seite ein Großkanzler, Minister und der weitere Apparat einer Verwaltung, deren bürgerliche Träger freigebig mit Adelstiteln ausgestattet wurden. Der poetischere Anstrich einer Rittertafel trat erst später hinzu, vielleicht weil jene unmittelbarere Karikatur doch Bedenken und Anstoß erregt hatte. Schon vor Goethes Eintritt hatten die einzelnen Genossen der Tafelrunde Ritternamen erhalten, von denen uns in Goués »Masuren« noch eine ganze Reihe erhalten ist. Da erscheinen die Windsex, St. Amand, Fayel, Reinald, Preux, Bergy, Bomirsky, Masuren, Rhetel, Warwick, Carl Vaudrai, Couci, Levis, Lusignan, zu denen als Abwesende noch erwähnt werden Stormont, Longchamps, Pembrocke u.a. Ihre Deutung ist unsicher; nur Couci ist zweifellos Goué, Fayel: Gotter, Masuren: Jerusalem. Goethe hieß bekanntlich Götz von Berlichingen der Redliche. Er entwarf selbst Perikopen aus den Haimonskindern, um sich den neuen Freunden gefällig zu erweisen. Überhaupt war er kein Spielverderber. Aber wenn er auch zeitweise mitspielte, er lebte doch ein zu tiefes und reiches, ein zu eigenartiges inneres Leben, um mehr als flüchtig sich[49] von dem Possenspiel berühren zu lassen. Bald, als ihm andere, fesselndere Interessen entgegengetreten waren, erlosch völlig die Lust an der Sache; er hatte dergleichen Narreteidinge schon in Leipzig genugsam durchlebt und verlangte nach anderer Nahrung. Beliebt war der schöne, liebenswürdige und geistsprudelnde Jüngling bei allen, obwohl er rückhaltlos und rücksichtslos sich und seine Art geltend machte. »Wenn man Euch böse seyn könnte!« — ruft Fayel (Gotter) dem Ritter Götz in »Masuren« zu. Aus diesem weiteren Kreise sonderte sich nun ein engerer aus, mit dem Goethe vornehmlich verkehrte. Voran stehen sowohl nach dem Bericht in »Wahrheit und Dichtung«, wie in Goethes eigenhändigem biographischen Schema die Namen »Goue Gotter« (sic). Für ein Originalgenie darunter galt der Hildesheimer August Siegfried v. Goué, »die eigentliche Seele des wunderlichen Ritterbundes«, wenn auch nicht als »Heermeister« formell an der Spitze. Nur vor Goethes hellerem Auge hielt diese vermeintliche Genialität nicht Stich. Goué war braunschweig-wolfenbüttelscher Legationssekretär, vordem Hofgerichts-Assessor in Braunschweig; er stammte aus einer französischen Familie, sein Vater war (damals verabschiedeter) Oberstlieutenant, doch munkelte man von illegitimer Herkunft, und der seltsame Mensch liebte es, diesen mystischen Schleier über seinem Ursprung und seiner Person liegen zu lassen. Meist still in sich gekehrt, trug er ein gewisses geheimnisvolles Wesen vor sich her. Schon sein Äußeres war auffallend, — »eine derbe, breite, hannöverische Figur«, wie ihn Goethe nennt. Ziemlich groß und stark, hatte er wohlgebildete Züge, Gestalt und Haltung aber erschienen — die Folge eines Stichs in die linke Seite beim Duell — nachlässig und bäurisch. Man traute ihm große Gutmütigkeit zu. Er war vermählt, lebte aber getrennt von seiner Frau, mit der er sich erst nach seinem Wetzlarer Aufenthalte wieder zusammenfand. Es fehlte dem schrullenhaften Sonderling ganz und gar an ernsten Lebenszwecken; sein[50] Amt behandelte er mit Leichtsinn, und es trug gewiß nicht bloß die Verkehrtheit seines Gesandten, der auch der Chef des jungen Jerusalem war, die Schuld an dem Mißverhältnis, dem Goué sogar in einer seiner poetischen Mißgeburten, dem Doppelgänger des »Werther«, »Masuren«, grellen Ausdruck gab. Was man als vorübergehende Spielerei nahm, das galt ihm als Hauptzweck und wurde mit Scheinernst betrieben. Doch war es »ihm bloß zu thun, die Langeweile, die er und seine Kollegen bei dem verzögerten Geschäfte empfinden mußten, zu erheitern und den leeren Raum, wäre es auch nur mit Spinngewebe, auszufüllen«. Seine Art erkennen wir auch in dem philosophischen Orden, von dem Goethe berichtet, in dem der erste Grad der Übergang, der zweite des Übergangs Übergang, der dritte der Übergang des Übergangs zum Übergang u.s.w. hieß, und die Eingeweihten nach einem gedruckten Büchlein den Unsinn auszulegen hatten. Wenn Goethe im »Werther« (17. Mai) von »verzerrten Originalen« redet, die ihm »in den Weg gelaufen« und »an denen alles unausstehlich« gewesen, »am unerträglichsten ihre Freundschaftsbezeugungen«, so ist es kaum fraglich, daß ihm allein oder vorzugsweise der barocke und allezeit verschuldete und verbummelte Goué vorgeschwebt hat. Leider hat sich dieser wider allen Beruf auch in die schöne Litteratur eingedrängt. Sein Los als Dichter ist wohlverdiente Vergessenheit. Eine Anzahl seiner Sachen und Sächelchen hat gerade zu Wetzlar in zwiefachem Sinne, dem Ursprung nach und als Druckschrift, das Licht der Welt erblickt. So ist das Trauerspiel »Donna Diana« (1763), so »Der höhere Ruf«, so »Der Einsiedler und Dido; zwey Duodramata« (1771) in Wetzlar entstanden und in der reichsstädtischen Buchhandlung von G.F. Winkler erschienen. Eines seiner Stücke, der erwähnte »Masuren«, gehört bekanntlich zu den Dokumenten der Wertherperiode, aus denen einzelne historische Züge zu entnehmen sind. Es ist ein dramatischer Doppelgänger oder eine dramatische[51] Travestie des Werther, demselben Kitzel, zu mystifizieren, entsprungen wie so manche Streiche in Goués schnurrenreichem Leben. Das Stück ist, wie die »Vorerinnerung« sagt, aus dem Illyrischen übersetzt, aus einem Manuskript, das der Übersetzer, der pseudonyme Friedrich Bertram aus Siebenbürgen, angeblich in Böhmen gefunden. Der Stoff des Dramas sei einem Vorfall in Warschau entnommen. Erst auf der Durchreise in Leipzig fand der Übersetzer, daß derselbe mit den eben erschienenen »Leiden des jungen Werther« eine merkwürdige Familienähnlichkeit habe. Er hoffte: »Der edle Teute, der den Namen Werther einem Buche gab, in dem er seiner Nation viel Großes und Herrliches sagte, werde es gestatten, daß ihn auch dermalen ein Jüngling führe, über dessen trauriges Verhängnis die Zähren aller gefühlvollen Seelen in Warschau flossen.« — Es wird glaubwürdig versichert, die Illyrier wüßten von »den schweren Fesseln der (aristotelischen) Einheiten« nichts. Das fessellose Stück hilft sich mit drei Tagen. Wie Warschau Wetzlar, so ist die Hauptscene des poetisch unqualifizierbaren Stücks der »Gasthof zum Prinzen Casimir« der uns schon bekannte »Kronprinz«. Jener Rittertafel und sich selbst ein Denkmal zu setzen, Jerusalems (Masurens) Selbstmord aber nicht bloß aus erotischen Motiven, sondern aus den Quälereien seines Chefs zu erklären und diesen an den Pranger zu stellen, das sind die Triebfedern dieses dramatischen Wirrwarrs.
Galt Goué auch als Philosoph unter den Freunden, so wird es mit seiner »Philosophie« eine ähnliche Bewandtnis gehabt haben wie mit seiner Poesie. Er galt als »Epikuräer« und war — ein Bummler. Es ist ein Stammbuchblatt an Kestner erhalten, worin er von Cynismus oder Stoa als Quelle der niedergelegten Weisheit faselt:
[52]Etwas aus der cynischen oder stoischen Philosophie! Ich weiß nicht, ob Du die Grundsätze richtig finden wirst. Es mag drum sein! Nur bitte ich, nicht an meiner ewigen Ergebenheit und Freundschaft zu zweifeln.
August Siegfried v. Goué.
Wetzlar, den 20. Sept. 1770.«
Im August 1772 — so scheint es — verließ Goué Wetzlar, geriet aber bald darauf in Cassel in Schuldhaft, und es kam das Gerücht auf, wie er selbst meinte, von seinem Gesandten in Wetzlar boshaft ersonnen und schadenfroh verbreitet, er habe sich selbst das Leben genommen. Es lag eine Verwechselung mit einem Göttinger Studenten zugrunde. Gegen Ende Oktober verließ er Cassel, um nach Straßburg, später nach Regensburg zu gehen, — »absolument changé à son avantage«, versichert Kestners Tagebuch. Aus seinen litterarischen Versuchen jener Jahre, die sich nicht bloß an »Gedanken von Monarchie und Republik« (1775) wagen, sondern sogar »Einige Heilswahrheiten« (1774) behandeln, sollte man es vermuten. Aber seine ferneren Lebensspuren, die nicht mehr in den Rahmen dieser Schrift fallen, zeigen wenig von diesem changement absolu; sie endeten abenteuerlich genug in Bentheim-Steinfurt, wo er 1789 starb. In dieser späteren Zeit besonders hat er sich auch als eifriger Maurer — auch schriftstellerisch — bethätigt. Mit Goethe vollends war nach der Wetzlarer Zeit alle unmittelbare Verbindung abgeschnitten, und die Art, wie Goué in seinem »Masuren« den Werther-Faden weiterspann, konnte dem Dichter keine Lust machen, die Fühlung zu erhalten.
Wenn Goué den Dichter durch gehaltlos-barockes Wesen[53] bald abstieß, so wurde doch auch F.W. Gotter, der ihm durch das gemeinsame poetische Metier am nächsten stand, bald zu leicht befunden. Noch in seiner Leipziger Periode würde er dem Dichter genügt haben, denn damals fanden sich Anknüpfungspunkte, und die »Mitschuldigen« aus jener Periode blieben stets ein Lieblingsstück Gotters. Jetzt aber sah Goethe in Gotter wie im Spiegel die Züge seiner eigenen längst überwundenen und verurteilten Vergangenheit. Seitdem Goethe in Straßburg und Frankfurt den großen Schritt gethan hatte, der ihn über die veraltete Litteraturrichtung, über Weiße, Jacobi, Gleim, Wieland hinaus zu völlig neuen Zielen und zugleich zu sich selbst geführt hatte, seitdem konnte ihm das leichte Formtalent und die französierende Gewandtheit Gotters doch nur hohl und gehaltlos erscheinen. Seine Art und Kunst stellte diesen zu den Poeten der alten Schule, über die Herder in Straßburg sein für Goethe entscheidendes Verdammungsurteil gesprochen hatte. Es ist bekannt, daß, während Goethe schon in Straßburg den französischen Sympathieen abgesagt hatte, Gotter, schon als Jüngling schreibend und sprechend ein fix- und fertiger Franzose, die alte Vorliebe festhielt und der aufsteigenden vaterländischen Litteratur die Zierlichkeit und den Reiz der französischen zueignen wollte. Er brachte es sogar bis zu französischen Sonetten, und mit diesem Anschmiegen an fremde Sprache und Form steht seine formale Leichtigkeit in der Muttersprache in Verbindung. Ein allzeit fertiger Reimer und Improvisator, Meister poetischer Tischreden, fand er, wenngleich auch zum zierlichen Lied und zum Lehrgedicht im Stile der Zeit aufgelegt, doch im Theater vor allem und in dramatischer Poesie seinen Schwerpunkt. Mit der berühmten Trias der deutschen Bühne des vorigen Jahrhunderts, mit Eckhof, Schroeder und Iffland, brachte ihn seine erklärte Vorliebe in nahe Beziehung. Künstlerisch Haltbares und Dauerndes hat er auch hier nicht geschaffen, über einen[54] dramatischen Dilettantismus ist er auch hier nicht hinausgekommen. Voltaire war sein Held. Seinem Voltaire stellte sich Goethes »Rousseau« entgegen. Wer aber von diesen beiden die größere Fühlung mit dem deutschen Geistesbedürfnis hatte, ist allbekannt. Frau v. Staël zählt Rousseau geradezu einer école germanique zu (Allem. II, ch. 1). Menschlich angesehen war Gotter keine kraftvolle Natur, aber der gesellige und liebenswürdige Thüringer, nicht ohne Witz und feine Spottsucht, doch sittenstreng und mit einem schönen Sinn für Häuslichkeit und Einfachheit des Lebens. Stete Brustleiden hemmten sein Streben. Sehen wir das Verhältnis beider Dichter nur im Wiederschein von »Wahrheit und Dichtung«, so erscheint dasselbe in rosigerem Lichte als in der Wirklichkeit. »Es war mir höchst lieb«, so schreibt Goethe, »Gottern gefunden zu haben, der sich mit aufrichtiger Neigung an mich schloß, und dem ich ein herzliches Wohlwollen erwiderte. Sein Sinn war zart, klar und heiter, sein Talent geübt und geregelt; er befleißigte sich der französischen Eleganz und freute sich des Teils der englischen Litteratur, der sich mit sittlichen und angenehmen Gegenständen beschäftigt. Wir brachten viele vergnügte Stunden zusammen zu, in welchen wir uns wechselseitig unsere Kenntnisse, Vorsätze und Neigungen mitteilten. Er regte mich zu manchen kleinen Arbeiten an u.s.w.« — Es mag wahr sein, was Goethe aus der Erinnerung berichtet, daß sie vielfach ihre poetischen Pläne in Wetzlar ausgetauscht und durch ästhetische Theorieen und Spekulationen vergeblich die Gesetze der Hervorbringung aufzufinden gesucht haben, vielleicht auch, obwohl sich die Früchte nicht nachweisen lassen, daß ihn Gotter »zu manchen kleinen Arbeiten angeregt« habe; aber aus den gleichzeitigen Dokumenten geht doch hervor, daß Goethe damals mancherlei Anstoß an dem Dichter genommen habe. So nennt er ihn einen »schielenden Menschen« und setzt hinzu: »sein gutes Herz — ja, die guten[55] Herzen, ich kenne das Pack«, und aus späterer Zeit ist eine gleichfalls nicht von Liebe eingegebene Briefstelle an Kestner ohne Frage auch auf Gotter zu deuten, wenn auch dazwischen nach einem Besuche Gotters in Frankfurt sich sympathischere Äußerungen finden. Es scheint in der That, daß die spätere Rückerinnerung unter dem Einfluß der Sympathie stand, die Goethe für Gotters Tochter Pauline, Schellings zweite Gattin, hegte. Gotter war damals zum zweitenmal in Wetzlar; zuerst seit dem Frühjahr 1767, wo er dem gothaischen Delegierten zur Kammergerichts-Visitation, dem Freiherrn v. Gemmingen, als Legationssekretär beigegeben war. Dann zog er noch einmal und auf anderthalb Jahre in seine alte Universitätsstadt Göttingen als Hofmeister zweier junger Edelleute, der Barone Rische aus Wien. Während dieses zweiten Aufenthaltes war es, daß er mit H.Chr. Boie, dem er sich durch die Gleichartigkeit der äußeren Lebensstellung wie durch Geistesverwandtschaft und die Ähnlichkeit der ästhetisch-kritischen Grundsätze nahe fühlte, in einen engen Freundschaftsbund trat. Beide näherten sich auch dem berühmten Heyne und dem Mathematiker und Dichter Kästner. Eine Frucht des Bundes der beiden jungen Dichter war bekanntlich der dem französischen »Almanach de Muses« nachgebildete deutsche »Musenalmanach« auf 1770. So war Gotter, der dem Almanach auch selbst von seinen lyrischen Kleinigkeiten reichlich beigesteuert hatte, schon früh ein öffentlicher Name geworden. Mit diesem Empfehlungsbrief war er, nach einem Zwischenaufenthalt in Leipzig, im Herbst 1770 in seine alte Stellung in Wetzlar zurückgekehrt, wo er nun »eine der glücklichsten Perioden seines Lebens« verlebte. Selbst seine Hauptpassion, die Theaterliebhaberei, fand in dem Reichsstädtchen Nahrung, in dem zeitweise die erste wandernde Gesellschaft der Zeit, die Seylersche Truppe mit Meister Eckhof, mit dem der Theaterfreund par excellence befreundet war, sich dort[56] sehen ließ. Ja auch in der ritterlichen Mummerei glaubt man neben Goués Phantastik und Bretschneiders Humor Gotters Hand zu spüren. Auch scheint er zu Goethes Zeit als Heermeister an der Spitze der Tafelrunde gestanden zu haben. Es konnte nicht ausbleiben, daß Goethes neugewonnene Überzeugungen über echte Poesie sich stoßen mußten mit Gotters Art. Aber der Mächtigere gewann auch, vorübergehend wenigstens, einen Einfluß. Bei Gotters schwächlicher Elasticität, die so leicht fremde Formen auf- und annahm, kam es sogar zu Anwandlungen, sich in die Tonart der neuen Genialität hineinzusetzen. Jene Epistel an Goethe aus dem Sommer 1773 antwortet den hanssachsischen Knittelversen, die den Götz begleitet hatten, in gleichem Stil. Auch der forsche Ton ist imitiert, doch wird dem Dichter die Unmöglichkeit, seinen Ritter salon- und theaterfähig zu machen, kleinlich vorgerückt und der französische Geschmack als der in Gotha herrschende dem derben deutschen gegenübergestellt:
Daß Gotter zwischen den Göttinger Dichtern und Goethe zum Vermittler wurde und somit diesen mit der Klopstockschen Schule und dem Meister selbst in Beziehung setzte, wird uns unten noch begegnen. Die übrigen Glieder jener Rittermaskerade kennen wir entweder nur in dem Inkognito der angenommenen Namen, wie sie uns Goués »Masuren« vorführt, oder unsere Kenntnis geht kaum über eine dürre Nomenklatur ohne die Möglichkeit der Individualisierung hinaus. Durch warme Sympathie hat Goethe ausgezeichnet den Freiherrn Ch.Alb. v. Kielmannsegge aus Mecklenburg, der sich damals längere Zeit als »Sollicitant« eines Familienprozesses am Kammergericht[57] — und mit schließlichem Erfolg — aufhielt. Er war mit Goethe fast gleichzeitig in Wetzlar eingetroffen. Etwas kränklich und hypochondrisch, hatte er einen Zug zur Einsamkeit und stillem Leben in den Wissenschaften. Gleichwohl fehlen, von der nächsten Folgezeit abgesehen, alle ferneren Berührungen zwischen ihm und dem Dichter, und als Goethe seine Selbstbiographie schrieb, war die Erinnerung so weit erblaßt, daß er den Jugendfreund, an die andere Linie der Familie denkend, zum Grafen macht. Aber das hatte doch die dankbare Rückerinnerung festgehalten, daß Kielmannsegge »der ernsteste von allen, höchst tüchtig und zuverlässig« gewesen. Manchmal schickte er »dem braven Kielmannsegg« Grüße von Frankfurt, es war die mannhafte Gediegenheit, der vorurteilslose Sinn für Natureinfalt, die ihm des Dichters Herz gewonnen hatte. Diese vor allen fand doch wohl in der stoischen Philosophie, der er huldigte, ihren Ausdruck. Aber der ersteren, nicht der letzteren galt Goethes Sympathie. Der Adel seines Wesens wie seine Denkkraft und die Verachtung der »Thorheiten und des Pomps der Welt«, sein höchst edles und treues Gemüt wurden auch von anderen gepriesen. Doch auch den Musen stand Kielmannsegge, wenigstens dem empfänglichen Verständnis nach, nicht fern. Er hatte in Göttingen während der Jahre 1770 und 1771 studiert. Mit Bürger und Biester stand er dort in regem Verkehr; Boie war sein Lehrmeister in englischer Sprache und Litteratur, auch, wie Kielmannsegge einmal schreibt, »im Ironischen«. Er nahm lebhaften Anteil an der poetischen Litteratur und vermittelte an Boie (1. Dezember 1773) Goethes warme Äußerungen über den Musenalmanach von 1773; er könne »auf dessen Anteil immer einigen Wert setzen«. Die »kalte Rezension« in den Frankfurter Anzeigen sei gewiß nicht von Goethe. »Vielleicht, aber nur vielleicht schreib' ich Ihnen einmal mehr von ihm.« Bürgers Lob- und Danklied erkennt er in dem Almanach besonders an. Kielmanns[58]egge endete als Mecklenburger Hof- und Landgerichts-Präsident zu Güstrow. Mit Goethe hatten sich die Verkehrsfäden nicht fortgesponnen.
Sonst traten aus dem Wetzlarer Freundeskreis die Namen Born, Dr. Koenig, Falcke, v. Schleinitz, Wanderer, der kurbrandenburgische Legationssekretär Ganz hervor. Des Leipziger Born gedachten wir oben schon als eines Bekannten aus des Dichters erster Universitätszeit. Er lebte nun als von Born, nachdem er sich auf Reisen gebildet hatte, in Wetzlar als Praktikant am Kammergericht, war aber auch accreditiert an der kursächsischen Kanzlei. Daß Goethe diesem auch in Wetzlar nahe blieb, dafür spricht das Vertrauen, das er in seinem Liebesgeheimnis dem alten Kommilitonen vor anderen schenkte, und das Geleite, das Born, der allein in des Dichters Abreiseplan eingeweiht war, dem Scheidenden gab. Auch der junge Jerusalem nennt ihn ausdrücklich Goethes Freund. Born galt für talentvoll und weckte bedeutende Hoffnungen. Kestner notiert in seinem Tagebuch: »C'est un jeune homme d'une grande espérance.«
Dr. Koenig (angeblich ein Mittelding zwischen einem stoischen und epikuräischen Philosophen), die Legationssekretäre Wanderer und Ganz (der erstere ein Hauptleiter, der andere der Ritter Wunibald der Tafelrunde), v. Schleinitz (Jerusalems Jugendfreund), v. Bretschneider bleiben im Hintergrund der Statisten. Deutlicher hebt sich aus Goethes Freundeskreis der junge Falcke ab, Sohn des kurhannöverischen Visitationsgesandten, der uns bald wieder begegnen wird. Der junge E.F.H. Falcke, zwei Jahre jünger als Goethe, war eine frische, lebensfrohe und dabei für alles Poetische empfängliche, für Goethe enthusiastische Natur; in Göttingen hatte auch ihn Boie in die englische Litteratur eingeführt, Bürger war ihm nahe getreten, und er hatte schon 1769 als unreifer Student ein »bürgerliches Trauerspiel«, Braitwell, geschrieben. Zu Goethe sah er, den Genius ahnend, mit Verehrung[59] auf; er besuchte diesen später noch in Frankfurt und unterhielt einen Briefwechsel, auch schickte er ihm Mitte September den ersten Bogen des Göttinger Musenalmanachs auf 1773 mit Goethes »Wandrer«, dem Erstling von dessen Beiträgen. Der Dichter erwiderte die anhängliche Gesinnung, bis die sich scheidenden Lebenswege den Verkehr abschlossen. In Goethes Werken begegnet uns nirgends der Name des Jugendgenossen. Falcke starb als Geh. Justizrat und Bürgermeister seiner Vaterstadt Hannover, auch als Schriftsteller nicht unbekannt.
Seitwärts dieser lustigen Jugendgesellschaft wie im Halbdunkel steht der junge Wilhelm Jerusalem[1], die tragische Gestalt des Wetzlarer Kreises. Handelte es sich bloß um Goethes wirkliches Leben, so fiele der Grund weg, auf diesen melancholischen Grübler einzugehen. Denn Goethe hatte mit ihm geringe oder fast gar keine Gemeinschaft. Die beiden jungen Männer haben sich nie gegenseitig besucht, sondern nur am dritten Orte bei gemeinsamen Freunden (wohl bei Kielmannsegge, Born, Gotter oder im Brandtschen Hause) gesehen. Nicht einmal der Name Goethes war Jerusalem geläufig, denn er nannte ihn in niederdeutscher Aussprache »Göden«. Wohl aber hatte Goethe noch ein geliehenes Buch von Jerusalem in Händen, als dieser sich das Leben nahm, und behielt es zur Erinnerung an den früh Geschiedenen. Die Nähe der persönlichen Beziehungen kann also kein Motiv sein, hier episodisch des jungen Jerusalem zu gedenken. Um so mehr giebt die ideelle Beziehung, in welche den Dichter sein Jugendroman zu seinem Doppelgänger gesetzt hat, diesem ein Anrecht auf besondere Rücksichtnahme. Hieraus [60]entnahm auch Goethe selbst in »Wahrheit und Dichtung", Recht und Grund, dem Gedächtnis des Unglücklichen einen kurzen Abschnitt zu widmen. Es kann auffallen, daß in Wetzlar auf so engem Raum sich kein Verhältnis bildete zwischen zwei so begabten Männern. Aber gerade weil sie eigenartig begabt waren und diese Gaben wie Gegensätze gegenüberstanden, blieben sie sich fremd. Goethe selbst sagt, er habe Jerusalem schon seit sieben Jahren gekannt. Eine ganz genaue Zeitangabe, denn bereits in Leipzig, wo Jerusalem von Ostern 1765 bis Ostern (oder Michaelis?) 1767 studierte, hatten sich beide berührt. Aber schon damals sprach Jerusalem gegen Eschenburg seine Antipathie gegen den geckenhaften Kommilitonen aus, ein Vorurteil, das auch in Wetzlar noch hindernd fortwirkte. Und welche Entwickelungen hatte Goethe doch seit den akademischen Flegeljahren in Leipzig durchgemacht! Doch gewann Jerusalem wenigstens den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen" (an denen Goethe mitarbeitete), die er anfangs als echter Lessingianer verachtet hatte, später mehr Geschmack ab. Die Naturen wie die Richtungen stießen auf einander. Und es war nicht bloß der Gegensatz norddeutscher Reflexion und süddeutscher Unmittelbarkeit, der Gedankenblässe gegen die frische Lebensfarbe, korrekter gesellschaftlicher Haltung und Zurückhaltung gegenüber genialer Ungebundenheit; es war auch der instinktive Neid des schon Kranken gegen den Gesunden, der sie trennte, der selbstquälerische und menschenfeindliche Pessimismus gegen einen unerschöpflichen Optimismus, der die »frische grüne Weide« und das unmittelbare Leben ungestört genießen wollte und in allen psychischen Kämpfen und Leiden noch etwas »zuzusetzen« hatte. Während Goethe gegen solche Störungen zu reagieren verstand durch eingeborene Schaffenslust und Schaffenskraft, war Jerusalem mehr eine receptive Natur, die subtilste Spekulation und ungesunde Romanleserei nahmen ihm Kopf und Herz ein; der Trieb, die dunkeln Rätsel des Lebens zu lösen,[61] steigerte sich in ihm zu krankhaft-lüsterner Neugier, den Schleier vor der Zeit zu heben. Das innere Gleichgewicht war gestört, und es bedurfte nur bestimmter Anreizungen, das Maß bis zum Überfließen und bis zu den äußersten Schritten voll zu machen. Es war keine glückliche Natur. Auch die Art seiner Philosophie war nicht angethan, ihm Befriedigung zu schaffen. In Wetzlar floh er mehr den persönlichen Verkehr, als daß er ihn suchte. Wenige Wochen nach seiner Ankunft dort (26. November 1771) klagt er dem Braunschweiger Eschenburg, dem er besonders anhing: ich »lebe hier ganz ohne Geschöpfe, mit denen ich auch nur eine einzige Empfindung teilen kann«. Die gemeinsame Mittagstafel im »Kronprinzen« gab er auf, wenn er auch jener übermütigen Rittertafel nominell noch zugehörte. Aber seine Welt war es noch weniger als bei Goethe, obwohl aus anderen Motiven. Ja auch den Nächststehenden stand er mehr kritisch als hingebend gegenüber. So war der »kleine und zierliche« Hannoveraner Nieper — der aber schon im Sommer 1772 Wetzlar verlassen hatte, um als Geh. Kanzleisekretär nach Hannover zu gehen — , sein intimster Freund, und doch nannte er diesen, da er sich träge im Briefschreiben zeigte, gegen dritte eine »Dreckseele«, und wenn er warm wurde, »ein gutes bequemes Geschöpf«. Sonst standen v. Kielmannsegge, v. Schleinitz (sein Jugendfreund), v. Goué, Gotter mit ihm in Verkehr. Doch liebte er das Alleinsein mehr als jeden Freundesverkehr; auf meilenweiten Spaziergängen hing er seinem Verdruß und seiner aussichtslosen Liebe nach. Gotter schätzte den verdüsterten Eremiten, wollte ihm nach dem Zerwürfnis mit seinem Chef in Gotha eine Stellung schaffen, hat ihm nach seinem Tode einen litterarischen Denkstein gesetzt. Und wie erwidert Jerusalem den jedenfalls schon dem Lebenden bethätigten Anteil! »Unter allen meinen Erwartungen hat mich die, in diesem Menschen einen Freund zu finden, am meisten betrogen. Weil sein Schöpfer in[62] sein Gehirn einige Reime neben einander gelegt hat, so hält er sich für ein Genie und glaubt sich dadurch zu allen Narrheiten berechtigt.« Und wie mit den Menschen seiner Umgebung, so stand er mit der Örtlichkeit, wo er zuletzt zu leben hatte, und mit den dortigen Verhältnissen auf gespanntem Fuß. Daß ihm Wetzlar bald verhaßt ward, daß er die gute Stadt »Seccopolis« schilt, erklärt sich einmal aus seinen unerquicklichen amtlichen und sozialen Erlebnissen, auf die wir zurückkommen, dann aber durch den Kontrast gegen die verlassene Heimat, für die er, so weit ihm überhaupt möglich, ein Herz hatte. Die Verstimmung der Gegenwart gegenüber war ein Resultat auch der Verwöhnung in der Vergangenheit. Lessings herablassende und Eschenburgs vertraute Freundschaft in Braunschweig-Wolfenbüttel hatte offenbar den eingeborenen Geisteshochmut in Jerusalem großziehen helfen. Nichts ist unrichtiger als Goethes Meinung, der man eben auch die geringe Kenntnis und die nur flüchtige Berührung mit dem jungen Manne ansieht, Jerusalems Äußerungen seien »mäßig und wohlwollend« gewesen; das gerade Gegenteil war die Regel.
Wir nannten Lessings großen Namen.
Er war der eigentliche Wecker dieses scharfen, aber früh umdüsterten Geistes, mit ihm als dem Freunde seines Vaters, des berühmten Gottesgelehrten, verkehrte Jerusalem ein Jahr lang nach der Universitätszeit in Wolfenbüttel auf das vertrauteste. Die jüngst erschienene »Emilia Galotti«, worin auch ein Selbstmord die tragische Heldenthat ist, lag aufgeschlagen auf dem Pulte des Toten, und noch Jahre nach dem Tode erkannte es Lessing als Freundespflicht gegen Vater und Sohn Jerusalem, dem letzteren durch die Sammlung seiner hinterlassenen philosophischen Aufsätze — zum Teil Reflexen und Resultaten des Geistesverkehrs mit Lessing und sämtlich Bekennern des abstraktesten Determinismus der Leibnitzschen Schule, der Jerusalem zugehörte — und[63] eine (in einem Vor- und Nachwort) beigefügte Charakteristik ein Denkmal zu setzen. Was aber bisher nicht erkannt worden, das ist die polemische Spitze, die Lessing in diesen Prolegomenen gegen den »Werther« und dessen Verfasser kehrte. Wir kommen zu ihr alsbald zurück.
Goethe sah schon in Wetzlar durchaus mit einem pathologischen Interesse auf Jerusalem. Wenn er mit Lotte abends von Spaziergängen heimkehrte, begegnete ihm wohl die einsame Gestalt, in der das innere Leiden im Kontrast mit der frischen äußeren Erscheinung nur noch mehr hervortrat, und er sagte wohl zu seiner Begleiterin: »er ist verliebt«. Diese äußere Gestalt hatte sich dem Dichter fürs Leben eingeprägt: das runde hübsche Gesicht, die weichen ruhigen Züge, die anziehenden blauen Augen, das blonde Haar, die wohlgebaute mittelgroße Gestalt, ja die als Werthertracht berühmt und zur Mode der sentimentalen Zeit gewordene Kleidung, der blaue Frack, ledergelbe Weste und Unterkleider, Stiefeln mit braunen Stolpen, ursprünglich niederdeutsche Nachahmung englischer Mode. Doch wußte er von der sträflichen und unerwiderten Liebe zur Gattin eines Freundes nichts Näheres. Auch von dem krankhaft gesteigerten spekulativen Tiefsinne hatte Goethe durch den oder jenen der gemeinsamen Freunde, durch Kielmannsegge wohl vornehmlich, erfahren; unter den Problemen und Kontroversen, auf die Jerusalem wie auf ein stehendes Thema immer wieder zurückkam, stand die Frage über die Berechtigung des Selbstmords schon damals obenan. Auch hier spielte die fast lüsterne Neugier nach geistigen Entdeckungen und den Entschleierungen der jenseitigen Welt eine Rolle. War dies das geistige Ziel, worauf Jerusalems Gedanken gerichtet waren, so lag die natürliche Quelle in bestimmten Erlebnissen, die ihm alles Gleichgewicht des Lebens genommen hatten. In der aussichtslosen, nach Grund und Ziel unhaltbaren Liebe und in den amtlich-sozialen Zerwürfnissen, die er[64] in Wetzlar zu durchleben hatte. Goethe zwar wollte bei der ersten Nachricht von dem Unglück noch ein anderes Motiv aufstellen, die Schuld des Vaters. »Aber die Teufel« — schreibt er —, »welche sind die schändlichen Menschen, die nichts genießen denn Spreu der Eitelkeit, und Götzenlust in ihrem Herzen haben, und Götzendienst predigen, und hemmen gute Natur, und übertreiben und verderben die Kräffte, sind schuld an diesem Unglück und an unserm Unglück. Hohle sie der Teufel, ihr Bruder. Wenn der verfluchte Pfaff .... nicht schuld ist, so verzeih' mir's Gott, daß ich ihm wünsche, er möge den Hals brechen wie Eli." Es sind aber die bedenklichen Worte »sein Vater« an der lückenhaften Stelle ausgefallen. Goethe thut dem Abte Jerusalem hier schweres Unrecht, das er später in »Wahrheit und Dichtung« durch ganz andere Prädikate, die er, eines besseren belehrt, ihm beilegt, wieder gut zu machen sucht. Es scheint vielmehr ein zärtlich-väterliches Verhältnis durch den Briefwechsel zwischen dem Vater und dem einzigen Sohn, von dem uns Fragmente vorliegen, hindurch. Es ist bekannt, daß Jerusalem, als er im September 1771 die Stelle eines Sekretärs bei dem braunschweig-wolfenbüttelschen Subdelegirten bei der Kammergerichts-Visitation, dem Hofrat Jakob Johannes von Hoefler, übernahm, mit diesem seinem Vorgesetzten schon bald nach seiner Ankunft in Irrungen geriet, ja nach und nach völlig zerfiel, — Zerwürfnisse, die ihm Verweise vom Hofe und noch weitere verdrießliche Folgen zuzogen.
Dieser Gesandte muß allerdings nach allen Zeugnissen eine wunderlich-verkehrte Persönlichkeit gewesen sein. Ein »störrischer Charakter« wird er von dem Berichtiger des Werther genannt; ganz andere Prädikate giebt ihm Goué, sein anderer Sekretär, in seinem »Masuren«. Daß aber auch Jerusalem selbst bei diesem Zerfall nicht ohne Schuld gewesen, ist außer Zweifel. Goethe irrt ganz und gar aus Unkunde, wenn er in diesem die gut[65]mütige Art hervorhebt. Es war das Gegenteil ein charakteristischer Zug. Als der Sohn eines berühmten und hochgestellten Vaters, befreundet dem Erbprinzen von Braunschweig, fühlte sich der junge Mann zur Subordination um so weniger geneigt, als ein starkes geistiges Selbstgefühl, von dem wir oben schon sprachen, diese anspruchsvolle Haltung noch hinaufschraubte. Die Briefe, die uns von ihm erhalten sind — gedruckte wie ungedruckte —, tragen durchaus die Farbe verstimmter Bitterkeit, eines ätzenden Spottes. Wir teilen einen besonders charakteristischen an seinen Vater mit, der auch hiervon Zeugnis giebt[2].
»Wetzlar, den 27. Juni 1772.
»Die Antwort, die Sie von Herrn von Hofmann erhalten haben, habe ich erwartet. Von Herrn von Löben verspreche ich mir keine andere. Die gegenwärtige Misere in Sachsen und vorzüglich der Geld-Mangel sollen ganz unbeschreiblich seyn. — An geschickten Leuten fehlt es ihnen auch nicht; der hiesige Legations-Secretair ist ein außerordentlich geschickter Mann. Außerdem ist hier noch kürzlich ein Sohn von dem Burge-Meister Born aus Leipzig angekommen, der schon in Wien und Regensburg gewesen ist, an beyden Orten, so wie auch hier, den Zutrit zu den Archiven gehabt (ich kann nicht ein Blat daraus bekommen) und nun auch Dienste sucht — Ich dächte, Sie versuchten nun einmal was etwa in Berlin zu thun seyn möchte. Sie haben ja auch da, wenn ich nicht irre, Freunde im ministerio. Vielleicht könnte uns ja auch selbst Herr Sack behülflich seyn. Bey den jetzigen Umständen ginge es dort noch wohl am ersten. Es ist mir jetzt mehr als jemals daran gelegen meinen Abschied je eher je lieber fordern zu können. Vor einigen Tagen ist hier [66]der Ass. Cramer gestorben. Ditfurth trit wieder an seine Stelle. Sie müssen also nun in der Canzley neue Veränderungen vornehmen. Blum wird dabey vermuthlich Hofrath werden. Sie haben aber wenn Ditfurth abgeht nicht Arbeiter genug; da sie einen Fremden so wohlfeil nicht finden würden so könnte es ihnen leicht einfallen mich halb zur Strafe und halb aus Oekonomie wieder zurück zu berufen und etwa mit 400 Rthlr. und meinen vorigen Charakter an meine vorige Stelle zu setzen — Daß ich auf den Fuß nicht wieder zurückkäme darüber bin ich völlig entschieden, und wenn ich die unsinnigste Partie zu ergreifen gezwungen seyn sollte; deswegen wünschte ich aber sehr wenn es möglich wäre dem Dinge zuvor kommen zu können — An Pütter habe ich bis jetzt aus guten Ursachen noch nicht schreiben mögen. Es wird natürlicher Weise wegen des ihm geschehenen Antrages, dem Hofe verbindlich zu seyn glauben und sich deswegen meiner, da ich aus einer solchen Ursache andere Dienste suche vielleicht nicht gern annehmen. Ich gewönne also wohl dabey weiter nichts als daß ich mich ihm noch dazu verdächtig machte. Denn wem kann es bey dem Verhältniß worin Sie mit dem Hofe stehn bey dem Fuß auf dem ich bis jetzt gestanden, auch nur einiger Maaßen wahrscheinlich vorkommen, daß ich bei der Sache so ganz außer Schuld bin? Wer wird dem H. so viele Boßheit und Haß, und so viel Narrheit in Ansehung der läppischen Ursachen zu diesem Haße; und wenn dieses auch wäre, wer wird gewißen anderen Leuten so viel — zutrauen um meine ganze Geschichte glaublich zu finden? — Das ist aber die reizendste Seite von meinem Schicksaale. Ich verliehre alles was für mich einigen Werth hatte, alle vorteilhafte Aussichten, meinen guten Namen, ihre Ruhe; und schwerlich werde ich jemanden überreden daß ich mir nicht selbst das alles zugezogen habe. Doch genug davon. Von etwas lustigerem. Am Johannis-Tage begingen Se. Excellenz der Braunschweig [67]Wolfenbüttelsche Herr Gesandte, Höchst dero Namens-Fest auf die gewöhnliche feyerliche Weise. Dem Abend vorher brachten die hiesigen Stadt-Musicanten Denenselben eine wohlgesetzte Serenade wobey Se. Excellenz Geld und Wein von Dero Quartier unter die Musicanten austheilen ließen. Der Zulauf des Volkes war dabey wie gewöhnlich sehr groß. Den folgenden Mittag war bei Höchstdenenselben ein sehr prächtiges diner. Die Tafel bestand nur aus 10 Couverts und die dazu geladenen Personen waren — 3 Nonnen aus dem Kloster Altenburg, in ihrer gewöhnlichen Kloster-Tracht 3 Jesuiten und 2 (vorzüglich in der Hitze sehr lieblich duftende) Franciscaner. Bey Ankunft der Hohen Gäste versammelte sich abermals ein großer Haufen Volks vor dem Quartiere Sr. Excellenz, vorzüglich um die Damen aussteigen zu sehn, und man las in aller Blicken die Bewunderung über die leutseligen Gesinnungen des großen Mannes, der aus bloßer Menschen-Liebe sich über alles Äußere welches sein Stand vielleicht zu erfordern scheinen möchte so rühmlich wegzusetzen weiß; Gesinnungen die um so mehr unsere Verehrung verdienen da es weltkundig ist, wie sehr sich Se. Excellenz in anderen Fällen für die Erhaltung der Ehre ihres Hofes und die Unterstützung der denenselben aufgetragenen Sache so ruhmvoll als glücklich beeyfert haben. — Sie werden glauben ich erzähle Ihnen da ein Mährchen. Ich hielt es anfänglich auch dafür, nachher aber habe ich erfahren, daß dieß die gewöhnliche Art ist wie der — seinen Namens-Tag feyert. Und so ein — darf von Subordination sprechen! — Neulich habe ich noch erfahren daß er vor 2 Jahren nach seiner Zurückkunft von Braunschweig sehr mit einem Ringe geprahlet hat, den ihm (wie er sagt) der Herzog um ihm seine Zufriedenheit zu beweisen geschenket habe. Ich wolte wetten er habe ihn gekauft. Jetzt spricht er von nichts als von Vice-Canzler werden. Mich soll es gar nicht wundern wenn er es wird — Wie sehr freue ich[68] mich daß sie so vergnügt unter sich sind. Schreiben Sie mir daß nur oft so bin ich es auch —
Noch eines wegen des GR. v. Praun. Freylich ist sein Betragen — ich weiß selbst nicht wie ich es recht nennen soll. Kurz vor der letzten Affaire erhielt ich noch einen sehr freundschaftlichen Brief von ihm, worin er mir zugleich von dem Nutzen schrieb, den mein gegenwärtiger Posten für mich haben würde. Ich ergriff die Gelegenheit und stellte ihm vor daß ich durch die Caprice des H. der mir alles entzöge, von dem ich weder Acten noch Berichte zu sehn bekommen könnte den gehoften Nutzen fast gänzlich verlöhr, und seit der Zeit habe ich nicht eine Zeile von ihm wieder erhalten — Toll möchte man werden —
Meine gute Regine wird mir es vergeben daß ich ihr noch nicht meinen Glückwunsch zu ihrem Geburts-Tage gemacht habe. Ich habe ihr nur nicht geschrieben gethan habe ich ihn gewiß. —
Leben Sie alle tausendfach wohl und vergnügt
Ihr
gehorsamster Sohn
WJ.«
Diese wunderliche Einladung von Nonnen, Jesuiten und Mönchen, die doch wohl auf eine Zugehörigkeit des Gesandten zur katholischen Kirche schließen läßt, wurde später als drastisches Motiv in Goués »Masuren« verwendet. Offenbar hat Jerusalem dem verhaßten und verachteten Chef mancherlei Schwierigkeiten geschafft, denn eine fügsame Natur war er nicht, und Mahnungen zur »Subordination« fanden verschlossene Thüren. Immerhin mag die Hauptschuld auf Seiten des Gesandten gelegen haben, der Jerusalem, ihn zu züchtigen und zu unterjochen, von der eigentlich juristischen Arbeit ausschloß und sechs Stunden täglich auf dem braunschweigischen Gesandtschafts-Archiv beschäftigte. Jerusalem strebte darum früh weg, und der mitgeteilte Brief zeigt,[69] wie der Vater suchend und werbend auf diese Ideen einging. Auch Gotter bemühte sich, wie wir sahen, noch kurz vor dem Tode des Freundes diesem in Gotha eine Stätte zu bereiten. Je anspruchsvoller Jerusalem auftrat, je verletzlicher und empfindlicher gegen unsanfte Anfassungen der Außenwelt er sich zeigte, um so tiefer mußte die Kränkung dringen, die er wenige Wochen nach seiner Ankunft in Wetzlar im Hause des Präsidenten Grafen Bassenheim erfuhr. Denn wirkliche Thatsachen liegen der bekannten Scene im »Werther« zugrunde. Und jedenfalls war es eine unfreiwillige Entfernung aus der Soirée des Grafen, die ihn traf, wenn auch die poetische Wiedergabe des Vorfalls nach dem Zeugnis des wohlunterrichteten Berichtigers in einigen Umständen von der Wirklichkeit abweichen, und Jerusalem bei der Zurückgezogenheit seines Lebens »die hämische Freude der Neider und das Bedauern der Freunde nicht so stark gefühlt« haben mochte, als es der Roman betont. Immerhin lag auch in diesem Erlebnis ein Motiv der Zerfallenheit mit den umgebenden Verhältnissen. Es ist nun auf den ersten Blick der Widerspruch auffallend, in welchem ein Brief des Vaters mit diesen Erfahrungen des Sohnes steht. Der Abt Jerusalem schreibt am 7. Januar 1772 an einen Verwandten in Osnabrück (vielleicht an Justus Möser, den der junge Jerusalem gelegentlich einen »Vetter« nennt): »Wilhelm befindet sich in Wetzlar sehr vergnügt. Sein hiesiger Herr Subdelegatus ist zwar ein seltsamer Patron; aber er hat sich mit ihm auf einen Fuß gesetzt, wie es sein muß, und er wird durch die distinguierte Freundschaft der übrigen Gesandten sowohl als Assessoren schadlos gehalten, da er von allen Legationssekretären, wie der Geheimrat v. Zwierlein schreibt, der einzige ist, auch den mainzischen, der der Sohn eines dortigen Geheimrats und der neveu des Gesandten ist, nicht ausgenommen, der die Entrée in die Gesellschaft hat. Der Präsident, der Herr Graf v. Bassenheim hat[70] ihm ein- für allemal sein Haus und Tafel angeboten und mir seinetwegen sehr verbindlich geschrieben. Gott halte ihn gesund —.« Man sieht aber dem ganzen Tenor des Briefes an, daß diese dem Verwandten erteilte Auskunft gerade eine Anfrage desselben über den Vorfall und diesen Vorfall selbst zur Voraussetzung hat. Nicht bloß der Gegensatz von seelischer Gesundheit und Krankheit war es, der die Menschen, sondern auch die Verschiedenheit der Richtung, die den Dichter und Denker, wie wir oben schon sagten, auseinanderhielt. Auch ein neutrales Zwischengebiet, das der Kunst, in dem beide keine Fremdlinge waren, schuf keine Vermittlung. Denn auch hier trat die Differenz der Naturen bald hervor. Jerusalem fühlte sich vorzugsweise oder einseitig angezogen von den radierten Blättern, die Naturbilder oder häusliche Scenen von düsterm, melancholischem Charakter darstellten. Der Haupttrennungspunkt war aber der, daß Jerusalem auch poetischem Schaffen gegenüber den Ton legte auf die bewußte Anerkennung und Befolgung von Regeln, während Goethe den Instinkt der Genialität, seiner eigenen Mitgift kühn vertrauend, und die unmittelbare Naturanschauung auf den Thron setzte. Dieser Punkt hat sich auch nach Jerusalems Tod, mit dem persönlich er vielleicht nie zur Aussprache kam, zu einer Kontroverse zwischen Goethe und Lessing erweitert. Die Stelle im »Werther« (Brief vom 26. Mai) über den Gegensatz von Natur und Regel ist bekannt: »Das bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich, und sie allein bildet den großen Künstler. Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ohngefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeschmacktes und schlechtes hervor bringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was[71] man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören! sagst du, das ist zu hart! Sie schränkt nur ein, beschneidet die geilen Reben u.s.w.« — Die Stelle klingt wie ein Programm der neuen genialen Schule, aber zugleich wie eine an die Lessingsche Korrektheit gerichtete Absage und Herausforderung. Und dieser bleibt die Antwort nicht schuldig. Zunächst galt es eine persönliche Bemerkung. Er mußte den Unterschied gerade zwischen seinem Jerusalem und Goethes »Werther« dahin konstatieren, daß des ersteren Krankheit keineswegs eine Verbindung von schwärmender Sentimentalität und regelfeindlicher Genialität gewesen, daß dieser vielmehr den Trieb besessen habe, große Fragen, namentlich auch in dem Gebiete des Schönen, in dem Reiche der Empfindungen bis in ihre tiefste Wurzel denkend zu verfolgen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Lessings Worte eine ausdrückliche Replik gegen jene Werther-Stelle enthalten: »Das Ermattende, Abzehrende, Entnervende, womit kränkelnde oder um ihre Gesundheit allzu besorgte Geister diese Art von Untersuchung, diese Entwickelung unserer Gefühle, diese Zergliederung des Schönen, so gern verschreien, war ihm nicht im mindesten fürchterlich. Vollends die Entbehrlichkeit eines solchen Geschäfts dem jungen Genie predigen, ihm Verachtung dagegen einzuflößen, weil ein zu voreiliger Kunstrichter dann und wann crude Regeln daraus abstrahiert, schien ihm eine sehr mißliche Sache zu sein. Und wie sollte es nicht? Man hintergeht, oder ward selbst hintergangen, wenn man die Regeln sich als Gesetze denkt, die unumgänglich befolgt sein wollen; da sie weiter nichts als guter Rat sind, den man ja wohl anhören kann. Wer leugnet, daß auch ohne sie das Genie gut arbeitet? oder ob es mit ihnen nicht besser gearbeitet hätte? Es schöpfe immer nur aus sich selbst, aber es wisse doch wenigstens, was es schöpft. Das Studium des menschlichen Gerippes macht freilich nicht den[72] Maler: aber die Versäumung desselben wird sich an dem Koloristen schon rächen.«
Wir sehen in diesem stillen Dialog des großen Dichters mit dem großen Kritiker den tiefen inneren Gegensatz, der durch die damalige Litteratur ging, den Kampf der Regelgerechtigkeit mit der regellosen Genialität. Wir wissen, wie Lessing schon gegen Goethes »Götz« scharfen Protest erhebt. Er ärgert sich über das drohende »theatralische Unwesen« und er bezeigt Lust, »mit Goethen trotz seinem Genie, worauf er so pocht, anzubinden«: er »schwur, das deutsche Drama zu rächen«; ja er ist über die genialen Respektswidrigkeiten gegen die — unverfälschten, nicht französierten — dramaturgischen Lehren des Aristoteles so aufgebracht, daß er von dem Dichter des «Götz« nichts anderes zu sagen weiß, als, er habe den Lebenslauf eines Mannes in Dialoge gebracht und das Ding für ein Drama ausgeschrieen; er »fülle Därme mit Sand und verkaufe sie für Stricke«. — Auch den »Werther« blickte er, trotz des ersten Eindrucks, den er von dem »so warmen Produkt« empfing, weder mit dem Auge der Liebe noch auch nur unbefangen an. Aber Lessing mußte sich und die Grundsätze seines Wirkens, wie wir sahen, durch den »Werther« angegriffen finden. In der Differenz der beiden Geister stand sich eine Differenz der Richtungen gegenüber. Er vermißte eine ethische Warnungstafel am Schluß, »je cynischer, desto besser« —, auf daß die poetische Schönheit nicht für eine moralische genommen werde. Er erhebt die allerdings kritiklose, weil nichtssagende, Klage, in dem »kleingroßen, verächtlich schätzbaren Original« sei der Charakter Jerusalems gänzlich verfehlt. Sollte der aber getroffen werden? Brauchte der Leser von einem Doppelgänger aus der Wirklichkeit überhaupt zu wissen und ihn gar mit der dichterischen Gestalt zusammenzustellen? Hieß das nicht, die poetische Selbständigkeit der Dichtung in Frage stellen? Weiße schreibt an Garve, Lessing werde dem Dichter des »Wer[73]ther« »einmal jähling auf den Nacken springen«. Statt der geplanten »Wertherischen Briefe«, die er aufgab, schrieb er die Anfänge eines Entwurfs zu einem dramatisch-possenhaften Trutz-Werther, »Werther der Bessere«. Aus Goethes damaliger Vorliebe für Possen schloß Lessing, jener werde, wenn er zu Verstande komme, noch ein ganz gewöhnlicher Mensch werden!
Es würde nicht in den Zusammenhang dieser Schrift gehören, Jerusalems innere Leidensgeschichte mit der Schlußkatastrophe hier zu entwickeln; auch nicht die getrennten und doch tragisch zusammenwirkenden Motive, gekränkte Ehre und aussichtslose Liebe, zu erörtern, die zum Untergang führen. Die Meinung der Freunde accentuierte das erstere Motiv als das durchschlagende, der Chef Jerusalems wollte, um aller Mitverantwortung ledig zu gehen, nur die Liebe zu der Gattin des kurpfälzischen Legationssekretärs Herd als treibenden Grund gelten lassen. Gotter betont, ohne Ursache und Anlaß zu unterscheiden, als Motiv den »übertriebenen Hang zu metaphysischen Spekulationen«. Kestners Tagebuch notiert am 30. Oktober 1772 — es war an einem Freitag — mit gewohntem Lakonismus: »Aujourd'hui est arrivé cette malheureuse Katastrophe de Mr. Jerusalem. Toute la ville le regrette generalement.« Wir wissen jetzt aus den »Werther-Briefen«, wie tief der Eindruck auf Goethe war, und wie dieser Eindruck weiter arbeitete, bis er in der produktiven Imagination des Dichters die große Frucht gezeitigt hatte. Die Kestnersche Darstellung des Herganges (vom Ende November 1772), die Goethe stellenweise wörtlich im »Werther« verwandt hat, treu und schmucklos wie der Schreiber selbst, war auf dem Foliobogen des aktenartig behandelten Originals mit der Überschrift versehen: »Stoff zur Erzählung, den unglücklichen Tod Jerusalems betreffend.« Hieraus wird es fast wahrscheinlich, daß Kestner voraussetzte, Goethe könne die Absicht haben, aus der Überlieferung eine historische oder poetische Kom[74]position zu gestalten. Acht Tage nach der Kunde von Jerusalems Tod war Goethe mit Schlosser in Wetzlar, vielleicht auch von dem dunklen Trieb geleitet, noch weitere Spuren von der tragischen Thatsache, die ihn so tief erregte, aufzusuchen; und es wird gewiß dort nicht an mündlichen Ergänzungen der ersten Kestnerschen Mitteilung und die Zusage weiterer Memorabilien gefehlt haben. Wie aus diesem Stoffe und später aus den mit Maxe Brentano gemachten Erfahrungen, beides in Verbindung mit der eigensten inneren Lebenswurzel, allmählich der »Werther« erwuchs; die Stadien dieser allmählichen Gestaltung zu verfolgen, diese Aufgabe würde über die vorliegende hinausreichen. Ebenso nach der formalen Seite die Frage, ob Goethe im »Werther« zur Auffrischung und Belebung der Erinnerungen auch zurückgegriffen habe auf Tagebuchblätter und Briefe, die er in Wetzlar geschrieben; — eine Frage, die nicht von vornherein und schlechthin zu verneinen ist. Gewiß hat der Einwurf Grund, der Dichter habe solcher Krücken und Stützen nicht bedurft, da das Erlebte ja gegenwärtig in ihm fortgelebt habe. Immerhin ist das Aufsuchen von Orientierungspunkten möglich, schon im Interesse chronologischer Stützpunkte, aber nicht nachweisbar. Man hat an Briefe an Merck gedacht. Daß Goethe von Mitte Mai bis Mitte August, wo der Darmstädter Freund, damals der nächste des Dichters, diesen in Gießen-Wetzlar sah, gar manchen Brief an Merck geschrieben, ist nicht bloß an sich wahrscheinlich, sondern ausdrücklich bezeugt. Denn Merck schreibt seiner Frau am 18. August 1772, er habe in Gießen Lotte Buff kennen gelernt, »cette fille, dont il parle avec tant d'enthousiasme dans toutes ses lettres«, und es ist auffallend, daß gerade diese Wetzlarer Briefe unter den hinterlassenen des Empfängers, die (von einem aus Frankfurt datierten Zettel abgesehen) erst mit dem Spätherbst 1774 beginnen, fehlen. Waren sie an Goethe zum Zweck der Arbeit von »Werther« ausgeliefert?[75]
Noch näher liegt uns der Gedanke an Briefe, die Goethe der Schwester Cornelia schrieb, der vertrautesten Teilnehmerin seiner großen und kleinen Erlebnisse. Sie muß auch von dem Verhältnis zu Lotte Buff unterrichtet gewesen sein. Daß dieser Briefschatz verloren oder verschlossen ist, muß für eine besonders empfindliche Lücke gelten.
Jenes tiefe, fast fieberhaft erregte Interesse Goethes an dem tragischen Fall erklärt sich aber nicht genugsam aus dem persönlichen Anteil an dem jungen Jerusalem, der ja bei dessen Abgeschlossenheit und Antipathie gegen des Dichters Person nur ein geringer sein konnte. Es war vielmehr jene Einzelthat nur die Bethätigung einer Gesinnung, die in weiteren Kreisen der deutschen Jugend, auch in jenem Wetzlarer Kreis, ja in Goethe selbst gärte. So traf ein solenner konkreter Fall mit vorhandenen Stimmungen zusammen, daher die ungemeine Wirkung der That und später des »Werther«.
Die Frage nach der Berechtigung des Selbstmords war fast ein stehendes Thema in jener sonst so ausgelassenen Tafelrunde, wie es ein stehendes, fast modisches Thema der Zeit war. Es ist gewiß eine aus dem Leben gegriffene oder ihm nachgebildete Scene, wenn in Goués »Masuren« Fayel (Gotter) den »Ritter Götz« (Goethe) interpelliert: »Götz, Ihr scherzet, Ihr werdet Euch nicht töten.« Dieser erwidert: »Nur in dem Fall, wenn ich kaltblütig genug wäre, mir einen Stahl ins Herz zu drücken. Erschießen werd' ich mich nie. — Aber wir wollen leben. Ist's doch immer auf der Erde ganz gut. Wer sich nur Freuden zu schaffen weiß. Stelzen gehen, Schrittschuh laufen, das sind Sachen, die stets echte Ritter ergötzen werden; Freuden, die ihr Weichlinge verkennt.« — Wir erinnern uns dabei, daß Goethe selbst in »Wahrheit und Dichtung« von den Versuchen spricht, sich einen geschliffenen Dolch »ein paar Zoll tief« in die Brust zu senken. Solche Selbstmordgedanken waren durch[76] Young und Ossian genährt, durch Rousseaus Heloise in der lesenden Jugend entzündet worden. Ja eine ganze Litteratur der Apologie des Selbstmords hatte sich gesammelt. Dieses Recht über Leben und Tod galt als ein Regale des Individuums, als die höchste Spitze menschlicher Freiheit, deren Ideal in der Luft der Zeit lag. Und was vermochte gegen die Infallibilität der Leidenschaft Moses Mendelssohns Einspruch im »Phädon«, der Jerusalems Lieblingslektüre war, aber unter dem steten Protest gegen des Autors Verwerfung des Selbstmords. Ja Jerusalem hatte eine besondere Schutzrede für den Selbstmord geschrieben, so daß die unselige That, ganz im Geiste des überreizten Grüblers, in jeder Weise von langer Hand theoretisch vorbereitet worden war. Es ist bekannt, daß von allen Genossen in Wetzlar Kielmannsegge dem jungen Jerusalem am nächsten gestanden. Von ihm aber wissen wir, daß er sich zum Stoicismus bekannte, und wir glauben nicht irre zu gehen, wenn wir annehmen, daß er auch bei der, öffentlich wie privatim, häufigen Diskussion über die Berechtigung des Selbstmords, die gerade von Jerusalem selbst immer wieder angeregt wurde, den Standpunkt der Stoa vertrat, wonach der Mensch Herr ist auch über sein Leben und dasselbe in freier Selbstentscheidung enden darf. Freilich lag die stoische Ethik in ihrer Wurzel wie als System weitab von Goethes lebensfreudigem Optimismus, aber doch berührte sich sein kraftgenialer prometheischer Freiheitstrotz damals mit dem Satz der Schule, daß der Weise allein frei sei, daß er an innerer Würde auch dem Zeus nicht nachstehe. Freilich mischt sich in dem Helden des Romans selbst der Prozeß — wohl ähnlich wie in Jerusalems umnachteter Seele: freie Reflexion und pathologische Gebundenheit. Wesentlich wird dem Dichter der Akt der Selbstvernichtung zum Abschluß eines Naturprozesses, zur Krisis der Seelenkrankheit.[77]
Sehen wir in der Vorliebe für die Frage nach der freien Disposition über das eigene Leben einen charakteristischen Zug und den Gipfelpunkt gleichsam jenes Freiheitsdranges, wie er in der Luft der Zeit und in der Jugend lag, mit der Goethe in Wetzlar verkehrte, so liegt die weitere Frage sehr nahe, ob sich dieser Unabhängigkeitssinn auch auf den Staat und vaterländische Zustände richtete. Lag in jener Rittermummerei auch ein Stück scherzender Opposition gegen unmittelbar vorliegende Reichszustände, so fragen wir: richtete sich dieser aggressive Geist auch in ernsten Formen weiter gegen die politischen Zustände des Reiches oder der Einzelterritorien? zeigt sich Goethe selbst ergriffen von diesem Geiste? —
Es findet sich von einer politischen Opposition oder nur von einem Interesse am Staat keine Spur, und Goethe selbst stellt in »Wahrheit und Dichtung« diese Richtung auf den Staat in Abrede. Ebenso wenig aber finden wir nach allen uns vorliegenden Zeugnissen bei den anderen Genossen diese Tendenz. Und doch fing dieser politische Freiheitsgeist gerade um dieselbe Zeit in der Schule Klopstocks, dem Göttinger Dichterbund vor allem, an, sich kräftig zu regen, bis er in dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg für weite deutsche Kreise einen realen Rückhalt erhielt. Freilich ist es bekannt, daß Klopstock und seine Schule nicht sowohl bestimmte reale Angriffspunkte verfolgten, als daß sie nebelhafte vaterländische und politische Ideale gegen die staatliche Wirklichkeit ins Feld führten. In den heißen Köpfen seiner Jünger setzten sich jene poetischen Träume allerdings in die wüsten Gedanken von Tyrannenmord u.dgl. um. Daß von alledem in der Wetzlarer Umgebung Goethes nicht die Rede war, das erklärt sich teils daraus, daß der außerpoetische Einfluß des Messiassängers und seines geschichtslosen Idealismus in diese Kreise nicht reichte, ja daß jener bardische Patriotismus, wie ihn die Hermannsschlacht z.B. verkündet, dort als unreife[78] Phantasterei erscheinen mochte, teils daraus, daß diese Jugendgenossen bereits im Amte oder wenigstens mit dem Amte in Berührung standen. An sich wäre der Sitz des höchsten Reichsgerichtes, in dessen zeitlicher Erscheinung Idee und Wirklichkeit in so grellem Widerspruch standen, ja gewiß vor vielen geeignet gewesen, zu Kritik und Spott gegen die Schwächen des Deutschen Reiches überhaupt zu reizen, aber man nahm Kaiser und Reich als gewohnheitsmäßigen Besitz oder als notwendiges Übel. Das erstere war mehr die Art der Norddeutschen, das andere der Standpunkt Goethes, der sich dabei beruhigte: »Dass wir sehr kayserlich sind, ist kein Wunder, da wir des Kaysers sind.« Er war eben der Sohn eines Frankfurter Reichsbürgers, verwandtschaftlich verwachsen mit den regierenden Kreisen der Reichsstadt und dadurch mit dem Reiche selbst, nicht ohne eine gewisse Pietät für die überlieferten und gewohnten Verhältnisse, dabei mit dem innersten Interesse in ganz anderen Regionen, höheren und weiteren, weilend, als daß für das Parterre politischer Wirklichkeiten Raum und Stimmung geblieben wären. Gewiß nahm Goethe mit seinem ganzen Jugendgeiste schon damals lebensvollen, bald führenden Anteil an der erwachten Unruhe und Ungeduld, an dem Zerreißen der Fesseln, in die man die Menschennatur geschmiedet glaubte, an dem Ansturm gegen alles Überlieferte in Glaube, Sitte, Recht, an den ideellen Herstellungsversuchen der angeborenen Menschenrechte, an dem titanischen Ringen der freien Persönlichkeit wider die Schranke der Weltverhältnisse. In dieser Kette gegebener Zustände ist allerdings auch der Staat ein Glied, aber es ist das von dem jungen Goethe am wenigsten beachtete. Rousseaus »Nouvelle Heloïse« und dessen »Emile« lagen dem Interesse des Dichters ungleich näher als der »Contrat social«; die Fragen, die unmittelbar hineinführen in die Tiefen des eigenen Seelenlebens und dadurch ein Gemeinbesitz aller Menschen werden. Allerdings auch ein deut[79]scher Zug oder die deutsche Art, an dem allgemeinen Freiheitsdrange der Zeit ihren Anteil zu fordern. Der Mensch stand ihm vor dem Bürger, die Welt vor dem Vaterland, ja die Begriffe Bürger und Vaterland verdunkelten ihm die höheren Begriffe, ganz im Stil des Humanitätszeitalters, dessen Größe wie dessen Schranken Goethe stets zu eigen geblieben ist. So konnte es kommen, daß er wider den allmächtigen Gott anstürmte, aber dem Bürgermeister der Vaterstadt allen schuldigen Gehorsam leistete, wenn er sich sonst auch die Gabe der »politischen Subordination« absprach. Das Individuellste und das Allgemeinste war seine Welt.
sagt der junge Goethe zur Zeit der ersten Teilung Polens, genau aus derselben Gesinnung, aus der auch der alte Goethe die Tagespolitik ansah. — Nicht dem politischen, sondern dem sozialen Leben galt seine Oppositionslust. Und dieser Punkt stand in dem kritischen Angehen gegen bestehende Zustände in Deutschland vor und während der französischen Revolution durchaus im Vordergrund. Auch der »Werther« ist von diesem sozialen Oppositionsgeiste durchdrungen. Dabei war ihm ein tiefer Widerwille gegen die hohle Phrase eigen, und eine solche erkannte er in der Vaterlandsbegeisterung der Klopstockianer, an welche als an ein echtes und mögliches Gefühl er nicht glauben mochte. Gerade aus jener Zeit hat er sich in der Kritik der Schrift von J. v. Sonnenfels »Über die Liebe des Vaterlandes« über diese Fragen ausgesprochen. Schon die Fragestellung an sich ist ihm unverständlich.
»Wenn wir einen Platz in der Welt finden, da mit unsern Besitzthümern zu ruhen, ein Feld, uns zu nähren, ein Haus, uns zu decken, haben wir da nicht Vaterland? Und haben das nicht[80] tausend und tausende in jedem Staat? und leben sie nicht in dieser Beschränkung glücklich? Wozu nun das vergebene Aufstreben nach einer Empfindung, die wir weder haben können noch mögen, die bey gewissen Völkern nur zu gewissen Zeitpunkten das Resultat vieler glücklich zusammentreffender Umstände war und ist?
Römerpatriotismus! Davor behüte uns Gott wie vor einer Riesengestalt! wir würden keinen Stuhl finden, drauf zu sitzen; kein Bett, drinnen zu liegen.« —
So anregend diese fast einzigartige Mischung jugendlicher Kräfte aus allen deutschen Landen und Universitäten an sich hätte wirken können, Goethe fand doch in dieser Geselligkeit keine volle und reine Befriedigung. Die litterarischen Elemente in dem Kreise, der ihn umgab, folgten einer ganz anderen Richtung, als die war, die während der letzten Monate vollends in Goethe aufgegangen war. Was Gotter namentlich erstrebte, dieser zierliche französierende Formalismus, war weit überholt von Goethes Wollen und Streben. Die inneren Lücken, die darum in ihm blieben, wurden durch das eifrig gepflegte Naturleben, durch den Verkehr mit den Geistern der Vergangenheit, der Antike zumal, durch Briefwechsel in die Ferne, durch eigene Poesie, die nicht sowohl in jenen Monden Gestalt annahm, als in seinem Innern sich vorbereitete, endlich durch Familienbeziehungen, die uns bald als die eigentliche Seele seines damaligen Lebens näher treten werden, ausgefüllt. Goethes Naturverkehr gestaltet sich insofern eigentümlich, als er sich nicht in die Weite und Breite ausdehnt, sondern sich wesentlich in die Enge zusammenzieht. In der jüngst verflossenen Frankfurter Periode hatte der Dichter seiner Naturliebe im Sturm und Drang weiter Wandrungen Luft gemacht. Ihm ward dadurch bekanntlich der Beiname des Wandrers oder Pilgers. Auch in Wetzlar kommen einzelne größere Ausflüge vor. Aber es sind[81] durchweg die Ausnahmen. Er liebte hier das Hüttenbauen, das Sich-niederlassen im trauten Winkel. Es ist diese Neigung charakteristisch für Goethe. Sie entstammte dem Sinn für das Plastische, Übersichtliche, Gesammelte in der Natur. Der malerische Blick gesellte sich zu dem dichterischen. »Es entstand«, sagt er selbst in »Wahrheit und Dichtung«, »eine wundersame Verwandtschaft mit den einzelnen Gegenständen der Natur und ein inniges Anklingen, ein Mitstimmen ins Ganze, so daß ein jeder Wechsel, es sei der Ortschaften und Gegenden oder der Tags-und Jahreszeiten, oder was sonst sich ereignen konnte, mich aufs innigste berührte.« Keine Frage, daß sich des Dichters Verhältnis zur Natur in Wetzlar zu besonderer Innigkeit ausbildete, die er als eine ihm zugefallene Entwickelung darum später auch in das poetische Abbild dieses Sommers, den Werther, so lebendig aufnehmen konnte. Seit Sessenheim hatte er solches Naturleben nicht geführt. Mag man immerhin, um diese Zeiterscheinung in der deutschen Dichtung wie im deutschen Leben zu erklären, an Rousseau als epochemachend für die Entwickelung des Naturgefühls im achtzehnten Jahrhundert erinnern, in Goethe entwickelte sich dieser neue Sinn in freiester Ursprünglichkeit; die Naturempfindung im »Werther« ist auch hier nichts als ein treues Nachbild des Erlebten. Namentlich auch in der fast mikroskopischen Versenkung in das kleinste und nächste Leben der Natur, die Rosseau ganz fremd ist, da er die kolossalen Formen der Alpennatur vor Augen und darum die Gefühle des Erhabenen im Geiste hat. Was in Frankfurt (vollends in dem zurückliegenden Winter und Frühjahr) kaum möglich gewesen war, die nahe Berührung mit der Natur auch in der Ruhe, das war in Wetzlar, wo Stadt und Land so nahe grenzt, möglich und willkommen. Der praktische Zweck wirkt mit hinzu, bei solchen Niederlassungen neben der Naturkontemplation etwas Geistiges treiben zu können: Lesen, Zeichnen und, wenn die Muse hold war, Dichten. Diese Ver[82]bindung von Natur- und Kunstgenuß, die gleichzeitig dem Göttinger Hain eigen war, charakterisiert Goethes Wetzlarer Leben. Gerade auch zu der griechischen Lektüre, der sich Goethe, wie wir sehen werden, mit ganzer Seele damals hingab, bildete das Leben im Freien den harmonischen Hintergrund. Denn in den niederen Stübchen der dunklen Gewandsgasse den Homer zu lesen — den Homer nicht nach Philologen-, sondern nach Dichterart — das dünkte ihm ein greller Widerspruch. Gleich vor den Thoren fand er, was er suchte.
Es war der Wildbacher Brunnen und was um diesen herumlag, der Ort, den er im »Werther« anmutig und unnachahmlich zeichnet: »Ich weis nicht, ob so täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles ringsumher so paradisisch macht. Da ist gleich vor dem Orte ein Brunn', ein Brunn', an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. Du gehst einen kleinen Hügel hinunter, und findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Das Mäuergen, das oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle des Orts, das hat alles so was anzügliches, was schauerliches. Es vergeht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da sitze. Da kommen denn die Mädgen aus der Stadt und holen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nöthigste, das ehmals die Töchter der Könige selbst verrichteten« u.s.w.
Das Wildbacher Thor war das der Wohnung Goethes nächstgelegene. Von da lief der Hauptpfad an dem Friedhof vorüber, der erst kurz zuvor neu angelegt war und bald darauf des unglücklichen Jerusalem Gebeine barg, nach dem eben geschilderten Brunnen, den die Litteraturkundigen und die Sentimentalen heute Werthers Brunnen, die Bewohner von Wetzlar aber nach wie[83] vor den Wildbacher Brunnen nennen. Hier lag das Zentrum von Goethes Naturverkehr. Gleich Radien laufen von hier sechs Wege aus; Höhen ringsum, Marmorfelsen, wechselnde Höhenbildung. Es ist der Punkt, wo Goethe selbst im »Werther« »die ineinandergeketteten Hügel und vertraulichen Thäler« oder »die mit der schönsten Mannichfaltigkeit der Natur sich kreuzenden Hügel« preist. Dem kühlen Brunnen eilt der Harbach vorbei der Lahn zu. Über ihm erhebt sich der »Lahnberg«, und auf dessen Abhang lag der Garten, wo der Dichter festen Fuß faßte, von dem er rühmt, man fühle gleich beim Eintritte, daß nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz den Plan gezeichnet habe, das sein selbst hier genießen wolle. Es ist die damals sogen. Meckelsburg, von dem Kammergerichts-Prokurator Ph. L. Meckel im Jahre 1763 angelegt. Verschiedene Teilungen und Besitzveränderungen seitdem haben diesem durch das Wort des Dichters geweihten Berggarten eine vielfach andere Gestalt gegeben. Man stieg auf Treppen die Höhe hinan, von wo man einen Prachtblick in die Nähe und Ferne hatte. Was Wetzlar Schönes zeigt und birgt, bot sich von hier aus dem stillen Homer-Leser: die Stadt malerisch an den Berg geschmiegt, der stolze Dom inmitten der Schieferdächer, die malerische Ruine des Kalsmunt, die Lahn mit ihrer damals noch turmgeschmückten Brücke, das weithin lachende Flußthal nach Braunfels hin mit Kloster Altenberg. Hier versaß Goethe viele Stunden seines Sommerlebens, zeichnend, lesend, sinnend, dichtend, auch wenn es »Lieder ohne Worte« wurden. Im »Werther« klingt die Sympathie für dieses »liebe«, »liebliche«, »vertrauliche«, »freundlich dämmernde« Thal, das er gar sein »Liebesthal« nennt, poetisch nach. Bald aber hatte er noch einen anderen Platz entdeckt, wo gut sein war. Es war das nassau-weilburgsche Dorf Garbenheim, das sein Roman Wahlheim nennt, damals ein beliebter Ausflug. Schon im Namen drückt sich Goethes vorziehende Sympathie aus. Der[84] Weg dahin führt eine halbe Stunde entweder neben der Lahn her flußaufwärts, zur rechten die Hänge des Lahnbergs, zur linken jenseits des Flusses Dörfer und Höhen, und das sich öffnende Dillthal, oder, nahe dem geschilderten Lieblingssitze Goethes über den Lahnberg, wo sich die Zauber der Landschaft noch viel weiter aufthun. Oben Wald, unten Korn auf den Höhen und im Thale grüne Matten. Das Dörfchen selbst an einem Abhang, versteckt in einem Obstwald. Auch hier suchte und fand er vor dem Wirtshaus seinen Poetenwinkel unter zwei weitästigen Linden, die den kleinen Platz vor der Kirche überschatteten. Vor allem vertraulich und heimlich erschien ihm das Plätzchen; er ließ dahin Tisch und Stuhl aus dem Wirtshaus bringen und las zum Kaffee dort seinen Homer. Auch das ländliche Abendbrot mundete dort im Mondschein dem Einsamen; »allein — doch nicht allein.« — Hier war es, wo Goethe-Werther die junge Frau mit dem Knaben traf, wo er die Gruppe der Kinder mit der nächsten Umgebung zeichnete. Dies ganz im Stil seiner damaligen Richtung auf das Kleinleben in Natur und Menschenwesen. Von der Landschaft schritt er fort zum Genre nach niederländischer Art und Kunst. Es ist das Stillleben stimmungsvoller Wirklichkeit, das er nicht bloß darum liebte, weil sein Stift an das Große und Heroische nicht hinanreichte. Wie manches dichterische Gegenbild bietet der »Werther«! Auch hier kamen ihm Altes Testament und Homer, die er stets in naher Nachbarschaft sah, mit Analogieen entgegen. In Wahlheim ist es dieselbe junge Frau, die noch im höchsten Greisenalter von dem merkwürdigen jungen Manne zeugte, der ihr in der Jugendzeit so freundlich begegnet war, oder, wie die derbere Überlieferung sagt, mit welcher und deren Schwester der Dichter »karessiert« haben soll. Die nämliche junge Frau hat der Verfasser dieser Schrift selbst in den Knabenjahren noch als steinalte Greisin, als die »alte Bambergern« gekannt. Auch die[85] Stelle im »Werther«, wonach sie eine Schullehrerstochter gewesen, stimmt mit der Wirklichkeit, denn Eva Justine Henriette Bamberger war in der That nach dem Garbenheimer Kirchenbuch die eheliche Tochter des damaligen Lehrers Däumer in Garbenheim; sie überlebte Goethe um mehr als zwei Jahre und starb über neunzigjährig am 19. August 1834. Das durch Goethes Bekanntschaft der Familie erworbene Kapital von Ruhm und Ehre war groß genug, um auch deren Tochter oder Nichte noch zu speisen. Diese, die gleichfalls als alte Bambergern 1869 starb, machte sich mit den ererbten Erinnerungsbrocken als schwindelnde Bettlerin interessant und wucherte mit der Wahrheit und Dichtung ihrer Traditionen unter den fremden und sagenhungrigen Besuchern Garbenheims. Von einem Sohne aber der uralten »Bambergern«, der nach Norddeutschland ausgewandert war, geht die Sage in seinem Heimatsdorf, er habe sich bei der Teilung des kleinen Erbes seiner Mutter statt alles anderen den Holzstuhl ausgebeten, auf dem Goethe einst unter den Linden gesessen. Der trauliche Dorfplatz liegt noch unverändert, auch das Häuschen der jungen Frau; das Wirtshaus aber des Dorfes ist nicht mehr das damalige, und die alten Linden, hinfällig vor Altersschwäche, haben jungen Nachfolgern Platz gemacht, die man am Goetheschen Säcularfest 1849 an derselben Stelle pflanzte und mit einer kleinen Denksäule versah.
Gewiß besaß Goethe inneren Reichtum genug, um sich die Natureinsamkeit zu beleben mit den Gestalten seiner Phantasie, den Schatten der Erinnerung und seinen rastlos arbeitenden Gedanken. Aber eine Lücke blieb. Goethe, der liebebedürftige und liebefähige, der seit dem verlorenen Glück von Sessenheim und seit den schwärmerischen Freundschaften von Frankfurt-Darmstadt-Homburg »eine Leere im Busen« fühlte, konnte nicht[86] lange ohne Frauenverkehr sein, also nicht ohne Familienverkehr. Es lag dieser Zug tief in ihm, stete Gewöhnung, auch Verwöhnung hatte ihn entwickelt. Daß er in Wetzlar bestimmte Schritte gethan, um in die Häuser der Kammergerichtskreise zu kommen, ob er auch nur der Form von Antrittsbesuchen Genüge gethan, davon fehlt jede Spur. Da aber sein Wetzlarer Aufenthalt nicht in die Gesellschaftssaison fiel und eine Verlängerung in den Winter nicht beabsichtigt wurde, so ist es kaum wahrscheinlich, daß er sich bei seinem Widerwillen gegen soziale Gêne in dieser Richtung besonders bemüht haben sollte. Nur flüchtig scheint er hineingesehen zu haben in die Familie des kurbrandenburgischen Subdelegatus, Geh. Tribunalsrates Joh. Hartwig Reuter; etwas näher in das Haus des Prokurators und Hofrats Joh. Ferd. Wilh. Brandt, das uns als Nachbarhaus des Buffschen noch unten begegnen wird. Die weibliche Verwandtschaft in Wetzlar zog ihn nicht an. Nur eine der Langeschen Cousinen, Johanette Elisabeth Christine (geboren 30. März 1755), war überhaupt erwachsen, aber sie reizte eher die Necklust als die Sympathie des anspruchsvollen Vetters. Die Befriedigung jenes Zuges nach trautem Haus- und Frauenverkehr sollte ihm nach wochenlangem Entbehren wie ein unverhofftes Geschenk von anderer Seite kommen.
Kestner und Lotte haben das eigene Geschick gehabt, gewissermaßen eine Doppelexistenz zu leben, eine ideal-poetische und eine real-prosaische. Jene war eine aufgedrungene, diese die natürliche; Kestner hatte die Glorie wie die Schatten dieses Dualismus zu tragen. Dort berührte ihn in der Bahnlinie des Genius der Weltruhm, hier lebte er befriedigt in den Schranken einer stillen bürgerlichen Existenz. In Goethes »Werther« lag zu viel Wirklichkeit, um nicht auf die volle Wirklichkeit neugierig zu machen, und in der Wirklichkeit wieder zu viel nüchterne, einfache Realistik, um nicht den enthusiastischen Nachforscher zu enttäuschen. Der Roman ließ seiner Heldin ihren wirklichen Vornamen, weil er dem Dichter zu lieb geworden war und weil er sie im ersten Teil fast völlig nach dem Leben gezeichnet hatte; daß der »Bräutigam« den Namen tauscht und als »Albert« auftritt, schon darin giebt der Dichter zu erkennen, daß er kein treues Nachbild beabsichtigt. Wir versuchen eine kurze Lebensskizze zu zeichnen, worin Wahrheit und Dichtung streng geschieden werden, nicht um die historischen Elemente des »Werther« nachzuweisen, sondern um dem wirklichen Kestner zu seinem Recht zu verhelfen. Es wird sich dann ergeben, daß dieser auf dem biographischen Monumente des Dichters wohl eine Nebenfigur, aber doch keine gleichgültige ist.
Johann Christian Kestner war 1741, wie Goethe am[88] 28. August, zu Hannover als der dritte Sohn zweiter Ehe des Geh. Kabinettsregistrators Joh. Hermann Kestner geboren. Seine Mutter war eine geborene Eberhardt. Im Kindes- und Knabenalter scheint er sich langsam entwickelt zu haben, aber Fleiß, Pflichttreue, Sittenreinheit, ein reges Gewissen traten frühe hervor. Wackere Hauslehrer bildeten ihn, und gegen einen derselben hielt er die treue Dankbarkeit, die überhaupt seinem stetigen Sinn eigen war, fest bis in die Mannesjahre. Michaelis 1762 bezog er die damals noch junge Hochschule der »Georgia Augusta«, um die Rechte zu studieren. Das Triennium war noch nicht abgelaufen, als er Göttingen Ostern 1765 verließ, um seine Gesundheit, die durch allzu angestrengtes Studium gelitten hatte, in häuslicher Pflege wiederherzustellen. Er kräftigte sich und ward auch leiblich ein schmucker, ansprechender Mann, dem die treue, grundehrliche Art aus den blauen Augen schaute. Von seinen Göttinger Studien wissen wir im einzelnen wenig. Die berühmten Rechts- und Staatslehrer der Hochschule wie Böhmer, Pütter, Achenwall, Claproth, Ayrer, Gebauer, Meister, Riccius, Becmann hörte er mit Eifer. Daß aber seine geistigen Interessen sich nicht auf das Rechtsstudium einschränkten, geht teils aus dem erweiterten Horizont seiner späteren Jahre, teils aus seiner Freundschaft mit dem um ein Jahr jüngeren Kommilitonen Georg Christoph Lichtenberg hervor. Von diesem findet sich in Kestners Stammbuch ein (allerdings undatiertes, unzweifelhaft aber der Studienzeit angehöriges) Stammbuchblatt:
Dasselbe Stammbuch bewahrt noch manchen Freundesnamen, aber es ist kein später berühmt gewordener darunter. Nur einer, der Holsteiner August v. Hennings, macht eine Ausnahme; er war in Göttingen, wo er mit seinem Bruder von 1763 bis 1766 studierte, und weiterhin Kestners nächster Freund, dem er später nur den Namen Goethes unmittelbar folgen ließ. Es ist derselbe Hennings, der später als Publizist, namentlich als Herausgeber des »Genius der Zeit«, einer der Hauptführer des deutschen Liberalismus zur Zeit der französischen Revolution wurde, verspottet in den »Xenien«, um seines politischen Standpunktes willen befehdet von dem »Wandsbecker Boten«, ebendarum befreundet mit J.H. Voß. Den anfänglichen Plan, nach gekräftigter Gesundheit zum Abschluß seiner Studien wieder nach Göttingen zurückzukehren, gab Kestner auf und ließ sich statt dessen durch den Hofgerichtsrat Dr. Bünemann in Hannover in die juristische Praxis einführen. Er muß gute Hoffnungen als Jurist erregt haben, denn neben anderen Vorschlägen trat Anfang 1767 an ihn die Frage heran, ob er bei der zur Reichs-Kammergerichts-Visitation abgeordneten Subdelegation für das Herzogtum Bremen als Sekretär des Hofrats Johann Philipp Konrad Falcke eintreten wollte. Eine Vertrauensstelle, die um so instruktiver für Kestner zu werden versprach, je größeren Ruf der Gesandte als einer der bedeutendsten Juristen des Landes und als eifriger reichsrechtlicher Schriftsteller hatte, und für je erfahrener er — ein vertrauter Freund Pütters seit jungen Jahren — gerade in Reichsgerichts-Sachen galt. Auch schien dies Weg und Brücke zu rascher Beförderung zu sein. Aber gerade diese aussichtsreiche Verwendung machte dem gewissenhaften und bedächtigen Kestner Skrupel. Allerdings bewarb er sich, von Wohlmeinenden angestoßen, um die Stelle, aber alsbald überkamen ihn Bedenken, fast Reue. Selbstpeinigende Fragen quälen den Zaudernden. Soll er nicht lieber den Betrieb der Advokatur anfangen? Seine stille Art schicke sich nicht in den[90] Tumult und Lärm. »Gott ach gieb, gieb doch« — so seufzt er im Tagebuch —, »wenn ich mich nicht so gut dazu schicke oder es mir sonst schädlich ist, daß es rückgängig gehe. Ach es ist, als wenn ich mich freuen würde, wenn mir's abgeschlagen würde. Doppelt würde ich Gott danken, da ich dann für seine Fügungen, die allemal die besten sind, dankte.« Das ist nicht die Sprache zuversichtlicher Initiative, aber ein Zeugnis der ernsten Gesinnung des jungen Mannes. Mangel an Selbstvertrauen, Zweifel an seinen Kräften, fromme Scheu charakterisieren ihn. Er ist keine von den Naturen, die in den vordersten Reihen zu wirken berufen sind, nichts Geniales und Ungemeines zeichnet ihn aus, aber er ist um so mehr ein Mann des Gewissens und eine treue Natur, die mit ihrer Pietät auch Ernst macht im Leben.
Auch das Bedürfnis eines ununterbrochenen Selbstgesprächs im Tagebuche charakterisiert die ruhigen Wege dieses bedächtigen Lebens, die sich und seine Umgebung prüfende Art; meist sind diese Aufzeichnungen in französischer Sprache, aber sobald sich das innere Leben darin hervorkehrt, springt er in die Muttersprache über. Ist es zunächst ein ethischer Zug, von sich und anderen Rechenschaft zu verlangen, so ist es doch auch der Ansatz zu einem litterarischen Bedürfnis, das Erlebte sich zu objektivieren. Auch wo er Briefe schreibt, geschieht dies nicht ohne sorgfältige Koncipierung. Genial hinzuwerfen, zu improvisieren, war seine Art und Gabe nicht. Nachdem die Wahl zu der Wetzlarer Stelle wirklich auf Kestner gefallen war, wurde er ruhig und griff zu, denn nun war es ihm Bestimmung. Am 3. Mai 1767 wurde er vereidigt, acht Tage darauf stand er schon in der alten Reichsstadt. Im »Goldnen Löwen« stieg er ab. Wetzlar war damals der Ort, wie wir sahen, wo sich juristische Studiengenossen gar manchmal wieder trafen in den Flitterzeiten der Praxis. Und besonders Göttingen, die erste Juristenuniversität der Zeit, war stark vertreten. So fand er[91] in dem Dr. v. Sachs, Advocatus camerae, den er zuerst besuchte, so in dem zweiten sachsen-gothaischen Legationssekretär, dem Dichter Gotter, der den eben Angekommenen alsbald begrüßte, so in dem ersten Sekretär derselben Legation, Balemann, einem hervorragenden Juristen, so in Dr. Zwierlein Göttinger Studienfreunde. Von seinem Gesandten, wohl dem ersten Juristen unter den Richtern wie Visitatoren des Kammergerichts, wurde er wie ein guter Freund aufgenommen. Ein abgelegenes Daheim, recht im Wetzlarer Stil, nahm ihn auf. In einem besonders engen Winkel der winkligen Stadt, am Ende der steil abfallenden Jäcksburg, lag das reformierte Pfarrhaus. Es ist dasselbe Pfarrhaus, wo später der berühmte Gottfried Menken als Geistlicher zeitweise gewirkt hat. Dort im ersten Stock wohnte Kestner. Das bescheidene Quartier interessiert uns, weil es auch Goethe so oft betreten. Von da weiter abwärts führt eine Treppe, noch heute »die reformierte Treppe« genannt, nach der unteren Stadt hin; die Aussicht aus den kleinen Fenstern ging nach dem malerischen Kalsmunt. Hinter dem Hause streckte sich bis zur Stadtmauer ein klösterlich-stiller Garten mit reichen Obstbäumen, Laube und Rebengang. Es ist derselbe Garten, wo Goethe mit dem nichts ahnenden Freunde seine letzte Mahlzeit in Wetzlar hielt.
Das innere Wetzlar behagte dem wackern Kestner wenig. »In einer Stadt zu seyn«, schreibt er an seinen Freund Hennings, »wo wenig Geschmack, wo Gelehrter-, Ahnen- und Stolz auf niedrigen Gewinn, Härte gegen anderer Unglück, Cabale &c., Tyrannisiren &c. — da ist der Ort, die Standhaftigkeit zu üben, das Böse zum Guten zu benutzen.«
Kestners juristische Thätigkeit war anfangs eine doppelte: die praktische als Beamter, eine theoretische im Studium des Reichsprozesses. Bald kam die zweite in Wegfall, weil die erstere zu stark in Anspruch nahm. Und sie nahm daher stärker als[92] bei anderen Sekretärstellen in Anspruch, weil der Chef selbst, der thätigste und pünktlichste unter den Gesandten, die Berichte immer doppelt, nach Hannover wie nach London, ausfertigen lassen mußte. Außer diesen regulären gab es außerordentliche Arbeiten durch den viel fordernden Gesandten; Kestner hatte täglich die »Diktatur« zu besuchen und sich im Publikum so weit zu bewegen, um dem Gesandten über wichtige Vorkommnisse berichten zu können. Freilich drückte ihn mitunter die atemlose und meist mechanische Arbeit, die ihn der Wissenschaft, den fernen Freunden, der Natur gegenüber zur Entsagung verurteile und die, als Arbeit auf Kommando, so wenig befriedige.
Die theoretisch-praktische Einführung in die Labyrinthe des Reichsprozesses erreichte er durch eine Art Vorlesung und daran geschlossenes Praktikum. Diese Übungen hielt damals nur der Hofrat und Kammergerichts-Prokurator Peter Franz Noël. Bald war Kestner durch Pflichteifer und geschäftliche Umsicht der Vertrauensmann seines Gesandten. Es war der Höhepunkt seiner Wetzlarer Thätigkeit, als er von seinem Chef verwandt wurde, die von diesem veranlaßten Differenzen innerhalb der Visitationskommission, die — wie wir oben sahen — schon die Auflösung des ganzen Untersuchungsgeschäftes herbeizuführen drohten, durch eine versöhnliche Erklärung am 31. Januar 1773 auszugleichen; — ein Hervortreten, das ihm die Ehre eintrug, auch in der »Geschichte der Stadt Wetzlar« von Ulmenstein (II, 764) eine Stelle zu erhalten.
Kestner aber schränkte sich nicht ein auf diese unmittelbar amtliche oder dem Amte verwandte Thätigkeit; an dem Müßiggang der jungen Praktikanten teilzunehmen hatte er vollends weder Zeit noch Stimmung. Er wollte auch an seiner juristischen Weiterbildung überhaupt fortarbeiten und machte daher den Vorschlag zur Errichtung einer »Gelehrten-Societät«, die »gleichsam ein Justizkollegium« darstellen sollte. Außer ihm[93] traten dem Kränzchen vier junge Juristen bei. Auch über das Jus hinaus erweitert er den Kreis seiner Interessen, für deren Pflege er sich abends und in der Morgenfrühe Stunden vom Schlafe abzog. Er will an seinem Teile den unwissenschaftlichen, unidealen Geist bekämpfen helfen. So klagt er in seinen Aufzeichnungen, die schönen Wissenschaften fänden in Wetzlar überhaupt keinen Platz, der gute Geschmack sei dort verbannt; hieran sei die »Juristerei« schuld. Er erröte, indem er es schreibe. Neuere Sprachen und ihre Litteraturen waren das Hauptgebiet, auf dem er sich mit Vorliebe bewegte. Außer dem Französischen, das er geläufig sprach und schrieb, war ihm, dem Hannoveraner, das Englische vertraut. Man gründete eine English society und übersetzte dafür auch deutsche Gedichte ins Englische, z.B. the Sheep and the Thornbush, tale after Hagedorn. Aber auch das Italienische wurde gelernt und geübt. Trotz dieser rastlosen Arbeit an seiner Fortbildung wurde Kestner nicht zu den Schöngeistern Wetzlars gezählt. Gleichwohl liebte er es, Erlebtes in kurzen Memorabilien aufzuzeichnen, und nicht bloß für sich als Tagebuch, wie wir oben berichteten, sondern auch für andere. So legt er ein besonderes Memoirenbuch an, in dessen Einleitung er — offenbar in der Zeit, als man das baldige Auseinandergehen der Visitation befürchten mußte — sagt: »Da ich vielleicht nicht lange mehr in Wetzlar bleiben werde, der Aufenthalt an diesem Orte aber immer eine merkwürdige Epoche meines Lebens sein wird: so will ich noch vorher, weil mir alles noch teils vor Augen, teils noch lebhaft im Gedächtnis ist, eine Geschichte meines hiesigen Aufenthaltes entwerfen.« Er hatte jedem der Seinigen in Hannover eine gewisse Materie zugedacht, die allmählich in Briefform eingeschickt werden sollte, dem Vater die Denkwürdigkeiten der Reichsstadt und des Gerichts, der Schwester das Interessanteste aus dem häuslichen Departement u.s.w. Er entwarf ein Schema über die ein[94]zelnen Rubriken. Die vierte sollte handeln »Von mir selbst« und zerfiel in sechs Unterteile: »Meine Situation, Lebensart, meine Geschichte, meine Arbeit des Amts, meine Nebenbeschäftigungen, meine — (das Substantiv fehlt wie verschämt, denn er meint doch wohl seine Liebe).« Es ist bei Fragmenten geblieben, aber nichts ist dem treuen und emsigen Berichterstatter unwichtig, die Sachen wichtiger als seine Person. Auch den Lustbarkeiten der Jugend blieb er nicht ganz fern. Zu Fuß und zu Pferd wurde das schöne Land durchstreift, die Maskenbälle in dem wiederhergestellten Saale des »Römischen Kaisers« besucht. Auch trat er jener Rittertafel im »Kronprinzen« bei, wie wir oben schon gesehen haben. Doch war sein Verhältnis zu diesen possenhaften Jugendspielen nur ein vorübergehendes und lockeres. Vielleicht erschien dem ernsten jungen Mann der Spuk für einen Beamten doch wenig passend, vielleicht hatte, da die Sache Aufsehen im Publikum machte, sogar sein Chef ein Wort darein geredet. Noch ehe die romantisch-ritterlichen Formen an der Tafelrunde durchgeführt waren, die den Nüchternen vollends fern halten mußten, wurde Kestner (16. Oktober 1769) zum »Wirklichen Staatsminister« ernannt; ein Zeichen jedenfalls, daß man ihn gern hatte. Aber sein Sinn war nicht bei dem Possenspiel, zwei Monate darauf erbat und erhielt er seine Entlassung. Doch »wegen seiner Geschicklichkeit und Erfahrung« soll auch ferner noch sein Beirat gehört werden. Auch zog er sich von der gemeinsamen Mittagstafel im »Kronprinzen« allgemach in seine stille Klause zurück; die ritterliche Romantik war dem nun Dreißigjährigen doch zu jugendlich, um daran teilzunehmen, und die philosophischen Tischgespräche konnten ihm, der sich in seinen »ruhigen religiösen Vorstellungen« befriedigt fühlte, nicht anziehen. Er hielt sich zur Kirche und merkt in seinem Tagebuche an, daß von den drei Wetzlarer Geistlichen, die er hörte — Reuß, Machen[95]hauer, Pilger — ihm der erste am meisten zusage. Er zeige »viele natürliche Züge, wovon er die Schönheit vermutlich selbst nicht einmal wisse, und zum großen Glück«. Es war ein anderes Moment als jener Jugendverkehr, das ihn dauernd anzog und für den Verzicht auf jene Allotria schadlos hielt. Ohnehin den stillen Freuden des Familienlebens zugeneigt, fand er die Erholung von strenger, oft atemloser Arbeit in dem deutschen Ordenshause. Goethe scherzt, der Freund erhole sich, wenn er »an des hl. Römischen Reichs Gerechtigkeits-Purifications-Wesen manche Feder verschabt« habe, »von dem Gekriz und Gekraze in dem Heiligtume des Deutschordens«. Wir werden die Anziehungskraft dieses Hauses bald kennen lernen; es öffnete sich leicht und gern jungen Freunden. Wenn es aber andere nur als vorüberziehende Passanten betraten, Kestner schlug Wurzel darin, ja die tiefsten Wurzeln seines Lebens. Wir treten in das Haus ein, das zu den klassischen Häusern unserer Dichtungsgeschichte zählt, und dessen Hauptraum, der Zeuge von Goethes seligem Sommertraum, noch heute möglichst treu konserviert und dem litterarischen Reliquiendienst offen gehalten wird. Wir werden darin bald auch dem wackern Kestner und seiner Liebe in Friede und Kampf wieder begegnen. —
Aber schon diese kurze urkundliche Lebensskizze zeigt, daß es aus »Wahrheit und Dichtung« gemischte Farben sind, mit denen Goethe die Gestalt seines »Albert« gemalt hat. Goethe selbst stellt, wie bekannt, auf Kestners Beschwerde über »das elende Geschöpf von einem Albert« mit Nachdruck in Abrede, daß ihm der Freund zu seinem Romanportrait gesessen. Der »Berichtiger der Geschichte des jungen Werther« sagt nicht uneben: »Man würde dem guten Kestner unrecht thun, wenn man ihn bloß nach dieser Schilderung beurteilte. Albert mußte allemal verlieren, wenn sein Mitbuhler interessant werden sollte.« Wenn aber der Dichter im künstlerischen Interesse darauf aus[96] sein mußte, in den beiden Nebenbuhlern den Gegensatz feuriger Liebesglut und kühler Temperatur, der Genialität und Nüchternheit durchzuführen, so trifft gerade das am wenigsten die Wirklichkeit. Tiefe nachhaltige Liebe, die nicht genialisch explodierte, aber ein ganzes Leben zu erwärmen und zu erhellen stark genug war, glühte in Kestner, das sagen uns seine geheimsten Bekenntnisse. Und nach dem Grad dieser Liebe wenigstens — wenn auch wohl nach der Art seiner Grundsätze — sagt sein Briefwort nach dem Erscheinen des »Werther« kaum zu viel: »Wenn ich von ihr hätte lassen müssen; so stehe ich nicht dafür, ob ich nicht Werther geworden wäre.«
Goethes Leben in Wetzlar, das äußere wie das innere, erhielt seine Farbe doch erst durch die Berührung mit der Buffschen Familie. Um dieses Haus wie um seinen Mittelpunkt drehte sich in diesem freud- und leidvollen Sommernachtstraum sein Dichten und Trachten. Und wie weit noch über diese Grenze hinaus jenes merkwürdige Verhältnis seine Strahlen und Schatten in die Folgezeit warf, das weiß die Geschichte unserer Dichtung. Freilich ist es in diesem Familienkreis eine Gestalt, von der vor allem oder allein diese Wirkung gilt. Aber diese dem Dichter so teure Gestalt strahlt ihm hell genug, um auch über ihre Familienumgebung ihr Licht zu werfen. Darum ist es der Mühe wert, diesem Kreise etwas näher zu treten.
Das Buffsche Haus gehörte nicht zu den aristokratischen der Reichs- und Reichs-Kammergerichts-Stadt. Es stand gewissermaßen zwischen den Adelskreisen des Gerichtes und dem gehobeneren Wetzlarer Bürgertum in der Mitte. Alles in allem war es ein schlichtes tüchtiges deutsches Bürgerhaus; — deutsch dem vielfach französierten, stolz dem anspruchsvollen Adel gegenüber. Ehrbare Sitte und ein gemütliches Stillleben hatte es sich in vielfach verschnörkelter Umgebung gerettet. Aber auch[98] Goethe hatte in dieser Jugendperiode keinen aristokratischen Zug in sich; bürgerlich von Herkunft, als Reichsstädter stolz auf kräftiges Bürgerwesen, fand er in gesunden Bürgerkreisen seine natürliche Welt, in der es ihm wohl ward. Und wo ihm ausnahmsweise Adelige gegenübergetreten waren, wie in den Hofkreisen von Darmstadt und Homburg, da war es nicht wegen, sondern trotz dem Adel, daß er sich anziehen ließ; das Menschliche, Geistig-Gemütliche gewann ihn. Erst die Weimarer Zeit hat ihm eine Vorliebe für das Aristokratische aufgeprägt, aber auch hier mehr sozial als persönlich. Denn es ist nicht zu übersehen, daß gerade damals der Adel eine Art Umbildungsprozeß durchmachte, daß er durch lebendigeres Eingehen auf die geistigen Interessen, die das Bürgertum hoben, die Kluft der Stände schmaler machte, und daß gerade in Weimar der geniale Naturton durch Goethe selbst und seinen fürstlichen Freund zeitweise hoffähig wurde; endlich daß sich gerade dort eine kleine Zahl von Edelleuten nicht gewöhnlichen Schlags zusammenfand. Und doch — mitten im weimarischen Hofleben wurde er später in »Hermann und Dorothea« der Dichter des deutschen Bürgertums.
In einer Seitenstraße der höckerigen Reichsstadt, an der Pfaffengasse und Gänseweide, lag der Deutschordens-Hof, umgeben von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, das große Eingangsthor geschmückt mit dem Wappen der Deutschherren, dem schwarzen Ordenskreuze. Im Hintergrunde des Hofes stand und steht ein größerer Bau, der damals vermietet war (und zwar an die dem Buffschen Hause befreundete und auch mit Goethe verkehrende Familie des Prokurators und Hofrats Joh. Ferdinand Wilh. Brandt), links am Eingangsthor aber das von der Familie Buff bewohnte bescheidenere Haus — der Hauptschauplatz der Goetheschen Liebe. Zunächst aber betrachten wir dies Haus in der vorgoetheschen Zeit, wo es noch unberührt war von der[99] Gärung, die der geniale und stürmisch liebende Dichter in die friedlichen Räume brachte.
Wir fragen zuerst nach dem Hausvater. Der alte Ordensamtmann Buff, damals ein Einundsechziger (geb. 20. September 1711), war ein biderber, willensstarker, aufgeweckter Mann; auch sein erhaltenes Bild zeigt den klugen, kräftigen Kopf. Natur und Beruf hatten ihn, der dem Boden des Volks und dieses Stammes gerade entsprungen war, nicht hinter dem Schreibtisch und unter den Akten alt werden lassen, sondern er stand mitten im Volk in Stadt und Land, der Landwirtschaft wohl kundig, geschäftsverständig, gewissenhaft und wert gehalten von seinen Oberen. Durch Mäßigkeit und gute Natur noch stark, glich er die äußere Rauheit seines Wesens aus durch gutmütige Dienstfertigkeit und Menschenliebe. Die Jagd in den damals noch wildreichen Wäldern um Wetzlar und ein scharfer Ritt waren seine Passion. Er hielt sich eine schöne Sammlung von Gewehren und tummelte noch in alten Tagen ein wildes Pferd. Erst in seinen spätesten Jahren verzichtete er auf die Jagdlust und fuhr in einem kleinen Wagen. Im Eifer des Gesprächs pflegte er zu stottern. Überhaupt besaß er eine starke Dosis Heftigkeit, auch wohl Grobheit. Noch in hohem Alter ohrfeigte er in einem Dorfe bei Wetzlar, wo er Ordensgefälle zu erheben hatte, einen Bauern, der mit der Pfeife im Munde zu ihm ins Zimmer getreten war. Die Familie Buff hatte ihre Wurzeln ganz in jener Landschaft der Wetterau, wo sie sich in ihren Verzweigungen, in ländlichen Pfarrhäusern namentlich, noch über die Zeit des dreißigjährigen Krieges zurück verfolgen läßt. Der Beruf des alten Amtmanns war eine deutsche Reichsantiquität und stimmte darum trefflich zu Reichsstadt und Reichsgericht. Gerade in diesen Strichen des Lahnthals hatte der deutsche Orden zahlreiche Besitzungen und Gefälle. Sie gehörten zu der Kommende Schiffenberg in der Ordensballei Hessen, nahe bei Gießen. Hier hatte der Orden schon seit[100] 1207 Fuß gefaßt, die Ballei erwuchs von der Kommende Marburg als ihrem Zentrum aus, wo die heil. Elisabeth das von ihr erbaute Franziskanerhospital nach ihrem Tode dem Orden überwiesen hatte. Schiffenberg war ein aufgehobenes Augustiner-Chorherrenstift. Der alte Ordensamtmann Buff war durch seinen Vater, einen Pfarrer im Ordensgebiet, damit verwachsen. In Wetzlar selbst lagen zerstreut verschiedene Grundstücke des Ordens. Ein Garten in der Stadt, nur hundert Schritt vom Ordenshofe, in welchem Goethe der anmutigen Lotte, in den Ästen der Bäume sitzend, Birnen und Pflaumen ernten half; dann der Marmorberg am Wildbacher Brunnen und Felder in unmittelbarer Nähe. Daß auch Goethe den schlichten Mann schätzte, bekennt er ebenso im »Werther« wie in den Briefen nach Wetzlar, der besten Kontrolle für seine wirklichen Gesinnungen. Er nennt ihn »gar einen braven Kerl« und »einen offenen, treuherzigen Menschen«.
Die Seele aber des Hauses war die Mutter gewesen. Der Dichter hat sie, und damit den Höhepunkt des Familienlebens, nicht mehr gekannt; sie war nach längerem Kranksein am 13. März 1771 noch in frischestem Alter gestorben. Aber ihr Geist, ihre Seele, ihre lebendige Gegenwart regierte das Haus noch und ergriff durch die Berichte der Tochter auch den Dichter dergestalt, daß er ihr in seinem Romane selbst ein in die Weite und Ferne reichendes Denkmal errichtet hat. Magdalene Ernestine Buff war die Tochter des Lieutenants, späteren Majors Peter Ernst Feyler, der darnach an der Spitze der kleinen hessischen Garnison in Wetzlar stand. Die Hochzeit war auf der Kommende Schiffenberg gefeiert worden. Aus ihrer zwanzigjährigen Ehe mit dem bei ihrer Vermählung doppelt so alten Mann stammten sechszehn Kinder, und sie hieß in Wetzlar nur die »Mutter der vielen schönen Kinder«. Zu Goethes Zeit lebten noch elf von der großen Schar. Ihr Wesen interessiert uns um so mehr, weil Lottens Bild fast als[101] die Wiederholung der mütterlichen Züge erscheint. Das Buffsche Haus war eines der gesuchtesten und besuchtesten der Stadt, und alle Besucher, so weit noch Stimmen vorliegen, sind einhellig in der fast schwärmerisch bekannten Sympathie für die nicht gewöhnliche Frau. Ungewöhnlich schön (auch ein noch vorliegendes Bild bezeugt es), voll Anmut, Unterhaltungsgabe, hilfreich und liebevoll, den Kindern die treueste und von diesen angebetete Mutter, bei hoch und niedrig beliebt, nicht ohne einen Zug von Weltklugheit, die sie bei dem Gedanken an die Zukunft und Versorgung ihrer Kinder als Mutterpflicht erkannte. Der religiöse Geist des Hauses war ein gemütvoller Rationalismus, kirchlich und gottesfürchtig, doch mehr auf das Thun gerichtet, als nach der Tiefe des inneren Lebens. Der alte Amtmann, vielgeschäftig in seinem Berufe, erschien wenig unter den Seinen. So war die Frau vielen vieles und ihren Kindern das Beste. Es war ihr das Geheimnis eigen, es jedem, der in ihre Kreise trat, wohl und heimisch zu machen, und die Wolken von der Stirn zu scheuchen durch anteilvolles Verständnis. So wurde das deutsche Ordenshaus ein Magnet und eine Heimstätte für manchen, zumal solche, die das steife Zeremoniell der reichskammergerichtlichen Kreise abstieß oder die als Nichtadelige dort keinen Zutritt hatten. Wir stellen ein kurzes Zeugenverhör an. So schreibt der Dichter Gotter, der namentlich während seines ersten Wetzlarer Aufenthaltes viel im Buffschen Hause verkehrte, an Lotte (12. Juli 1768): »Ich werde ewig stolz sein, mich zu einer Familie rechnen zu dürfen, wo alle jene diejenigen (sic) häuslichen Tugenden herrschen, die erfordert werden, um, wie Medon im 'Codrus' (von Cronegk) sagt,
und an Kestner (22. März 1769): »O die liebe, liebe Familie, wenn ich doch auch ein Zeuge des allgemeinen Frohlockens ge[102]wesen wäre. Mit welchem Entzücken muß der Himmel eine solche Eintracht sehen! Ach es ist ohnmöglich, ganz ohnmöglich, daß es diesen Seelen, wenn sie ihren Grundsätzen und Gesinnungen treu bleiben, je übel gehen könne.«
Unter unseren Zeugnissen figuriert ein achtzehnstrophiges[3] Loblied eines Vetters der »Frau Amtmannin Buffin« vom Jahre 1769, worin Mutter und Kinder im Barockstil dieser weichen komplimentenreichen Zeit gefeiert und den Kindern, die sämtlich zu Engeln werden, eine goldene Lebensperspektive gezeigt wird:
Als der dritte der Zeugen mag uns Kestner gelten, dessen Zeugnis gewiß darum nicht an Wert verliert, weil er bald durch seine Verlobung mit Lotte dauernd an das Buffsche Haus gefesselt wird. Sie ist ihm die beste Frau, »die beste Mutter, die je gelebt, und wie sie die Phantasie nur schildern mag«; — »das schönste, sanfteste, menschenliebendste, gefälligste, zärtlichste Herz, Einsicht, Verstand und wahre Weisheit, auch gefälliger [103]Witz«. Und nach dem Tode widmet ihr Kestner in einem Briefe an denselben Freund (von Hennings) einen längeren und warmen Nachruf mit der Liebe eines Sohnes, aus dem ich nur wenige Sätze heraushebe: »Ihre Miene war einnehmend und ganz Bescheidenheit, sittsam und jungfräulich. Sie errötete noch wie das unerfahrene Frauenzimmer für einen freien Ausdruck. — — — Ihre Seele war weiblich, aber sie dachte auch wie ein Mann, groß, edel und war oft heldenmütig.«
Endlich lassen wir noch den wilden Stürmer und Dränger Klinger zeugen, dessen Zeugnis darum besonderen Wert hat, weil es nach der Mutter Tod und nach Lottens Entfernung von Wetzlar abgelegt wird; ein Beweis, daß deren Art und Gesinnung als ein Familienzug dort fortlebte. Klinger schreibt nach einer Wallfahrt, die er als Gießener Student zu Pfingsten 1776 nach Wetzlar unternommen, an Kayser: »Ich wollte, du hättest das Bild dieser Gegenden mitgenommen und so unter Lottens Vater, Geschwistern und Freunden — es ist gut da, und ich bin gut.« — Der frühe Tod der trefflichen Hausfrau schlug dem Manne und dem Hause die tiefste Wunde. Zwei Töchter waren erwachsen, aber nicht das Recht der Erstgeburt entschied über die Frage, welche von den beiden die Pflichten der Hausfrau und Mutter übernehmen sollte. Die älteste Tochter Karoline, ein schönes aber wenig willenskräftiges Mädchen, trat willig hinter die zweite, Charlotte, zurück. Sie war der Stern der Familie und »es schien als wenn die Weisheit ihrer Mutter ihr zum Erbteil geworden wäre«. Ihr Bild ist auch in doppelter Gestalt erhalten, in dem Bilde der Dichtung — denn die Lotte im ersten Teile von »Werthers« Leiden trägt, wie auch ihr Gatte Kestner später anerkannte, möglichst treu die Züge ihres Originals — und in den freilich minder farbenreichen Überlieferungen der Wirklichkeit. In »Wahrheit und Dichtung« hat Goethe nur wenige Striche zur Zeichnung der[104] Jugendgeliebten versucht. Aus dem einfachen Grunde, weil ihr Bild eben in dem Roman zugleich als ein Bild der Wirklichkeit fortleben sollte.
Charlotte Sophie Henriette Buff war geboren zu Wetzlar am 11. Januar 1753. Über ihre Bildung und Entwickelung sind wir wenig unterrichtet. Noch kaum zur Jungfrau erblüht, eben fünfzehnjährig, verlobte sie sich, wenn auch nicht formell, offenbar unter der Ägide der begünstigenden Mutter, die den jungen, sittenreinen und pflichttreuen Mann liebgewonnen und ihre Tochter wohl versorgt wußte, mit Kestner. In einem fünfjährigen Brautstande hatte der »Bräutigam«, wie ihn ganz Wetzlar trotz des offenen Geheimnisses nannte, Muße genug, zur Fortbildung seiner lieblichen Braut das Seine beizutragen. Denn die Bildungsmittel, welche die kleine Reichsstadt bot, waren gering. Ein gewisser Kunstsinn, angeborene Liebe zur Musik und Geschick zum Zeichnen waren ihr eigen. Geschmack an poetischer Lektüre, an unserer erwachten Dichtung war keineswegs der Hauptsinn in dem Mädchen, wenn sie auch von einer Klopstockschen Ode tief ergriffen werden konnte. Aber es war nicht ihr tägliches Brot, sondern wie ein Dessert, das sie sich nur als Ausnahme gestattete. Als nach dem Tode der Mutter das Leben sie in seine ernste Schule nahm, so trat der angeborene Zug zur Wirklichkeit des Lebens noch stärker hervor. Zuhause war sie in dem Umkreis ihrer häuslichen Pflichten. Es ist eigen, daß das Mädchen, das zur Heldin der Empfindsamkeit als Modell gesessen, im wirklichen Leben so ganz und gar nicht empfindsam, so realistisch und praktisch dasteht. Aber es ist auch nicht zu vergessen, daß die ursprüngliche Natur in der Lotte des »Werther«, hineingezogen in den geistigen Krankheitsprozeß des Liebenden, sich allmählich wandelt. Die Lotte der Wirklichkeit blieb durchaus die nämliche, als welche sie im Anfang des Romans eingeführt wird. Nichts von Schwärmerei[105] und Sentimentalität, ja nicht einmal ein Hang zur Beschaulichkeit, in der eine imaginative Traumwelt den Vorzug erhält vor der realen, keine tiefe, aber eine kerngesunde Natur. Es ist die innere Harmonie ihres Wesens, die frische willenskräftige Natur, die so viele und auch Goethe anzog. Gerade dieses innere Gleichmaß schützte sie auch vor leidenschaftlicher Erregung, die aus dem Rahmen eines »allgemeinen Wohlwollens«, wie Goethes Rückerinnerung ihr Wesen zeichnet, selten oder kaum heraustrat. Seelenkämpfe blieben ihr durch den frühen Bund mit Kestner erspart, und wenn auch das Eintreten Goethes in ihren Kreis eine Art Gärung und Revolution zu machen schien, sie hat, wie wir sehen werden, doch auch diese stärkste Feuerprobe der Treue rühmlich bestanden. Auch darin wiederholte sich in ihr ein Zug der Mutter, daß sie einen starken Trieb zu werkthätiger Liebe, zum Helfen und Mitteilen in sich trug, der den Dürftigen gegenüber als Wohlthun, den Gleichgestellten als herzlicher Anteil auftrat. Dem entsprach das religiöse Element in ihr, das in dem frommen Rationalismus des Hauses wurzelte. Ihr Gefühl setzte sich um in Handeln. So wurde sie der Sonnenschein des Hauses und nicht bloß ihres Hauses. Manche Verehrer nahten sich dem liebreizenden Mädchen, aber ihr Herz hatte früh entschieden und gewählt. Diese innere Sicherheit verbürgte die Stetigkeit und das Gleichgewicht ihres Wesens. So ernst der Grundton ihres Lebens durch die frühe Verlobung und der Mutter Tod geworden war, es stellte sich doch neben die ernste eine sehr heitere Seite, oder vielmehr diese beiden Seiten standen in engster Verbindung. Denn um diesen Frohsinn um sich verbreiten, die Wolken von anderen Stirnen scheuchen zu können, dazu gehörte der Quell eigener unverwüstlicher Freude, die Gabe, allen Dingen die lichte Seite abzugewinnen. Unverstimmbare Laune und schelmischer Mutwille, frischer Humor waren die Würze ihrer Unterhaltung. Goethe selbst fragt Kestner noch[106] nach Jahren (23. Januar 1778), ob denn Lotte immer »noch so schnippisch« sei; und es ist nicht unmöglich, daß er in der bekannten Fauststelle:
und
an diesen Zug der Geliebten gedacht hat. Denn ein hervorstechender Zug ist dies an seinen übrigen Freundinnen nicht. Mit diesen Charakterzügen stimmt ihre äußere Erscheinung. Eine seltene Anmut in Gestalt und Gesichtsausdruck — blaue Augen, blondes Haar — spricht uns noch heute aus dem allbekannten Bilde an, das doch, ein Jahrzehnt erst nach dem Verkehr mit Goethe in Pastell (von Schröder) gemalt, die neunundzwanzigjährige Frau und Mutter mehrerer Kinder darstellt. Auch der neckische Zug verleugnet sich nicht im Mundwinkel und den Augen. Aber wir können von der neunundzwanzigjährigen auf die neunzehnjährige den Schluß machen. Lotte ist sich, auch nachdem sie wider Willen zur deutschen und zur Welt-Berühmtheit geworden, in ihrem Wesen gleich geblieben. Eine Reihe von Briefen aus weit späterer Zeit zeigt überall die treue, sorgliche, verstandestüchtige Mutter, die mit Klugheit und Eifer die Erziehung der Kinder leitet und das Familieninteresse wahrt. Noch von der angehenden Greisin bezeugt Schillers Witwe am 9. Oktober 1816: »Sie ist eine sehr hübsche Frau, wohl weit in den Sechzigen; bedeutende Augen und schöne Gestalt hat sie sich erhalten und ein schönes Profil, allein leider wackelt der Kopf, und man sieht, wie vergänglich die Dinge der Erde sind. Sie ist geistreich, gebildet und nimmt großes Interesse an den Weltbegebenheiten.« Ein großes Ölbild aus dem Jahre 1822, von dem Münchener Künstler Chr. Heinr. Hanson in Frankfurt a./M. gemalt, bestätigt dieses Urteil über die äußere Er[107]scheinung der edeln Frau. Doch wir kehren von dem Alter zur blühenden Jugend zurück.
Kein Wunder, daß Kestner von solchen Reizen und Tugenden bald gefangen war. Schon ein halbes Jahr nach dem Betreten des gastlichen Hauses erklärte er der über alles verehrten Mutter seine Neigung und Absicht. Mit dem Vater sprach er kein Wort über seine Wünsche. Eine förmliche Verlobung fand nicht statt; namentlich darum nicht, weil Kestner einen Widerstand seiner Eltern, des Vaters namentlich, gegen den Bund mit einem mittellosen Mädchen aus kinderreichem Hause besorgte. Ohne der Eltern Ja und Segen wollte er keine geheime Verbindung. Selbst nach des Vaters Tod (12. Juli 1772) gelang der Mutter Einwilligung nicht ohne Schwierigkeit. Sein Herz entdeckte Kestner nur der Schwester und dem vertrauten Freunde in der Ferne, Hennings. Damit wir sehen, wie sich die Geliebte in seinem Geiste spiegelt, hören wir Bruchstücke solcher Briefbekenntnisse. Den Eltern hatte er nur von seinem Behagen in der Familie Buff überhaupt erzählt; er wagte kein weitergehendes Geständnis. Der Schwester Eleonore schreibt er gleichzeitig 1768:
»Du kannst schon denken, daß es eine Demoiselle Buff ist. Es ist die zweite, sie ist 15 Jahr alt. Eine außerordentliche vollkommene Beauté ist sie nicht; doch ist sie, was man ein hübsches Mädchen nennt, und mir hat noch keine besser gefallen. Und sie gefällt auch andern, worunter es einige giebt, welche sterblich verliebt waren, denen ich aber den Rang abgewonnen. Übrigens hat sie allgemeinen Beifall bei alt und jung, und ich habe meine Wahl nie tadeln gehört. Eine freundliche, einnehmende und lebhafte Miene ist für mich ihre größte äußerliche Schönheit, dabei hat sie Verstand und ist von lustigem Temperament und unterhaltend und hat gute Einfälle, nicht zu vergessen: sie hat ein vortreffliches Herz, ist edel, menschenliebend,[108] gutthätig und großmüthig. Sie hat keine Schätze als Tugend, guten Namen und den Segen einer der rechtschaffensten, verehrungswürdigsten Mütter mitzubringen. Ich habe mein Auskommen, für die Zukunft darf ich hoffen, und ist mein Unterhalt nicht schwer, weil ich mich an keinen Überfluß gewöhnt habe.«
Das deutsche Haus war das tägliche Refugium für Kestner aus und nach der oft übermäßigen Arbeit. Nach Tisch eilte er eine Stunde dahin, nach Beendigung der Geschäfte kehrte er wieder und beschloß nach dem Abendbrot von neun bis elf Uhr seinen Tag in dem trauten Kreise. Aber in aller Liebeswärme läßt er die strenge trockene Pflicht keinen Augenblick aus dem Auge; er sieht vielmehr, wie er dem Freunde ausdrücklich bekennt, die Reize jenes Verkehrs als den Lohn treuer Pflichterfüllung an. Es ist das wohlthuende Bild einer festgegründeten und doch fortwährend wachsenden, sich verinnerlichenden Liebe, welche die Verheißung eines dauernden Lebensglücks in sich trug. »Ich weiß, daß ich das Herz meiner Geliebten ganz besitze« — schrieb Kestner schon am 2. November 1768, fügte aber wie bangend in allem Glück bei: »der Himmel erhalte es mir«.
Gerade die Bewährung des Mädchens nach der Mutter Tod vergrößerte, wie er selbst gesteht, ihren Wert in Kestners Augen. Er rühmt, sie sei durch diese volle Thätigkeit vor manchen Abwegen unbeschäftigter Mädchen, vor eitler Putzsucht, vor übertriebenem Bücherlesen, bewahrt geblieben.
Eine noch stärkere Erprobung erfuhr die Treue der Geliebten und die innere Festigkeit des Bundes durch Goethes Eintritt in das deutsche Haus.
Es war am 9. Juni 1772, als Goethe auf dem ländlichen Balle zu Volpertshausen Lotte zum erstenmale sah. Auch dieses weltabgeschiedene Walddorf gehört zu den klassischen Orten unserer Litteraturgeschichte. Ohne das dort Erlebte gäbe es keinen »Werther«, keinen wenigstens in der Gestalt, wie er damals das junge Deutschland, ja die junge Welt im Sturm erobert hat, d.h. aber, es würden die stärksten Impulse zu der Sturm- und Drangzeit unserer Dichtung fehlen. Es ist darum das Memento wohl angebracht, das auf einer schwarzen Marmortafel an dem weiland Forsthaus des Dorfes dem Wanderer zuruft:
Goethe,
zum Gedächtniß
gestiftet 28. August 1869.
Nur schade, daß man mit dem Erinnerungszeichen nicht gerade bis zum vollen Ablauf des Jahrhunderts gewartet hat. Junge Leute vom Reichs-Kammergericht mit ihren Damen — es war eine Gesellschaft von 25 Personen — hatten den Ball arrangiert. Volpertshausen ist eine Meile südlich von Wetzlar hinter dem Stoppelberg, der die Gegend beherrschenden waldbewachsenen Basalthöhe, gelegen. Der Weg führt über das Jäger[110]haus am Stoppelberg, welches, 1716 von einem Fürsten von Nassau-Weilburg erbaut und von Gärten umgeben, damals aus der Nähe und Ferne als bevorzugter Vergnügungsort viel besucht wurde. Offenbar hatte der Dichter diesen schönen Waldplatz bei dem Jagdhause im Auge, wenn er aus diesem Lotte durch Werther abholen läßt. In Wahrheit holte Goethe Lotte Buff aus dem deutschen Hause selbst ab. Goethe, noch ein Neuling in Wetzlar, hatte seine Cousine (Johannette Elisabeth Christine) Lange engagiert. Ihnen schloß sich Lotte Buff an, deren stiller Verlobter, Kestner, Geschäfte halber erst ein paar Stunden später zu Pferde nachkam. Wir dürfen annehmen, daß die im »Werther« und durch Kaulbachs Zeichnung verewigte Scene, wie Lotte im einfachen Ballstaat den Geschwistern noch das Brot schneidet, ein Zug der Wirklichkeit ist. Noch erinnerte sich ein Bruder im Greisenalter, der weiland holländische Major Fritz Buff, daß er, als seine Schwester einstieg, am Kutschenschlag gestanden habe. Auch diese kleine Thatsache nutzt, aber verändert der Dichter im »Werther«. Man fuhr durch einsame Waldwege nach Volpertshausen, das am Abhang eines Berges mit den benachbarten Filialen Vollnkirchen und Weidenhausen zwischen Wald und Höhen geborgen liegt. Das Jagdhaus, wo damals getanzt wurde, ist schon lange zum Schulhaus geworden; jene Tafel aber bezeugt die Erinnerung, die das einfache Haus umschwebt. Von dem Verlauf des Balles berichtet die Überlieferung nur wenig. Kestner hat lakonisch genug in sein Tagebuch die Worte eingetragen: »Le 9^me Juin fut un Bal à Volpertshousen village à Deux lieues de Wetzlar. Il était composé de 25 Personnes. On s'y rendit le soir en Carosses et à Cheval, et on revint le lendemain matin.« Das klingt freilich so farblos wie möglich, aber schon Kestner hat einen zweiten Bericht in deutscher Sprache hinterlassen, geschrieben erst am Ende des Verkehrs mit Goethe in Wetzlar, der mehr Farbe[111] und Leben zeigt. Denn da er ihn schrieb, blickte er auf diesen Anfangspunkt einer bedeutsamen Episode seiner Lebensgeschichte mit ganz anderen Gefühlen zurück. Er berichtet darin, wie Lotte, unbefangen und unbewußt der Freude des Tanzes hingegeben, den Dichter ganz erobert habe, der noch nichts davon gewußt, daß sie nicht mehr frei war. Goethe war ausgelassen lustig; Lotte in kunstlosem Putz; das blütenfarbene Band, das sie trug, schickte sie später als wehmütige Reliquie dem Dichter nach Frankfurt, dem es zum Sinnbild verblaßter Freude wurde. Naturfreude und frische Laune fesselten ihn zuerst. Andern Tages bei seinem ersten Besuche sah er Lotte in ihrem Element, ihrem häuslichen Walten. Es war ein poetisches Motiv, das den Dichter des »Werther« bestimmte, seinen Albert von dem Balle auszuschließen, denn die Liebe mußte in »Werther« erst ungehemmt Wurzel schlagen. Er kam, sah und ward besiegt. Gerade jenes innere Vakat, von dem oben die Rede war, bezeichnet Goethe selbst als die »Lage, wo uns die Neigung, sobald sie nur einigermaßen verhüllt auftritt, unversehens überschleichen und alle guten Vorsätze vereiteln kann«. — Mit Kestner war Goethe schon vorher bekannt. Jener erzählt selbst brieflich von dem ersten Zusammentreffen in dem Dorfe Garbenheim, wohin er mit Gotter einen Spaziergang machte. Leider hat sein Tagebuch keine Notiz über Thatsache und Datum aufbewahrt. Er fand den Dichter im Wirtsgarten auf dem Rücken im Grase liegend und in Unterhaltung mit Kielmannsegge, Dr. Koenig und Goué über philosophische Fragen. Kestner nahm von diesem ersten Sehen den Eindruck eines »nicht unbeträchtlichen Menschen« mit. Die Dichtung füllt die Lücke der Geschichte jenes Balles, aber wir dürfen annehmen, daß die Ausfüllung fast durchgehends historisch ist. Nur gegen zwei Punkte erhebt Kestner noch nach mehr denn zwanzig Jahren Protest: gegen die Ohrfeigen, die der Dichter seine Lotte im Spiele austeilen läßt, um den Tänze[112]rinnen über die Gewitterfurcht hinauszuhelfen, und gegen das vorzeitige Verraten ihrer Verlobung. Am frühen Morgen des folgenden Tages fuhr man nach der Stadt zurück, und es war nur die natürliche Folge dieses Geleites, daß Goethe dann seinen Besuch im Buffschen Hause machte. Bald gehörte er zu den stehenden Hausfreunden und war der Liebling aller. Er selbst leitet von diesem Ball seine Neigung zu Lotte her. Seine Tage in Wetzlar hatten Ziel und Inhalt gefunden. »Mein Genius«, schreibt er später, »war ein böser Genius, der mich nach Volpertshausen (sic) kutschierte. Und doch ein guter Genius. Meine Tage in Wetzlar wollte ich nicht besser zugebracht haben.« —
Goethe war wie ein Sohn und Bruder im deutschen Hause aufgenommen. Der alte Amtmann liebte die frische, kräftige Natur in ihm, die Töchter waren angezogen von dem schönen Jüngling und seiner alle Zeit belebenden Unterhaltung. Aber auch in der Kinderwelt war er heimisch. Ja es war dies eine Hauptgabe des jungen Goethe, der Kindernatur gerecht zu werden. Obwohl selbst ohne die Erfahrung an eigenen jüngeren Geschwistern, verfolgte er mit Liebe die Züge der ursprünglichen Natur in der Kinderart, eine Neigung, die ungleich mehr ein Ausfluß seiner Genialität — und jede echte Genialität weiß etwas von der Wahrheit des »wenn ihr nicht werdet wie die Kinder« — als das Resultat der durch Rousseau erhaltenen Impulse war. Denn so sehr dieser als Pädagogischer Theoretiker die Natur im Kinde betont und gewürdigt wissen will, so wenig versteht er als Dichter, diese Natur zu zeichnen und zu Wort kommen zu lassen. Beides hat Goethe, der Kinderfreund, verstanden. Er verstand es, wie keiner, den Buffschen Kindern Märchen zu erzählen; auf dem Boden liegend, ließ er sie auf sich herumkrabeln »wie junge Katzen« und war ein Kind unter Kindern. Noch später in Frankfurt schreibt er, er erhalte ein komplettes Verzeichnis sämtlicher Löcher und Beulen der Buben im deutschen[113] Hause, und er gedenkt des Familienbildes, in dem: »Mit dreckigen Händen und Honigschnitten Mit Löcher im Kopf, nach deutschen Sitten Die Buben jauchzen mit Hellem Hauf Tühr ein Tühr aus, Hof ab Hof auf«. Wir wissen nicht, wann und wie er die Verlobung Lottens erfahren hat, andeutend wohl schon durch die Cousine auf der Hinfahrt, wenn der Roman auch hier das Wirkliche berichtet. Lange kann ihm die Sache kein Geheimnis geblieben sein. Trotzdem entfloh er nicht der Gefahr, er ließ sich ungehemmt gehen, und so wuchs jenes wunderliche Verhältnis heran, daß die beiden jungen Männer ein Mädchen von Herzen liebten, daß diese Liebe, statt mit der Eifersucht Zwietracht zu wecken, gerade umgekehrt zum Bindemittel treuer Freundschaft wurde. Man darf sagen, dieses selbsterlebte unerhörte psychische Problem mußte in einem Dichter zum poetischen Problem werden. Gerade das rückhaltlose Vertrauen Kestners gegen den sittlichen Adel und die Ehrenhaftigkeit Goethes, die fast eifersuchtslose Toleranz, da wo ausschließende Intoleranz die Regel ist, gewann diesem des Dichters Herz. Beide handelten als nicht gewöhnliche Naturen, der ethische Vorzug aber fiel ohne Frage dem schlichten Kestner zu. Goethes Achtung gegen Lotte steigerte sich, da sie in unbeirrter Treue dem fast Unwiderstehlichen widerstand. Und Goethe selbst hat es gegen seinen Duzfreund, den Konsul v. Born, ausgesprochen, daß eine größere Annäherung Lottens an ihn sofort ihn von ihr würde entfernt haben. Aber doch werden wir sehen, daß die immerhin gewagte und gefahrvolle Situation nicht ganz ohne Bedenken blieb.
Außergewöhnlich und unnatürlich war sie unter allen Umständen. Sie wurde dies um so mehr, da Goethe ungleich mehr Zeit hatte, oder sich nahm, zum Verkehr im Buffschen Hause als der vielbeschäftigte Kestner, der, wie wir sahen, nur ein Stündchen nach Tisch und in den Abendstunden dort von übergroßer Arbeit sich erholen konnte. Und so verbrachte Goethe gar manche[114] Stunde im Hause, mehr doch draußen mit dem heißgeliebten Mädchen. Nur hundert Schritte von dem deutschen Hause lag der oben erwähnte, reich bestandene Obstgarten, ein Besitz des Ordens. Der besonders schöne Sommer 1772 schüttete einen reichen Fruchtsegen herab, und es ist ein heiteres Sommerbild, den Dichter auf den Birnen- und Pflaumenbäumen mit dem Obstbrecher in der Hand sitzend oder schüttelnd zu denken, während die Geliebte unten die Schürze aufhält, die Früchte in Empfang zu nehmen. Da wünschte sich der im frohen Moment beglückte Dichter nach Rousseaus Heloise ein gleiches idyllisches Glück »heute morgen übermorgen und sein ganzes Leben« — eine Redewendung, die er damals und später wie eine stereotype von seiner Lage in Wetzlar gebrauchte. Aber nicht bloß in dem Hausgarten trafen sie zusammen. Diese Liebe ging auf das innigste Hand in Hand mit dem regen Naturverkehr, der diese vier Sommermonate schmückte. Wir sahen oben, wie der Dichter, noch ehe er Lotte kannte, sich seine eigenen Wege in die schöne Landschaft bahnte. Die Plätze, in denen er sich schon in seiner Einsamkeit festgesetzt hatte, lagen dicht bei den Stätten, wo auch Lotte zu verkehren pflegte. Das Zentrum war der Wildbacher Brunnen mit seiner lauschigen Kühle. Sechs Wege führen von dem Brunnen, der in der Tiefe liegt, nach verschiedenen Seiten. Dicht dabei um den Mamorfelsen, den Deutsch-Herrenberg, lagen die Felder und Wiesen des Ordens, wo auch Lotte vielfach mit dem Freunde verweilte. Aber auch weiter wanderten die Unzertrennlichen mit oder ohne Kestner, mit einer Freundin etwa wie Dorthel Brandt, deren stattliche Gestalt Goethe nicht unbeachtet ließ. Und auch bei diesen Gängen trafen die Neigungen der Freunde mit denen des Dichters zusammen. Auf der Höhe oder am Fuße des Lahnberges her zog man nach Garbenheim. Eine Stunde weiter liegt das Dorf Atzbach, wo die Familie des Rentmeisters Rhodius auch von Goethe manchmal besucht wurde.[115] Und im Hause selbst galt die gleiche Zwanglosigkeit. Lotte im blaugestreiften Nachtjäckchen, das strohgeflochtene Arbeitskästchen vor sich, Kestner sitzend und Goethe liegend und mit der Garnitur von Lottens Kleid spielend. Auch hier ein großes Kind unter kindlichen Menschen! Dabei redete er in dem Geniestil das geliebte Mädchen durcheinander mit »Sie« oder »Du« an, während sich das letztere nicht einmal der Bräutigam gestattete. Nicht die Poesie gab die Vermittelung in erster Linie, vielmehr scheint sie ganz zurückgetreten zu sein. Goethe schenkt der Freundin wohl einmal eine Dichtung der Zeit wie die Erzählungen und Idyllen von Diderot und Geßner, selbst gebraucht hat er die Waffe nie, die in seiner Hand doch zum wirksamsten Erospfeile hätte werden können. Es war vielmehr die Unmittelbarkeit des frischen Gesprächs, wie es der Moment gab, wohl selten in die Tiefe gehend, aber mit allem Reiz einer täglich wachsenden Neigung und echter Ursprünglichkeit. Goethe schritt keineswegs immer auf hohem Kothurn, und gerade damals war sein Anteil an der Alltagswelt, durch so liebe Hand vermittelt, eine Art Reaktion gegen seine mächtig arbeitende innere Welt. Er verschmähte es nicht, gelegentlich Bohnen schneiden zu helfen, und urteilt in seiner Selbstbiographie, Lottens Art habe ihn mit der Wirklichkeit in Verbindung gehalten. Wohl war es ein Sommeridyll, aber ein Idyll mit Seelenkämpfen, der Tumult im Herzen, wenn die heiterste Sonne über der Landschaft schien.
Wie aber stellte sich Kestner zu Goethes Liebe? Wir sprachen oben von seiner fast blinden Toleranz. Es tritt uns eine dreifache Stimmung in ihm entgegen. Es steigert sich auf der einen Seite der Stolz auf eine solche Braut, die den genialen Dichter anziehen und fesseln konnte, ohne ihm selbst doch untreu zu werden; dazwischen verstummte und beunruhigte ihn doch mitunter der Gedanke, ob nicht Goethe die Geliebte tiefer und voller beglücken könnte, als er selbst. So bald und so oft er sich aber als der[116] glückliche Besitzer dieses Herzens von neuem fühlte, da erfaßte ihn wohl ein gutmütiges Mitleid mit dem hoffnungslos liebenden Freunde. In dieser Skala bewegt sich auf und nieder seine Stimmung während der drei Sommermonde. Eifersucht in greller Gestalt, die dem Verkehr des Freundes in den Weg trat, entdecken wir nirgends.
Und Lotte selbst? Gewiß fühlte sie sich von dem wunderbaren Jüngling angezogen; aber nicht ein Zug verrät ein Abweichen von der goldtreuen Gesinnung, die dem Mann ihrer Wahl, den sie gleich von Anbeginn verschiedenen Bewerbern vorgezogen hatte, ergeben blieb wie zuvor. »An Lottchen habe ich nicht einmal eine Ahndung« von innerem Zweifel bemerken können. Ob dieses Resultat ein Sieg nach irgendwelchen ungesehenen Kämpfen war; ob etwa bei dieser Schlußentscheidung die ahnungsvolle Erkenntnis echter Weiblichkeit mitgesprochen habe, daß von dem erregbaren Dichter bei allem Feuer des Moments an einen wirklichen Lebensbund doch nicht gedacht werde, — diese Fragen entziehen sich jeder Beantwortung. Und selbst wenn sie bejaht werden müßten, würden sie in nichts die Ehre und den Wert der Selbstentscheidung des Mädchens schmälern, der kein Rat einer Mutter und schwerlich der des Vaters zur Seite stand. Es war ein Sieg schlichter Treue, welche die Garantie der Dauer und des Lebensglücks in sich trug, über die momentan fast überwältigende Genialität. Gutherziges Mitleid mit dem hoffnungslos Liebenden und warmer Anteil blieb die fortdauernde Stimmung Lottens. Wenn wir als eine von Kestners Stimmungen die bezeichneten, daß ihn ab und zu eine Unruhe überkam über die innere Sicherheit seines Besitzes, so haben wir allerdings Zeugnisse, daß der sonst so ruhige Mann, den Goethe einmal in heiterem Humor einem Manne von Porzellan vergleicht, in dieser außergewöhnlichen Lage in eine gewisse leidenschaftliche Bewegung gerät. Ja es beginnt in der ersten Hälfte[117] des August eine Art Krisis, in der er reagiert gegen Goethes doch unhaltbare Stellung. Man nimmt in der Regel an, Goethe habe aus innerster und eigenster Initiative die Pflicht der Entsagung geübt, und es erscheint dann als ein heldenmütiger Akt der Selbstverleugnung, daß er das Feld geräumt habe, wo doch kein Heil für ihn zu erwarten stand. Es war nicht ganz so.
Am 13. August war Kestner allein in Gießen; vielleicht hatten ihn die Festlichkeiten zu Ehren des gerade anwesenden Landgrafen hinübergezogen. Über Schiffenberg, die deutsche Ordens-Kommende, kehrte er heim. Goethe mit Lotte und deren Freundin Dortchen Brandt kamen ihm entgegen. Abends erhielt Kestner das Geständnis von einem von Goethe erhaltenen Kuß. Die Mitteilung wirkte verstimmend, obwohl Lotte offen und gewiß mehr sich beklagend, als anklagend sie gemacht hatte. Kestner trug tags darauf die Thatsache mit der Bemerkung in sein Tagebuch: »Kleine Brouillerie mit Lottchen, welche anderen Tags wieder vorbei war.« Das Tagebuch fährt fort: »Am 14. abends kam Goethe von einem Spaziergang vor den Hof. Er ward gleichgültig traktiert, ging bald weg. Am 15. ward er nach Atzbach geschickt, eine Aprikose der Rentmeisterin zu bringen. Abends zehn Uhr kam er und fand uns vor der Thüre sitzen, seine Blumen wurden gleichgültig liegen gelassen; er empfand es, warf sie weg; redete in Gleichnissen; ich ging mit Goethe noch nachts bis 12 Uhr auf der Gasse spazieren; merkwürdiges Gespräch, wo er voll Unmut war und allerhand Phantasieen hatte, worüber wir am Ende, im Mondenscheine an eine Mauer gelehnt, lachten.« Es ist dieselbe Scene, worauf in den Werther-Briefen (Nr. 40, S. 119) dunkel angespielt wird. — »Am 16. — es war ein Sonntag — bekam Goethe von Lottchen gepredigt, sie deklarierte ihm, daß er nichts als Freundschaft hoffen dürfe; er ward blaß und sehr niedergeschlagen. Wir gingen aus dem Neustädter Thor spazieren, hernach in Bostels Gesellschaft ich[118] und Goethe, abends Bohnen geschnitten.« — Offenbar in diese kritische Lage fällt auch ein undatiertes, sehr charakteristisches Briefkonzept Kestners an Lotte, von dem wir freilich nicht wissen, ob es zum Brief und zur Absendung gekommen oder Monolog geblieben ist. Zum Brief werden sollte das Dokument beim Niederschreiben jedenfalls:
»Ich habe es Ihnen gesagt, daß ich Sie nicht missen könnte. Aus der Fülle meines Herzens heraus habe ich es Ihnen gesagt und auf eine Art, die Ihnen für die Wahrheit davon Bürge ist. Sie wissen, daß ich Ihnen schon einmal erklärt, daß, wenn Sie ohne mich glücklicher sein könnten, ich dieses meinem eigenen Glück vorziehen würde. Meine Ueberlegung wiederholt diese Erklärung, aber mein Herz, meine Empfindung widerspricht ihr. Schon damals fühlte ich, daß ich einen Entschluß gefaßt, welcher meine Kräfte überstieg. Ich habe es kürzlich, da ich die Gefahr oder wenigstens die Möglichkeit vor mir sah, Sie zu verlieren, abermals in seiner ganzen Stärke gefühlt und noch kann ich die daraus in mir entstandene Furcht nicht überwinden. Allein soviel Gewalt habe ich doch noch über mich wenigstens in der Stunde der Ueberlegung, wenigstens in meiner Einbildung, daß ich die Unbilligkeit fühle, Ihr bessres Schicksal meinem Wunsche und meinem Glück aufzuopfern. Mein Schicksal ist noch zu sehr unentschieden als daß ich als ehrlicher Mann, als einer der seine Leidenschaft in seiner Gewalt haben sollte, verlangen darf, das Ihrige von dem meinigen abhängen zu lassen. In der Stunde der Ueberlegung glaube ich noch jetzt von mir erhalten zu können, mein Recht fahren zu lassen, wenn es Ihr bessres Schicksal erfordert. Ich glaube es, weil ich es sollte. Was es mich kosten würde, das kann ich nur empfinden, nicht beschreiben. Meine Ueberlegung sagt mir auch: Wie, wenn Sie sich mir nur aus Grundsätzen, aus Ueberlegung ließen? wenn Sie Ihre Verbindlichkeit wieder zurückwünschten?[119] wenn Sie sich mir aus Vernunft aufopferten? wenn Ihr Herz keinen Antheil daran hätte? dann, dann wollte ich meinem Rechte entsagen, und ich erließe Ihnen alle Verbindlichkeiten; denn was ist Zuneigung, was Liebe aus Pflicht? Ich kann auch unmöglich darüber unzufrieden sein, wenn Sie Anderen gefallen, und ein freundlicher Umgang mit Andern, welcher bei der Unterhaltung des Verstandes stehen bleibt, ist nie zu tadeln. Allein sobald das Herz Antheil daran nimmt, sobald ich dieses befürchten muß, so entsteht gegründete Ursache zur Unruhe. Die Freundschaft nur läßt mehrere Gegenstände zu, obgleich auch da der Vorzug unangenehm ist; die Liebe leidet aber nur einen Gegenstand mit Ausschließung aller andern und ohne alle Einschränkung. Hier ist auch eine kleine Gefälligkeit von Wichtigkeit und das bloße Annehmen auch ohne Erwiederung ist schon gefährlich. Die Tugend muß sich nicht in Gefahr setzen. Besser die Flucht als ein ungewisser Kampf!«
Es ist zu bedauern, daß diesem Erguß das Datum fehlt. Nicht unmöglich, daß Lotte, die bei ihrer unbeirrten Gesinnung sonst keine Nötigung hierzu gesehen hätte, nach dieser schriftlichen und der gleichzeitig mündlichen Aussprache Kestners jenen Schritt Goethe gegenüber gethan hat.
Erst der von Lotte ausgehende Anstoß brachte bei Goethe die Klärung und volle Selbstbesinnung; er rüttelte ihn auf aus dem halbpassiven Sichgehenlassen, wo dem »Herzgen wie einem kranken Kind all sein Wille gestattet« ward. Stand er doch an einem Scheideweg. Er mußte sich vor allem ja die Frage vorlegen: hatte er selbst in dem Falle, daß Lotte ihm innerlich näher zugehörte als dem mehrjährigen allezeit treu erfundenen Freunde, hatte er den ernsten Willen, dies Liebesglück in einen Ehebund zu verwandeln? Denn drei Fälle waren offenbar nur möglich. Entweder suchte Goethe auf dem bezeichneten Wege seine Neigung zu ihren letzten, eben bezeichneten Konsequenzen[120] zu treiben, oder er verzichtete, durch eine Rücksicht auf den Freund und durch Lottens bewährte Treue bestimmt, auf die Erfüllung seiner Wünsche, oder endlich er ging die dämonischen Wege, die er seinen »Werther« gehen ließ, d.h. er ließ sich und sein Leben verzehren von einer aussichts- und heillosen Liebe bis zur Selbstvernichtung. Denn die Annahme eines vierten Wegs, des frivolen verführerischen Spiels, ist bei Goethe nach seiner ausdrücklichen Erklärung gegen Born, von der wir sprachen, und nach der ganzen inneren und äußeren Sachlage, von selbst ausgeschlossen. Von jenen drei an sich möglichen Wegen war aber für Goethe — wie ein auch nur oberflächliches Verständnis seines Wesens zeigt — nur der mittlere gangbar. An eine Ehe dachte er nicht; seine frühere wie seine weitere Lebensentwickelung bestätigt die tiefe Scheu seiner Natur, sich zu binden, wo sein Genius auf den bunten Wechsel von Lebenserfahrungen und Lebensbildern hätte verzichten müssen, in denen er doch den nährenden Stoff seiner Muse ahnte. Die Genialität stand im Gegensatz zur ausharrenden Treue in vollem ethischen Wortsinn, wo die ganze Person für Zeit und Zukunft eingesetzt wird. Auch sagt er selbst brieflich an Kestner: »Daß ich sie so lieb habe, ist von jeher uneigennützig gewesen.« Gewiß doch auch inbezug auf diese Art von Besitz. Und was anderes wollen die Stellen in Goethes Selbstbiographie sagen: »Ein jeder gestand, auch ohne diese Lebenszwecke (d.i. eheliche Verbindung) eigennützig für sich im Auge zu haben, daß sie ein wünschenswertes Frauenzimmer sei«, und, sie habe sich ja für einen Mann bestimmt gehabt, »der, ihrer wert, sein Schicksal an das ihrige fürs Leben zu knüpfen sich bereit erklären mochte«? Die Werther-Wege aber waren nicht die Goethischen. Wohl konnte er in dieser Zeit und in der leidenschaftlichen Glut, in der er lebte, Anwandlungen tiefer Melancholie, auch wohl blitzartige Gedanken[121] an Vernichtung haben, Stimmungen, lebendig genug, um sie später in lebensvoller Anschaulichkeit im »Werther« aus einer anderen Seele heraus zu reproduzieren, — aber seine gesunde, optimistische, aus einer Fülle inneren, sich immer neu erzeugenden Lebens herauslebende Natur kam aus pathologischer oder dämonischer Willenlosigkeit immer rasch wieder zu sich; es waren nur vorüberziehende Schatten und Nebel, durch welche bald die Sonne durchbrach. Und ihm war das nie versagende »Heilmittel« als Reaktion seines schöpferischen Vermögens gegeben, »zu sagen, was er litt«. Ja man kann gerade in diesem Fall sagen, mitten in der Gluthitze von Liebe und Leid beginnt schon die noch unsichtbare Arbeit des dichtenden Geistes, und sobald diese eintrat, war damit eine andere Leidenschaft, eine neue Befriedigung und eine Befreiung an die Stelle gerückt. Wohl weiß ich, daß ich mit dieser chronologischen Aufstellung der Ansicht des von mir sehr geschätzten Veteranen der biographischen und exegetischen Goetheforschung H. Düntzer scheinbar entgegentrete, der sich noch neuerdings gegen eine Genesis des »Werther« von langer Hand erklärt hat, allein doch nur scheinbar. Denn die künstlerische Absicht lege auch ich weit später. Doch fällt die Frage nach der Genesis des »Werther« nicht in die Schranken, innerhalb deren wir uns hier begegnen. So bleibt nur die mittlere Möglichkeit, daß Goethe, nachdem ihm Lotte in sicherer Seelenhaltung und ethischer Überlegenheit »den Standpunkt klar gemacht«, aus Rücksicht auf den Freund und auf Lottens wandellose Treue das Feld räumte. Der Not gehorchte er, zunächst nicht dem eigenen Trieb. Es war der einzig richtige, weil der Weg des Gewissens, immerhin auch so noch ein Sieg. Jedenfalls ging die entscheidende Richtigstellung von dem zwiefach umworbenen, aber von vornherein klaren und festen Mädchen aus. So fehlte in der Wirklichkeit auch das Motiv, das im Roman mit einwirkt auf den schwachen »Helden«, der[122] Glaube nämlich, daß er im Grunde doch geliebt, mehr geliebt sei als der legitime Verlobte. Ein solcher Wahn war nach der klaren Auseinandersetzung Lottens mit dem Dichter nicht mehr möglich. Dieser Widerstand der Geliebten, die im Grunde nur das Natürliche that, indem sie nach Pflicht und Gewissen handelte, wirkte sichtlich auch auf Goethes innere Haltung zurück. Er erkannte die Schranke des »bis hierher und nicht weiter«, die Macht eines objektiven Lebensgesetzes, die ihn aus dem äußeren Zwang zu einem inneren Gesetze führte; aus der Not wurde eine Tugend. Auch die ernste Erinnerung an Friederike mochte in dieser Schule der Selbstzucht mitsprechen. So war er, wie er ein Jahr später der Frau de la Roche in dem Verhältnis zu deren Tochter Maxe Brentano zu sein gelobte — »brav«. Er befolgte selbst den Rat, den er seinen »Werther« andern geben läßt: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach.« Nach jener Erklärung Lottens nahm das Verhältnis einen ruhigeren Charakter an, ohne daß Goethes Liebe abgenommen hätte. Auch Kestners Beziehung zu diesem gewann nun eine festere Gestalt. Aus dieser Stimmung, die auf alle Rivalität verzichtet hatte, stammen auch die wehmütigen Dedikationsworte zu Goldsmiths »The deserted village« — vielleicht ein Geburtstagsgeschenk am 28. August —:
Auch das »Dich« war eine Wahrheit. Freilich war das Verhältnis zu Kestner fürs erste ein abgeleitetes aus zweiter Hand. Aus der Liebe zu Lotte stammte zunächst die Freundschaft gegen Kestner, und gerade die vertrauende Toleranz, welche dieser übte und von der Goethe später an Kestner gesteht: »wenn ich noch lebe, so bist du's, dem ich's danke«, — wurde der Kitt,[123] der die beiden sonst so ungleichartigen Männer aneinanderband. Sie hatten ein Gemeinsames, ihr Hauptgespräch war Lotte, ihr Verkehr ein täglicher im deutschen Hause. Und es ist wie in dem mathematischen Satz von den zwei Größen, die darum unter sich gleich sind, weil sie einer dritten gleichen. Die gemeinschaftliche Liebe setzte doch gewisse innere Analogieen der Liebenden bei aller Ungleichheit voraus. Diese Ungleichheit springt sofort in die Augen, jene Analogieen müssen gesucht werden. Noch in »Wahrheit und Dichtung« rühmt Goethe dem Freunde der Jugend ein »ruhiges gleiches Betragen, Klarheit der Ansichten, Bestimmtheit im Handeln und Reden, heitere Thätigkeit«, »eine durchaus rechtliche und treuliche Sinnesart« nach, und in diesen Charakterzügen wurzelte des Dichters Sympathie; aber daß Kestner einen Blick auch für die werdende Größe Goethes hatte, wird uns unten entgegentreten. Allein schon in der Jugendzeit erkannte Goethe den Freund als das, was er war: »Ihr seyd von der Art Menschen, die auf Erden gedeyen und wachsen, von den gerechten Leuten und die den Herrn fürchten, darob er dir auch hat ein tugendsam Weib gegeben, des lebest du noch eins so lange.«
Was zog den Dichter in dem Wesen gerade dieses Mädchens an?
Die Frage hat ihr Recht, wenn wir aussagen müssen, daß Lotte bei allen Vorzügen nicht gerade zu den bedeutenden weiblichen Naturen gehört; daß am wenigsten der Sinn für des Dichters nächste und höchste Interessen einen Grundzug an ihr bildete; daß sie sich namentlich stark unterschied von dem weiblichen Kreis, worin dem Jüngling unmittelbar zuvor in Darmstadt und Homburg so wohl geworden war. Das war keine Natur wie Lila, Urania und Psyche, um sie wehte nicht die poetische Luft und Stimmung, in der jedes Lied des Dichters ein rasches Echo fand, wo Leben und Dichten fast unterschiedslos zusammenfloß. Eher konnte Lotte an Friederike erinnern, nur[124] war sie reifer, selbständiger, schon von Haus aus als Kind der städtischen Bildungswelt, dann durch ihre leitende Stellung im Hause und als Verlobte. Ihre Schule war das Leben selbst; sie bedurfte »zu ihrer Bildung nur wenig Bücher«. Schon in dem oben gezeichneten Bilde Lottens werden wir Züge genug finden, die uns des Dichters tiefe Sympathie verständlich machen. Es war gerade die reine gesunde Natur, die frohe Lebensthätigkeit, die »unbefangene Behandlung des täglich Notwendigen«, es war der realistische Sinn, die schöne Harmonie der Verstandes-, Willens- und Gemütskräfte, die Naturfrische und Geistesfreiheit, die auch den Scherz verstand und übte, — Eigenschaften, die in dem schwärmerisch-weichen darmstadt-homburgischen Frauenkreise keineswegs dem Dichter in gleicher Art entgegen traten. Und doch begegneten sich diese Eigenschaften mit sehr wesentlichen Zügen in Goethes eigener Natur; es wurde ihm wohl in solcher Atmosphäre. Daher dort doch nur ein gefesseltes Interesse, hier eine starke, tiefe Liebe. Und eine Liebe, die zugleich gestützt war durch die volle Hochachtung vor der gewissenhaften Treue und inneren Tüchtigkeit. Es fehlt uns nicht an quellenmäßig bezeugten Urteilen Goethes über Lotte. Die kurzen und schönen Worte im »Werther« (16. Juni): »So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Thätigkeit« geben die Summe seines Urteils. Aber der ganze erste Teil des »Werther« spiegelt, richtig gelesen, ihr Wesen wieder. Sehen wir von dem »Werther« selbst ab, der doch der Wetzlarer Zeit schon ferner liegt, so tritt uns zunächst eine Briefstelle Kestners an seinen Freund v. Hennings aus dem November 1772 entgegen. Es heißt dort: »Ein Mensch, dessen Urteil von Erheblichkeit ist, gestand diesen Sommer, er hätte noch kein Frauenzimmer gefunden, das so von den gewöhnlichen weiblichen Schwachheiten frei wäre &c. Wenn ich vor Ende[125] dieses Briefes die Schilderung bekomme, welcher von Lottchen gemacht hat, will ich sie noch hersetzen.« Es ist kein Zweifel, daß dieser »Mensch« kein anderer als Goethe war, und es ist zu bedauern, daß sein verheißenes schriftliches Urteil auf die poetische Einkleidung im »Werther« warten mußte. Charakteristisch aber ist, daß in Goethes Geist schon damals sich die Neigung regte, von der entfernten und verlorenen Geliebten ein Bild zu versuchen; — ein Element des »Werther«! Aber dieses Urteil enthält doch zuwenig persönliche Momente, welche die starte Anziehungskraft völliger erklären. Hierzu finden wir den sichersten Schlüssel an einem Orte, wo wir ihn am wenigsten suchen, mitten in einer Rezension nämlich der »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«. Goethe bespricht die »Gedichte von einem polnischen Juden. Mietau und Leipzig 1772. 8, 96 S.« Er verurteilt die Gedichte, weil er sich in der Erwartung, der polnische Jude werde darin mit einer Art naiven Erstaunens aus der Wildnis seiner halbbarbarischen Verhältnisse in die Wunder der Kulturwelt eintreten, völlig getäuscht sieht. Nirgends findet er etwas Eigenartiges, so daß die angenommene Firma zum nichtssagenden Aushängeschild wird. Nachdem er dieses abweisende Urteil gefällt hat, zeichnet er das Doppelbild zweier Jünglinge in der verschiedenen Art ihrer Liebe. Ein wunderliches Intermezzo, das der Dichter selbst als solches erkennt, aber wir sehen an dem zweiten Bild, worin er sich selbst und seine Liebe malt, wie sehr ihn diese bewegt, wie davor alle Rücksicht schweigt und wie er »des trockenen Tones satt«, wie unbewußt das verrät, wovon sein Herz voll war. Das Selbstgeständnis darf hier nicht fehlen: »Aber dann, o Genius, daß offenbar werde, nicht Fläche, Weichheit des Herzens sei an seiner (d.i. des Jünglings) Unbestimmtheit schuld, laß ihn ein Mädchen finden, seiner wert! Wenn ihn heiligere Gefühle aus dem Geschwirre der Gesellschaft in die Einsamkeit leiten[126] laß ihn auf seiner Wallfahrt ein Mädchen entdecken, deren Seele ganz Güte zugleich mit einer Gestalt ganz Anmut sich in stillem Familienkreis häuslicher, thätiger Liebe glücklich entfaltet hat, die, Liebling, Beistand, Freundin ihrer Mutter, die zweite Mutter ihres Hauses ist, deren stets liebwirkende Seele jedes Herz unwiderstehlich an sich reißt, zu der Dichter und Weise willig in die Schule gingen, mit Entzücken schauten eingeborene Tugend, mit geborenem Wohlstand und Grazie. Ja, wenn sie in Stunden einsamer Ruhe fühlt, daß ihr bei all dem Liebeverbreiten noch etwas fehlt, ein Herz, das jung und warm, wie sie, mit ihr nach ferneren, verhüllteren Seligkeiten dieser Welt ahnte, in dessen belebender Gesellschaft sie nach all den goldenen Aussichten von ewigem Beisammensein, dauernder Vereinigung, unsterblich werbender Liebe fast angeschlossen hinstrebte. Laß die beiden sich finden; beim ersten Nahen werden sie dunkel und mächtig ahnen, was jedes für einen Inbegriff von Glückseligkeit in dem andern ergreift, werden nimmer von einander lassen. Und dann lalle er ahnend und hoffend und genießend, 'was doch keiner mit Worten ausspricht, keiner mit Thränen, und keiner mit dem verweilenden vollen Blick und der Seele drin'. Wahrheit wird in seinen Liedern sein, und nicht lebendige Schönheit, nicht bunte Seifenblasen-Ideale, wie sie in hundert deutschen Gesängen herumwallen.« —
Klingt diese fast unwillkürliche Digression, unerhört mitten in einer Rezension, nicht wie ein lautes Selbstgespräch? — Und ein Selbstbekenntnis!
Den unmittelbaren Verkehr mit Lotte, wie wir ihn aus »Werther« und dem Briefwechsel teils erschauen, teils ahnen, steht das kurze Nachbild in »Wahrheit und Dichtung« gegenüber wie abgekühltes Metall der glühenden Eisenmasse. Aber man fühlt doch auch diesen Erinnerungen an, daß sie einst eine wunderbar bewegte Wirklichkeit gewesen. Es ist ihm der »herr[127]liche Sommer eine echt deutsche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Prosa und eine reine Neigung die Poesie hergab«. Der reichen Entfaltung, ja Entfesselung seines Gemütslebens trat, wenn auch erst durch äußeren Einspruch geweckt, eine strengere Selbstdisziplin gegenüber, und des Dichters Natur, in der er seinen Reichtum und sein oberstes Gesetz ehrte, mußte ein anderes, objektives Lebensgesetz anerkennen. Noch in »Wahrheit und Dichtung« giebt er es zu, es sei »dieses Verhältnis durch Gewohnheit und Nachsicht leidenschaftlicher als billig« von seiner Seite geworden, während Lotte und Kestner sich mit Heiterkeit in einem Maße gehalten, »das nicht schöner und liebenswürdiger sein konnte«. Und eben die hieraus entspringende Sicherheit habe ihn jede Gefahr vergessen lassen.
Während der ersten drei Monate seines Wetzlarer Stilllebens blieb Goethe, so viel wir wissen, lediglich auf den dortigen Kreis von Jugendgenossen und auf das deutsche Haus beschränkt. Nur in Briefen wurden die Fäden mit den alten Verhältnissen und Freunden in Frankfurt, Darmstadt, Homburg und Bückeburg fortgesponnen. Einmal nur, gegen Ende dieses Zwischenaufenthaltes, tritt der Dichter wieder in unmittelbare Beziehung mit den Freunden früherer Zeit durch das Zusammentreffen mit Merck, dem Genossen, der ihm damals durch eigenen Wert wie als Vermittler der übrigen Beziehungen in Darmstadt-Homburg am nächsten stand, für den er in Wetzlar keinen Ersatz gefunden. Das nahe Gießen sollte der Treffpunkt sein; die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« sollten ein Hauptgegenstand des Austausches werden. Schon zur Zeit, da Goethe Abschied von der Heimat nahm, hatten die beiden Freunde ein baldiges Wiedersehen in Gießen verabredet. Vor allem wollte man den Professor der Rechte, Ludwig Julius Friedrich Höpfner, einen alten Freund Mercks, der erst seit einem Jahr in Gießen, seiner Vaterstadt, wirkte, zur Mitarbeit an der genannten Zeitschrift willig machen. Am Dienstag, dem 18. August, zwei Tage also nach Lottens abweisender Aussprache, in frühester Morgenstunde, wanderte Goethe lahnaufwärts über die wohlbekannten Etappen Garbenheim und Atzbach nach der[129] kaum zwei Meilen entlegenen Universitätsstadt. Der Freund war zur rechten Stunde eingetroffen, denn es war doch eine schmerzliche Krisis, die Goethes innerstes Leben durchzog, und er bedurfte des warnenden und ablenkenden wie des ermutigenden Zuspruchs.
In der That war niemand damals, der ihm diesen so wirksam bieten konnte wie Merck. Wir haben hier auf diesen in seine Zeit so vielfach eingreifenden Mann, der dem Psychologen wie dem Litterar- und Kulturhistoriker Rätsel genug zu raten aufgiebt, nicht tiefer einzugehen. Was er Goethe gewesen, weiß jeder, der dem Leben des Dichters gefolgt ist. Vor diesem einzigartigen Genius verstummten die Ironie, die ätzende Negation, die neidartigen Züge in Merck. Er huldigte dem Genius. Nur die Kritik schwieg nicht, aber es war eine Kritik, die von dem Freunde das Größte glaubte und hoffte und darum mit Leistungen des Mittelmaßes sich nicht zufrieden gab. Und am wenigsten damals war Merck bloß Mephisto — auch nicht in der mildesten Fassung dieser diabolischen Mischgestalt —, sondern es waren in der That zwei Seelen, Züge von Mephisto und Faust in ihm, denn er verstand nicht bloß den genialen Enthusiasmus und die schwärmende Weichheit der Zeit, sondern er teilte sie zeitweise. Ja nicht bloß unter den Sentimentalen konnte er sentimental sein, sondern er verstand sich auch mit dem trefflichen Jugendfreund, dem frommen Herrnhuter Ludwig Balthasar v. Schrautenbach-Lindheim. Ein Dualismus lag in Merck, ein Dualismus der Natur, der sich nur abspiegelte in den inneren Widersprüchen seines Lebensganges. Darum das Schwanken seines Charakterbildes. So lange er in Goethes Nähe und unter den Augen des schaffenden Künstlers während dessen schaffensfreudigster Periode lebte, hielt, trug und spornte auch ihn dieser produktive Positivismus. Der tiefkranke Zug der Menschenfeindschaft, die Verbitterung gegen seine nächste Um[130]gebung, die ungesunde Vielgeschäftigkeit, die ihn zuletzt ruinierte, wurde noch niedergehalten. Neun Jahre älter als Goethe, stellte er sich dem Jüngling, dessen Superiorität im Schaffen und Dichten anerkennend, doch völlig gleich. Wenn er gegen Goethe nein sagte, so fühlte dieser vertrauend die Liebe durch, die aus dem Freunde sprach.
Gleich der Eintritt des Dichters in Gießen hat der Goethe-Forschung einiges Kopfbrechen gemacht und ist mit einigen Zweifeln und Legenden behaftet. Unter den »Ein- und Auspassierenden vom 2. bis den 15. August 1772« verzeichnet das »Gießener Wochenblatt«: »Herrn Baron v. Kilmansegg und Herrn Legationssekretär Wanderer von Wetzlar, logirt im Einhorn«. Der treffliche Goethe-Forscher, G.v. Loeper, bemerkt zu der Notiz: »Die wunderbaren Fremden machten auch die Behörde irre. Denn nach 'Legationssekretär' ist der Name Gotter und vor 'Wanderer' das Wort Student vermutlich ausgefallen. Doch gab es auch in Wetzlar Einen dieses Namens, der gleichfalls Legationssekretär sein mochte.« — Aber der Scharfsinn ist hier irre gegangen. Wie konnte auch Goethe es wagen, in der nahen Festung Gießen unter falschem Namen und noch dazu einem von einem wirklichen Legationssekretär in Wetzlar erborgten, sich einzuführen? Denn Wanderer war wirklich Legationssekretär, und niemand sonst als er und Kielmansegge waren einige Tage vor Goethe in Wetzlar. Das klärt die Chronologie in Kestners Tagebuch auf.
Das damalige Gießen war, schon von außen betrachtet, ein gar jämmerliches Nest. Ein Städtchen von noch nicht 4000 Bewohnern, eine Festung, eng genug, um zu drücken, nicht fest genug, um zu schützen. Schmutz und Verkommenheit, kein Dutzend schöner Wohnhäuser in den schmutzigen Gassen, die Stadt wie vergraben in ihren Wällen. Dagegen ragte sie doch über das Niveau ihrer Größe hinaus durch die,[131] wenn auch damals noch so armselige, Universität, durch ein Regierungskollegium, durch ein ganzes Regiment Soldaten und durch eine bedeutende Anzahl adeliger Familien, welche die ungemeine Wohlfeilheit des Ortes hingezogen hatte. Die Nachbarstädte Wetzlar und Gießen waren zeitweise nicht ohne eine gewisse Rivalität; die Reichsstadt fühlte sich wie unter der lästigen Kontrolle der hessischen Landstadt. Heute hat die hessische Universitätsstadt die preußische Kreisstadt nach allen Richtungen überflügelt; damals aber sah die Reichs- und Reichskammergerichtsstadt, die nur den Kaiser und den Reichstag über sich sah, mit vornehmer Überlegenheit auf die so unscheinbare und einem kleinen Territorialfürsten unterthänige Nachbarin herab. Die Natur ist schön auch dort, wenngleich die Landschaft um Wetzlar mannigfaltiger und, weil das Lahnthal dort enger ist, malerischer erscheint. Aber es fehlt auch dort nicht an schön gebauten höheren Waldbergen. Zur rechten und linken ragen die Burgruinen Gleiberg, Fetzberg und der klösterliche Schiffenberg, die ersten beiden überragt von dem Dünsberg, dem Herrscher des Thals. Eine rege Verbindung des Lehrkörpers der Gießener Hochschule mit den exklusiven Familien des Kammergerichtes scheint nicht bestanden zu haben. Auch bot damals der akademische Lehrkörper nur wenig von Bedeutung. Die bedeutendste Kraft gerade und eine persönlich besonders achtungswerte war Höpfner, den Goethe, wohl auch in der Absicht, juristisch von ihm sich beraten zu lassen, aufsuchen wollte. Ja er hoffte — aber vergebens — Merck werde sich länger in Gießen festhalten lassen und ihm dadurch ermöglichen, ihn juristisch auszunutzen.
Berühmt, bald berüchtigt genug war der Theologe K.F. Bahrdt in Gießen. Goethe hat ihn, so viel wir sehen und wissen, in Gießen nicht besucht. Zwar war Bahrdt des Dichters Kollege als fruchtbarer Mitarbeiter an den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«, aber Goethe stand doch, wie seine gleichzeitige Anzeige[132] von Bahrdts »Eden« und seine spätere Satire »Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes« zeigt, in zu grellem Gegensatz gegen den gemüt- und poesielosen, dabei sittlich schon höchst bedenklichen frivolen Aufklärer von Profession, um sich zu ihm hingezogen zu fühlen. In der erstgenannten Anzeige — vom 29. Juni 1772 — zählt er Bahrdt zu den »erleuchteten Reformatoren, die auf einmal die Welt von dem Überrest des Sauerteigs säubern und unserm Zeitalter die mathematische Linie zwischen nötigem und unnötigem Glauben vorzeichnen wollen?« Und sieht es nicht aus, als müsse Goethe manches, und nicht ehrenvolles, über Bahrdts persönliches Leben gehört haben, wenn er fortfährt, diesen Herren sollte »ihr Herz sagen, wie viel unzweydeutiger Genius, unzweydeutiger Wandel und nicht gemeine Talente zum Beruf des neuen Propheten gehören«. — Auch Höpfner hält sich dem zuchtlosen und überall anstoßenden Manne fern. Daß dieser trotz aller solcher Bedenken unter die Mitarbeiter der Anzeigen aufgenommen wurde, das lag wohl teils in der bequemen Nähe des schreiblustigen Vertreters eines Fachs, für das die Kräfte mangeln mochten, namentlich aber in der Protektion, der sich Bahrdt damals vonseiten des freidenkerischen Herrn v. Hesse (Herders späterer Schwager) gegenüber der Orthodoxie des Landes zu erfreuen hatte; mit Hesse aber stand Merck in enger Verbindung.
Zu dem Bilde des damaligen Gießen gehört vor allem die abschreckende, alles Maß übersteigende Roheit des Studentenlebens; für den feinen Merck, wie Goethe erzählt, ein solcher Anstoß, daß er dem Orte schon darum möglichst bald den Rücken kehrte. Die kleine Hochschule zählte etwa 250 Studiosen. Die vielen relegierten Studenten, welche von Jena nach Gießen übersiedelten, hatten den wüsten Renommistenton dort großziehen helfen. Die rechten geistigen Gegengewichte und sittlich imponierende Persönlichkeiten im akademischen Lehrkörper fehlten.[133] Sonntag und Werktag im Flausch, lederne Beinkleider und Kanonenstiefel, an der Seite den wuchtigen Hieber, eine dickgeknotete Hetzpeitsche über der Schulter, als gefährliche Waffe, um sich vor dem Duell »in Avantage zu setzen«, wie zu kindischem Knallen auf den Straßen geschickt — darin bestand die Ausrüstung eines Burschen von echtem Schrot und Korn. Wehe dem, der etwa nach Göttinger Brauch anständigere Formen in Tracht und Art vorzog! Er galt als »Drasticum« oder »Theekessel« und wurde so lange gequält, bis er in den herrschenden Ton einstimmte. Die Orden der Amicisten und Konstantisten vor allem bestimmten diesen Ton. Noch besitzen wir die Statuten des Kränzchens der Fidelität, die der »theekesselischen Petitmaiterei« den Krieg erklären und die edlen Grundrechte und Pflichten eines Gießener Studiosus aufstellen. Der Besitz nur eines Rockes war gestattet, anständiger Schritt und Grüßen auf der Straße verboten, geboten der burschikose Jargon, der die Philister »schwänzt« (d.h. nicht bezahlt), die Professoren »prellt«, »wetzt« (d.h. mit dem Degen aufs Pflaster haut) u.s.w., ewige Feindschaft gegen Philister und Gnoten. Dieser tiefe Kulturgrad, der jedem Anstand ins Gesicht schlug, Schnaps dem Bier vorzog, sich in nächtlichem Gebrüll auf den Gassen gefiel und in roher Schlägerei den Gipfel aller Wonne sah, übte in dem kleinen Ort einen völligen Terrorismus, der nicht bloß die Straßen unsicher machte. Die unritterliche Haltung dieser »letzten Ritter« gegen Frauen und Jungfrauen, die Duldung von »Liebschaften« nur »mit niedrigen Frauenzimmern, Aufwärtermädchen, Wäscherinnen, Obstmädchen und solchen« zeigte vollends, wes Geistes Kinder diese »Musensöhne« waren. Man sieht aus dem zum Teil martialischen Disziplinarstatute von 1779, das unter dem Einfluß des Kanzlers und Geheimrats-Präsidenten Friedrich Karl Freiherrn v. Moser entworfen wurde, welche Feinde jeder Bildung und Sitte es auf der Landes[134]universität zu bekriegen galt. Es sind Studententypen, wie sie dem Dichter, als er die Faustscene in Auerbachs Keller schrieb, vorschweben mochten, denn Gesellen wie Brand, Frosch, Siebel, Altmayer könnten in der That auf der damaligen Gießener Hochschule studiert haben. In Leipzig oder Straßburg hat der Dichter schwerlich die Modelle gefunden. Auch sagt Goethe selbst, er hätte einige Prachtexemplare dieser Renommisten »als Masken in einem seiner Fastnachtsspiele brauchen können«. — Wir kehren von der Skizze des damaligen Gießen zu Goethes Wanderung dahin zurück.
Ein Magnet mehr war es für ihn, daß auch Lotte tags zuvor auf mehrere Tage nach Gießen gefahren war, wo sie bei Verwandten wohnte. Goethe traf sie nebst dem Freunde Merck bei dessen Kollegen, dem Kriegszahlmeister Pfaff, bei dem sie dann zusammen mit Professor Höpfner zu Mittag aßen. Da dies urkundlich sichere Notizen aus Kestners Tagebuch sind, so bleibt nichts anderes übrig, als das Eintreten Goethes bei dem ihm (der Überlieferung nach) noch unbekannten Höpfner im Inkognito in die früheren Vormittagsstunden zu verlegen, wenn überhaupt der Bericht in »Wahrheit und Dichtung« auch in diesem Stück mit der Wirklichkeit stimmt. »Am Ziele meines Weges angelangt, suchte ich Höpfners Wohnung — sie lag in dem Haus am Ecke der Neuen Bäue, der jetzigen Rickert'schen Buchhandlung — und pochte an seine Studierstube.« Hier spinnt sich nun die bekannte Mystifikation ab, die uns an die ähnliche im Eingang der Sessenheimer Idylle erinnert, indem Goethe sein vielleicht auf dem Morgengang an der Lahn ersonnenes Märchen vorträgt, sich als jungen Fachgenossen vorstellt, um dann, nach Schlossers Erscheinen, im Wirtshause sich vor Höpfner und dem hinzugekommenen Professor der Beredtsamkeit und Dichtkunst Christian Heinrich Schmid zu decouvrieren. Wir wissen, daß auch in dieser Geschichte Wahrheit und Dich[135]tung spielt. Schlosser war damals nicht in Gießen, Höpfner aber müßte sich Goethe schon in dessen Wohnung zu erkennen gegeben haben, da er bald darauf mit ihm bei Pfaff zu Mittag speiste. Und so erscheint die Anekdote auch in der Version der Wagnerschen Überlieferung aus sicherster Quelle, vielleicht aus dem Munde des landgräflichen Kabinettsrats Schleiermacher, noch eines jüngeren Genossen jenes Kreises, mit dem sich der Herausgeber der Merckschen Briefe in Verbindung geseht hatte. Er erzählt: »Ganz anders, d. h. drastischer nahm sich die Schilderung Höpfners aus, wenn er sie dramatisierte, die seltsame Erscheinung des wunderschönen jungen Menschen mit den feuervollen Augen und dem unbeholfenen, linkischen Anstand beschrieb, seine komischen Reden wiederholte und namentlich zur Explosion kam, wie der blöde Student aufsprang und Höpfner um den Hals fiel mit den Worten: 'Ich bin Goethe! Verzeihen Sie mir meine Possen, lieber Höpfner, aber ich weiß, daß man bei der gewöhnlichen Art, durch einen dritten mit einander bekannt gemacht zu werden, lange sich gegenüber steif und fremd bleibt, und da dachte ich, wollte ich in Ihre Freundschaft lieber mit beiden Füßen hineinspringen, und so, hoff' ich, soll's zwischen uns sein und werden durch den Spaß, den ich mir erlaubt habe.'«
Höpfner war ein stattlicher Mann von edlem Gesichtsausdruck, gewinnend und anziehend, zartbesaitet und jedem Eindruck in Natur und Kunst offen. Sein geistiges Interesse ging weit über die Schranken seiner Fachwissenschaft hinaus. Er war nicht bloß als gelehrter Jurist und als Lehrer des römischen wie des Natur-Rechts ein seiner Zeit hoch angesehener Mann, er hatte auch mit der Dichtung der Zeit lebendige Fühlung, wenn er auch die neu auftauchende geniale Schule mit kritischen Augen maß. Klopstock vor allem war ihm teuer, und darin traf er ja mit dem damaligen Goethe so ganz zu[136]sammen, den »Messias« las er wie ein Andachtsbuch — gewöhnlich dessen zehn erste Gesänge in der Passionszeit —, weil er mitten unter Gegensätzen ein treuer Anhänger der christlichen Wahrheit geblieben war. In der Bibel war er bis zum Auswendigwissen großer Partieen aus den Psalmen, Propheten und Evangelien belesen; aber das Gleiche gilt von Homer und den römischen Klassikern. Er liebte und pflegte Musik und Deklamation. Als Jurist hat er sich vor allem durch seinen Institutionen-Kommentar bekannt gemacht, von dem Savigny rühmt, die Rechtslitteratur habe nicht viele Werke in deutscher Sprache aufzuweisen, die so wie dieses durch gute, klare Darstellung als wirklich lesbare Bücher genannt zu werden verdienten. Gewiß waren es nicht sowohl seine römischen Rechtsstudien, als seine eifrige Beschäftigung mit dem Naturrechte, die mit Goethe den juristischen Gesprächsstoff wird gebildet haben. Seine naturrechtlichen Grundsätze standen sichtlich unter dem Einfluß Rousseauscher Impulse. Goethe, der diese Gießener Episode überhaupt mit sichtlicher Vorliebe behandelt, läßt nun bekanntlich die vier Freunde eine gemeinsame Attaque gegen den Professor der Beredsamkeit, den sogen. Theorieen-Schmid, machen, bei welcher Goethe der Hauptangreifer ist. An dem Faktum an sich zu zweifeln, ist kaum möglich; dazu ist es zu charakteristisch und zu detailliert überliefert. Die Frage ist nur, ob es wirklich in diese Augusttage fällt. Darüber gleich ein Wort! —
Am 19. August, einem Mittwoch, wanderte Merck mit Goethe lahnab nach Wetzlar. Anfangs bestand der Plan, Lotte solle mitwandern oder mitfahren. Doch war dies wohl nur Goethes Plan oder Wunsch. Lotte selbst lehnte mit richtigem Takte ab und trug dem Dichter auf, ihren Verlobten zu bestimmen, er möge herüberkommen und sie zurückgeleiten. Da Merck die Hauptpersonen, die ihn in Wetzlar interessieren konnten, — Goethe und Lotte — bereits in Gießen gesprochen hatte, so führte ihn[137] offenbar der Wunsch, auch den Ort zu sehen, wo sein Freund ein so schönes Stück Leben verlebte und zwar in dessen Gesellschaft, vielleicht auch die Absicht, das Buffsche Haus und Kestner, wohl auch Gotter kennen zu lernen, nach dem nahen Wetzlar. Jedenfalls kann das Verlangen, Lotte kennen zu lernen, wovon in »Wahrheit und Dichtung« die Rede ist, kein Motiv gewesen sein, weil er diese schon in Gießen gesehen hatte. Zu Kestner eilte der von Gießen zurückgekehrte Dichter noch abends zehn Uhr, ihm zu sagen, Merck sei hier, und Kestner solle, seine Braut abzuholen, anderen Morgens in aller Frühe in Gießen sein. Schon um fünf Uhr ritt Kestner weg und holte die harrende Braut im dort gemieteten Carriolchen ab; Lotte selbst lenkte das Rößlein. In Atzbach auf der Durchfahrt wurde im Rhodiusschen Hause vorgesprochen; gegen elf Uhr vormittags war das glückliche Paar wieder in Wetzlar. Am Nachmittage geleitete das ganze Buffsche Haus, vielleicht mit den Brandtschen Töchtern, Merck und Goethe auf dem Wege nach Gießen bis Garbenheim. Von dort fuhren die beiden Freunde weiter nach Gießen, um hier noch einen Tag zusammen zu sein. Sonnabend, den 22. August, verließ Merck Gießen, um über Frankfurt, wo er über den Sonntag im Goetheschen Hause blieb, heimzukehren. Wir können uns denken, wovon vor allem zwischen den Freunden die Rede war. Den »Frankfurter Anzeigen« galt es, aber auch Goethes persönlicher Lage. Merck wollte den Freund bestimmen, Wetzlar mit ihm zu verlassen. Dazu konnte sich dieser nicht alsbald entschließen; wohl aber versprach er, binnen kurzer Frist mit dem Merckschen Ehepaar in Ehrenbreitstein bei Frau de la Roche zusammenzutreffen und dann rheinauf nach Frankfurt zurückzufahren. Des Dichters Rückerinnerung ist, wie es nicht anders sein konnte, auch hier mehrfach lückenhaft und blaß geworden. So soll ihm Mephistopheles-Merck die Hinneigung zu Lotten verleidet und ihn als Ersatz auf eine Freundin von[138] junonischer Gestalt (doch wohl Dortchen Brand?) hingewiesen haben. Wohl möglich, daß auch Merck dem verliebten Freund ins Gewissen geredet nnd zur Besonnenheit geraten hat. Aber Lottens Vorzüge verkannte er so wenig, daß er (nach der schon oben [S. 74] teilweise angeführten Briefstelle) seiner Frau alsbald nach dem ersten Sehen schrieb: »Dans ce Moment je reviens de Mr. Pfaff, où j'ai trouvé aussi l'amie de Gœthe de Wetzlar, cette fille, dont il parle avec tant d'enthousiasme dans toutes ses lettres. Elle mérite réellement tout ce qu'il pourra dire de bien sur son compte." —
Nicht besser also steht es mit der Goetheschen Überlieferung, auch Schlosser sei damals in Gießen gewesen. Die urkundlichen Quellen sagen das Gegenteil. Es ist aber kaum zu zweifeln, daß der Freund während des Sommers mit Goethe in Gießen-Wetzlar zusammengetroffen; daß sich also dem Autobiographen zwei Thatsachen zu einer verschmolzen. Schlosser war schon durch die Absicht, um Herz und Hand der Schwester des Dichters zu werben, zu diesem getrieben worden, der eine solche Macht über der Schwester Herz besaß. Dort erwartete er Rat und Fürsprache. Auch das spricht für eine Anwesenheit Schlossers in Wetzlar, daß Kestner, als er im Oktober 1772 Frankfurt besuchte, zuerst zu Schlosser ging, den er also gekannt haben mußte. Zu vermuten ist, daß dieses Zusammentreffen Schlossers mit seinem späteren Schwager in die Zeit vor Mercks Eintreffen fiel. Genaues ist uns weder hierüber, noch überhaupt über andere Wanderungen Goethes nach Gießen bekannt. Allerdings wäre es auffallend, wenn er erst nach drei Monaten die nahe Universitätsstadt sollte aufgesucht haben. Ich wage eine Vermutung. Höpfner schreibt drei Tage vor Goethes Eintreffen an den Rat und Professor Rudolf Erich Raspe in Kassel, den Inspektor des dortigen Kunst- und Münzkabinetts: »Heute Abend (am 16. August) oder morgen kommt unser Merck zu mir. Wären[139] Sie doch auch bei uns! Sie und Gotter und Goethe (ein Mann von großem Talent) und Merck, was sollte das für eine Freude sein.« — Liegt hierin auch nicht mit zwingender Nötigung, daß Höpfner bereits mit Goethe bekannt gewesen — denn jenes Lob konnte er auf Grund [Störung] einer schriftlichen Mitteilung Mercks ausgesprochen haben —, so scheint es doch das Wahrscheinliche. Dann würde wohl anzunehmen sein, daß Goethe schon früher einmal und zwar vielleicht, um mit Schlosser zusammenzutreffen, in Gießen war, daß in diese Zeit sein Inkognito fällt, als er sich Höpfner zum erstenmal vorstellte, und daß Goethe, Höpfner und Schlosser die Trias bildeten, vor deren Tribunal der armselige Tropf Schmid so übel bestand. Dann wird Schlosser, wie später Merck, mit dem Dichter nach Wetzlar gewandert sein, die Buffsche Familie und Kestner kennen zu lernen. Bei dem Zusammentreffen mit Merck vermute ich sogar, daß Goethe mit diesem bei (dem noch unvermählten) Höpfner gewohnt hat, da sein Name sich nicht in dem Verzeichnis der einpassierenden Fremden befindet. Dies erklärt sich aber schon einfach daraus, daß er als Fußgänger in die Festungsthore eingewandert war und nicht im Gasthofe abstieg.
Wo so viel gelebt ward in kurzer Frist, da dürfte es von vornherein nicht wundernehmen, wenn um so weniger gedichtet und gearbeitet wurde. Und in der That ließe sich nach den Erinnerungen in »Wahrheit und Dichtung« und bei dem Mangel sichtbaren Ertrags vermuten, daß dieser Wetzlarer Sommer durch einen poetischen Stillstand ohnegleichen in Goethes Jugendleben gekennzeichnet werde. Aber auch die Arbeit, die Erweiterung der Kenntnisse, die Vertiefung der Bildung, die Klärung und Festigung der Prinzipien scheint hinter der Anmut und der Erregung des wirklichen Lebens zurückzutreten. Ein schärferes Zusehen wird zeigen, daß auf beiden Gebieten, im Dichten wie im Lernen diese Sommermonate doch keineswegs ein dolce far niente bedeuten. Voran aber stellen wir die leidige Thatsache, daß wir über Maß und Art der Geistesarbeit des Dichters in jenem Sommer allerdings keineswegs zur Genüge unterrichtet, daß wir vielmehr meist auf eine Wahrscheinlichkeitsrechnung angewiesen sind. Die späten Reminiscenzen in »Wahrheit und Dichtung« sind lückenhaft und schweigsam; gleichzeitige und darum allein vollwichtige Briefbekenntnisse fehlen gerade für die Wetzlarer Zeit mehr denn anderswo. Die Briefe an Merck aus diesem Sommer, die den[141] Freund gewiß auf dem Laufenden hielten, sind — wie wir sahen — verloren, die an die Schwester, die gewiß am treusten den Sturm und Drang jener Monate wiedergespiegelt haben, sind vernichtet oder sie liegen im Weimarer Gewahrsam oder bei den Schlosserschen Erben fest. Ehe wir das Was und das Wie seiner Thätigkeit beleuchten, ein Wort über die Vorfrage: wann hatte Goethe zum Dichten und Arbeiten überhaupt Zeit? — In den ersten vier Wochen seines Wetzlarer Lebens hatte er zu freier Geistesthätigkeit noch mehr Raum, aber seit der Bekanntschaft mit Lotte wurde der Raum immer enger und die innere Disposition immer unfreier. In die Kammergerichts-Sessionen zwar kam der Dichter wohl nicht oft und gewiß nicht häufiger, als gebotene Rücksicht und der Wohlstand es forderten. Nach Tisch traf er mit Kestner im »Deutschen Hause« zusammen. Dann, wenn dieser zu den Geschäften zurückkehrte, ging es mit Lotte aufs Feld, in den Garten und sonst ins Freie, oder es wurde mit Freunden ausgeflogen. Ebenso ward der Abend zwischen dem »Deutschen Hause« und den Freunden im »Kronprinzen«, aber zu ungleichen Teilen, geteilt. Also blieben in der Regel die Morgenstunden, die Goethe teils in seiner Wohnung, teils im Garten am Lahnberg oder in Garbenheim verbrachte. In der düsteren Wohnung hielt es ihn schwerlich lang, und wohl nur für die Arbeiten, die, weil sie einen Apparat von Büchern forderten, den freien Himmel nicht vertrugen.
Wir beginnen mit der dichterischen Arbeit. Das poetische Inventarium dieser Monde ist nicht bloß dürftig, sondern gleich Null. Auch nicht ein einziges neues und selbständiges Gedicht wird für diesen Wetzlarer Sommer verzeichnet. Dagegen begegnen wir (außer dem mitgebrachten ersten Entwurf des »Götz«) vier unmittelbar vorher entstandenen, die Goethe in Wetzlar entweder zu Ende führt oder umgestaltet. Es ist die lyrische Trias[142] an die zurückgelassenen Freundinnen Lila, Urania, Psyche und der »Wanderer«. — Jene Liedertrias war mitgebrachtes Gut und ist nicht auf Wetzlars Grund und Boden erwachsen. Sie gehören einem ganz anderen Stimmungs- und Gedankenkreis an, auf den sie mit sehnendem Heimweh zurückblicken. Die Motive in »Elysium« und »Morgenlied« sind gutenteils jenem »voyage de fou« Goethes und Mercks und ihrem Zusammensein mit Lila, Urania und den La Roches (Mutter und Tochter) in Homburg im Anfang April 1772 entnommen, wo die Reize des malerischen Schloßparks, des »pays de fées«, die Herzen weit aufthaten. Aber zu Ende geführt oder wenigstens mit der letzten Feile versehen scheinen alle drei Gedichte in Wetzlar zu sein, denn erst von dort schickte Goethe die Lieder an Lila zur Austeilung an die Freundinnen. Läßt sich auch nicht haarscharf nach Ort und Zeit ihr Ursprung bestimmen, so verraten sie doch einzelne Spuren zum Verständnis der Situation. Der »Felsweihe-Gesang an Psyche« und »Elysium, An Uranien« sind offenbar während des Abschiedsbesuchs in Darmstadt Ende April und Anfang Mai 1772, wo Goethe mit Merck, Lila und der Flachsland im engsten Verkehr sich zusammenfand, empfangen, vielleicht auch geboren worden, so daß nur die formelle Schlußredaktion in die ersten Wetzlarer Tage fiele. In dem Lied an Psyche weist auf diese Entstehungsart die Strophe hin:
Zwar könnte dieser Zukunftsgedanke auch in Frankfurt in den letzten Tagen von Goethes Dortsein niedergeschrieben sein, allein die Stelle »wo meine Brust hier ruht« deutet darauf, daß Goethe noch einmal bei seinem letzten Darmstädter Aufenthalt die Stätte vergangener Freuden besucht hatte. Und dies[143] ist ausdrücklich bezeugt. Karoline Flachsland schreibt Ende April 1772 an Herder: »Goethe und meine Lila sind wieder hier; ich habe das warme feurige Mädchen nur eine Minute gesehen, und mit Goethe waren wir gestern bei meinem Fels und Hügel.« Ebenso scheinen in »Elysium, An Uranien« die Worte:
auf die ersten unheiteren Eindrücke Wetzlars hinzuweisen. In diesem Gedichte wird Lila, der sich der Dichter am nächsten fühlte, schon mitgefeiert. Das ihr eigens bestimmte »Pilgers Morgenlied« ist offenbar das zuletzt entstandene der Trias, vielleicht auf der Fahrt von Frankfurt nach Wetzlar gedichtet, wie schon Merck vermutete. Darauf geht auch der Anfang:
Denn nicht wie Strehlke in der Hempelschen »Goethe-Ausgabe« seltsam meint, ist unter diesem Turm — ist das Lilas Turm? — die Schloßruine »Karlsmund (l. 'Kalsmunt') an der Lahn« d.h. dicht bei Wetzlar, sondern der Homburger Schloßturm, wo Lila wohnte, zu verstehen, selbst wenn es zweifelhaft sein kann, ob man auf der Landstraße, auf der Goethe vermutlich dahinfuhr, bei nebelfreiem Wetter dieses Wahrzeichen der kleinen Residenz links konnte liegen sehen. Ist doch auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß Goethe, falls Lila inzwischen von Darmstadt wieder heimgekehrt war, über Homburg nach Wetzlar fuhr, wie er später, bei seinem zweiten, kurzen Besuch von Wetzlar im November, in umgekehrter Ordnung von Friedberg über Homburg nach Frankfurt zurückfuhr. Dieses dritte Lied ist, wie das kürzeste, so das zarteste, innigste und persönlichste. Aber[144] trotzdem und obwohl der Autor sagt, ewige Flammen habe Lila ihm in die Seele geworfen, das Bekenntnis einer eigentlichen Liebe lebt doch auch in diesem Liede nicht. Daß aber jene Trilogie in sich durch die Verwandtschaft der Stimmung wie der poetischen Form auf das engste zusammenhängt, ist nur natürlich. Es ist jene seraphische Stimmung und Empfindung, die trotz, ja mitsamt dem verstandesklaren Merck jenen Kreis in platonischer Seelenfreundschaft und schmelzender Sympathie durchdrang. Schon oben sahen wir, daß Goethe, in der weichen Stimmung eines psychischen Rekonvalescenten nach der Untreue gegen die Sessenheimer Friederike sich zeitweise diesem sentimentalen Wesen überließ; auf die Dauer hätte dieses kränkelnde Sich-Verwöhnen à la Leuchsenring dem Dichter gewiß nicht behagt, und schon darum war eine Luftveränderung für ihn heilsam. Über allen Teilnehmern dieses Kreises lag eine Wolke der Wehmut, darum die Stimmungsverwandtschaft. Auch die Form dieser drei Lieder zeigt ihre Zusammengehörigkeit. Es sind jene antikisierenden reimlosen Verse eigener Erfindung, wie sie Goethe damals liebte, entstanden unter dem Einfluß Pindars, aber nicht als steif-schematische Imitationen, sondern als freie metrische Bildungen von hohem rhythmischem Gefühl. Diese neue Form ist, so stürmisch sie daherbrausen kann, dem Dichter doch nie zum Ausdruck wirklicher Liebeslieder geworden, vielmehr hat er da stets den volkstümlichen Reim gewählt.
Auch den »Wanderer«, eine der Perlen seiner Jugendlyrik, hat Goethe dem Gehalt nach fertig nach Wetzlar gebracht. Schon im Anfang April 1772 erwähnt Karoline Flachsland des Gedichts gegen Herder. Gegen Ende Mai übersendet sie ihm eine Abschrift, die ihr der Dichter von Wetzlar geschickt hatte, mit den Begleitworten: »Ich habe lange, lange nichts Rührenderes gelesen. Der Wanderer auf den Ruinen — die Frau mit dem Knaben auf dem Arm — und der Wanderer mit dem Knaben[145] auf dem Arm — und die letzte Bitte um eine Hütte am Abend — o ich kann Ihnen nicht sagen, wie alles das mir in die Seele geht. Gott, wo werden wir, zwischen der Vergangenheit erhabenen Trümmern unsere Hütte flicken? Hütte der Liebe — oder des Kummers! — —« Mit dieser vorwetzlarischen Entstehungszeit streitet aber eine zwiefache Angabe Goethes in den Briefen an Kestner. Er schreibt: »In Wetzlar hatte ich ein Gedicht gemacht, das von Rechts wegen niemand besser verstehen sollte als Ihr. Ich möchte es Euch so gern schicken, hab aber keine Abschrift mehr davon. Boie hat eine durch Mercken, und ich glaube es wird in den Musenalmanach kommen, es ist überschrieben 'der Wanderer' und fängt an: 'Gott segne dich junge Frau', ihr würdets auch ohne das gleich gekannt haben.« Und nachdem das Gedicht im Musenalmanach abgedruckt war, schreibt Goethe am 15. September noch einmal darüber: »Du wirst auf der 15^ten S. den Wanderer antreffen, den ich Lotten ans Herz binde. Er ist in meinem Garten, an einem der besten Tage gemacht. Lotten ganz im Herzen und in einer ruhigen Genüglichkeit all eure künftige Glückseligkeit vor meiner Seele. Du wirst, wenn du's recht ansiehst, mehr Individualität in dem Dinge finden als es scheinen sollte, du wirst unter der Allegorie Lotten und mich, und was ich so hundert tausendmal bei ihr gefühlt, erkennen. Aber verraths keinem Menschen. Darob solls euch aber heilig sein und ich hab euch auch immer bey mir wenn ich was schreibe.« Eine neue chronologische Schwierigkeit liegt darin, daß Goethe, als er das Gedicht Ende Mai an die Freundin in Darmstadt schickte, Lotte Buff noch gar nicht mit Augen gesehen hatte. Also müßten wir entweder eine Unwahrheit oder eine Selbsttäuschung annehmen, wenn wir nicht den Ausweg vorziehen, daß der Dichter später noch einmal das Gedicht überarbeitet, und daß ihm bei dieser Schlußredaktion Lottens Bild vorgeschwebt habe. Neue[146] wesentliche Momente sind allerdings dann nicht mehr hinzugetreten, da wir in der Briefstelle Karolinens an Herder diese alle schon zusammenfinden. Goethe hatte aber offenbar noch einen besonderen Grund, die Beziehung des Gedichts auf Lotte zu betonen. Es geschah in der Zeit von Lottens Vermählung, und die erste Erwähnung jenes angeblich ihr zu Ehren gesungenen Liedes trat gleichsam an die Stelle eines unterbliebenen Hochzeitcarmens.
Sonderbar und nicht ganz schwindelfrei bleibt das Versteckspiel mit dem Gedichte und seine untergeschobene Interpretation immerhin, und die sonst zwecklose Warnung, es niemanden zu verraten, scheint auch fast auf ein nicht ganz sicheres Gewissen zu deuten. Eine Wetzlarer Frucht also ist es dem Grundgedanken und der Substanz nach nicht. Darum hier nur ein Wort darüber. Wohl ist es der metrischen Form nach ein Seitenstück zu der später entstandenen Trias von Liedern, von der wir sprachen. Während aber diese nur »Gelegenheitsgedichte« im subjektivsten und beschränktesten Sinne sind, haben wir hier eine Dichtung, die über das persönliche Motiv sich hinaushebt zu objektiver Gestaltung und fast zur Ballade wird. Auch die dramatische Form hilft jenen Charakter der Objektivität ausprägen. Eine ästhetisch-kritische Würdigung des Gedichts gehört nicht hierher, auch nicht die Frage nach den ersten Anstößen dazu, ob diese in Elsässer Reiseerlebnissen ihren Grund haben; aber mag dem Gedicht ein Elsässer Reiseerlebnis, die Anschauung der Niederbronner Bäder, zugrunde liegen, es ist doch ein persönlicher Lebensgedanke des Dichters, der dieses äußere Bild beherrscht und beseelt. Das persönliche und sachliche Moment schließt sich in künstlerischer Reife, die in Goethes Jugenddichtung kaum ihresgleichen hat, zusammen. Das immer sich neu gebärende Leben tritt dem untergegangenen gegenüber, das die Pflanzenwelt mit Epheugerank und Brombeergrün, die Tier[147]welt als Schwalbe und Raupe, die Menschenwelt mit improvisierter Hütte überspinnt; Natur und Kunst, Gegenwart und Antike, Leben und Tod treten einander gegenüber. Und doch nicht als Gegensätze. Und dem Dichter, dem die Kunst, vollends in der idealen Gestalt der Antike, so hoch steht, steht doch am höchsten das unmittelbare Leben mit Leid und Lust, die Natur, die unsterbliche Mutter jeder Lebenserscheinung. Daher ist es wie eine Symbolik von Goethes menschlicher Art und dichterischer Kunst.
Kein einziges Lied wurde, so weit unser Blick reicht, von Goethe in Wetzlar gesungen, und wie wir an dem »Wanderer« sahen, mußte der Dichter seine so poesievolle und doch liederlose Gegenwart mit den Federn der Vergangenheit schmücken. Allerdings fehlt es nicht an Stimmen für die Annahme, es seien in Wetzlar entstandene Gedichte vermutlich verloren gegangen; er sei damals auf die Erhaltung kleiner Produktionen wenig bedacht gewesen; es sei aber zu verwundern, wenn Lotte keinen Anlaß zu Liedern sollte gegeben haben. Wäre aber ein Verschwinden solcher Lotte-Lieder aus Goethes poetischem Besitz immerhin möglich, geradezu unmöglich wäre es bei Lotte und Kestner, die mit sorglichster Gewissenhaftigkeit auch das kleinste Erinnerungsblatt an den Dichter bewahrten. Auch die Durchmusterung der handschriftlichen Originale der Wertherbriefe ergiebt kein anderes Resultat. Wenn aber Goethe vierzig Jahre später erzählt, Gotter habe ihn zu manchen kleinen Arbeiten angeregt, so ist dabei eher an Übersetzungen wie an die im Wettstreit entsprungene von Goldsmiths »Deserted village«, als an selbsteigene Dichtungen zu denken. Da wir also nicht den geringsten Grund haben, den Verlust damals gesungener Lieder anzunehmen, da es vielmehr Goethe selbst ausdrücklich bezeugt hat, daß dieser Sommer poetisch unfruchtbar gewesen, so liegt die Frage nahe nach dem Warum dieses Stillstandes. Der Dichter selbst schreibt den Grund seiner[148] damaligen Neigung zu ästhetischem Theoretisieren zu, welche die Produktion ins Stocken gebracht habe. In der That war diese Neigung, wie wir bald sehen werden, seit dem Verkehr mit Herder erwacht, durch die Berührung mit Merck gestärkt worden und zog sich dann auch in die Wetzlarer Zeit hinüber. Aber ein ausreichender Erklärungsgrund für ein lyrisches Verstummen liegt bei der inneren Macht dieses überreichen Jugendlebens hierin nicht. Wir wissen: Goethes Lyrik läuft seinem Leben parallel, vielmehr ist sie die unmittelbare Spiegelung, die Frucht und der Reflex dieses Lebens. In diesem also müssen wir die Erklärung auch des Verstummens suchen. Die poetische Stimmung aber, zumal bei Goethe, thut sich vor allem in der unmittelbarsten Dichtungsform, der Lyrik, kund. Und dieses lyrische Element — wie tief greift es auch in die meisten Dramen Goethes. Der Dichter hatte in dem Buche seines Lebens durch die Verpflanzung nach Wetzlar ein neues Blatt aufgeschlagen. Zwar war die poetische Atmosphäre des Darmstädter Kreises verlassen, aber wie vieles schien in dem naturschönen Wetzlar und in dem Zauber gerade dieses Sommers auch poetisch zu stimmen. Aber, als die Eindrücke der nächsten Vergangenheit zurücktraten, erfüllte an ihrer Stelle eine Liebe des Dichters Herz, die lyrisch fast unverwendbar war. Von dem Straßburger Liebes- und Liederfrühling hat man wohl gesagt, Friederike v. Sessenheim sei seine Muse gewesen. Sie war es. Das konnte Lotte, die Verlobte eines dritten, unmöglich werden. War es doch eine Neigung ohne inneres Recht und gutes Gewissen, und ohne Aussicht auf Sieg und Frieden. Inmitten dieses inneren Kampfes der sich anklagenden und entschuldigenden Gedanken war kein unmittelbares reines Gefühl möglich; eine Lyrik der Zerrissenheit, des Pessimismus, der Resignation und des Weltschmerzes aber war am wenigsten die Art des werdenden Dichterfürsten. Damit ist nicht geleugnet, vielmehr zugegeben,[149] daß damals sich wohl lyrische Empfindungen in der Seele und Imagination Goethes geregt haben mochten, aber sie fanden keine künstlerische Gestaltung, sie ruhten als Elemente, bis sie im Werther, der ja durch und durch lyrisch durchhaucht ist und eine ganze Skala von Stimmungen und Seelenkämpfen beherbergt, ihre Auferstehung feierten.
Gilt das tiefe poetische Schweigen auch inbezug auf größere Arbeiten? Hier treten zwei Fragen und Möglichkeiten an uns heran, ob nämlich Goethe in Wetzlar erstens an seinem »Götz von Berlichingen« fortgearbeitet hat, und zweitens, ob er schon mit dem »Faust« befaßt gewesen?
Wir müssen annehmen, daß Goethe seinen »Götz« in der Gestalt nach Wetzlar mitbrachte, wie er ihn Ende 1771 als »Gottfried von Berlichingen« vorläufig abgeschlossen und Herdern, sowie seinen Freunden Salzmann und Loose mitgeteilt hatte. Denn er hatte an Herder ausdrücklich geschrieben, er unternähme keine Veränderung, bis er seine Stimme gehört; »denn«, schreibt er weiter, »ich weiß doch, daß alsdann radikale Wiedergeburt geschehen muß, wenn es zum Leben eingehen soll«. Diese Stimme des hochgehaltenen Kunstrichters ließ sich aber erst nach Monaten, dann aber warm anerkennend, wenn auch nicht ohne kritische Schärfe vernehmen. Goethe selbst hatte den ersten Entwurf als ein »Skizzo« bezeichnet, »das zwar mit dem Pinsel auf Leinwand geworfen, an einigen Orten sogar ausgemalt und doch weiter nichts als Skizzo« sei. Er sei jetzt von seiner Arbeit »aufgestanden und in die Ferne getreten«. Herder urteilte zwar, daß Shakespeare den jungen Dichter ganz verdorben habe; er muß aber in dem verlorenen Briefe, den Goethe ein »Trostschreiben« nennt, zugleich seine hohe und überraschte Befriedigung ausgesprochen haben, wie er dies auch hinter des Dichters Rücken gegen seine Braut thut. »Es ist«, so schreibt er, »ungemein viel deutsche Stärke und Wahrheit drin, obgleich hin und wieder[150] es auch nur gedacht ist.« Goethe aber verspricht als Summe seiner Überlegung: »es muß eingeschmolzen, von Schlacken gereinigt, mit neuem edlerem Stoff versetzt und umgegossen werden«. Dürfen wir also annehmen, daß der erste Entwurf des Dramas ohne jede erhebliche Änderung mit dem Autor nach Wetzlar gewandert war, so fragen wir, ob der geplante Umschmelzungsprozeß schon dort begann. Daß dieser Prozeß erst im Frühjahr des folgenden Jahres in Frankfurt zu Ende geführt wurde, ist bekannt. Fehlen auch die direkten Beweise, so hat es doch einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß der Dichter auch in Wetzlar an sein Lieblings- und Probestück irgendwie die Hand gelegt hat. Nicht das machen wir für unsere Vermutung geltend, daß in Wetzlar bei der Nähe des alten Reichsgerichtes und jener ritterlichen Maskerade, wo der Dichter den Namen seines Helden führte, eine besonders günstige Luft für seine Dichtung wehte, denn stofflich war ja das Drama vorher schon fertig, nur die Kunstform bedurfte der Läuterung. Wohl aber spricht das schon für eine Änderung, daß der Titel bereits aus »Gottfried« in »Götz« verändert war. Stärker noch ist der Grund, daß in Goués »Masuren« Fayel (Gotter) an Götz die Frage richtet: »wie weit seyd ihr mit dem Denkmal, das ihr eurem Ahnherrn stiften woll't?« Und dieser antwortet: »Man rückt so allgemach fort. Denk' es soll ein Stück werden, das Meister und Gesellen aufs Maul schlägt.« Dürfen wir annehmen, daß diese Worte der damals wirklichen Lage entsprechen — und das ist nach dem ganzen Tenor des »Masuren« gestattet —, so sehen wir daraus, daß Goethe in der That schon damals mit der Umarbeitung befaßt war. Damit stimmt auch die bekannte Epistel Goethes an Gotter bei Übersendung des »Götz« aus dem Sommer 1773. Schon die Stelle:
deutet auf einen Beirat Gotters in Wetzlar, und der Schluß
mit Bezug auf die Wegschaffung anstandswidriger Ausdrücke im »Götz« bestätigt diese Vermutung.
So stark sich aber nach der Natur der Sache wie nach diesen ausdrücklichen Zeugnissen die Überzeugung aufdrängt, daß der Dichter auch in Wetzlar sinnend und umschaffend in Fühlung mit seinem Werk geblieben ist, ein weiterer Schritt vorwärts läßt sich nicht thun; ein Versuch, das Was und Inwieweit der Umbildung des «Götz« während dieses Sommers zu bestimmen, bleibt unmöglich. Nicht einmal das wissen wir, ob er sein Stück in der mitgebrachten Form anderen vorgelesen hat, auch nicht, ob er auf Grund eigenen Geständnisses oder der Mitteilung anderer seinen ritterlichen Beinamen erhielt. Vielleicht war nur Gotter der Eingeweihte; hätte er Kestnern sein poetisches Geheimnis anvertraut, dieser hätte es in seiner Charakteristik Goethes gewiß nicht unerwähnt gelassen. Bei dieser Unsicherheit über die chronologische Vorfrage ist es noch weniger unsere Aufgabe, jene Fortschritte von der »Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand, dramatisiert« zu »Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel« darzulegen, — eine Aufgabe, die ohnehin wiederholt schon gelöst wurde.
Noch schwieriger liegt die Frage inbezug auf Faust. Die Frage nach der Genesis der Faust-Dichtung, die gegenwärtig die Goethe-Forschung so lebhaft beschäftigt, gehört natürlich nur insoweit in den engen Kreis dieser Schrift, als es sich um gewisse Punkte in der Chronologie der Dichtung handelt. Denn hiervon ist die weitere Frage abhängig, ob wir die Grundidee des Faust bereits hineinzurechnen haben in Goethes damalige innere Gärung und in seine Weltanschauung. Wie erweitert und ver[152]tieft sich diese enge Wetzlarer Welt, wenn wir uns den Dichter damals mit der Faust-Idee wenigstens beschäftigt denken dürfen, müssen! Wie verstehen wir noch ganz anders den Zug zur Einsamkeit, wenn ihn neben seiner Liebe auch dieses Leben in den größten Problemen von den trivialeren Genossen unterschied und schied.
Wir werden dann zugleich tiefer hineingeführt in die innere Welt des Dichters als durch die ästhetische oder historische Analyse irgendeiner anderen seiner Dichtungen, denn gerade in dieser seiner Lebensdichtung fließen Denken und Dichten, Weltanschauung und schaffende Kraft völliger zusammen als sonstwo. Und wie kann es ein gültigeres Zeugnis geben für die Energie des Genius, der nirgends dem realen Leben unterthan wird, sondern es als Poet zu beherrschen stark genug ist, als dies, daß der Dichter, tief erregt durch eine übermächtige Liebe, sich gleichzeitig trug mit dem gewaltigsten Dichtungsstoff? Die Annahme, daß Goethe schon damals mitten im Schaffen am »Faust« zu denken sei, hat ihren eifrigsten Bundesgenossen bekanntlich an Wilhelm Scherer. Niemand ist den Spuren der Dichtungsanfänge mit feinerer Spürkraft, aber auch mit kühnerer Zuversicht nachgegangen als dieser in seiner Schrift: »Aus Goethes Frühzeit«. Er nimmt bekanntlich eine prosaische Urgestalt des »Faust« aus dem Jahre 1772 für einzelne Partieen des ersten Teiles an, deren Umgestaltung in Knittelversen und deren Weiterführung in die Jahre 1773-1775 falle, in das zuletzt genannte Jahr doch nur zum ungleich geringeren Teile. Scherer gesteht (S. 92), einem Kunstwerke gegenüber lasse sich der Drang, es als ein Ganzes zu begreifen, nicht unterdrücken. Darum stellt er — doch mit der ausdrücklichen Reserve, seine Leser nicht zur Nachfolge in diesem Punkte auffordern zu wollen — folgenden Satz auf: »Wenn Götz als ein Märtyrer des Rechtes und der Freiheit stirbt, konnte nicht Faust endigen[153] als ein Märtyrer der Wissenschaft, der höheren Einsicht, welche mit der Kirche in Konflikt gerät? Konnte nicht die Selbstaufopferung im Dienste der Wahrheit als eine Sühne der Schuld an Gretchen gelten?« Wir gehören zu den Lesern, die von dieser Ansicht sich unüberzeugt bekennen, ja wir können nicht umhin, die zweite Frage namentlich für eine unglückliche Idee zu erklären. Götz fiel als tragischer Held der Selbsthilfe in dem Chaos gärender politischer Zustände, wo eine neue Staatsidee Herr ward über abwelkende Formen. Was hier an sich im absoluten Sinne das Höhere, Bessere und Berechtigtere sei, bleibt unentschieden. Im »Faust« handelt es sich um Verletzungen des ewigen absoluten Sittengesetzes. Wie lassen sich diese ausgleichen durch inkongruente oder unadäquate Verdienste, auch wenn man sie unbedingt als Verdienste anerkennen will, auf einem ganz anderen Gebiet? Und jedenfalls bestanden diese »Verdienste« lange vor Gretchens Verführung. Die ursprüngliche Faust-Idee kann in Goethes Sinn nur die gewesen sein, die Verschreibung an den Teufel, in welcher Gestalt immer dieser auftreten mag, durch ein Leben der praktischen Sühne, der befreienden That wirkungslos zu machen, den Fluch in Segen zu verwandeln und Fausts Seele zu retten. Dies ist um so selbstverständlicher, als Faust und der Dichter selbst ja im Grunde ähnlich identifiziert werden, wie zwischen Goethe und Werther eine relative Identität besteht. Auch Scherer (S. 92) sagt: »Gott ist der ewig Verzeihende, Mephisto ist kein Teufel: von einer Verdammung Fausts am Schlusse kann also nicht die Rede sein.« Gewiß, und dasselbe besagt Goethes bekannter kaum acht Tage vor seinem Tode geschriebener Brief an W.v. Humboldt (vom 17. März 1832): »Es sind über sechzig Jahre, daß die Konzeption des Faust bei mir jugendlich von vornherein klar — die ganze Reihenfolge hier weniger ausführlich vorlag.« Die ursprüngliche[154] Einheit seines »Faust« lag eben in dem von Anbeginn an »völligen Bewußtsein« (nach seinem eigenen Worte) über das Ziel, nicht über den Verlauf des Stücks. Der Faden aber, der Anfang und Ende verbinden sollte, konnte kein intellektueller, sondern mußte ein ethischer sein. Das Wie jener Wandlung aber war das Problem der Dichtung; und weil hierin der Knoten lag, darum das langsame Fortrücken des Dramas. Doch nicht dieses Orts ist es, diese so schwierige und so fesselnde Frage genauer zu prüfen. Was die erstere Hälfte der Aufstellung Scherers betrifft, die chronologische, so gehen wir nicht so weit, eine wirkliche poetische Arbeit des Dichters schon in den Sommer oder gar in das Frühjahr 1772 zu verlegen. Um so wahrscheinlicher ist es uns, daß die Faustidee, d.h. der Plan, aus dem Rohstoff der Sage, den Goethe schon zur Zeit der »Mitschuldigen« kannte, eine Dichtung zu gestalten, bereits in dem genannten Jahre, und zwar schon in den Wetzlarer Monaten, vorhanden war. Es giebt nun ein direktes Zeugnis für diese Annahme, die bekannte Stelle am Schluß der poetischen Epistel Gotters an Goethe, von der wir oben schon handelten, und auch diese spricht nicht zweifellos für die Wetzlarer Zeit. Von dieser gehen wir aus. Gotter schließt seine humoristische Epistel in Knittelversen, nachdem er dem Frankfurter Freunde die in Wielands »Merkur« veröffentlichte Epistel über die Starkgeisterei in nahe Aussicht gestellt hat, mit den Worten:
Liegt in diesen Worten auch kein Beweis, der für das Vorhandensein der Faust-Idee in der Wetzlarer Zeit jeden Zweifel ausschließt, so erhält die Stelle doch ausreichende Beweiskraft, wenn wir uns die Situation, aus der sie hervorgegangen, gründlich vergegenwärtigen. Gotter hatte fast gleichzeitig mit Goethe[155] Wetzlar verlassen, um nach seiner Vaterstadt Gotha zurückzugehen. Daß sich beide Dichter in Wetzlar selbst vielfach und nahe berührt, haben wir oben gesehen, auch tauschten sie das brüderliche Du, aber wir sahen auch, daß die innerste Geistesverwandtschaft beider keine besonders nahe war, daß ihr Verhältnis nicht ohne Trübungen blieb. Diese Differenz erweiterte sich sogar, wie wir auch bereits sahen, zeitweise nach der Trennung.
Spuren eines Briefwechsels finden wir in dem Winter und Frühjahr 1772/73 nur aus Anlaß litterarischer Zusendungen. So schickt Goethe — und auch dies erst weit später als anderen Freunden — seinen Aufsatz von »deutscher Baukunst« im November 1772 an Gotter, im Juni 1773 seinen »Götz«. Von weiteren Briefen findet sich keine Spur. Daß er aber der poetischen Begleitepistel zu »Götz« noch ein verloren gegangenes prosaisches Postskriptum mit der Nachricht über den begonnenen »Faust« sollte angehängt haben, ist vollends unwahrscheinlich. Warum sollte es unterdrückt worden sein? Goethe hatte aber ein Interesse daran, seinen theatralisch ziemlich ungefügen »Götz« von dem bühnenenthusiastischen Gotter verkörpert zu wissen. War das Verhältnis zwischen beiden Dichtern auch kein gespanntes, so doch damals ein nichts weniger als warmes und vertrauendes. Paßt aber in ein solches Verhältnis hinein die Annahme, daß Goethe sein poetisches Geheimnis — und wie wußte er Dichterpläne von längerer Hand als Geheimnis in sich zu verschließen! — dem fernen Genossen brieflich sollte weiter verraten oder entwickelt haben, als es bereits in dem unmittelbaren mündlichen Verkehr in Wetzlar geschehen war? Denn im mündlichen Verkehr ist es ein ganz anderes, wo die begeisterte Stunde die Herzen aufthut und auch das im geheimen Werdende an das Licht zieht. Und Gotter war in Wetzlar immerhin der einzige, zu dem Goethe als Poet zu dem Poeten[156] reden konnte. Unserer Auffassung entspricht auch eine einfache Interpretation von Gotters Worten. In dem Begleitbriefe zu der »deutschen Baukunst« vom November 1772 war die Mitteilung schon deshalb nicht möglich, weil in den ersten Wochen nach Wetzlar Goethe auf keinen Fall sich mit »Faust« beschäftigt haben konnte. Der Ausdruck »ausgebraust« spricht doch offenbar nur von einer ideellen Existenz, die es noch nicht zur schriftlichen Fixierung gebracht hat, von einer Gärung, die sich noch sträubt gegen künstlerische Gestaltung.
Mit diesem äußeren Zeugnis stimmen innere Gründe dafür, daß des Dichters Geist damals bereits von der Faustidee bewegt war, — Gründe, denen freilich nur in ihrer Verbindung mit dem ersten Zeugnis eine relative Beweiskraft beiwohnt.
Goethe hatte sich nach der Vollendung seines »Gottfried von Berlichingen« mit aller poetischen Energie gerade den dichterischen Themen zugewandt, die auf tiefe und prinzipielle Lebensfragen gingen und in typischen Gestalten diese Fragen zu dramatischer Anschauung bringen sollten. Auf dieser Linie liegen, wie wir oben (S. 9) sahen, der geplante »Sokrates«, »Mahomet«, später »Prometheus«, »Ahasverus«. Gerade weil der Dichter mit den grundsätzlichen Fragen und Problemen damals befaßt war, geriet er zu seinem Ärger in den Ruf eines »Philosophen«. Aber daß er in einen solchen Ruf geraten konnte, spricht für die Vorliebe, mit welcher er sich in jenen Gedankenkreisen bewegte. Wir wissen, wie der Stoff des »Faust" allmählich über jene konkurrierenden Stoffe den Sieg davontrug. Wie er mit dem philosophisch-theologischen Triebe des jungen Goethe zusammenhing, das werden wir alsbald unten zu berühren haben, wo von der prinzipiellen Weltanschauung des Dichters ein Wort gesagt werden muß. Es ist aber von vornherein klar, daß, wenn wir den Dichter in Wetzlar uns noch nicht an der ausführenden Arbeit am »Faust« denken dür[157]fen, aber annehmen müssen, daß er bereits erfaßt war von dem Stoffe, daß es dann gerade die Fundamentalidee nach Grund und Folge, nach Beginn und Ziel gewesen sein muß, die ihn damals mächtig bewegte. Nicht das partiell Interessante an dem Faust-Stoff, sondern das Totale, Universale mußte ihn in seine Kreise ziehen. Und gerade, weil die lyrische Muse ihm damals keine Blumen und Blätter zuwarf, konnte sein Innerstes sich konzentrieren in dem Sinnen und Brüten über den größten Aufgaben. Stellt aber der Dichter in seiner Selbstbiographie jene Sommerzeit als eine poetisch thatenlose hin, so steht diese Vorstellung nicht im Widerspruch mit jener unsichtbaren Arbeit, die ich allein den Wetzlarer Tagen vindiziere. Aber gewiß steigert sich das Interesse an diesen Tagen, wenn wir uns den Dichter auf seinen Wanderungen in Berg und Thal, in seinem stillen Gartenasyl neben Homer und Pindar beschäftigt denken dürfen mit der größten Dichtung seines Lebens. Goethe hat nie jene abstrakte Scheidung von der natürlichen Wirklichkeit des Lebens gekannt und geübt, daß je nach Zeit und Stimmung immer nur eines von beiden, das Nächste oder das Höchste, in seinem Geiste hätte vorhanden sein können. Daß er an das Werk schon ausführend Hand angelegt habe, das ist schon darum höchst unwahrscheinlich, weil wir erst um die Jahreswende 1772 auf 1773 den metrischen Formen bei Goethe begegnen, in die er im wesentlichen den ersten Teil des »Faust« gekleidet hat, dem Knittelverse. Einer Urgestalt aber des »Faust«, d.h. größere Stücke des ersten Teils in Prosaform anzunehmen, ist eine Hypothese, mit der ihr Urheber W. Scherer schwerlich durchdringen wird. Bei den erhaltenen prosaischen Bruchstücken erklärt sich die gewählte Form durchweg und leicht aus ihrem Inhalt, der wirkungsvoller hervortrat in der Gestalt schmuckloser Unmittelbarkeit; — auch dies nach Shakespeares Vorbild. Eine Analogie aber der »Iphigenia«,[158] des »Tasso« in ihrer Travestierung von Prosa in das italienisch-englische Dramametrum des fünffüßigen Jambus würde für eine Übertragung der Prosa in Knittelverse völlig unzulässig sein.
Aber auch von der erst embryonisch vorhandenen Idee — wie gern wüßten wir, wie weit und in welcher Gestalt dieselbe in Wetzlar vorhanden war. Wir dürfen diesen Schritt, der höchstens zu unbeweisbaren Vermutungen führen könnte, nicht wagen. Aber damit halte ich nicht zurück, daß eine andere Annahme nicht möglich erscheint als die: der Dichter muß die allgemeinste Seite und die individuellste — Gretchens und vor allem Fausts Schlußgeschick — zuerst an dem gewählten Stoff erkannt haben, ehe ihn dieser Stoff ergriff. Denn gerade in dieser Doppelseite lag der Grund, daß der Faust-Stoff die anderen verwandten Stoffe prinzipieller Art allmählich verdrängte und überlebte.
Wir sehen, es ist nicht die poetische Arbeit, die künstlerische Gestaltung, die Goethes Zeit und Kraft in Wetzlar erkennbarerweise in Beschlag nimmt, sondern nur die vorbereitende Meditation, der freie Flug der voraustastenden Phantasie, die in ihm keinen Stillstand kennt; — sein Studium galt den kritischen Beiträgen zu den »Frankfurter gelehrten Anzeigen«, einzelnen Übersetzungsversuchen und vor allem der Lektüre Homers und Pindars; — Studien allerdings, die er ebenso wie die dichterischen Pläne von Frankfurt nach Wetzlar schon mitgebracht hatte.
Wir sprechen zuerst von Goethes griechischen Studien, die bekanntlich ihre älteste Wurzel in der Straßburger Zeit und in dem von Herder empfangenen Anstoß hatten, dann nach dem Abschluß der »Geschichte Gottfriedens von Berlichingen« in Frankfurt wieder aufgenommen und dort wie in Wetzlar in aus[159]giebigerer Gestalt fortgesetzt wurden. Man kann das Jahr 1772 das philologische Jahr des jungen Goethe nennen, und der Wetzlarer Sommer bildet davon die Spitze oder Krone. Wie der wiedererwachte Hellenismus im 15. und 16. Jahrhundert die Zeit der Renaissance mit heraufführen half, so datiert von Goethes Hinwendung zu der altgriechischen Dichtung eine neue Ära für des Dichters Kunstentwickelung und durch ihn für unsere Litteratur überhaupt. Und auch das war eine schöne Fügung, als deren persönlicher Vermittler gleichfalls Herder dasteht, daß Goethes griechisches Litteraturstudium mit Homer begann, der seitdem der Begleiter, in manchem Betracht der Leitstern seines Schaffens blieb. Noch in Frankfurt schritt er zu Pindar fort, las einzelnes von Theokrit, die Tragiker ließ er noch links liegen. In der Wetzlarer Zeit war ihm Homer bereits geläufig geworden, er blieb sein täglich Brot. Damms treuherzige Prosa-Verdeutschung war schon längst verdrängt durch Clarkes lateinische Übertragung und den Grundtext selbst, den er zuerst der Ernestischen, dann der Wetsteinschen Handausgabe entnahm. Die Wirkung der Homerischen Epen, von denen er zuerst die Odyssee, später die Ilias las, war eine überwältigende. Das »Homerische Licht« nennt er selbst in »Wahrheit und Dichtung« die empfangene Erleuchtung. Es war das poetische Naturevangelium, das überall vorbildlich die Wahrheit predigte und darstellte, daß in der Einfalt die Größe liege, daß die sinnliche plastische Klarheit eine Grundbedingung aller Poesie sei. Auch in die Homerische Litteratur der Zeit that er einige Blicke, wie seine Beiträge zu den »Frankfurter gelehrten Anzeigen« beweisen. Allerdings hat auch er den in der Luft der Zeit liegenden Rangstreit zwischen Homer und Ossian, der hellenischen Sonne und dem nordischen Nebel, in sich durchgekämpft, wie das die Klopstocksche Schule, selbst der handfeste, unschwärmerische Voß, gleichfalls und gleichzeitig gethan. Wenn aber im »Werther«[160] Ossian zuletzt als der Bevorzugte erscheint, so will auch damit der Dichter offenbar ein pathologisches Symptom aussprechen. Wenn Goethe von Homer zu Pindar fortschritt, so sieht es aus, als ob er dabei eine historische Methode im Auge gehabt habe. Daran ist aber nicht zu denken. Zwar widerspricht dem nicht die in Frankfurt eingeschobene Lektüre Platons und Xenophons, denn diese war nur unmittelbare Vorarbeit für das geplante Drama »Sokrates«. Aber Goethe las auch Anakreon und Theokrit vor oder neben Pindar. Von diesen ist in Wetzlar nicht mehr die Rede, wir wissen vielmehr aus dem lebensvollen Briefe an Herder vom Sommer 1772, daß sich sein Interesse auf Pindar konzentriert hatte. Ja er ruht nicht, bis er einzelne Bruchstücke aus Pindar in sein geliebtes Deutsch übertragen hat, eine Probe, daß nun der schwierigste aller Lyriker für ihn erst Leben, greif- und genießbares Leben geworden war. Die Sympathie für Pindar lag damals in der geistigen Luft. Sie wurde durch die Analogie mit Klopstocks Oden, durch Heynes Gunst, Herders Würdigung genährt. Ja man darf sagen: Goethe hat in dieser rezeptiven Gestalt und in einigen Schößlingen, die seine Muse zeitigte, das modische Odenfieber durchgemacht, von dem er sich sonst nirgends ergriffen zeigt. Aber wie sollte Goethes stümperhafte Kenntnis des Griechischen in dieses dunkle Dickicht eindringen? Schon der Apparat an Ausgaben und Hilfsmitteln, der damals dem Pindar-Leser zu Gebote stand, kam seinem Verlangen nicht sehr entgegen. Eine kritisch gesichtete, handliche, mit bündiger Erklärung versehene Ausgabe fehlte; die Heynische, vielfach als ein Bedürfnis empfunden, erschien erst 1773. Wir können höchstens vermuten, daß Goethe eine der oft aufgelegten Ausgaben des H. Stephanus benutzt hat. Kaum gab es eine andere Wahl. Aber die Ausgabe des Stephanus hatte auch eine lateinische Version, der Goethe nicht entraten konnte, war handlich zum[161] Einstecken (in 16°) und enthielt zugleich den Anakreon, den Goethe gleichzeitig las. Aber kurz zuvor (1770-71) war auch eine deutsche Übertragung in Prosa von Damm, dem Homer-Übersetzer, erschienen; und es ist wahrscheinlich, daß erst mit diesem noch sichereren Ariadnefaden in der Hand der Dichter den Mut gewann, sich in das Labyrinth zu wagen. Schon in den letzten Frankfurter Frühlingsmonden saß er (neben Theokrit und Anakreon) hinter Pindar, wie wir aus »Wanderers Sturmlied« wissen, wo er u.a. von des Dichters »innerer Glut« singt. Vielleicht läßt sich ein Schritt weiter thun. In den »Frankfurter gelehrten Anzeigen« vom 1. Mai 1772 (Nr. XXXV, S. 280) findet sich eine Anzeige der dritten und vierten Abteilung der genannten deutschen Übertragung, die nach Ton und Geist nur von Herder oder Goethe stammen kann. Ist jener der Verfasser — was allerdings wahrscheinlicher —, so gewinnen wir eine genauere chronologische Bestimmung für den Beginn von Goethes Pindar-Lektüre, denn es liegt dann die Vermutung nahe, daß Goethe erst durch die Anzeige zur Lektüre des Pindar gereizt worden, also kurz vor seinem Abschied von Frankfurt daran gegangen sei; ist es Goethe selbst, so wäre es eine Probe und Bestätigung, daß er schon seit Wochen im Pindar lebte. Allerdings, so sehr der Inhalt auch Goethes Anschauungen entspricht, und wiewohl die Empfehlung des Hans Sachs an ihn erinnern kann, das Ganze scheint doch zu reif und zu sachlich für ihn. Damms mühseliges Werk wird scharf getadelt als »unedel, umschreibend, zerronnen, äußerst prosaisierend, und in einem ganz falschen Geschmack von Allegorie«. Die Anzeige schließt: »Wir verzweifeln auch fast auf immer an einer Übersetzung: denn wer wird in dem Labyrinth von griechischer Mythologie und kleinen Stadtgeschichten die fortgehende Musik und den edlen Gang Pindars erhalten können, der immer dabey nur Blumen und die höchsten Blüthen zu[162] pflücken scheint, in seinem Fluge nur immer mit der Spitze des Fittigs das berührt, in das auch dieser Uebersetzer, als in einen Morrast, hinein sinket. Sonst aber sagt schon J. Aventinus, daß unsre deutsche Sprache mehr sich der griechischen, denn der lateinischen vergleichet, und kann ohne Erkänntniß der griechischen Sprache nicht recht, wie sie von Art seyn soll, geschrieben werden, und von der Seite würde Pindars sein Spruchreiches, seine Wortflechtung, seine dorische Stärke, auf gewiß ungemeine deutsche Art seyn können.« — In Wetzlar trat Pindar in den Vordergrund seiner griechischen Studien. »Zuletzt zog mich was an Pindarn, wo ich noch hänge«, schreibt er im Juli an Herder. Ob er ihn ganz gelesen, wissen wir nicht; daß er viel gelesen, dafür spricht die verhältnismäßig lange d.h. mindestens viermonatliche Beschäftigung. Spuren seiner Lektüre aus den Olympisches, Nemeischen Oden finden sich. Und, was wichtiger ist, es ist uns eine Probe eigener Uebersetzerarbeit Goethes aus Pindar erhalten: die fünfte Olympische Ode. Ob sie in Wetzlar entstanden oder noch in das Frankfurter Frühjahr gehört, wissen wir nicht; das erstere ist das wahrscheinlichere, weil vor dem Wagnis doch eine gewisse Orientierung gewonnen sein mußte. Es gehörte Mut dazu, einen solchen Versuch zu wagen. Aber der Versuch ist charakteristisch für den Dichter, der nicht zufrieden war mit dämmerndem Halbverständnis, der vielmehr klar sehen und das Selbstgestaltete genießen wollte. Was an Sprachkunde fehlte, das ersetzte die Begeisterung und das lebendigste Nachgefühl. Natürlich ist es eine Zeichnung aus freier Hand, die nur persönlichen Wert, keinen sachlichen hat. Metrisch genau war die Nachbildung in keiner Weise, weder in der damals freilich noch sehr elementaren Erkenntnis des Strophengesetzes, indem nicht einmal der Verszahl nach Strophe und Antistrophe korrespondieren, noch in dem Bau der einzelnen Verszeilen; wohl aber ist das Ganze sehr les- und ge[163]nießbar durch den rhythmischen Wohllaut. Und hierfür hatte der Übersetzer kein Vorbild. Seine Eigenart zeigt am besten eine vergleichende Gegenüberstellung der Epode in der mühsamen Dammschen Buchstabennachzeichnung und der Goetheschen:
»Hoch in den Wolken herschender Retter, Zevs, der du den Kronischen Hügel besitzest, und den breit-strömenden Alpheus werth achtest, und die würdigen Idäischen Hölen: ich komme demüthig-bittend, und mit Lydischen Flöten tönend, zu dir, dich anzuflehen, du wollest diese Stadt mit weit-erschallenden herrlichen Mannes-Thaten ausschmücken; und daß du, Olympischer Sieger, der du an Neptunischen Pferden deine Freude siehest, ein hohes Alter bey gutem Muthe, bis ans Ende zu ertragen haben mögest, in Gegenwart deiner Söhne, o Psavmis. Genießet nun iemand die Glückseligkeit der Gesundheit, und kann dabey mit seinen Glücks-Gütern völlig zufrieden seyn, und hat bey dem allen auch allgemeines Lob zur Zugabe: der begehre ja nicht etwa, gar eine Gottheit werden zu wollen!« | »Erhalter, wolckentroh'nender Zevs Der du bewohnest Kronions Hügel, ehrest des Alpheus breitschwellende Fluten und die Idäische heilige Höle, Bittend tret ich vor dich In Lydischem Flöten Gesang Flehe, dass du der Stadt Manneswerten Ruhm befestigest. Du dann Olympussinger Neptunischer Pferde Freudmütiger Reuter Lebe heiter dein Alter aus rings von Söhnen, o Psavmis umgeben. Wem gesunder Reichtuhm zufloss, und Besitztumsfülle häuffte, und Ruhmnahmen drein erwarb wünsche nicht ein Gott zu seyn.« |
Man sieht, die Parallele ergiebt keinen zwingenden Grund, die Benutzung anzunehmen, so wahrscheinlich sie ist. Dasselbe gilt von der freien von Melanchthon stammenden lateinischen Version bei H. Stephanus. Es liegt aber auch in der Natur der Sache, daß bei der Freiheit des Goetheschen Versuchs eine derartige Kontrolle nicht wohl möglich ist. Man sieht weiter, daß Goethe in seiner Art der Schwierigkeiten Herr geworden ist. In seinen selbstgewählten Maßen herrscht ein ungewöhnliches rhythmisches Gefühl, sprachbildende Kraft und das lebendige Empfinden einer[164] echten Dichternatur. Unbeirrt von exegetischen Sorgen und metrischen Bedenken gewinnt er rasch ein unmittelbares Verhältnis zu dem Autor; die Schranken der Zeit und Sprache fallen dem Genius, und er tritt auf familiären Fuß mit dem erhabensten und schwierigsten der Lyriker. Und für dieses freie menschliche Verhältnis zeugt auch, daß er sofort praktische Nutzanwendung von der Lebens- und Kunstweisheit des Dichters auf sich und sein Streben macht. Von keinem Zeitgenossen und vielleicht niemals wieder ist die Kraft der Antike so ursprünglich erlebt und bekannt worden wie hier. »Seit ich«, heißt es in dem bedeutenden Briefbekenntnis an Herder vom Anfang Juli 1772, »die Kraft der Worte στηθοσ [Griechisch: stêthos] und πραπιδεσ [Griechisch: prapides] (die er an der Stelle aus Pindar nimmt) fühle, ist in mir selbst eine neue Welt aufgegangen. Armer Mensch, an dem der Kopf alles ist! Ich wohne jetzt in Pindar, und wenn die Herrlichkeit des Pallastes glücklich machte, müßt ich's sein. Wenn er die Pfeile ein- übern andern — nach dem Wolkenziel schießt, steh' ich freilich noch da und gaffe, doch fühl' ich indes, was Horaz aussprechen konnte, was Quintilian rühmt, und was Thätiges an mir ist, lebt auf, da ich Adel fühle und Zweck kenne. Eidôs phya, psephênos anêr murian aretan atelei noô geuetai, oupot atrekei kateba podi, mathontes &c. — Diese Worte sind mir wie Schwerter durch die Seele gangen. Ihr wißt nun, wie's mit mir aussieht, und was mir Euer Brief in diesem Philoktetschen Zustande worden ist." Dem Pindarischen Citat sieht man an, daß es kein Philologe gemacht hat. Es ist zusammengeschweißt aus zwei, allerdings inhaltlich verwandten Stellen (Pind. Ol. II, 162; Nem. III, 77-80), aber mit Auslassungen und Umstellungen. So ist der Anfang des Citats ohne das vorausgehende sophos ho polla eidôs ganz unverständlich, aber Goethe hatte den Sinn der Stelle darin richtig verstanden, daß der polla eidôs, der den mathontes gerade entgegen[165]gestellt wird, kein Vielwisser ist, sondern einer, der in der eigenen angeborenen Natur den Schlüssel zum Verständnis göttlicher und menschlicher Dinge trägt und eben darum keines Lehrers und keines Interpreten bedarf. Es war dem jungen Goethe aus der Seele geschrieben; — Pindarische Maximen, in denen wir Goethesche wiedererkennen. Daß nicht Nachahmung und von außen kommende Weisheit, sondern die mit instinktiver Sicherheit und Initiative schaffende, waltende Dichterkraft allein die wahre Kunst erreiche, das war für Goethes mächtig erwachtes, aber noch tastendes Streben Sporn und Bestätigung zugleich. Es wirkte wie ein befreiendes Wort, schon bei dem althellenischen Dichter dem Gegensatz der eingeborenen Naturbegabung und des Angelernten zu begegnen. Das vor allem war es, was ihn »an Pindar zog«. Ist dies der erste Satz und Grundsatz, der ihm aus Pindar wie Orakel und Offenbarung klang, so trat diesem Alpha das Omega zur Seite; nämlich dem Anfang das Ziel poetischer Kunst, das Goethe in dem Pindarischen hepikratein dinasthai (Nem. VIII, 10) erkennen wollte. Er erklärt das Verb mit »Meisterschaft, Virtuosität«, und diese müsse an Stelle des Dilettantismus, jenes »spechtischen Wesens«, das Herder an ihm getadelt hatte, sich herausbilden. Freilich eine bedenkliche Probe Goethescher Exegese! Er geht mit Texten gerade so frei-genial um, wie mit Menschen und Verhältnissen. Denn das Objekt zu hepikratein(tôn hareionôn herôton) läßt Goethe ganz unberücksichtigt, nimmt hepikratein absolut und verfehlt somit den Sinn der Stelle: Zufrieden mag sein, wer, zu jeglichem Ding (nicht bloß in Liebe und Ehe) das rechte Ziel nicht verfehlend, die bessere Liebe zu erreichen imstande ist. Aber wie ungründlich immer der Buchstabe des Textes von dem Dichter angesehen wurde, er hat sich einen feinen Sinn aus der Stelle herausgeholt, eben das Wesen der Meisterschaft, das ihm in dem »Drein greifen, packen« statt des »überall herumspazierens und dreinguckens« besteht. Was er meint,[166] erläutert das den Pindarischen Siegesliedern abgesehene stolze Bild von dem sicheren Lenken des wilden Viergespanns zu dem gewollten Ziel. Natur und Kunst, Genialität und Methode — beides lernt er von dem größten der hellenischen Meliker. Dessen Wesen selbst historisch oder ästhetisch zu begreifen und zu charakterisieren, dazu gelangt er nicht. Dafür nimmt er ihn ohne Umstände persönlich, wie es kein anderer damals zu thun imstande war. Daß aber Pindar gerade solche Sympathie in der Sturm- und Drangperiode fand, ist nur daraus erklärlich, daß man von dem strengen Kunstbau seiner Lieder noch keine Ahnung hatte, daß man sie für gesetzlose halbdithyrambische Naturausbrüche hielt. Auch Goethe nutzt die wuchtigen Sentenzen des Melikers, aber eine litterargeschichtliche, metrische und allseitig ästhetisch-künstlerische Würdigung liegt ihm fern.
Es war von Bedeutung, daß Goethe erst verhältnismäßig spät in Berührung trat mit der griechischen Dichtung. Man mag das im Hinblick auf den heutigen Bildungsgang unmethodisch nennen, daß er erst in gereiften Jünglingsjahren zu Homer im Original kam. Aber es hatte dieser Gang seiner Bildung auch einen offenbaren Vorzug. Wenn unsere Jugend auf der Schulbank Griechisch lesen und verstehen lernt, so kann nur bei den bevorzugteren eine vollere Ahnung von der eigentümlichen Schönheit und Größe dieser Schöpfungen entstehen. Es klebt für sie zu viel Schweiß der Arbeit an den Autoren, und der Sinn für das Stoffliche ist noch zu mächtig, als daß die einfache Größe und Feinheit der Form die jungen Geister ganz ergreifen könnte. So liegt für die meisten das auf der Schule Gelernte wie eine Aussaat da, die erst weitere Bildung und Geisteserfahrung zu vollem Leben aufgehen lassen kann. Goethe hatte durch Oeser und Winckelmann den Charakter antiker Einfalt und Größe verstehen gelernt, ehe er zu den litterarischen Quellen des griechischen Geistes kam. So brachte er[167] den Schlüssel des Verständnisses mit. Daher die innere Sicherheit und, ich möchte sagen, das geistige Heimatgefühl, womit er im Homer lebte und Pindar gegenübertrat. Wie sehr die griechische Lektüre zu den unterscheidenden Merkmalen seines damaligen Strebens gehörte, davon hat er selbst im »Werther« gezeugt, wo dieser sein Zeichnen und seine Kenntnis des Griechischen »zwei Meteore hier zu Land« nennt.
Einen nicht geringen Teil seiner Wetzlarer Zeit füllte Goethe mit seiner kritischen Thätigkeit an den neugegründeten »Frankfurter gelehrten Anzeigen«. Auch diese Thätigkeit hatte Goethe von Frankfurt nach Wetzlar mitgebracht. Gewiß ist es charakteristisch, daß unser größter Dichter, der, in seinem tiefsten und eigensten Wesen genial und optimistisch angelegt, ungleich lieber sich in eigenen Werken als schaffender betätigte, als daß er andere Werke be-und verurteilte, schon in jungen Jahren auch das kritische Handwerk übte, er, der in jenen bekannten Versen (»Der unverschämte Gast«) das Totschlagen des Rezensenten mit gutem Humor empfiehlt. Allerdings bestimmte ihn hierzu der äußere Anlaß, daß er von den Freunden Merck und Schlosser zur Teilnahme an jener Genossenschaft, zunächst für »das Gefach der schönen Wissenschaften« geworben wurde, die in der neuen Zeitschrift dem im Anbruch begriffenen neuen Geiste die Bahn brechen und die Wege weisen wollte. Außer den Genannten gehörten Wenk und Petersen in Darmstadt, Höpfner und Bahrdt in Gießen zu dem gewählten Kreise, vor allem aber war es Herders Genius, der als der führende Geist über jener »Gemeinschaft der Heiligen« schwebte, als deren Neophyten nur Goethe sich bekannte. Seine Grundgedanken von dem, was der nationalen Litteratur notthue, um sie zu einem neuen Leben zu erheben, wurden die Leitsterne auch dieses Unternehmens. Vor allem bei Goethe[168] selbst, in dem der in Straßburg begonnene Einfluß Herders fortwirkte und aufgefrischt wurde durch das gerade in die Wetzlarer Zeit fallende Studium von Herders Fragmenten, auf das wir alsbald zurückkommen werden. Erst mußte ein Prinzip gefunden sein, mit welchem wie mit einem Maßstab die Erscheinungen der Zeit gemessen, das Absterbende in den Bann gethan, zu Neuem der Anstoß gegeben werden konnte. Jedes Bauen setzt ein Einreißen voraus. Und dies gerade, das Bedürfnis, Stellung zu nehmen zu dem Vorhandenen, um für sich und sein Streben den Platz zu finden, war es, was Goethe, auch abgesehen von dem äußerlich empfangenen Antrieb, zeitweise zur Kritik willig machte. Dabei war es nur eine andere Form jener kunsttheoretischen Richtung, die ihn in Frankfurt und Wetzlar ergriffen hatte, die ihn die betreffenden Hauptautoren des griechisch-römischen Altertums, wie Aristoteles, Longin, Quintilian u.a., wenn auch nicht studieren, so doch anschmecken ließ. Und was er gegen andere übt, das hatte er zuvor als Selbstkritik, an seinem »Götz« zumal, an sich selbst geübt. Aber sein eigentliches Metier war die Kritik nicht, vielmehr stand sie wie ein fremdes Element in seinem Leben. Das fühlte niemand lebhafter als er selbst, und wir haben die Geständnisse, wie froh er war, als er nach Jahresfrist die kritische Sonde niederlegen konnte. »Leider muß ich nun« — so schreibt er am 26. Dezember 1772 an Kestner — »die schönen Stunden mit Rezensiren verderben ich tuhs aber mit gutem Muth denn es ist fürs letzte Blat.« Es fehlten dem Dichter die Hauptvoraussetzungen des Kritikers: die analytische und dialektische Schärfe, die Geduld, sich völlig in den Gedankengang oder die besondere Geistesart hineinzuversetzen, um diesen dann zu bestätigen oder zu widerlegen. Er reproduzierte entweder oder er setzt sich einfach dem Autor entgegen. Diese thetische und antithetische Art charakterisiert Goethes Jugendkritiken. Nicht minder fehlte, z.B. bei den beurteilten[169] Schriften aus der griechischen Litteratur die gründliche Sachkunde. So blieb es oft bei der Wiedergabe des Eindrucks, bei Einfällen und einzelnen Geistesfunken, die mehr an- und aufregen als aufklären. Es ist das, was Herder das lordmäßige Auftreten des jungen Rezensenten nennt, das sich dann auch in den »Hahnenfüßen« d.h. in den vielfach wiederkehrenden Ausrufungs-und Fragezeichen kund giebt. Je mehr es aber darin an geschulter Methode und an objektivem Gehalt fehlt, wodurch uns die angezeigten Bücher selbst vor Augen treten, je mehr sich das Subjekt hervorwagt, um so ausgiebiger sind diese kritischen Gänge für die Kenntnis der Person. Wie vieles steht hier in und zwischen den Zeilen für den, der zu lesen versteht, von der Geistesart und Stimmung des damaligen Goethe. Ja es werden diese kleinen Abfälle seiner Geistesarbeit mitunter geradezu zu Verrätern seines geheimsten Lebens. So sagt uns die befremdend lange Pause zwischen dem 30. Juni und 25. August, die eigentliche Entwickelungszeit seiner Liebe zu Lotten, daß er da nicht disponiert war, elende Gedichte oder schwache Beiträge zur altgriechischen Litteratur zu beleuchten. Und als er sein langes Stillschweigen brach, da zeigte er zuerst die Idyllen von Geßner an, die er dann dem geliebten Mädchen zum Geschenk machte, dann aber jene Gedichte des polnischen Juden (Isaschar Falksohn), worin, wie wir sahen (S. 125), jener plötzliche Ausbruch seiner tiefsten Gefühle den Rezensenten überwand; eine Rezension, dergleichen wohl nie wieder geschrieben wurde, wo der Kritiker seine Liebe wie Kontrebande einschmuggelt in eine so fremdartige Umgebung. Den Ausgangspunkt seiner Rezensionen bildet ein einheitlicher Zug und Trieb seines Geistes. Er bekämpft überall die Mechanisierung durch die äußere Regel, das Konventionelle, die unfreie Imitation, die unnatürliche Isolierung der Poesie von dem Leben, dessen Ausdruck und Spiegel sie doch sein soll; die innere Unwahrheit gemachter Empfindungen,[170] und wenn er zu diesen auch die »Vaterlandsliebe« rechnet, so hat er, so sehr wir das beklagen mögen, den realen Verhältnissen seiner Gegenwart gegenüber doch recht. Er betont das Volkstümlich-Natürliche, das wahr und frei Empfundene, das Einfache und Gesunde. Überblicken wir die Zahl der kritischen Leistungen, die in die vier Wetzlarer Monate fallen, so erscheint unter den angezeigten Schriften freilich kaum eine von Bedeutung; das meiste von jener »Gott und Menschen verhaßten Mittelmäßigkeit« bis zum Schund herunter mußte den Spott oder die Ironie des genialen Dichterjünglings reizen. Das eine Gute hatte das Quodlibet, daß Goethe dadurch zum Umgehen der nächstgestellten Aufgabe und zur Entwickelung allgemeiner, seiner Grundsätze gelockt wird. Wie gerne sähen wir darunter z.B. ein eingehendes Urteil über Lessings eben erschienene »Emilia Galotti«, die den Dichter bei seiner Umarbeitung des »Götz« so lebhaft beschäftigte! Offenbar wählte Goethe nicht selbst, was er beurteilen wollte, sondern er erhielt litterarische Neuheiten ohne Ansehen der Person von Schlosser zugeteilt. Bekanntlich ist die Autorschaft bei mehreren Beiträgen nicht zweifellos. Die erste Aufnahme in die Gesammelten Werke ist keineswegs von entscheidendem Gewicht. Namentlich wissen wir durch Goethes eigenes Geständnis, daß bei verschiedenen Anzeigen der Besitztitel sich darum schwer bestimmen läßt, weil mehrere Mitarbeiter beteiligt sind, und schließlich auf dem Wege des Referats, des Korreferats und der Prototolle über die mündliche Verhandlung das Endresultat festgesetzt wurde. Doch gerade von Wetzlarer Beiträgen läßt sich annehmen, daß sie wesentlich Goethes ausschließliches Eigentum gewesen, weil die Möglichkeit gemeinsamer Besprechung (vielleicht die Gießener Zusammenkunft abgerechnet) fast ausgeschlossen war. Eine völlig sichere Ausscheidung des Goetheschen Anteils an jenen Rezensionen ist kaum mehr möglich. Neuerdings hat Woldemar Freiherr v. Biedermann die Auseinander[171]setzung versucht und ist damit der Wahrheit gewiß sehr nahe gekommen. Er hat vor allem das Kriterium seiner Arbeit zugrunde gelegt, daß sich Goethe nach Herders eben angezogenem Ausdruck durch sein »lordmäßiges« Auftreten und durch seine »scharrenden Hahnenfüße« verrate. Das erzielte Resultat für die ganze Dauer von Goethes Mitarbeit an den Anzeigen darf uns hier nicht beschäftigen. Was die vier Wetzlarer Monde betrifft, so fallen in diese 15 unangezweifelte Rezensionen: Zu den »schönen Wissenschaften«, Goethes eigentlichem Rezensionsgebiet, haben wir dabei moderne und antike Poesie zu zählen. So Homers »Iliade« von Küttner, Seybolds »Schreiben über Homer«, »Franken zur griechischen Litteratur«, Diderots und S. Geßners »Moralische Erzählungen und Idyllen«, die »Gedichte von einem polnischen Juden«, »Cymbeline«. Zu dem Nichtpoetischen, das ich zusammenfasse, gehört die Besprechung von Sonnenfels »Über die Liebe des Vaterlandes«, »Leben und Charakter Klotzens«, »Epistel an Oeser«, »Kanut d.Gr.«, »Eden« von Bahrdt, »Lobrede auf Herrn Creuz«, »Struensees Bekehrung«, »Die erleuchteten Zeiten«, »Meine Vorsätze«. Vier der genannten Stücke (»Die erleuchteten Zeiten«, »Franken«, »Cymbeline«, »Meine Vorsätze«) fallen allerdings jenseits der Wetzlarer Tage, vom 15. bis zum 22. September, sind aber wohl noch in Wetzlar entstanden; die Anzeige »Meine Vorsätze«, die nicht bloß Goethes Hand zeigt, ist vielleicht in Ehrenbreitstein mit Merck gemeinsam verfaßt worden.
Diese Rezensententhätigteit schon erinnert an Herder, dessen Geist in der That über dem kritischen Unternehmen schwebte. Aber auch direkt und persönlich blieb Goethe mit Herder in Zusammenhang. Dessen Neckereien und üble Laune, die er von Straßburg her gewohnt war, ertrug Goethe; er reagierte aber auch, doch unbeirrt festhaltend an dem großen Eindrucke des seltenen Mannes. Ein halbes Jahr lang hatte ihn Herder trotz dem überschickten ersten Entwurf des »Götz« ohne Antwort ge[172]lassen. Endlich kam der Brief. Herder hatte im «Götz« trotz aller Gebrechen den Genius erkannt; damit war das ganze Verhältnis beider Geister auf einen anderen Fuß gestellt. Aus dem Schüler und Jünger war ein Gleichberechtigter geworden. Was Herder über »Götz« geurteilt, wissen wir im einzelnen nicht. Nur aus Goethes Erwiderung erfahren wir, daß ihm Herder vorgeworfen, Shakespeare habe ihn ganz verdorben. Aber daß auch warme Sympathie darin bekannt worden, das giebt Goethe zu erkennen, indem er Herders Brief ein »Trostschreiben« nennt. Er wird trotz der Ausstellungen sich hier ähnlich ausgelassen haben, wie an seine Braut, der er schreibt: »Es ist ungemein viel deutsche Stärke, Tiefe und Wahrheit darin, obgleich hin und wieder es auch nur gedacht ist.« — Goethes Antwort auf dieses Trostschreiben ist einer der gehaltvollsten Briefe, den wir von dem jungen Goethe besitzen, dabei der einzige ausführlichere, der aus der Wetzlarer Zeit erhalten ist. Goethe befand sich wie in einem fortgesetzten Zwiegespräch mit dem fernen Meister. »Es vergeht kein Tag, daß ich mich nicht mit Euch unterhalte und oft denke, wenn sich's nur mit ihm leben ließe.« Der stärkste Wärmeleiter waren Herders schon fünf bis sechs Jahre zuvor erschienenen »Fragmente zur deutschen Litteratur«, die Goethe damals zum erstenmal — seit Ende des Juni — und mit hingebender Begeisterung während einiger Wochen las. Zwei Punkte besonders zogen ihn an: Herders Charakteristik der griechischen Dichter, vor allem aber die Offenbarung, »wie Gedank' und Empfindung den Ausdruck bilde«. Das, sagt er, ist »wie eine Göttererscheinung über mich herabgestiegen, hat mein Herz und Sinn mit warmer heiliger Gegenwart durch und durch belebt«. Es ist das Kapitel in der dritten Sammlung (III, I, 6, Suphan I, 394). »In der Dichtkunst ist Gedanke und Ausdruck wie Seele und Leib, und nie zu trennen.« Herber weist die Analogie mit dem[173] Verhältnis von Kleid und Körper, von Haut und Körper, von zwei Geliebten, von Zwillingen als unzureichend zurück. Dagegen fällt ihm als zutreffendes Bild »ein platonisches Märchen« ein, «wie der schöne Körper ein Geschöpf, ein Bote, ein Spiegel, ein Werkzeug einer schönen Seele sei, wie in ihm die Gegenwart der Götter wohne, und die himmlische Schöpfung einen Abdruck in ihn gesenkt, der uns an die obere Vollkommenheit erinnert«. Wie »Platons Seele zum Körper« sollen sich »Gedanke und Wort, Empfindung und Ausdruck zu einander verhalten«. — Weit lauer spricht Goethe von den über die griechischen Dichter empfangenen Aufschlüssen. »Daß ich Euch, von den Griechen sprechenden, meist erreichte, hat mich ergötzt« ist alles, was er zu rühmen weiß. Und in der That war hier keine gründliche Aufklärung zu holen. Und zwar darum besonders, weil Herder immer einen hellenischen Dichter einem modernen deutschen vergleichend gegenüberstellt. So erhält Homer sein Pendant in Klopstock, Pindar in dem »Dithyrambisten«, Anatreon und Tyrtäus in Gleim, Theokrit in Geßner, Alciphron in Gerstenberg, Sappho in der Karschin. Dies Verfahren konnte zu keinem Reinertrag unbefangener Charakteristiken führen. Am dürftigsten ist, was Herder über Pindar sagt. Doch scheint Goethes damalige Wahl seiner griechischen Dichterlektüre — Homer, Pindar, Anakreon, Theokrit — durch Herders Wink und Vorgang bestimmt worden zu sein, auch wenn er die Fragmente noch nicht durchgelesen hatte. An die Tragiker geht er damals, wie schon oben bemerkt, so wenig wie Herder, der an sie nicht gehen konnte, weil er ihnen keine deutschen Parallelen an die Seite zu stellen hatte.
Diese enthusiastische Hingabe an die Antike in Poesie und Kunst hatte aber alsbald ihre Wirkungen, wenn auch die volle Wirkung erst später zutage trat. Der höchsten Kunstform der Überlieferung stand eine geniale Dichternatur gegenüber. So[174] konnte der Rapport nicht mechanisch, am wenigsten als unfreie Nachahmung, sondern nur dynamisch wirken. Aber sie wirkte. Goethe sah an Homer und Pindar, wie Wahrheit und Einfalt in der Auffassung der Natur, hoher Adel, Zweckgemäßheit und Schönheit, Einheit, Klarheit und geordnetes Maß das Wesen hellenischer Kunst, des geistigen Nachbildes der Natur mache. Sie enthüllt darum immer mehr, je länger man sie betrachtet; sie duldet kein Unmaß, keinen Luxus zügelloser Phantasie, kein Effekthaschen, keine ziellose Willkür. Schon bei dem zweiten »Götz« hat solche Erkenntnis, die in dem Dichter zur Kraft wurde, sichtlich gewirkt, doch hier geringer, weil der Stoff zu spröde und die hellenische Tragödie dem Dichter noch nicht vertraut geworden war. An Werther aber ist trotz dem modern-sentimentalen Inhalt die Wirkung sichtbar. Der Roman, worin wenige Figuren sich im Vorgrund bewegen, kennt kein unnützes Beiwerk, aller Schmuck dient dem Zweck und der Schönheit; die Handlung schreitet unbeirrt geradeswegs dem Ziele zu. Aber wie in der Komposition, so zeigen sich auch in der Sprache, die trotz der in Stoff und Stimmung liegenden Versuchung nirgends auf den Abweg von Schwulst und Überschwang gerät, die Spuren der Antike.
Wir kommen von den Werken, Plänen und Studien des Dichters zu der Persönlichkeit des Menschen, wie sie sich bezeugt in den Spuren, einer werdenden Weltanschauung. Ist es doch nur natürlich, daß das Werden des inneren Menschen mehr hervortritt, wo das künstlerische Schaffen und Gestalten als solches zeitweise zurücktritt oder nur in vorbereitender innerer Arbeit auftritt. Denn so sehr diese noch für lange Zeit im Fluß bleibt, sie bildet doch in gewissem Sinne die Grundsubstanz, aus der sich das Tiefste auch seiner Poesie nährt, die[175] bei Goethe überall Konfession seiner Weltbetrachtung ist. Und gerade in der Wetzlarer Zeit, wo die unmittelbare Produktion sich nur leise nachklingend und vorbereitend regt, glauben wir eine Entwicklungsstufe für den Ausbau der inneren Welt Goethes annehmen zu dürfen. Und wie dürften wir, wenn wir den ganzen Menschen nach Kräften begreifen wollen, gerade vor dieser inneren Welt, vor dem eigentlich Charakteristischen stille stehen? Freilich ist an diesem allerpersönlichsten Punkte der Zusammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit vollends unzerreißbar, und doch läßt sich dieser Faden nur in Andeutungen aufnehmen. Im übrigen müssen wir uns auf Voraussetzungen verlassen. Es sind uns in dieser inneren Welt für die Zeit, von der wir reden, wie überhaupt in die Jugendnatur des Dichters Einblicke gestattet durch die gleichzeitigen Memorabilien Kestners. Es ist das bekannte »Fragment eines Brief-Entwurfs aus Kestners Papieren« im Eingang von »Goethe und Werther«. In der That sind diese Blätter ein besonders treuer Spiegel von dem Wesen des Dichters. Sie sind dies um so mehr, weil sie nicht, wie der Druck besagt, »im Anfang von Kestners Bekanntschaft mit Goethe geschrieben sind«, sondern erst zwei Monate und, länger nach Goethes Abschied von Wetzlar.
Hierauf hätte schon die Stelle (S. 36): »Da ich ihn nachher genau kennen gelernt habe«, hinweisen können. Aber das Original der Stelle zeigt, daß sie einem Briefe an den Freund A.v. Hennings vom 18. November (abgeschickt den 28. November) 1772 entnommen ist. Es geht ihr dort ein längerer Passus über Kestners Liebesglück vorauf; — eine Introduktion, die dem Briefsteller Herzensbedürfnis sein mochte vor der gleich folgenden Schilderung der Krisis. Also enthält sie nicht den Reflex des ersten flüchtigen Eindrucks, sondern die Summe der Beobachtungen und Erfahrungen, die Kestner in diesen wunderbar bewegten Sommermonden an und mit dem Dichter gemacht hatte.[176] Wir haben von dem jungen Dichter keine andere gleich treue und wertvolle Charakteristik. Zwar ist der Zeichner des Bildes dem Dichter geistig nicht kongenial; aber um sieben Jahre älter als Goethe, steht er als der gereifte Mann dem gärenden Jüngling gegenüber, und ist seiner ganzen Art nach ein besonnener, gewissenhafter Beobachter. Nicht wie Platon, sondern wie Xenophon dem Sokrates gegenüber giebt er mehr die buchstabentreue Wirklichkeit als die ideelle Wahrheit. Aber gerade sie hat besonderen historischen Wert, da wir den einfachen Konturen aus anderen Quellen leicht wenigstens etwas von Leben und Farbe geben können. Die Charakteristik, die, obwohl längst gedruckt, hier nicht fehlen darf, lautet:
»— — — Er hat sehr viel Talente, ist ein wahres Genie, und ein Mensch von Charakter; besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne; wenn er aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie waren, zu denken und zu sagen.
»Er ist in allen seinen Affecten heftig, hat jedoch oft viel Gewalt über sich. Seine Denkungsart ist edel; von Vorurtheilen so viel frey, handelt er, wie es ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es Andern gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt.
»Er liebt die Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarre und hat in seinem Betragen, seinem Aeußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm machen könnte. Aber bey Kindern, bei Frauenzimmern und vielen Andern ist er doch wohl angeschrieben.
»Für das weibliche Geschlecht hat er sehr viele Hochachtung.
»In principiis ist er noch nicht fest, und strebt noch erst nach einem gewißen System.[177]
»Um etwas davon zu sagen, so hält er viel von Rousseau, ist jedoch nicht ein blinder Anbeter von demselben.
»Er ist nicht was man orthodox nennt. Jedoch nicht aus Stolz oder Caprice oder um etwas vorstellen zu wollen. Er äussert sich auch über gewisse Hauptmaterien gegen Wenige; stört Andere nicht gern in ihren ruhigen Vorstellungen.
»Er haßt zwar den Scepticismum, strebt nach Wahrheit und nach Determinirung über gewisse Hauptmaterien, glaubt auch schon über die wichtigsten determinirt zu seyn; so viel ich aber gemerckt, ist er es noch nicht. Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch selten. Denn, sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner.
»Zuweilen ist er über gewisse Materien ruhig, zuweilen aber nichts weniger wie das.
»Vor der Christlichen Religion hat er Hochachtung, nicht aber in der Gestalt, wie sie unsere Theologen vorstellen.
»Er glaubt ein künftiges Leben, einen bessern Zustand.
»Er strebt nach Wahrheit, hält jedoch mehr vom Gefühl derselben, als von ihrer Demonstration.
»Er hat schon viel gethan und viele Kenntnisse, viel Lectüre; aber doch noch mehr gedacht und raisonnirt. Aus den schönen Wissenschaften und Künsten hat er sein Hauptwerck gemacht, oder vielmehr aus allen Wissenschaften, nur nicht den sogenannten Brodwissenschaften.«
Am Rande dieses flüchtig hingeworfenen Brouillons fügt Kestner noch hinzu:
»Ich wollte ihn schildern, aber es würde zu weitläuftig werden, denn es läßt sich gar viel von ihm sagen. Er ist mit einem Worte ein sehr merkwürdiger Mensch.«
Weiter unten ferner:
»Ich würde nicht fertig werden, wenn ich ihn ganz schildern wollte.«[178]
Wir berücksichtigen hier nur die eigentlich prinzipiellen Punkte, die Goethes theologisch-philosophische Lebensansicht wiedergeben, und zu denen sich die folgenden Sätze wie ein Kommentar zum Texte verhalten sollen. Diese seine Weltansicht anzudeuten, ist so sehr die Absicht der Kestnerschen Charakteristik, daß darüber der Schwerpunkt von Goethes Streben, sein poetischer Beruf, kaum erwähnt wird, eine Bestätigung der Thatsache, daß Kestner in diesem Stück wenig eingeweiht war, daß Goethe überhaupt mit dieser Seite seines Wesens damals noch zurückhielt. So wichtig dieser Beitrag zum Verständnis des jungen Goethe ist, er hebt doch den Schleier nur halb, indem er mehr negativ das aussagt, was Goethe damals nicht war, als positiv, was er dachte und glaubte. So wird er als nicht fertig, nicht orthodox, nicht kirchlich, nicht skeptisch bezeichnet, während nach der positiven Seite nur eine allgemeine, übrigens heterodoxe Hochachtung der christlichen Religion, der Glaube an ein künftiges Leben (und dies zweimal) und ein Streben nach Wahrheit zugegeben wird. Wie erwünscht namentlich wäre eine weitere Auslassung über die »gewissen Hauptmaterien«, in denen er trotz seines gegenteiligen Glaubens nach Kestners Ansicht noch nicht zum Abschluß gekommen war. Zunächst haben wir den Eindruck, daß Goethe fort und fort damals mit den tiefsten Lebensfragen, mit den höchsten Zielen des Denkens beschäftigt war. Dies allein erklärt es auch, daß ihn seine Freunde seinem Protest zum Trotz zu den »Philosophen« zählten. Eine im Druck unterdrückte Stelle des eben citierten Briefes sagt: »— und passierte hier für einen Philosophen, welchen Titel er aber nicht auf sich kommen lassen wollte«. — Und hierin hatten beide Teile recht. Die Freunde, weil eben der Inhalt seiner Interessen jenen prinzipiellen Untergrund oder Hintergrund hatte; er selbst, weil seine Intuition nach Form und Methode ihn nichts weniger als den dialektisch verfahrenden[179] Philosophen anreihte. Die Kestnerschen Andeutungen führen aber vor allem doch auf das theologische Gebiet oder zu dem Grenzgebiet zwischen Theologie und Philosophie. Es konnte das zum Teil darin seinen Grund haben, daß der Dichter gerade hier dem Freunde am ersten Gelegenheit gab zur Beobachtung und zum Widerspruch. Denn Kestner, wie wir sahen, hatte und pflegte eine Stellung zur Kirche. Und offenbar war es eigene Erfahrung des Berichterstatters, wenn er rühmt, Goethe »störe andere nicht gern in ihrer ruhigen Vorstellung«. Namentlich den Satz, der Dichter glaube ein künftiges Leben, einen besseren Zustand, können wir auf eine bestimmte Erfahrung zurückführen, denn offenbar hatte Kestner hierbei ausschließlich oder vorzugsweise jenes Gespräch kurz vor dem Scheiden im Auge, auf das wir alsbald zurückkommen, und an diesem Gespräch nahm auch Lotte teil. Diese Analogie aber zwingt uns auch da, wo seiner Fernhaltung von Kirche, Abendmahl und Gebet gedacht wird, an bestimmte Gespräche zu denken, wie ja auch der Zusatz: »denn, sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner«, beweist. Ja nach der Analogie jenes Abschiedsgespräches erscheint es uns nicht unwahrscheinlich, daß Goethe sich über solche Fragen wohl auch unter vier Augen gegen Lotte ausgesprochen habe, in deren Art es lag, ohne Umschweife solche Gewissensfragen zu stellen. Bei dem lebhaften Gedankenaustausch der beiden Verlobten über den gemeinsamen Freund werden auch diese Seiten in ihm zur Sprache gekommen sein. Ist es doch nicht unmöglich, daß jene Katechisation Goethes im Faust auf solche Eindrücke zurückgeht. Denn schwerlich beruht diese auf Erinnerungen an Friederike, weil Goethe in jener Zeit noch anders stand und im Sessenheimer Pfarrhaus wohl am wenigsten Anlaß zu solcher Gewissensprüfung gab. Stellen wir dagegen die Kestnerschen Memorabilien mit der Katechisationsscene im »Faust« in Parallele, so ergeben sich frappante Analogieen.[180]
»Will Niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.« | »stört andre nicht gern in ihren ruhigen Vorstellungen.« | |
»Du ehrst auch nicht die heil'gen Sakramente.« | »Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch selten. Denn, sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner.« | |
»Doch ohne Verlangen. | ||
Zur Messe, zur Beichte bist du lange nicht gegangen.« | ||
»Gefühl ist Alles.« | »[Er] hält jedoch mehr vom Gefühl derselben (der Wahrheit), als von ihrer Demonstration.« |
Kestner hat richtig gesehen, wenn er fand, Goethe sei in principiis noch nicht fest, strebe erst nach einem System und sei »über gewisse Materien« noch nicht ruhig. Ein ruheloses Gären und Wogen, eine Mischung von Elementen bezeichnete recht eigentlich damals den inneren Zustand des Dichters. Ein theistisches und pantheistisches Element lagen in ihm neben einander. Aber diese Gegensätze dulden auf die Dauer keinen Parallelismus, das eine muß das andere ausstoßen, und so führte die natürliche Entwickelung Goethes dazu, daß der Pantheismus schließlich den Sieg davontrug. Dies geschah durch die Hinneigung zu Spinoza, in dem er, wie nirgendwo sonst früher oder später, die Grundzüge des eigenen Erkennens und Ahnens fand. Aber in Wetzlar war er an diesem Punkte noch nicht angelangt. Und dieser Kampf zwischen dem überkommenen Theismus und seinem werdenden Gegensatz ist der Prozeß, den Kestner bezeichnen will. Wir wissen, daß noch in der ersten Hälfte des Straßburger Lebens der christliche Theismus in ungestörtem Alleinbesitz in dem jungen Dichter lebte, daß er vollends Spinoza — allerdings ohne wirkliche Kenntnis — weit von sich wies, während ihn einzelnes in Giordano Bruno, dem pantheistischen Vorläufer Spinozas, sofort packte und anzog. Vom Krankenbette in Leipzig datierte jene Umbildung zum Positiven, die[181] zwischen Leipzig und Straßburg liegenden anderthalb Jahre stärkten sie, der tiefgehende Einfluß der Fräulein v. Klettenberg und der Verkehr mit der Brüdergemeinde entwickelten sie ebenso, wie sie den Jüngling dem in Frankfurt herrschenden orthodoxen Luthertume immer feindlicher stimmte. Der junge Goethe war mittelbar ein Zögling der Brüdergemeinde, wie es Schleiermacher unmittelbar war, und es ist charakteristisch, daß das Gefühl (das unmittelbare Bewußtsein) beiden, dem größten Dichter und dem ersten Theologen seiner Zeit, als das religiöse Organ galt. Goethe, so lange er überhaupt noch mit der christlichen Substanz in Verbindung stand, ließ sich festhalten durch den Grundgedanken der göttlichen Liebe, in der er Seele und Wesen des Christentums erkannte. Hier lag für ihn eine Zeit lang die Gegenwehr wider die pantheistische Weltanschauung, der sich sein inneres und eigentliches Wesen zukehrte, die aber damals noch nicht die Herrschaft über seinen Geist gewonnen hatte. In Wetzlar war er auch hier auf sich selbst zurückgewiesen. In die Kirche ging er nicht, außerhalb der Kirche fand er keine prinzipielle Förderung. Nur in einzelnen Briefen mochte der verbindende Faden mit der frommen Freundin in Frankfurt fortdauern. Es ist keine Spur davon erhalten. Aber nirgends gehen die Andeutungen seiner religiösen Polemik über die theistische Linie hinaus, wenn auch das spezifisch-christliche zurückgetreten ist. Die Abweichungen müssen also noch innerhalb jener Linie liegen. Und so ist es. Kein Bruch tritt uns entgegen; der persönliche Verkehr mit dem persönlichen Gott im Gebet ist ihm nicht völlig fremd geworden, doch hat er selten das Bedürfnis, zu beten. Schon dies Geständnis deutet auf hindernde innere Mächte, d.h. (von ethischen Hemmungen abgesehen) auf den nicht ausgetragenen Gegensatz pantheistischer Elemente gegen den alten Glauben. Doch zunächst sind die innerkirchlichen Hauptdifferenzpunkte noch zu bestimmen. Wir[182] wagen eine Vermutung. Wenn Goethe seine damalige Differenz von dem Glauben der Kirche unumwunden bekennt, so nehme ich an, daß er dabei hauptsächlich einen Grundgedanken im Auge hatte, die [widerwillige] Opposition gegen das Dogma von Sünde, Buße, göttlicher Gerechtigkeit, ewiger Verdammnis. Hieran vor allem nahm der Optimismus des Dichters Anstoß, und dies gerade war der Punkt, worin er sich, freilich in seiner Art, damals mit seiner Freundin, der Fräulein v. Klettenberg, berührte. Es war die Lehre von der Apokatastasis, von der Wiederbringung oder Herstellung aller Dinge, der »endlichen Allbeseligung«, die in jenen frommen Kreisen im Gegensatz gegen die orthodoxe Kirchenlehre gehegt wurde. Seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts war diese ursprünglich origenistische Lehre von zweifelhafter biblischer Legitimation wieder aufgekommen. Die Engländerin Jane Leade und der Deutsche J.W. Petersen, sich stützend nicht bloß auf die betreffenden Schriftstellen, sondern auch auf angeblich erhaltene besondere Offenbarungen, hatten die Lehre mit Nachdruck verkündet. Der Anhang jener Engländerin, die »philadelphische Societät«, dann Schriften von Petersen und L. Gerhard, endlich die Berleburger Bibel, sorgten für die Ausbreitung der Lehre, der auch Zinzendorf, F. Christoph Ötinger, J.A. Bengel, aber mit geheimnisvoller Zurückhaltung zustimmten. Ein indirekter Beweis dafür, daß diese Lehre auch an Goethe durch Vermittelung der Klettenberg herangetreten war, liegt darin, daß der Dichter den Grafen Zinzendorf den »Hällischen« gegenüberstellt. Aber wir besitzen auch direkte und unwiderlegliche Zeugnisse dafür. In dem fast gleichzeitigen »Brief des Pastors« u.s.w., worin die »ewige Liebe Gottes« verkündet und von der Erbsünde wie von der »würklichen« gesagt wird, der Mensch könne nichts dafür, heißt es: »Ihr wißt, lieber Herr Amtsbruder, daß viele Leute, die so barmherzig waren wie ich, auf die Wiederbringung gefallen sind, und ich ver[183]sichere Euch, es ist die Lehre, womit ich mich insgeheim tröste; aber das weis ich wohl, es ist keine Sache davon zu predigen.« Und in demselben Brief spricht er von der »ewigen wiederbringenden Liebe«, der er »alle Ungläubigen« überlassen will. Ja auch der griechische Ausdruck (aus Apg. 3, 21) findet sich bei Goethe (DjG. III, 23) wenn auch zu einer ungriechischen »Anakatastasis« entstellt, an einer inhaltlich übrigens neutralen Stelle.
Was Goethe über das große Thema, das damals lebhafter denn je die Geister beschäftigte, gelesen, oder ob er sich an den Anregungen der Klettenberg (von der wir übrigens keinerlei Aussprüche mehr über jene Lehre besitzen) und deren Verweisungen auf Zinzendorf genügen ließ, das läßt sich nicht mehr feststellen. Seine »Ephemeriden« enthalten nichts von der einschlagenden Litteratur, doch sähe es dem originellen Grübler nicht ähnlich, wenn er nicht auch selbständige Wege gegangen wäre. Wahrscheinlich hat er sich, was die Tradition anlangt, auf Zinzendorfische Auslassungen über die esoterische Lehre beschränkt. Denn seine Bemerkung, es sei keine Sache davon zu predigen, stimmt ganz mit den Bedenken des Grafen, der sie weder homilelisch noch dogmatisch gelehrt haben will. So sagt dieser in den »Reden über die Augsburgische Confession«: »Ich habe auch observirt, daß die meisten Pfarrer, die das ewige Evangelium glauben (und es glauben es mehr, als es gestehen), faule Leute sind« — oben nennt er sie »mausetodte Leute« —, »die ihr Amt nicht thun und, wenn sie sehen, daß sie mit ihren Predigten in der Zeit Nichts ausrichten, sich mit der künftigen Erlösung trösten. Ich halte also dafür, daß es eine weise Vorsehung Gottes sei, daß dergleichen Lehren und Principien auf den Kanzeln verboten sind, und daß den Pfarrern ein Zaum und Gebiß in's Maul gelegt ist, daß sie nicht von solchen Materien schwätzen dürfen, davon kein einziger ihrer Zuhörer einigen Nutzen hat, und davon sie auch nicht Verstand genug haben zu raisonnieren,[184] weil diese Materie in solche Gottestiefen hineinschlägt, davon wir in den Heilands Reden nicht ein einziges Wort, in der Apostel Schriften aber nur lauter solche Spuren haben, daraus man keinen completen Satz formiren kann.« Neben dieser Erklärung gegen menschlichen Fürwitz, die ihn die ganze Lehre für »Spekulation, und weiter nichts« erklären läßt, steht aber die stärkste persönliche Hinneigung, die ihn diese Idee zu den »Grundprincipien und Centralerkenntnissen in der Kinder Gottes ihren Herzen«, zu den »arrêta rhêmata« stellen läßt, »die nur unser Herz fühlt«. »Wünsche gottseliger Herzen« sind es ihm, und »wenn man so redt und wünscht, philosophirt man nicht, sondern man ist in ecstasi, pheromenos von der Liebe, die den Heiland ans Kreuz gebracht hat, und darum gefallen dem Heiland seiner Kinder und Diener absurde Wünsche besser als die Raisonnements der trockenen Leute, die nicht wissen, was Liebe, was Feindesliebe, was Treue und Herzlichkeit ist gegen allen Undank, Verdruß und Verfolgung.« Es sind ihm in der That wirklich objektive Wahrheiten, »die nur für jetzt unter ökonomisch-providentiellem Verschlusse liegen«, und eben darum wollte er »Niemandem Brief und Siegel geben, daß es geschehen werde«.
Wir sehen, daß wir nicht nötig haben, noch weitere Quellen als Zinzendorfs Eröffnungen für Goethes Aneignung dieser Geheimlehre anzunehmen. Auch hier ist die Beobachtung interessant, daß der junge Goethe und Schleiermacher, der halbe und ganze Jünger der Brüdergemeinde, übereinkommen, aber, was der Meister und Führer Zinzendorf mit solcher Reserve bekannte, fast zum offenen Glaubenssatz stempeln. Denn Schleiermacher (Glaubenslehre II, 551) hält nicht bloß in der Jugendzeit, sondern sein Leben lang die Wahrscheinlichkeit fest, daß »durch die Kraft der Erlösung dereinst eine allgemeinere Wiederherstellung aller menschlichen Seelen (also nur dieser!) erfolgen werde«.
Wenn irgendein Satz Goethes inneren Widerstand gegen[185] die christliche Wahrheit apologetisch überwinden konnte, so war es der von der schließlichen Wiederherstellung der Weltharmonie, in der die göttliche Liebe triumphiere über die starre Gerechtigkeit. Diese hoffende Fernsicht auf die letzten Dinge war dem Dichter fast ebenso ein ästhetisches Bedürfnis, das den Kosmos dessen Idee nach, wie in seinem Anfang und Ende als ein Kunstwerk ansah, wie ein ethisches. Gerade aber die zweifelhafte biblische Begründung dieser Lehre, die von ihren Anhängern deshalb wesentlich durch das Vorgeben empfangener Inspiration gestützt wurde, empfahl sie dem Dichter nur um so wärmer, dem Inspiration und Imagination verwandte Offenbarungsorgane waren, und der an dem Mangel exegetischer Begründung am wenigsten Anstoß nahm. Dabei lag es in seiner Natur, dem Aparten und Originellen mit Vorliebe Raum zu geben. Dieser Satz von einer endlichen restitutio in integrum scheint in der That das Bindemittel gewesen zu sein, das den Dichter noch zeitweilig mit der christlichen Weltanschauung im Zusammenhang erhielt. Und — was bedeutungsvoll ist — man wird kaum verkennen, daß diese Lehre auch in der Faustidee, die sich damals allmählich in Goethes Bewußtsein gestaltete, zur Geltung kam. Freilich nicht absolut, sondern relativ und partiell nur, aber doch begegnet sich das Finale des Faust mit jener Doktrin. Der teleologische Grundgedanke des Dramas, die Rettung des Faust, mußte von Anbeginn feststehen, weil mit der auch persönlich genommenen Lehre von der Wiederbringung — wie wir sahen — auch eine Herabsetzung der Sünde und Schuld nach Grad und Art fast notwendig verbunden war. Schloß das Wesen der Menschennatur die Sünde als unvermeidliche Lebensäußerung in sich, so daß die Selbstverantwortung für die Schuld zurücktrat, so entsteht gewissermaßen die göttliche Pflicht nicht bloß einer Veranstaltung zur Erlösung, sondern auch einer schließlichen Rettung und Her[186]stellung unter allen Umständen. Diese Betrachtung führt den Dichter zu dem Postulat einer ewigen Lebensversicherung. Und diese Garantie, wo das Ende gesichert ist, läßt nun freien Raum zur ungehemmten Entfaltung der Kräfte des strebenden und darum auch irrenden Menschen, auch der titanischen, gegen Gott anstürmenden, prometheischen Kräfte. Wohl aber hält er sich fern davon, auch die Erlösung der Teufel aus der Hölle in sein großes Weltdrama einzuweben, auch hier vielleicht durch Zinzendorf gewarnt; er setzt nicht eine absolute, sondern nur eine relative Herstellung, die der Menschenwelt, voraus; eine Annullierung jedoch der diabolischen Einwirkungen, die in Fausts Verschreibung an Mephistopheles gipfelte. Die Autonomie aber, die das anthropologische Moment in seiner freien Berechtigung gegenüber dem theologischen stark betont, lag dem Menschen Goethe besonders am Herzen, wie auch der Dichter Goethe in dieser Annahme den ungehemmtesten Spielraum für die Gebilde seiner Phantasie fand. Im Faust finden die beiden scheinbaren Gegensätze ihre poetische Versöhnung. Ob die logische oder ethische Versöhnung gleichermaßen erreichbar, oder ob das Lebens- und Welträtsel nun erst recht rätselhaft werde durch die Verwandlung des sittlichen in einen Natur-Prozeß, die Frage aufzuwerfen oder gar zu beantworten, das war keine Forderung der Goetheschen Natur. Keineswegs aber wollte er damals des göttlichen Faktors neben dem menschlichen entraten, den er am Schluß der Dichtung wie seines Lebens betont:
Auch einen chronologischen Fingerzeig enthält diese Hypothese, nicht zwar für die Zeit der Geburt, der Anfänge der Faust[187]dichtung, aber für die Empfängnis der Faustidee, insofern diese unter jener Voraussetzung in einen Zeitpunkt fallen muß, wo sich noch kein Bruch mit dem positiven Christentum, noch kein Übergewicht pantheistischer Weltansicht in dem Dichter vollzogen haben konnte.
Dabei bedarf es der Verwahrung nicht, daß der Dichter nicht dem Interesse an der Doktrin tendenziös die Absicht des Dramas entnommen habe. Vielmehr war und erschien ihm der Stoff der Sage an sich tiefpoetisch, aber der Schlüssel zur Gestaltung des Stoffs, zur Umbildung der Überlieferung, der Wegweiser zum schließlichen Ausweg lag allerdings in jener Ansicht von menschlicher Freiheit und göttlicher Weltökonomie. Auch die Stockungen, die später die Dichtung erfuhr, erklären sich aus den inneren Wandlungen des Dichters, in denen er zeitweise den ursprünglichen Schlüssel verloren hatte.
Wir nehmen den abgebrochenen Lebensfaden hier wieder auf, um ihn bis zum Ende der Wetzlarer Episode fortzuspinnen. Wir brachen ab in jenen Augusttagen, wo sich Goethes Stellung zu Lotte Buff klärte durch deren eigene klare Haltung und unzweideutige Erklärung. Der stürmische Jüngling hatte den Widerstand einer reinen edlen Weiblichkeit erfahren, die schon damals »nach Grundsätzen« handelte, wie sie von sich und anderen ihr Leben lang verlangte. Die natürlichen, gegebenen Verhältnisse selbst hatten gesprochen, und Goethe wußte, woran er war. Die unmittelbare Folge war ein ruhigeres Verhalten, ein Kampf der Selbstbeherrschung, und im Hintergrund stand der Gedanke an den nahen, festbeschlossenen Abschied. Der Verkehr blieb ununterbrochen, ungetrübt. Der Doppelgeburtstag Goethes und Kestners am 28. August wurde gemeinsam im Deutschen Hause und originell genug gefeiert. Schon am 27^sten brachte Goethe fast den ganzen Tag dort zu. Da wurden Bohnen geschnitten bis Mitternacht, und der Geburtstag selbst feierlich mit Thee und freundlichen Gesichtern und kleinen sinnigen Gaben angetreten. Vierzehn Tage später stand Goethe reise[189]fertig. Man stellt den, wie es schien, plötzlichen Abbruch des dortigen Aufenthaltes in der Regel als eine Flucht, auch wohl als »tapfere Flucht« dar, als eine Abkürzung also der anfangs geplanten Zeit, um den Konsequenzen einer aussichtslosen Neigung zu entfliehen. Die wirkliche Sachlage aber war eine andere. Schon bei seiner Verabschiedung von den Darmstädter Freunden hatte Goethe ausdrücklich erklärt, er kehre in drei Monaten von Wetzlar zurück. Und in der That scheint ein Vierteljahr die gewöhnliche Zeit gewesen zu sein, binnen deren die jungen Praktikanten den Reichsprozeß erlernten. So ist es von dem Freiherrn vom Stein z.B. ausdrücklich bezeugt. Nun war Goethe einen vollen Monat länger in Wetzlar, also kann nicht von einer Verkürzung, sondern von einer Verlängerung müßte die Rede sein. Da Mercks Besuch in Gießen und Wetzlar gerade mit dem Vierteljahrstermin zusammenfällt, und da es ausdrücklich bezeugt ist, daß Merck den Freund damals hat mitnehmen wollen, so dürfen wir wohl annehmen, daß Goethes Familie den ursprünglichen Termin festhielt. Wir erinnern uns nun, daß wenige Tage vor Mercks Eintreffen das Wechselverhältnis der wunderlichen Trias eine Art Krisis erfahren hatte, und es ist anzunehmen, daß Goethe von den liebgewordenen Menschen nicht unter dem Eindruck dieser Krisis scheiden mochte. Er verabredete also mit Merck einen späteren, aber bindenden Termin, wo sich die Freunde in Koblenz im Hause der Frau de La Roche zu treffen versprachen. Hätte Goethe auch noch über diesen Termin hinaus seinen Aufenthalt verlängert, der nun durch nichts als durch seine Liebe motiviert erschienen wäre, so hätte er dieses Motiv offen den Seinigen bekennen und vor seinem eigenen Gewissen rechtfertigen müssen. Das konnte er nicht, und völlig unabhängig war er nicht. Schon vorher hatte er Kestner einen Wink gegeben, er werde plötzlich und ohne Abschied lahnabwärts gehen. Freilich war das Band so fest geworden, daß Kestner an die rasche Lösbarkeit nicht[190] glaubte. Auch wohl Lotte kaum. Das Brautpaar konnte den Freund als dritten im Bunde kaum herausdenken aus der wunderlichen Gemeinschaft.
Der 10. September war der letzte volle Tag in Wetzlar. Zu Mittag aß der Dichter bei Kestner in dessen Hausgarten, den wir kennen (S. 91). Kestner wußte nicht, was der Freund im Schilde führte. Ebenso wenig wußten es die guten Leute im Deutschen Hause, als er dorthin seinen gewöhnlichen Abendgang richtete. Die Trias saß, wie so oft, noch einmal zusammen; und ungewollt führte Lottens Anstoß zu einem Gespräch über das Jenseits, »von dem Zustande nach diesem Leben, vom Weggehen und Wiederkommen«, Ernst und Phantasie woben sich ineinander. Die Freunde machten mit einander aus, wer zuerst stürbe, sollte, wenn er könnte, den Lebenden Nachricht von dem Zustande des Jenseits geben. Goethe ließ dem Gefühl und der Imagination freien Lauf, und wir können denken, wie sein Innerstes sich in die Zeichen- und Bildersprache kleidete. Goethe war bewegt, aber mehr von dem Gedanken an den morgenden als an den ewigen Abschied. »Welcher Geist brachte euch auf den Diskurs«, schreibt er, »und ich war sehr gefaßt, aber euer Gespräch hat mich auseinandergerissen.« Und »wäre ich einen Augenblick länger bei euch geblieben, ich hätte nicht gehalten.« Die Nachwirkung dieses Gesprächs war tief genug, um noch zwei Jahre später zum Niederschlag in dem Schlußbrief vom ersten Teile des »Werther« zu werden.
Der alte Amtmann begleitete ihn zum letztenmal die Treppe hinab. Die tiefe Bewegung seines Herzens, die sich in einsamen Thränen in »kummervoller Nacht« Luft machte, spricht sich in den warmen Abschiedszeilen Goethes an Lotte und Kestner aus. »Sie wissen alles«, heißt es an Lotte, »wie glücklich ich diese Tage war.« — — »Immer fröhlichen Muts, liebe Lotte, Sie sind glücklicher als hundert, nur nicht gleichgültig, und ich, liebe[191] Lotte, bin glücklich, daß ich in Ihren Augen lese, Sie glauben, ich werde mich nie verändern. Adieu, tausendmal adieu!« Kestners Tagebuch hat uns aufbewahrt, wie das Gefühl der Lücke ihn selbst und das ganze Deutsche Haus ergriff. Lotte war betrübt, es kamen ihr die Thränen beim Lesen der Abschiedszeilen in die Augen. Vorher, auf die erste Kunde kehrte ihr bald der Humor wieder, das beste Zeichen dafür, daß von einer Liebe in dem Sinne, wie sie Goethe zeitweise erstrebt hatte, bei ihr keine Rede war. Das Motiv ihrer Thränen war freundschaftliches Wohlwollen und wehmütiges Mitleid. Als Goethes Großtante, von der eiligen Abreise des Neffen unterrichtet, durch eine Magd in das Deutsche Haus sagen ließ: »Es wäre doch sehr ungezogen, daß Doktor Goethe so ohne Abschied zu nehmen, weggereist sei«, ließ Lotte zurücksagen: »warum sie ihren Neffen nicht besser erzogen hätte?« So spricht keine unglücklich gewordene Liebe. Doch war es ihr lieb, daß er fort war, da sie ihm das nicht geben konnte, was er wünschte. Der Abschiedstag war ein Freitag. Goethe aber ritt, von dem jungen Born bis gegen Braunfels begleitet, in aller Morgenfrühe davon und wanderte dann allein das Lahnthal abwärts. Er gedachte gegen Born noch des gestrigen Abendgesprächs, er trug eine bekämpfte, aber noch unüberwundene Liebe mit sich fort, war aber auch um eine schwere und große Lebenserfahrung reicher.
Unsere Aufgabe im strengen Wortsinne ist abgeschlossen mit dem Abschied des Dichters von der Reichsstadt an der Lahn. Nur noch ein epilogisches Wort, das einen Ausblick öffnen soll auf die Weiterentwickelung des Verhältnisses von Goethe zu Kestner und Lotte! Dasselbe soll keineswegs alle ferneren Beziehungen der so eng verbundenen Trias vorführen, sondern nur die charakteristischen Hauptzüge des weiteren Verlaufs her[192]vortreten lassen. »Es war ein schönes Leben, auf das ich ganz heiter zurücksehe«, schreibt der Dichter, wohl an die Parallele mit Sessenheim denkend, an Kestner. Auf der Wanderung von Wetzlar thalabwärts nach Thal-Ehrenbreitstein lag so zu sagen die ganze Linie von Erlebnissen, die später dem »Werther« das Leben gaben: die endende Liebe zu Lotte Buff und die keimende zu Maxe de la Roche, den beiden Modellen des Romans, beide zusammengehalten durch Jerusalems Geschick, das allerdings erst mehrere Wochen nach Goethes Entfernung seinen tragischen Schluß fand. Noch einmal zog es den Dichter bald nach Jerusalems Tod auf wenige Tage (vom 6. bis 10. November) an den liebgewonnenen Ort, und die Art, wie er auch da wieder mit den Insassen des Deutschen Hauses, vor allem mit Lotte selbst verkehrte, zeigte mit zweifellosem Nachdruck, daß die Eindrücke von Ehrenbreitstein die von Wetzlar in keiner Weise überschattet hatten. Vielmehr brachen bei diesem Wiedersehen die noch ungeheilten Wunden aufs neue auf, und es waren »hängerliche und hängenswerte Gedanken«, mit denen er zu ringen hatte. Seitdem hat Goethe Kestner nie, Lotte erst in späten Jahren wiedergesehen. Wohl dachte er von Weimar aus an einen Besuch in Hannover, aber es blieb bei Plänen. Natürlich konnte jenes leidenschaftliche Verhältnis nicht andauern; Lottens Vermählung und »Werthers« Entstehung streifen den leidenschaftlichen Charakter ab und bilden den Übergang von der Liebe zur Freundschaft, endlich zu leisem Verklingen. Der einst so vollrauschende Strom wird zum bescheidenen Bach, einem der zahllosen Zuflüsse, die in des Dichters breit dahinströmendes Leben einmünden. Aber ohne solche Bäche wäre der Strom nicht so breit und tief geworden. Die »Werther-Briefe« führen uns in frischester Unmittelbarkeit jene Stadien vor, die wir hier nicht nachzeichnen können; aber ein nahes und treues Verhältnis blieb auch ohne Sehen, auch trotz räumlich und innerlich weit auseinandergehender Lebenswege. Kestner schloß[193] am 14. April 1773 — es war am Palmsonntag — seinen Ehebund mit Charlotte Buff. Der alte Vater wußte wohl, was er that, als er damals dem Schwiegersohne die lakonischen Worte ins Stammbuch schrieb: »Finis coronat opus.« Zunächst blieb das junge Paar noch in Wetzlar, dann siedelte es in Kestners Heimat, nach Hannover über, wo es bald Wurzel schlug. Goethe hatte die Trauringe besorgt und steckte den ihm übersandten Brautstrauß auf einer seiner Wanderungen nach Darmstadt vor. Aber das schönste Denkmal nicht bloß, sondern auch Grabdenkmal schuf er seiner Liebe im »Werther«; schaffend nach Dichterart ließ er die schöne Wirklichkeit in dem schöneren zweiten Leben der Dichtung ausklingen. Doch diese Prolegomena zu »Werther« haben den zwei Jahre später erschienenen Roman nicht zu würdigen, dessen Einzigartigkeit darin liegt, daß man darin, wie nirgendwo sonst mit gleicher Evidenz, durch einen hellen Einblick in die Dichterwerkstatt erkennen kann, wie dort »die Poesie sich dem Boden der Wirklichkeit entwindet«. Kann aber eine große Dichternatur ein solches Erlebnis als bloße schlummernde Erinnerung, als poetisch totes Kapital in sich herbergen? — Gerade der Roman aber ward zur harten Probe für den Fortbestand der Freundschaft zwischen Goethe und Kestner. Dachte Goethe in rücksichtslosem Dichterübermut daran — doch fehlten offenbar auch die gegenteiligen Gedanken nicht —, im Anschauen der genialen Schöpfung würden die Freunde, wie er, sich selbst vergessen oder statt einer indiskreten Bloßstellung eine Art Apotheose in dem Werk erkennen, Kestner, der nüchterne, konnte sich auf diese nicht jedem zugängliche, vielen bedenkliche Höhe und in die zu feine Luft nicht hinaufschwingen. Er sah darin eine Art Verrat des alten Bundes, und er erschien sich selbst wie ein Opfer, dargebracht den Gesetzen der Dichtung und dem Ruhme des Autors. Es widerstand ihm, den schweren und schönen Sommertraum,[194] der sein wirkliches Leben bis in seine Tiefen bewegt hatte, nun als schätzbares Material poetisch gebraucht, mißbraucht zu sehen. Er am wenigsten vermochte das Gedicht von der Geschichte zu lösen: »Und das elende Geschöpf von einem Albert!« — Kestner warf dem Dichter geradezu vor, er habe den Rivalen zum »Klotz« gemacht, um stolz auf ihn hintreten und sagen zu können: »Seht, was ich für ein Kerl bin!« — In nichts konnte sich die Verschiedenheit der Arten und Naturen so grell spiegeln als in diesem Gegensatz des realen und idealen Bekenntnisses. Aber die Prüfung ward überstanden, nur nahm sich Kestner die Warnung eines Freundes zu Herzen: »Il est dangereux d'avoir un auteur pour ami.« Die Freundschaft der beiden Männer blieb bis zu Kestners Scheiden, während mit Lotte ganz naturgemäß die direkten Beziehungen zurücktraten. Goethe ließ den Faden nie ganz reißen; zu der aufrichtigen Sympathie für den Jugendfreund gesellte sich die Dankbarkeit und eine Art Schuldgefühl.
»Um ihrentwillen werde ich sie alle lieben mein Leben lang«, schreibt Goethe — schon am 16. März 1773 — an Kestner; und nach dem »Werther« (Oktober 1774): »Ja meine Besten, ich, der ich so durch Lieb an euch gebunden bin, muss noch euch und euern Kindern ein Schuldner werden für die böse Stunden, die euch meine — nennts wie ihr wollt, gemacht hat.« Kestner, bald milder gestimmt, nennt's »Autor-Wärme, oder Entourderie«. Es liegt nahe, die parallele Lebensentwickelung Goethes und des Kestnerischen Ehepaares zu überschauen, aber es thut nicht not, dabei die eine der parallelen Linien, Goethes Lebensweg, irgendwie zu charakterisieren. Dieser Weg ist allbekannt. Aber es ist wie die Parallele zwischen dem glänzenden Weltruhm und der stillen Tüchtigkeit. Die Kluft zwischen beiden Seiten wird weiter und weiter, die Kluft von Stand, Rang und Ruhm. Und doch dauert das Verhältnis, und in einem Stück doch[195] überragt das Lebensgeschick des glücklichen Paares weitaus das des weltberühmten Dichters, in dem Frieden und Glück einer durchweg befriedigenden, reich gesegneten Häuslichkeit. Ein kinderreiches Haus, wo die Eltern wieder jung werden konnten in der Jugend wohlgeratener Kinder, die sie umgab. Kestner selbst erlebte noch die Zeit der Reife fast von allen seinen Kindern. Die äußere Lage freilich war keine glänzende, kaum immer — im Anfang der Ehe wenigstens — eine günstige. Mit einem Gehalt von 350 Thalern, die zwei Jahre später auf 500 und wieder zwei Jahre später auf 700 erhöht wurden, begann Kestner seinen Hausstand in Hannover als Archivsekretär. Schmerzliche Vermögensverluste trafen ihn. Im Jahre 1784 wurde ihm der Charakter eines Rats, später der Titel Hofrat verliehen. Auch wurde er zum Lehnsfiskal und Kammerkonsulenten ernannt und durfte daneben Privatprozesse übernehmen. Endlich war er als Regierungsbevollmächtigter an den Verhandlungen des lüneburgischen Landtags zu Celle beteiligt. Noch einmal führte ihn ein amtliches Interesse in die Nähe der Stätte seines Jugendglücks, dann auch in diese selbst, wo sein alter Schwiegervater noch lebte. Er war nämlich als Botschaftssekretär zur Kaiserwahl Leopolds I. nach Frankfurt gesandt worden, eine Ehre, die ihm zwei Jahre später, bei der Wahl Franz' II. noch einmal widerfuhr. Damals, im Juli 1792, begab sich auch Lotte mit ihrer ganzen Kinderschar und deren Hauslehrer — eine wandernde Karawane — in das Elternhaus nach Wetzlar. Die Kinder sollten doch ihr berühmt gewordenes Stammhaus mit Augen sehen. Nach uraltem Herkommen wurde Kestner beide Male mit den übrigen protokollführenden Sekretären dem neuen Kaiser in einer Audienz vorgestellt. Es wurde ihm damals von Gönnern und Freunden nahe gelegt, um den Adelsbrief einzukommen, wie dies vonseiten der Botschaftssekretäre bei dem feierlichen Anlaß vielfach und meist mit Erfolg[196] geschah. Kestner aber antwortete, er wolle das lieber kommen lassen, weil er den Adel nicht brauche und es von seinen Kindern noch nicht wisse.
Erschien der Dichter auch nicht persönlich im Kestnerschen Hause, in Briefen und in seinen Werken erschien er fortdauernd bis zu Kestners Heimgang. Noch werden die Goetheschen Schriften, wie sie der Dichter geschickt, von der Familie aufbewahrt, auch ein »Schatz für immer«. Das ursprünglich geschenkte Exemplar des »Werther« war, wie Kestner schreibt, verloren gegangen. Doch befindet sich die Weygandsche Ausgabe von 1774 in der Hinterlassenschaft. So auch die gesammelten Schriften von 1787-89; »Von Deutscher Baukunst, D.M. Erwini a Steinbach. 1773.« Verschiedene Schriften der Werther-Litteratur schließen sich an. Interessant ist, daß sich auch die »Lebensbeschreibung Herrn Götzens von Berlichingen, Nürnberg bei A.J. Felsen von 1731« in der kleinen Sammlung findet, als hätte Kestner, etwa durch Lessing angesteckt, die Kunstform gegen den Rohstoff abwägen wollen. — Kestner starb zu Celle in Ausübung seines Berufes am 24. Mai 1800.
Lotte hat ihre Heimat wiederholt wiedergesehen. Ihr Vater verschied hochbetagt am 3. Januar 1795, aber auch dann fehlte es nicht an Verwandtschaftsbeziehungen in jenen Gegenden. So führte sie wenige Jahre nach dem Tode ihres Gatten die französische Occupation Hannovers 1803 in die alte Heimat zurück. Und es konnte nicht fehlen, daß die Berührung mit diesem Boden auch die Erinnerung an den großen Jugendfreund in ihr doppelt lebendig machte. Sie schrieb nach Weimar und erhielt eine Antwort Goethes, die mit den Worten anhebt: »Wie gern versetze ich mich wieder an Ihre Seite zur schönen Lahn.« — Die Erscheinung von »Wahrheit und Dichtung« frischte, so wenig unmittelbar noch von des Dichters Jugendliebe darin pulsierte, doch die alten Erinnerungen auf. Und[197] diese Fühlung des Alters mit der Jugend mochte der nun Dreiundsechzigjährigen den Mut geben, den Freund aus uralter Zeit noch einmal wiederzusehen. Lottens Schwester Amalie war in Weimar seit 1791 mit Kammerrat Riedel vermählt. Ein Besuch bei dieser Schwester — Anfangs Oktober 1816 — wurde die Brücke, die Lotte auch zu Goethe führte. Es war ein Wagnis, das nicht zu voller Befriedigung gedieh und gedeihen konnte. Es lagen mehr denn vierzig Jahre zwischen Jugend und Alter, und es war bedenklich, als eine jener »schwankenden Gestalten« aus der Frühzeit seines Lebens vor den großen Dichter zu treten. Wer vermag so lange abgerissene Fäden in wenigen Stunden wieder anzuspinnen? — Doch dauerte bei Goethe der alte Anteil. Als Eckermann mehrere Jahre später (im Mai 1824) nach Hannover reiste, trug ihm Goethe Grüße an die »alte Jugendfreundin« auf. Noch erlebte diese die Jubelausgabe von Werthers Leiden. Sie starb am 16. Januar 1828, wie eine Patriarchin verehrt als das Haupt einer großen Schar von Kindern und Enkeln.
Goethe hat Wetzlar seit jenem zweiten Besuch im November 1772 nicht wieder gesehen. Als das Kestnersche Paar die Reichsstadt verlassen hatte, war ihm das schöne Thal wie ausgestorben. Wohl hat er es noch einmal gestreift — im Sommer 1815 —, aber bis Wetzlar kam er nicht. Aber was von dort kam, erinnerte an alte unvergessene Zeiten. Als der berühmte Philologe Fr. Gottl. Welcker, damals noch jung und unberühmt, im Herbst 1805 auf einer Fußwanderung von Gießen nach Weimar-Jena und Halle sich mit einem Empfehlungsschreiben auch zu Goethe wagte, empfing ihn dieser stehend, in der Mitte des Zimmers, ein kräftiger, rüstiger Mann, auch dem Anzuge nach mannhaft, etwa wie ein Forstmann, und setzte sich mit ihm an ein Fenster. Er fragte den jungen Dozenten und Gymnasiallehrer nach den wissenschaftlichen Zuständen Gießens. Das Gespräch fiel auch[198] auf Wetzlar. Welcker war, wie er selbst gesteht, naiv genug, auch Werthersche Örtlichkeiten (also wohl Garbenheim und das Deutsche Haus vor allem) zu berühren. Da sagte Goethe: »Ja, das war ein Stoff, bei dem man sich zusammenhalten oder zugrunde gehen mußte.« — Als im Jahre 1820 ein Rekrut auf dem Marsch von Wetzlar nach Berlin durch Weimar kam und in Goethes Gesichtskreis trat, wurde er mit Geld beschenkt, zu Mittag bewirtet und nach der Familie Buff und nach anderen Personen in Wetzlar und Garbenheim ausgefragt. —
Wir können diese wärmeleitenden Züge hier nicht weiter verfolgen. Es wäre eine solche Verfolgung wie ein weitästiger Stammbaum von geistig-gemütlich-sittlichen Zusammenhängen, die sich von dem Ursprung, dem Sommer 1772, zu weit entfernen.
Man kann aber Wetzlar und den dort verlebten Sommer nicht hinwegdenken aus des Dichters Jugendleben — le printemps de son géuie, wie es ein Franzose nennt —, ohne ein vor vielen wichtiges Glied aus der glänzenden Kette seiner Lebensstadien herauszureißen.
S. 2, Z. 2: Über die mutmaßliche Durchschnittszahl der von Goethe geschriebenen Briefe f. W.v. Biedermann, Goethe-Forschungen, S. 360.
S. 4, Z. 4: Der Ausdruck stammt aus dem Briefe Goethes an Kestner d.d. 25. September 1772, Nr. 11, S. 53.
S. 5, letzte Zeile: Aus Eckermann III, 37.
S. 10, Z. 16 und 18: »Aus Herders Nachlaß« III, 182. Karoline Flachsland an Herder d.d. 6. Februar 1772.
S. 11, Z. 12: So lautet bekanntlich die mehrfach bezeugte Überlieferung, doch muß ich bemerken, daß der Name von Goethes Vater in der Matrikel des Reichs-Kammergerichtes (s. unten S. 33) sich nicht findet.
S. 11, Z. 14: Dies möchte man versucht sein, aus Goethes eigener Andeutung in »Wahrheit und Dichtung« zu schließen, wo es heißt: »Für einen frohen, vorwärtsschreitenden Jüngling war doch hier kein Heil zu finden« u.s.w.; — doch gebe ich das nur als Vermutung, denn die Worte lassen auch eine engere Auslegung zu.
S. 11, Z. 17: Goethe hatte in seiner Eingabe bei dem höchsten Gericht seiner Vaterstadt (vom 28. August 1771) u.a. bemerkt: »Da mich nähmlich, nach vollbrachten mehreren akademischen Jahren, die ich mit möglichstem Fleiß der Rechtsgelehrsamkeit gewidmet, eine ansehnliche Juristen Fakultät zu Straßburg, nach beyliegender Disputation, des Gradus eines Licentiati Juris gewürdiget; so kann mir nunmehro nichts angelegner und erwünschter seyn, als die bisher erworbenen Kenntnisse und Wissenschaften meinem Vaterlande brauchbaar zu machen, und zwar vorerst als Anwald meiner Mitbürger in ihren rechtlichen Angelegenheiten anhenden zu gehn, und mich dadurch zu denen wichtigeren Geschäfften vorzubereiten, die, einer hochgebietenden und[200] verehrungswürdigen Obrigkeit mir dereinst hochgwillet aufzutragen gefällig seyn könnte.« G.L. Kriegk, Deutsche Kulturbilder aus dem achtzehnten Jahrhundert u.s.w., S. 265.
S. 13, Z. 14: »Aus Herders Nachlaß« I, 32, mit Note 2.
S. 14: Zu dem Abschnitte »Wetzlar« bemerke ich im allgemeinen, daß meine Hauptquelle die Autopsie und örtliche Erkundigungen sind. Für das Geschichtliche, soweit dasselbe für den Zweck dieser Schrift wichtig und wesentlich ist, besitzen wir in F.W. v. Ulmensteins »Geschichte und topographische Beschreibung der Kaiserl. freyen Reichsstadt Wetzlar« (3 Bde. 1802-1810), ein stoffreiches Hilfsmittel, das zwar, nach dem Standpunkte seiner Entstehungszeit, in der Geschichte des Mittelalters im allgemeinen der kritischen Sichtung entbehrt, für das vorige Jahrhundert aber großenteils urkundlichen Wert hat. Außerdem sind Büschings »Erdbeschreibung« III, 1040 u. 2058, »Der Antiquarius des Lahnstroms« (S. 440 ff.) und Merians »Topographie« herangezogen. Einzelnes, doch nicht viel, bietet Dr. Paul Wigand (der bekannte Jurist und Geschichtsforscher) in »Wetzlar und das Lahnthal«, 1862.
S. 16, Z. 7: Über die Bedeutung der Namensform »Wetasalar« s. W. Arnold, Deutsche Urzeit, S. 225.
S. 17, Z. 12: Merian, Topographia Hassiae et regionum vicinarum 1655, p. 140.
S. 21, Z. 18: Über jene hessisch-wetzlarischen Händel vgl. man außer Ulmenstein II, 707 f. auch O. Buchner, Gießen vor hundert Jahren, 1879, S. 104 f.; doch schöpft dieser Abschnitt der kleinen Schrift fast durchgehends aus Ulmenstein.
S. 23, Z. 16: Über die Zurückführung der Familie v. Klettenberg auf ein wetzlarisches Patriziergeschlecht s. Ulmenstein III, 343. Später findet sich die Familie, und zwar unter den Geschlechtern der Gesellschaft des Hauses Frauenstein, in Frankfurt a./M.; s. Lersners Chronik I, 256. Der Stammbaum der Seiffart v. Klettenberg, den J.M. Lappenberg in den Reliquien der Fräulein Susanna Katharina v. Klettenberg (am Schluß) zusammengestellt, geht nicht bis zu der Wetzlarer Zeit zurück.
S. 24, Z. 17: F.E. Laukhards Leben und Schicksale I, 141.
S. 26, Z. 3: S. »Gedichte« von F.W. Gotter (1787-1802), Biographie von Fr. Schlichtegroll III, 27.
S. 26, Z. 8: s. O. Buchner a.a.O., S. 1 f.
S. 26, Z. 16: s. P. Wigand a.a.O., S. 41.[201]
S. 26, Z. 24: Nach mehrfachen vergeblichen Versuchen in Gießen und Wetzlar gelang es mir, auf der großherzoglichen Hofbibliothek in Darmstadt ein Exemplar der »Wezlarschen (sic) Zeitung« aufzutreiben, die seit dem 1. Juli 1789 in dem Kammerat Seidelischen privilegierten Zeitungscomptoir viermal wöchentlich erschien, seit 1790 mit einem Extrablatt über die Reichshofrats-Sachen. Man vgl. Schwarzkopf, Über Zeitungen, Frankfurt 1795, S. 30. — Für unsere unmittelbaren Zwecke war also nicht viel zu entnehmen. Früher, zu Goethes Zeit, erschienen auch, wie ich aus einem Citat ersehe, »Wetzlarische Neuigkeiten für das Frauenzimmer vom Jahre 1773«, doch besaß die Darmstädter Hofbibliothek kein Exemplar, und in Wetzlar selbst scheinen solche Reliquen kaum mehr vorhanden oder sie verkriechen sich in unzugängliche Winkel. Man sollte dort zu retten suchen, was noch zu retten ist.
S. 27, Z. 8: s. Laukhard a.a.O., S. 138.
S.27, Z. 10: s. Fr. Thudichum: »Das vormalige Reichs-Kammergericht und seine Schicksale«, in Zeitschrift für deutsches Recht von Beseler, Reyscher und Stobbe, Bd. XX, 1861, S. 202, nach v. Cramer (dem Herausgeber der 128 Bde. »Wetzlarische Nebenstunden«, 1755-1772), Obsen. I, 272.
S. 27, Z. 25: Nach dem Cameral-Kalender auf 1772.
S. 30, Z. 2: »Steins Leben« von G. H. Pertz I, 14-16. Pro Memoria.
S. 31, Z. 21: Ulmenstein II, 666 und III, 167f., Nr. XXIV, Pro Memoria.
S. 32, Z. 14: über v. Spangenberg vgl. Chr. Wilh. v. Dohm, Denkwürdigkeiten meiner Zeit III, 11, Note.
S. 33: Wir besitzen noch keine wissenschaftlich ausreichende Monographie über die Geschichte des Reichs-Kammergerichts und sind darum noch immer auf die Schriften aus dem vorigen Jahrhundert angewiesen, unter denen sich wohl manche gelehrte und gründliche befinden, wie die von Malblank (Anleitung zur Kenntnis der deutschen Reichs- und Provinzialgerichts- und Kanzleiverfassung und Praxis, 4 Tle., 1799-1795), und Häberlin (Handbuch des deutschen Staatsrechts), die aber doch den Anforderungen neuer Geschichtschreibung nicht entfernt genügen; s. Thudichum a.a.O., S. 148. Übrigens findet sich zur Kontrolle und Ergänzung von Goethes historischem Abriß die Hauptlitteratur zusammengestellt in Loepers Kommentar zu »Dichtung und Wahrheit« III, 318 f.
S. 33 Z. 3 v.u.: L.v. Ranke, Hardenberg I, 20 f. Nach Note 1 war der junge v. Hardenberg am 15. Juli 1772 von der Heimat weg[202]gereist; im Oktober war er in Darmstadt; über Wetzlar, wo er sich gegen Ende September aufhielt, teilt Ranke kein Wort aus Hardenbergs Reisejournal, seiner Quelle, mit. Noch liegen Tagebuchaufzeichnungen Kestners in dem Dresdener Familienarchiv vor über Hardenbergs Reise von Wetzlar nach Frankfurt, auf welcher Kestner den vornehmen Landsmann begleitete.
S. 34, Z. 11: »Goethe und Werther«, Bd. N. 88, S. 193.
S. 34, Z. 19: Pertz I, 14. Steins juristischer Mentor war der Assessor Hofmann, in dessen Hause er wohnte, der Großvater des Geschichtsforschers Dr. Böhmer in Frankfurt a./M.
S. 35, Z. 8 v.u.: Von Goethes mutmaßlicher Lektüre zum Zweck seiner Episode über das Reichs-Kammergericht in »Wahrheit und Dichtung« s. v. Loeper a.a.O. Wahrscheinlich hat der Dichter, was Loeper nicht bemerkt, zu gleichem Zweck auch Ulmensteins Geschichte von Wetzlar eingesehen. Wenigstens steht sein Name unter den Abonnenten zu dem Werk (III, 15), welches (II, 761) auch in einem besonderen Paragraphen, mitten zwischen sehr heterogenen Stoffen, des »Werther« als eines Meisterstückes der »Teutschen Litteratur und Dichtkunst« und des Autors als eines »der besten Köpfe unseres Vaterlandes« gedenkt.
S. 35, letzte Zeile v.u.: Nach dem Kameralkalender auf 1772.
S. 36, Z. 8: So Thudichum a.a.O., S. 206.
S. 36, Z. 8 v.u.: Von allgemeinen Quellen ist Häußer, Deutsche Geschichte I, 74; K.A. Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen (2. Aufl.) VI, 87 ff.; außerdem sind Pütters Staatsverfassung III, 135 ff.; Ulmenstein, S. 733 ff. und Thudichum a.a.O. benutzt.
S. 40, letzte Zeilen: Über J. Ph. Falcke s. unter S. 89.
S. 41, Z. 17: s. Ulmenstein II, 755.
S. 42, Z. 8 v.u.: »Warum soll Deutschland einen Kaiser haben?« ohne Druckort 1787, s. bei Cl. Th. Perthes, Das deutsche Staatsleben vor der Revolution, S. 256.
S. 43, Z. 3 v.u.: s. Kriegk a.a.O. in der Einleitung zu »Goethe als Rechtsanwalt«.
S. 45, Z. 8 v.u.: Karoline Flachsland an Herder d.d. 25. Mai 1772, »Aus Herders Nachlaß« III, 252; die Worte sind wohl Citate aus Goethes Briefen an Lila (Luise v. Ziegler).
S. 46, Z. 7: Über Goethes Großtante Lange hat ausführlich gehandelt H. Düntzer im »Morgenblatt« von 1864: »Charlotte Buff und ihre Familie«, S. 1057. Ich trage aus dem Wetzlarer Kirchenbuch nach,[203] daß dort aus der zweiten Ehe dieser Großtante mit dem Prokurator Hofrat Lange vier Kinder eingetragen sind, nämlich: 1) Johannette Elisabeth Christine, geb. 30. März 1755; 2) Wilhelm Christoph Jakob, geb. 5. Januar 1757; 3) Dorothea Henriette Marie Jakobine, geb. 30. September 1758; 4) Friedrich Ludwig Wolfgang, geb. 23. August 1760.
S. 48, Z. 13: In J.Ch. Kestners Nachlaß findet sich noch das Dokument über dessen Ernennung zum »Minister« vom 16. Oktober 1769. Als Kuriosum mag es hier eine Stelle finden: »Wir Rochus Fürst zu Bunpfskowitz, souverainer Herzog zu Prohsutz, Graf von Litum und Mogath, Herr von Felfolks und Zuarositz u.s.w. — Demnach Wir uns gnädigst entschlossen haben, Unsern bisherigen Titular Geheimen Rath, auch Geheimen Regierungs Rath Freyherrn von Kestner zu der Würde eines würklichen Staats Ministers zu erheben; Also wollen Wir solches hierdurch männiglich angezeiget und Ihn in der Qualität als würklichen Staats- und Minister erkannt, auch mit dem Prädicat: Excellenz hinkünftig begabt wissen. Zu dem Ende Wir auch unserm Groß-Canzler Feldmarschall Grafen von Wanderer, den gnädigsten Auftrag gegeben, besagten Minister Freiherrn von Kestner in nechster Session in das Geheime Rathscollegium zu introduciren.
Gegeben in Unsrer Residenz Bunpfkowitz 10 Oct. 1769.
ad Mandatum Rochus.
Serenissimi Welker.«
S. 48, Z. 17: Man schrieb die poetischere Travestie des Ordens H. G. v. Bretschneider (s. unten S. 56 u. 58) zu; s. v. Loeper a.a.O., S. 326. Bretschneiders Korrespondenz mit dem brandenburgischen Legationssekretär Ganz im alten Ritterstil gab den Anlaß; s. Blätter für litterarische Unterhaltung 1851, Nr. 126. »Reise nach London und Paris«, 1817, S. 313, und B.R. Abeken, Goethe in den Jahren 1771 bis 1775, S. 105, Note 2.
S. 48, Z. 21: Goués »Masuren« gehört bereits zu den litterarischen Seltenheiten. Hirzels so reichhaltige Goethebibliothek in Leipzig hat das Stück nicht; ich habe es aus der Meusebachschen Sammlung der königlichen Bibliothek in Berlin erhalten. Die Namendeutung ist schwierig und bedarf der Vorsicht. Außer Masuren selbst und Couci, »der Krone der Ritterschaft« (S. 12), ist nur Fayel zweifellos. Der Beweis für die Identität mit Gotter liegt in den Stellen S. 9, 23: »Fayel soll ein ganz vortrefflicher Acteur sein«; S. 88: »[Ich — Fayel —] würd's (nämlich die Kunde von Masurens Selbstmord) in eine Epistel (d.i. die be[204]kannte »Epistel über die Starkgeisterey«) hineinzubringen suchen.« — Über weitere Namendeutungen s. v. Loeper a.a.O., S. 325 (gegen K. Goedeke, Grundriß, S. 715).
S. 49, Z. 14: Über Goué stellte schon K. Goedeke a.a.O., S. 663 f. das Wichtigste zusammen. Ich habe außerdem benutzt: H. W. Rotermunds »Gelehrtes Hannover« II, XXV; Mensel IV, 312; Ersch und Gruber, Encykl. LXXVI, 268; »Allgemeine deutsche Biographie« IX, 521 ff. (der Artikel von Bodemann bringt wenig Neues); »Blätter für litterarische Unterhaltung« 1852, Nr. 52: »Der Ritterbund mit dem Orden des Übergangs zu Wetzlar u.s.w.«, S. 1226 (nach K. Goedeke, Grundriß, S. 664 von Fr. Voigts), wo ein Zeugnis des Reichs-Kammergerichts-Assessors Frz. Dietr. v. Ditfurth über Goué angerufen wird. Jeder Ritter hatte neben dem Ordensnamen einen Beinamen von einer persönlichen Eigenschaft, z.B. der Eigensinnige, der Streitbare, der Vorsichtige u.s.w. Noch ist nachzutragen, daß Goué eben seines ungeordneten Wesens und Lebens wegen seine Wetzlarer Stelle aufgeben mußte. — Manches habe ich aus J.Chr. Kestners Aufzeichnungen brauchen können. Unter dessen hinterlassenen Büchern finden sich, vermutlich als des Autors Geschenk, verschiedene Dramen seines Landsmannes.
S. 53, Z. 1: Die Litteratur über Gotter im allgemeinen zusammenzustellen, würde hier zu weit führen. Das Wichtigste ist, neben den Gedichten selbst, das von Fr. Schlichtegroll gezeichnete, freilich weitaus überschätzende Lebensbild in Gotters »Gedichten« III, XIII-LVI. Eine kurze Skizze giebt auch die »Allgemeine deutsche Biographie" IX, 450 f. (von J. Franck).
S. 53, Z. 11 v.u.: So »Sonnet sur Madame Caroline Lanchery, à l'occasion du ballet de Diane et d'Endymion« a.a.O., p. XXIII.
S. 54, Z. 5 v.u.: Von kleinen Arbeiten Goethes, zu denen Gotter angeregt haben soll, ist uns nichts bekannt als die Notiz von einer (unveröffentlichten) Übertragung von Goldsmiths »Deserted village«.
S. 54, letzte Zeile: Die Stellen über Goethe stehen: »Goethe und Werther«, s.S. 62. 64. Die zweifelhafte Stelle d.d. 24. Juni 1784 (S. 261): »G.... konnte euch wenig von mir sagen, ich habe nichts gemeines mit ihm. Es ist ein töriger Mensch, der sich zu Grunde richtet«, kann kaum auf einen anderen als auf Gotter gehen; denn an Goué ist wohl nicht zu denken?[205]
S. 55, Z. 15: Über die Beziehungen Gotters und Boies in Göttingen s. »H.Chr. Boie« von K. Weinhold, S. 20 ff. 146 ff.
S. 55, Z. 21: s. Weinhold a.a.O., S. 22. 232 ff.
S. 55, Z. 6 v. u. und die vorletzte Zeile: Gotters »Gedichte« III, XXVII.
S. 56, Z. 17: s. Goethes Werke ed. Hempel III, 142.
S. 56, vorletzte Zeile: Man vgl. über Kielmannsegge Weinholds Boie, S. 37 und 250, Note 1.
S. 57, Z. 18: s. »Berichtigung der Geschichte des jungen Werthers«, 1775, S. 9.
S. 58, Z. 1: Ich hoffe, das Richtige getroffen zu haben, wenn ich in dem Abonnenten-Verzeichnis zu Ulmensteins »Geschichte Wetzlars« den Präsidenten in Güstrow und Goethes Jugendfreund für ein und dieselbe Person halte. Dies noch bestimmter festzustellen, fehlte mir die Gelegenheit.
S. 58, Z. 7 v. u.: Ernst Friedrich Hektor Falcke, Sohn des S. 40 und 89 erwähnten Johann Philipp Falcke, war 1751 geboren zu Darmstadt, wo sein Vater zeitweise im Justizdienste stand, machte nach seinem Wetzlarer Aufenthalt von 1774-1775 Reisen in Italien, wurde 1784 Bürgermeister der Altstadt Hannover und starb dort 1809; s. »Allgemeine Biographie« VI, 543 (von Fr. Frensdorff). Sein Name kommt mehrfach in den »Werther-Briefen« vor.
S. 59, Z. 20: Besonders wichtig für Jerusalem sind die von O. v. Heinemann im »Neuen Reiche" 1874 I, 970-980 veröffentlichten Briefe aus der Wolfenbüttler Bibliothek. Die übrigen Quellen, außer den bisher ungedruckten, sind bekannt und von Loeper a.a.O. citiert.
S. 61, Z. 16: Über Nieper s. [v. Breidenbachs] »Berichtigung« u.s.w., S. 9; ebenda S. 15 über die Freundschaft mit v. Schleinitz.
S. 61, Z. 5 v. u.: Gotters »Gedichte" III, xxix.
S. 63, Z. 12: Ein Bild von Jerusalem ist unsers Wissens noch nicht veröffentlicht. Doch giebt es ein solches, das mir als Photographie vorliegt, von dem zehnjährigen Knaben. Es soll von einem älteren Mitschüler herrühren, aber, wie die jüngere Schwester, Friederike Jerusalem — später Chanoinesse (Klosterstelle) in Wülfinghausen, geboren 1759, selbst Dichterin und Herausgeberin mehrerer Schriften ihres Vaters —, bezeugt, dem unglücklichen Bruder sehr ähnlich gewesen sein. In der That stimmt das Bild zu dem »runden hübschen Gesicht, den weichen ruhigen Zügen, den anziehenden blauen Augen« nach Goethes Schilderung.[206]
S. 64, Z. 4 v.u.: So »Masuren«, S. 10. 24: »Der alte pünktliche Narr«, »Der krimmische Grützkopf«, »Die tatarische Excellenz«, »Ein seltsames Gemisch von Stolz, Unsinn und Unverträglichkeit«.
S. 69, Z. 12: »Berichtigung«, S. 12.
S. 69, Z. 22: s. O. v. Heinemann a.a.O. Der nachfolgende Brief des Abtes Jerusalem aus dem Kestnerschen Familienarchiv war bisher ungedruckt.
S. 70, Z. 22: Das Wechselverhältnis zwischen Goethe und Lessing hat kürzlich (seit Danzel-Guhrauers Lessing-Biographie, 2. Aufl. von Maltzahn und Boxberger II, 360 ff.) eine gründliche Behandlung erfahren durch W. v. Biedermanns »Goethe und Lessing« im Goethe-Jahrbuch von L. Geiger I, 17-44, worauf wir im allgemeinen verweisen können. Doch hat Biedermann gerade die Stellen aus »Werther« und deren Widerlegung in »Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem«, herausgegeben von G.E. Lessing, 1776, S. 4 ff. auffallenderweise unberücksichtigt gelassen.
S. 75, Z. 17: Man sehe bei E. Schmidt: Richardson, Rousseau und Goethe, S. 228 ff. die einschlagende Litteratur.
S. 79, Z. 6 v.u.: Zu der Stelle aus Goethes Rezension (»Frankfurter gelehrte Anzeigen« vom 22. Mai 1772) von J. V. Sonnenfels giebt durch Ideen- und Stimmungs-Association eine interessante Parallele der Vers in dem gleichzeitig entstandenen Gedichte »Felsweihe« an Psyche (Karoline Flachsland):
S. 81, Z. 18: Man vgl. E. Schmidt a.a.O., S. 184 ff.
S. 85, Z. 17: Diese Dorftradition ist mir selbst vor einem halben Jahr noch in Garbenheim zu Ohren gekommen. Man vgl. übrigens den Garbenheimer »Ruheplatz« u.s.w. bei J. W. Appell, Werther und seine Zeit, S. 68 f. Der Sohn war der Hans Bamberger im »Werther«.
S. 87, Z. 1: Die gedruckte Hauptquelle über Kestners Leben in Wetzlar ist natürlich sein Briefwechsel mit Goethe, aus dem ich indes nicht für erforderlich hielt jede einzelne Belegstelle zu bezeichnen. Mir ermöglichte der Einblick in die Tagebücher, Briefe und gelegentliche Aufzeichnungen, das urkundliche Material überall zu vervollständigen.
S. 89, Z. 6: Über A.v. Hennings enthalten meine Biographieen von M. Claudius und J. H. Voß mannigfaches Material, worüber die[207] betreffenden Register orientierende Auskunft geben. Eine kurze, aber wertvolle Lebensskizze hat neuerdings die »Allgemeine deutsche Biographie« XI, 778 von der Hand des Historikers W. Wattenbach, eines Verwandten von Hennings, gebracht. Hennings, Sohn des Etatsrats Martin Nikol. Hennings, war geboren 19. Juli 1746 zu Pinneberg in Holstein, starb am 17. Mai 1826 zu Ranzau in Holstein. Er hatte ein Jahr lang (von 1760 auf 1761) auch das Gymnasium in Hannover besucht, von 1763 bis 1766 in Göttingen mit seinem Bruder gemeinsam studiert und promoviert, von St. Pütter mit einem glänzenden Zeugnis ausgerüstet. Das Xenion gegen A.v. Hennings (Nr. 257, »G.d.F.«) lautet:
S. 89, Z. 20: über J.Ph.K. Falcke vgl. oben S. 40. Auch über ihn hat F. Frensdorff in der »Allgemeinen deutschen Biographie« VI, 543 ausreichend gehandelt. Er war geboren 1724 zu Elze und starb 1805 als Justizkanzlei-Direktor (seit 1787) in Hannover. Er war seit jungen Jahren Pütters vertrauter Freund. In Wetzlar lebte er von 1767-1776. Später fungierte er in seinem Vaterland auch als advocatus patriae d.h. als Rechtskonsulent der Landesregierung, namentlich in Prozessen über Gerechtsame des Fürsten.
S. 95, Z. 5 v.u.: »Berichtigung« u.s.w., S. 8.
S. 99, Z. 14: Man vgl. H. Düntzer im »Morgenblatt« von 1864, S. 1086.
S. 101, Z. 4 v.u.: Die Stelle aus v. Cronegks Codrus steht in der Ausgabe von 1761, Akt IV, Sc. 7, V. 23 in Medons Monolog.
S. 102, Z. 10: Das seltsame poetische Aktenstück lautet buchstäblich:
»An die
Frau Amtmannin Buffin
gebohrene Feilerin in Wetzlar
von
Ihrem ergebensten Verehrer und Vetter
Ernst Christoph Dresler.
1769.
Ehringshaußen den
10 Aprl. 1769.
Christoph Ernst Reiz.«
S. 103, Z. 10: »Klinger in der Sturm- und Drangperiode« von M. Rieger, S. 36.
S. 104, Z. 15: Daß Lotte musikalisch gewesen, beweist schon »Werther«; auch wird das Klavier im Werther-Zimmer zu Wetzlar noch als Reliquie aufbewahrt. Was ihr Zeichnen betrifft, so bewahrt ein Landpfarrer in der Wetzlarer Gegend noch ein Aquarellbild von Lottens Hand, Wetzlar nach der Garbenheimer Seite darstellend, als Albumblatt.
S. 104, Z. 19: Man erinnert sich der Stelle im Werther (Brief[210] vom 16. Juni; D.j.G. III, 258), — zugleich Goethes vielsagende Huldigung für den Odensänger.
S. 106, Z. 8 v.u.: Brief von Schillers Witwe an Knebel.
S. 110, Z. 2 v.u.: Dieser Bericht in den Wertherbriefen Nr. 2 (S. 40) wird dort als »Fragment eines Brief-Entwurfs« bezeichnet. Der Brief war für Hennings bestimmt, ist aber nicht expediert worden.
S. 112, Z. 10. v.u.: Man vgl. E. Schmidt a.a.O., S. 202.
S. 114. Z. 2 v.u.: Ich hatte in Kestners Papieren den Namen des Hauses in dem nassau-weilburgische Dorfe Atzbach (schon im M.-A. als Adispach vorkommmd), in der Mitte zwischen Wetzlar und Gießen gelegen, gefunden, das auch Goethe, durch die Familie Buff dort eingeführt, manchmal besuchte. Wie ich erst jetzt sehe, findet sich der Name Rhodius bereits in dem Aufsatz von H. Düntzer (Morgenblatt von 1864, S. 1084), aber als unsicher bezeichnet. Die Sache ist aber tatsächlich. Vielleicht die leidende Frau im »Werther« (1. Juli; D.j.G. III, 263)? Denn daß in dem Hause Krankennot drückte, scheint aus mehreren Stellen der »Werther-Briefe« hervorzugehen. Frau Rentmeister Rhodius soll — wie man mir von dort schreibt —, nachdem sie als Witwe längere Zeit in Wetzlar gelebt, dort 1816 gestorben sein.
S. 114, Z. 11: So »Werther-Briefe«, S. 46 u. 158; — übrigens eine freie Anspielung auf eine Stelle in Rousseaus Nouv. Heloise, s. E. Schmidt a.a.O., S. 124; v. Loeper, S. 341.
S. 115, Z. 11: Das Exemplar der »Moralischen Erzählungen und Idyllen von Diderot u. S. Geßner 1772«, mit der Inschrift der Eigentümerin »Charlotte Buff« befindet sich noch in der kleinen hinterlassenen Büchersammlung Kestners; vermutlich das Rezensionsexemplar Goethes, der das Buch in den »Frankfurter gelehrten Anzeigen«, Nr. LXVIII, S. 136, vom 25. August 1772 angezeigt hatte.
S. 115, Z. 12: Daß Viehoff (Erläuter. 1, 191; III, 420) das Gedicht Brief an Lottchen (D.j.G. II, 35) mit Unrecht auf Lotte Buff bezogen hat, bemerkt schon Th. Bergk, Acht Lieder von Goethe, S. 16.
S. 120, Z. 21: Es ist bekanntlich die Werther-Stelle (13. Mai; D.j.G. III, 238).
S. 121, Z. 18: »Die Zuverlässigkeit von Goethes Angaben« u.s.w. in L. Geigers Goethe-Jahrbuch, S. 141 ff.
S. 123, Z. 17: »Werther-Briefe«, S. 173.
S. 125, Z. 12: Die merkwürdige Rezension steht »Frankfurter ge[211]lehrte Anzeigen", Nr. LXX vom 1. September 1772, S. 555-558; D.j.G. II, 439.
S. 128, Z. 15: Dies folgt aus dem falsch datierten Brief bei K. Wagner III, 22, der ins Frühjahr 1772 fällt. Merck schreibt seiner Frau: »Si tu pouvais faire parler à Jaup (Professor in Gießen) pour un lit chez lui dans sa grande chambre pour Goethe et moi."
S. 129, Z. 8: Über Merck kann man nun außer den für das Verständnis des merkwürdigen Mannes grundlegenden und bahnbrechenden drei Briefsammlungen K. Wagners (von A. Stahrs wenig bedeutender Leistung abgesehen) auf G. Zimmermann: J.H. Merck (1871) verweisen und speziell auf die allgemeine und allseitig abwägende Charakteristik, S. 550 ff. Über die Gießen-Wetzlarer Zusammenkunft Goethes und Mercks bringt die Biographie allerdings nichts Neues, s.S. 131 u. 161 ff. — Dagegen giebt sie ein ausgeführtes Charakterbild Höpfners, S. 129 bis 150, auf das ich hier verweise. Auch die wesentliche Litteratur über Höpfner findet sich dort S. 129, Note 7 zusammengestellt. In der Hauptquelle »Leben und Charakter etc.« (mit einem trefflichen Porträt Höpfners) von H.B. Wenck fällt es auf, von einem Verhältnis Höpfners zu Goethe kein Wort zu lesen. Höpfner ist auch ziemlich der einzige Professor, den Laukhard a.a.O., S. 72 ungerügt läßt; — immerhin eine vox populi academici.
S. 130, Z. 7: v. Loeper a.a.O., S. 344.
S. 130, Z. 10: Über das damalige Gießen s. Laukhard a.a.O., S. 67 ff.; Dr. C. Fr. Bahrdts Geschichte seines Lebens u.s.w. I, 152 ff.; vgl. Dr. O. Buchner, Gießen vor hundert Jahren (1879), z.B. über Universität und Studentenleben, S. 28-55. Der Abschnitt »Goethe in Gießen«, S. 55-60 enthält übrigens nichts Neues. Für die studentischen Zustände bietet am meisten Laukhard a.a.O. I, 93 ff.
S. 132, Z. 1: Goethes Anzeige von Bahrdts »Eden« steht in den »Frankfurter gelehrten Anzeigen« vom 19. Juni 1772, Nr. XLIX, 385-87; D.j.G. II, 435.
S. 134, Z. 18: Über die Schilderung der ersten Bekanntschaft Goethes und Höpfners s. K. Wagner, Briefe aus dem Freundeskreise u.s.w., S. 186, Note.
S. 136, Z. 14: So lehrte Höpfner (»Naturrecht des einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker«, §§ 175 u. 176): Zur Errichtung eines Staates gehören notwendig drei Verträge: der Vereinigungsvertrag, der gesellschaftliche Vertrag und die Verabredung über das[212] Staatsgrundgesetz. Alle diese Verträge müssen die Eigenschaften haben, die zu einem gültigen Vertrage gehören.
S. 138. Z. 4 v.u.: s. »Weimarer Jahrbuch« von 1855 III, 65; der Brief ist vom 16. August 1772.
S. 139, Z. 12: Von dem viel schreibenden und wenig geltenden C. H. Schmid hier eingehend zu handeln, lag kein Anlaß vor. Alles Wichtigere hat v. Loeper zusammengestellt a.a.O., S. 346; doch fehlt dort die Erwähnung Laukhard a.a.O., S. 77 ff., woraus wenigstens die »öffentliche Meinung« der Studenten über den »Reimenschmid« entnommen werden kann. Über die üble Behandlung, die Schmid in Gießen von der verbündeten Trias erfuhr, vgl. vor allem außer K. Wagner, Briefe III, 186; »Weimarer Jahrbuch« III, 66 (Höpfner an Raspe d.d. 19. Oktober 1772). Diese Stelle verbietet, wie schon mein »Vorwort« berichtigt, den Schluß meiner Annahme, daß Schlosser (statt Merck) bei der Persiflierung Schmids mitgewirkt habe oder anwesend gewesen sei.
S. 142, Z. 1: Die Lieder-Trias s. D.j.G. II, 20-28; bei Hempel III, 35-39.
S. 142, Z. 6 und 10: Die Ausdrücke sind einem Briefe an seine Gattin entnommen; s. K. Wagner III, 21.
S. 142, Z. 9 v.u.: Schon Th. Bergk a.a.O., S. 67, 85 u. 89 hat von der Chronologie dieser Gedichte gehandelt. Inbezug auf das »Morgenlied« hat schon Merck selbst, der das Lied eigenhändig kopiert hatte (Br. II, 38), bemerkt, vermutlich sei es gesungen worden, als der Dichter auf seiner Reise nach Wetzlar den Turm zum letztenmal sah.
S. 143, Z. 2: »Aus Herders Nachlaß« III, 239.
S. 144, Z. 6 v.u.: »Aus Herders Nachlaß« III, 226 u. 262. — Die neuere Litteratur über den »Wanderer« hier anzuführen, thut nicht not.
S. 145, Z. 7: »Goethe und Werther«, S. 151 und 182.
S. 147, Z. 14: z.B. B.R. Abeken a.a.O., S. 121: »Von kleineren Gedichten aus der wetzlarischen Periode wissen wir nichts Bestimmtes; doch wäre es zu verwundern, wenn Lotte nicht solche eingegeben haben sollte; gar manches aus jenen Jahren, da der Dichter, wie er selbst sagt, dessen wenig achtete, ist zerstoben«; s. Note 3 die Stelle aus Eckermann III, 19. Da aber weder Proben noch Spuren lyrischer Produkte aus dieser Zeit, vielmehr die Versicherung des Vakat vorliegt, so ist es rich[213]tiger und wichtiger, die Ursachen dieses Schweigens, wie ich gethan zu haben meine, nachzuweisen, als Thatsachen zu erdichten oder zu vermuten.
S. 149, Z. 17: »Aus Herders Nachlaß« I, 35.
S. 150, Z. 5 v.u.: s. oben zu S. 56.
S. 150, Z. 17: Goués »Masuren«, S. 9.
S. 152, Z. 19: »Aus Goethes Frühzeit«, S. 76; vgl. »Deutsche Rundschau«, Augustheft 1878, Bd. XVI, S. 329.
S. 154, Z. 11: In diesem Punkte also, d.h. in der Annahme, daß Goethe in Wetzlar noch nicht an dem Faust-Drama gearbeitet habe, treten wir H. Düntzer (in Schnorr v. Karolsfelds Archiv 1880) bei.
S. 154, Z. 20: »Goethes Gedichte« ed. Hempel III, 142.
S. 162, Z. 16: Das Original von Goethes »Pindar-Übersetzung«, die bekanntlich zu der »Hirzelschen Sammlung« der Leipziger Universitäts-Bibliothek gehört, hat mir vorgelegen, sie ist übrigens buchstäblich abgedruckt in »D.j.G.« II, 14-16. M. Bernays hatte sie vorher schon veröffentlicht in »Goethes Briefe an Fr.A. Wolf«, S. 122 f.; vgl. daselbst S. 7, Note 10, wo des später nachlassenden Interesses Goethes für Pindar gedacht wird. H. Düntzer hatte in einer Note »Aus Herders Nachlaß« I, 38, Note 2 dem Dichter noch ein anderes und dazu noch metrisches Stück »Pindar-Übersetzung« (Ol. II, 162 sq.) vindiziert. A. Schöll aber hat (Grenzboten 1867 II, 112) den Irrtum aufgedeckt; es war seine Arbeit, »nur in schlechter Versabteilung abgesetzt«.
S. 167, Z. 5: D.j.G. III, 241.
S. 169, Z. 2: K. Wagner, Mercks Briefe I, 37.
S. 169, Z. 20: »Goethes Leben und Schriften« von K. Goedeke, S. 80.
S. 172, Z. 14: H. Düntzer (»Aus Herders Nachlaß«) II, 44 schließt aus einer Briefstelle von Karoline Flachsland an Herder (III, 308) vom 7. August 1772 auf einen verloren gegangenen Brief Goethes an Herder. Mit Unrecht. Karoline Flachsland bezieht sich in ihrem Briefe lediglich auf Goethes Brief vom Anfang Juli und Herders von Mitte Juli 1772 (S. 299 ff.).
S. 174, Z. 18: Man vgl. E. Schmidt a.a.O., S. 4.
S. 175, Z. 8 v.u.: Die im Druck der »Werther-Briefe« weggelassene Introduktion lautet: »Sie irren gar sehr, wenn Sie glauben, daß meine Liebe gegen Lottchen lau geworden sey, da ich so wenig davon sage. Ich hatte zu viel davon zu sagen, als es in wenigen Zeilen thun zu können,[214] und hierzu einen besonderen Brief bestimmt, wovon ich schon einen großen Teil fertig hatte, als Lottchen mich einen Abend erinnerte, an Sie zu schreiben und als ich gerade tags darauf von Ihnen den letzten Brief erhielt. Ich will itzo den angefangenen Brief liegen lassen, weil er noch lange kein Ganzes ausmacht und eine neue sehr interessante Begebenheit, welche in die Geschichte meiner Liebe schlägt, erzählen. Vorher muß ich Ihnen sagen, daß meine Liebe sich in ihrer ersten Wärme erhalten, und unauslöschlich geworden ist, da mein Mädchen von Tag zu Tag immer mehr eines der besten, der vortrefflichsten weiblichen Geschöpfe geworden ist. Bieten Sie mir alles an, und meine Seele würde nicht einmal unternehmen, eine Wahl gegen mein Mädchen anzustellen. Doch werde ich umsonst versuchen Ihnen zu beschreiben, wie sehr ich sie liebe und ich werde nicht müde, es ihr zu sagen: jedoch ohne darum ein Romanhafter Liebhaber zu seyn, weil ich weiß, daß ich ihr Herz ganz besitze, mithin ruhig liebe, wenn ich gleich über einen bloßen Schein des Gegenteils unruhig werden kann. In dieser süßen Lage ist diese Jahre hindurch mein Herz gewesen, Tage lang können wir ohne eine minutenlange Langeweile zusammen zubringen, und ob dieses gleich nicht immer geschieht, so sehe ich sie doch oft und jedesmahl ist mir, als wenn ich sie das erstemal sähe. Ich sage Ihnen, ich zittere oft vor dem Gedanken, ob mein Glück noch lange dauern kann, da es so lange fortdauert und so groß ist. Folgende Geschichte wird Ihnen mehr entdecken und manche Reflexion aufklären, die Sie vielleicht machen.«
S. 180, Z. 4 v.u.: s. die »Ephemerides« bei A. Schöll, Briefe und Aufsätze von Goethe, S. 104: »Testimonio enim mihi virorum tantorum sententia, rectae rationi quam convenientissimum fuisse systema emanationis (das des Giordano Bruno), licet nulli subscribere velim sectae, valdeque doleam, Spinozismum, teterrimis erroribus ex eodem fonte manantibus, doctrinae hinc purissimae iniquissimum fratrem natum esse.«
S. 180, Z. 2 v.u.: a.a.O., S. 101 ff.
S. 182, Z. 9: Auf die dogmatische Seite des Problems habe ich hier natürlich nicht einzugehen. Die dogmatische und dogmengeschichtliche Litteratur findet sich (neben einer bündigen kritischen Erörterung der Frage) in Herzogs Realencyklopädie, 2. Aufl. (die erste Auflage hatte keinen besonderen Artikel, sondern nur eine gelegentliche kurze Behandlung des betreffenden locus) I, 477-483, von J. Köstlin zusammengestellt.
[1] Jerusalem war fast 2½ Jahre älter als Goethe, geb. am 21. März 1747 zu Wolfenbüttel. (Mitteilung O. v. Heinemanns in »Elf Briefe von Jerusalem-Werther« im N. Reich 1874 I, 971 Anm. aus dem Wolfenbüttler Kirchenbuch, als Berichtigung der Angabe bei Appelt, Werther und seine Zeit, S. 71.)
[2] Diesen dem Kestnerschen Familienarchiv in Dresden entnommenen, bisher ungedruckten Brief teile ich natürlich buchstäblich (auch der Schreibart nach) mit. Er ist aus der kleinen Anzahl unveröffentlichter Briefe Jerusalems, die jenes Archiv bewahrt, der am meisten charakteristische.
[3] Wir teilen das Ganze als ein charakteristisches Kuriosum im Anhang mit.